1989 - Erhard Stackl - E-Book

1989 E-Book

Erhard Stackl

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Beschreibung

Wer ist für die historische Wende verantwortlich, bei der 1989 die Diktaturen stürzten und Millionen Menschen erstmals Freiheit erleben konnten? Michail Gorbatschow und Ronald Reagan, vielleicht auch noch Margaret Thatcher und Johannes Paul II., der aus Polen stammende Papst? Erhard Stackl zeigt, wie viele, bis heute wenig bekannte Hauptdarsteller es damals gab, die mit Mut und Intelligenz die Diktatoren ins Wanken brachten. Er hat etliche von ihnen kennen gelernt, als er zwischen 1979 und 1989 für das Nachrichtenmagazin profil aus Polen, Ungarn und der CSSR, aber auch aus Argentinien und Chile berichtete. Die Bürgerrechtler und Rebellen, die er im Untergrund traf, wurden später Botschafter oder Minister, manche sogar Präsidenten ihrer Länder. "1989 - Sturz der Dikaturen" zeichnet ein plastisches Bild der damaligen Entwicklung: spannend, informativ und - was es erstaunlicherweise auch gibt, wenn der Galgen nicht weit ist - mit Humor.

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Seitenzahl: 431

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Erhard Stackl

Erhard Stackl

1989

Stackl, Erhard: 1989, Sturz der Diktaturen/Erhard Stackl

Wien: Czernin Verlag 2010

ISBN (ePUB): 978-3-7076-0345-3

© 2009 Czernin Verlags GmbH, Wien

Lektorat: Eva Steffen

Umschlaggestaltung: sensomatic

E-Book: NakaDake (www.nakadake.at)

ISBN (ePUB): 978-3-7076-0345-3

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

Wenn der Wind der Geschichte weht,

wachsen den Menschen Flügel

wie prächtigen Vögeln.

Kleingeistern dagegen

flattern die Hosen.

Konstanty Ildefons Gałczyński

Prolog: Ein päpstlicher Vorbote

Am Abend vor dem Beginn der triumphalen Reise, die Papst Johannes Paul II. zurück in seine polnische Heimat führte, war Leszek Moczulski auf der Flucht. Er rechne jeden Augenblick mit seiner Verhaftung, sagte der 49-jährige Historiker und radikale Regimekritiker, der mir an diesem 1. Juni 1979 in einer Warschauer Wohnung gegenübersaß. An seiner Begeisterung über die Papstreise änderte die Gefahr anscheinend nichts. „Dieser Besuch zeigt allen Polen, dass der seit 35 Jahren andauernde Kampf der Atheisten und Kommunisten gegen die katholische Kirche eine totale Niederlage erlitten hat“, sagte er.

Der Mann mit dem strähnigen Haar, im olivgrünen Hemd zum Kämpfer stilisiert, trug eine dicke Brille in schwarzer Fassung. Moczulski war der erste polnische Dissident, dem ich begegnet bin. Mein aus Polen stammender Redaktionskollege Ted Matkowski hatte die Adresse der konspirativen Wohnung herausbekommen, in der nun zwei Dutzend junger Leute in Jeans und Militärjacken Rucksäcke packten und ihre Schlafrollen versorgten. Sie hatten erfahren, dass eine Razzia der Polizei bevorstand. Moczulski, der auf einem der wenigen Stühle in der sonst kahlen Wohnung Platz genommen hatte, wurde immer wieder aufgefordert, zusammen mit ihnen zu verschwinden.

Doch der Warschauer Sprecher der verbotenen „Bewegung für Menschen- und Bürgerrechte“ wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, einem Westler ausführlich die Meinung zu sagen. „Die Welt sieht nur die russischen Dissidenten“, beklagte er sich. Dabei wären die antikommunistischen Bewegungen in Polen und im Baltikum schon viel weiter als die Russen. In Polen werde beispielsweise bereits an politischen Konzepten für die Zeit nach dem Kommunismus gearbeitet.

Die Hauptaufgabe der illegalen politischen Opposition liege aber nicht im Schmieden von Plänen, sagte er. Es gehe darum, die Bevölkerung zu organisieren. Für den Papstbesuch hatten seine Mitstreiter Transparente vorbereitet, auch Flugblätter, auf denen das Symbol ihrer Bewegung prangte: ein P, das aus einem W in Form eines Ankers wuchs. Das heiße „Polen kämpft“, erklärte man mir.

„Wir wollen die dominierende Rolle der Sowjetunion beseitigen, und der einzige Weg dahin ist die Vernichtung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei“, sagte Moczulski. Damals, mitten im Kalten Krieg, klang das höchst abenteuerlich. An ein baldiges Ende des Ostblocks dachte niemand. Jede politische Krise in einer heiklen Region wie Osteuropa oder Nahost konnte zum großen, die Welt zerstörenden Atomkonflikt zwischen den USA und der Sowjetunion führen.

Als ich Moczulski sagte, dass seine Worte auch im Westen als gefährliches Zündeln am Weltfrieden betrachtet werden könnten, reagierte er zornig. „Der Friede ist nicht wichtiger als unsere Freiheit“, brüllte er. „Wer von uns verlangt, dass wir im angeblichen Interesse des Weltfriedens die Sklaven der Russen bleiben, dem sagen wir, dass wir lieber Europa von allen vier Seiten mit Benzin übergießen und anzünden, als Sklaven zu bleiben.“

Klang so ein „patriotischer Unabhängigkeitskämpfer“, als den sich Moczulski selbst bezeichnete, oder war das die Ausdrucksweise eines gefährlichen Irren, vielleicht auch eines bezahlten Provokateurs? Vor diesem Treffen hatte ich in den Staaten Osteuropas nur mit politisch eher links eingestellten, absolut gewaltfreien Dissidenten zu tun gehabt. Ich glaubte an die von Willy Brandt und anderen begonnene Entspannungspolitik, an den „Wandel durch Annäherung“. Es stimmte schon, dass die meisten Menschen im Westen für den Osten damals wenig Interesse zeigten. Sie bedauerten die im Ostblock in grauen Städten Lebenden zwar wegen der eingeschränkten Freiheit und der miserablen Qualität der knappen Konsumgüter. Aber gleichzeitig galt die Teilung der Welt in einen West- und einen Ostblock auch als harte Konsequenz des Zweiten Weltkriegs, die wohl noch für viele Generationen unabänderlich war.

Mit Teddy, meinem Kollegen, ging ich auf die Straße hinunter. Hier, mitten im Zentrum von Warschau, war es in der Nacht stockfinster wie fast überall in den Städten des Ostblocks von Prag bis Moskau, wo es kaum beleuchtete Schaufenster und keine Neonreklame gab. An den Straßenkreuzungen waren weißlackierte Gitter abgestellt, mit denen am nächsten Morgen die Absperrungen errichtet werden sollten, um den Zustrom Hunderttausender Gläubiger zur Papstmesse auf dem damaligen Siegesplatz zu regeln. In den Gassen patrouillierten die blau-weißen Limousinen der in der Volksrepublik Polen „Bürgermiliz“ genannten Polizei. Wir gingen im Schatten der Hausmauern, um ja nicht aufzufallen, und mit angespannten Nerven zurück in unser Quartier.

Die polnischen Behörden hatten damals, überraschend großzügig, rund 900 westliche Berichterstatter ins Land gelassen, die über den Besuch Karol Wojtyłas in seiner Heimat berichten sollten. Es war die erste Reise eines Oberhauptes der Katholiken in ein kommunistisches Land überhaupt. Frühere Ansuchen des Vatikans wurden immer abgelehnt. Doch in Polen war seit 1970 Edward Gierek Chef der Kommunistischen Partei. Als deren „Erster Sekretär“ war er, wie überall im Ostblock üblich, mächtiger als der Regierungschef oder der Staatspräsident. Gierek war im Zweiten Weltkrieg in Belgien Bergarbeiter gewesen. Jetzt zeigte er sich dem Westen gegenüber aufgeschlossen und ließ sich mit der Pariser Zeitung Le Monde fotografieren, die er angeblich täglich las. Mit großzügigen Krediten aus der kapitalistischen Welt, die seine Vorgänger noch abgelehnt hatten, versuchte Gierek, die notorisch schwache polnische Wirtschaft anzukurbeln. Da passte es ihm offenbar gut, seine Liberalität unter Beweis zu stellen. So erlaubte er die neuntägige Besuchsreise des Papstes in sein Heimatland, in dem sich neunzig Prozent der Bevölkerung zum katholischen Glauben bekannten.

Gierek ging noch weiter. Er nannte den polnischen Priester, der zum Oberhaupt aller Katholiken aufgestiegen war, „Eure Heiligkeit“, als dieser wenige Stunden nach seiner Ankunft in Warschau am Samstag im Belvedere-Palast vor ihm stand. Der KP-Chef lobte die positive Rolle, die die katholische Kirche beim Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkriegs gespielt habe. Auch den Beitrag des Vatikans zur west-östlichen Entspannungspolitik hob er hervor. Die polnische Führung sei zu einer Zusammenarbeit mit der Kirche bereit. Der damals 59-jährige Karol Wojtyła aus dem Städtchen Wadowice bei Krakau, der als Chef des Vatikans heimgekehrt war, sagte diplomatisch, dass die Kirche in Polen keine Privilegien verlange. Sie wolle bloß unbeschränkt wirken können, wie dies aus historischen Gründen der polnischen Nation entspreche.

Im Pressezentrum, das im Warschauer Nationaltheater eingerichtet worden war, schaute ich mir an, was das polnische Fernsehen über den Staatsbesuch brachte. Im gesamten Osten war die Nervosität der Machthaber groß gewesen. Sowjetische Diplomaten hatten davor gewarnt, dass der Papst plebiszitäre Begeisterungsstürme und eine Glaubensrevolution auslösen könnte, wie einige Monate zuvor der schiitische Ayatollah Khomeini bei seiner Heimkehr in den Iran. Doch was man im polnischen Fernsehen von der Visite des Papstes sah, war ruhig und feierlich. Szenen mit begeisterten Menschenmassen sparten die Kameras offensichtlich aus. Unvermutet sprach mich ein Mann an, der sich als Wiesław Górnicki vorstellte. Der polnische Journalist gab sich über das „völlig neue Klima“ überrascht. Er nahm neben mir Platz und schilderte seine Eindrücke. „Zum ersten Mal in dreißig Berufsjahren bin ich heute neben einem Priester gesessen“, sagte er.

Górnicki, ein hagerer, ständig nervös an einer Zigarette ziehender Intellektueller mit Halbglatze, fand den Papst durchaus „erfrischend“. Priester, die ihre Ausbildung unter seiner Ägide als Erzbischof von Krakau erhalten hatten, würden oft in lockerer Zivilkleidung ausgehen und auch Sport betreiben. Doch dann legte Górnicki gleich Kritik nach: Auf dem Land würden sich Dorfpfarrer von fanatischen Gläubigen noch immer reich beschenken lassen, sagte er lächelnd und machte eine kleine Pause, damit ich Zeit hatte, mir einen beleibten Pfaffen vorzustellen. Dann setzte er fort: Keinem Priester sei es je eingefallen, bei der Beichte zu fragen, ob jemand „Staatseigentum gestohlen“ habe. Überhaupt sei manches am Katholizismus in Polen, etwa die übermäßige Verehrung der heiligen Maria, so unzeitgemäß wie sonst nur in Lateinamerika.

Ich hatte das Gefühl, dass Górnicki nicht zu seinem Vergnügen mit mir sprach. Er machte den Eindruck, als wollte er einem Westler die Sicht der politischen Führung näherbringen, informell, aber doch mit voller Absicht.[1] Mir war es durchaus recht, auch aus dieser halboffiziellen Ecke etwas aus erster Hand zu erfahren, und ich fragte ihn, ganz allgemein, was er von Regimekritikern halte. „Ich bin nicht gegen die Dissidenz an und für sich“, versicherte Górnicki. Er habe für staatliche polnische Medien auch aus Washington berichtet, sei manchmal selbst bei seinen Vorgesetzten angeeckt und habe zeitweise Schreibverbot gehabt. Aber alles habe seine Grenzen. Empörend fand er es, wenn jemand den Marxismus als nicht funktionierend und „moralisch bankrott“ bezeichnete. Solche Menschen seien „wahnsinnig“, sagte er. „Denn die wollen, dass der Westen den Osten militärisch angreift.“

Der damals 48-jährige Górnicki beschrieb mir lieber die Liberalität des polnischen Systems. Zehn Millionen Polen wären 1978 auf Auslandsurlaub gefahren. Alle, die über Dollars verfügten, könnten in speziellen Pewex-Geschäften westliche Waren erstehen. In Polen gäbe es Bücher zu kaufen und Filme zu sehen, die in den „sozialistischen Bruderländern“ unter Verschluss gehalten würden. Sogar eine filmische Abrechnung mit dem Stalinismus, den „Mann aus Marmor“ des Regisseurs Andrzej Wajda, habe man in Polen produziert.

Górnicki gab auch offen zu, dass es in dem entwickelten Industrieland Polen immer wieder zur Verknappung von Brot und Fleisch kam und die Löhne mit der achtprozentigen Inflation nicht mithalten konnten. Angesichts einer Auslandsverschuldung von umgerechnet achtzehn Milliarden Euro war die Wirtschaft bereits im Jahr 1979 in „einer sehr schlechten Verfassung“.

Die Schuld gab Górnicki durchaus auch der polnischen Regierung, die zu viele Produktionslizenzen aus dem Westen eingekauft und die Wirtschaft überhitzt habe. Als weitere Gründe nannte er die im Westen herrschende Energiekrise, die auf den Osten durchschlug, aber auch das Verhalten der polnischen Bevölkerung, unter der der Alkoholismus sehr stark verbreitet sei.

Ich erinnerte mich, was mir der rechte Regimekritiker Leszek Moczulski zum Thema Alkoholismus gesagt hatte: „Daran ist doch das System schuld!“ Wenn ein durchschnittliches Ehepaar bis zu zwanzig Jahre auf eine eigene Wohnung warten und bis dahin an verschiedenen Orten leben müsse, würden soziale Bindungen zerreißen. „Und wenn Alkohol das einzige Produkt ist, das man jederzeit ohne Schwierigkeiten erhalten kann“, dann suchten eben viele beim Wodka Trost.

Die Liebe vieler Polen zum Schnaps war ein besonders populäres Thema in der Vorberichterstattung zum Papstbesuch. Acht Liter reinen Alkohol würden die Polen pro Kopf und Jahr konsumieren, hieß es da, was sie zu einem der trinkfreudigsten Völker der Welt mache. Während der Visite des Heiligen Vaters würde aber an vielen Orten kein Alkohol ausgeschenkt.

Als ich an diesem heißen Samstagnachmittag in Warschau bei der päpstlichen Feldmesse in der auf 290 000 Teilnehmer geschätzten, dichtgedrängten Menge stand, reagierten die Gläubigen auf den Papst sensibel wie ein Orchester auf seinen Dirigenten. Nach seinem Kernsatz „Man darf Christus aus der Geschichte der Menschen nirgendwo auf Erden ausschließen“ brandete minutenlanger Beifall auf, und ein altes Kirchenlied schallte dem Papst entgegen: „My chcemy Boga – wir wollen Gott!“

Am Rand der Menschenmasse entrollten Moczulskis Mitstreiter für kurze Zeit ihr Spruchband mit der Aufschrift „Freiheit und Unabhängigkeit“, ehe sie wieder in der Menge verschwanden. Das blieb die einzige offen politische Manifestation während dieses Ereignisses, dessen Wirkung viel subtiler zu sein schien: Die Katholiken Polens, die ihren Glauben jahrzehntelang verschämt, fast heimlich praktiziert hatten, lebten ihn nun freudig und demonstrativ aus. Im Regierungspressezentrum hieß es nachher von Parteijournalisten abwiegelnd, dass viele Warschauer an diesem Tag nicht bei der „Veranstaltung des Papstes“, sondern am Strand der Weichsel waren. Ein Korrespondent, der am Flussufer gewesen war, beschrieb die Gegend dann als „Apparatschik Beach“.

In den nächsten Tagen folgte ich der Route der Papstreise, die dieser selbst als „Pilgerfahrt“ bezeichnet hatte und zu deren Stationen Hunderttausende strömten. Ein Höhepunkt war die Feldmesse in Tschenstochau, dem Aufbewahrungsort der „Schwarzen Madonna“. Ich stand in der Menschenmenge, die sich um den Klosterhügel von Jasna Góra, dem Hellen Berg, versammelt hatte, wo auf einem großen Podest neben dem Altar das im byzantinischen Stil auf Holz gemalte Marienbild ausgestellt war. Diese „Mutter Gottes von Tschenstochau“ galt als Symbol der polnischen Nation, seit es im Jahre 1655 den Verteidigern des Klosters gelungen war, einer schwedischen Belagerung standzuhalten. Sie blieb es auch in den Zeiten der Teilung von 1772 bis 1918, als Polen unter den europäischen Mächten Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt war.

Im Gespräch mit den Pilgern hatte ich den Eindruck, dass der Sinn für das Geschichtliche fortlebte. Ein 28-jähriger Volkstanzlehrer, der mit umgeschnallter Marschtrommel 400 Wallfahrern sechs Tage lang nach Tschenstochau vorangegangen war, stellte sich mir vor allem als Wahrer einer alten Tradition vor. Nicht einmal die Truppen des zaristischen Russland hätten ihre Fußwallfahrt verhindern können.

Ein Priester erzählte mir vom Kleinkrieg, den es ständig mit den Behörden gab. Gesuche um Arbeitsfreistellungen während des Besuchs von Johannes Paul II. seien abgelehnt worden, weil „der Papst kein Brot bringt“. Die Abhaltung von Religionsunterricht für Schüler sei die „reinste Partisanenarbeit“, weil die staatliche Schule absichtlich so organisiert wurde, dass dafür keine Zeit blieb. Dabei gäbe es die offiziell erwünschte Kirchenferne in Wirklichkeit nicht. In seiner Gemeinde fänden von den rund 300 Begräbnissen im Jahr nur drei ohne priesterlichen Beistand statt. Nun habe er auch noch Schwierigkeiten, einen Pass für eine geplante Romreise zu erhalten, sagte der Geistliche. Wenn man ihm den vorenthalte, dann werde er in seinen Sonntagspredigten keinen Pardon mehr geben.

Mit solchen Geschichten im Ohr, die mich eher an Filmlustspiele mit Don Camillo und Peppone als an einen politischen Kampf der Kulturen erinnerten, kehrte ich nach Warschau zurück. Ich unternahm einen Spaziergang in die historische Altstadt, die nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut worden war.

Nur wenige Menschen waren auf dem kleinen Altstadtplatz, dem Rynek Starego Miasta, unterwegs. Auf allen Seiten war er von dreistöckigen Handelshäusern mit Fassaden aus dem 17. und 18. Jahrhundert umgeben. In drei schmalen Gebäuden an der Nordseite war das historische Museum untergebracht. Ich trat ein, und es wurde mir plötzlich klar, dass ich mich in einer künstlichen Vergangenheit befand. Wie auf Dokumentarfotos zu sehen, hatten die deutschen Truppen nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes von 1944 die ganze Stadt dem Erdboden gleichgemacht. Der Angriff der sowjetischen Roten Armee, die bis an das andere Ufer der Weichsel nahe herangerückt war, wollte nicht und nicht beginnen.

Nach dem Krieg hatte die junge Volksrepublik mitten in der materiellen Not die verrückte, aber wohl von der Mehrheit unterstützte Idee umgesetzt, die historischen Gebäude zu rekonstruieren. Anhand von Plänen und Fotos und mit Ziegeln, die auch aus anderen Landesteilen herbeigeschafft wurden, wurde das alte Zentrum neu errichtet.

In den Gebäuden, die nun, wie schon vor dem Krieg, das historische Museum der Stadt beherbergten, waren auch Dokumente des Widerstands gegen die Nazitruppen zu sehen. Selbstgebaute Waffen und Fotos der Kämpfer im aussichtlosen Aufstand gegen die deutschen Besatzer sah man da; Aufnahmen aus geheimen Druckereien und die Originale der dort entstandenen Untergrundzeitschriften und Flugblätter. Auf vielen von ihnen prangte das Symbol, das ich bereits kannte und das, wie ich hier erfuhr, „Kotwica“ hieß: das P für Polen, das aus einem ankerförmigen W wuchs. Es war das Kennzeichen des Warschauer Aufstandes und der gegen die Deutschen kämpfenden Heimatarmee, es stand für das „kämpfende Polen“ („Polska Walcząca“).

Nun begriff ich, woher Leszek Moczulski seine Idee bezogen hatte, mit einer winzigen Truppe Überzeugter eine bestens gerüstete Macht herauszufordern. Ich wusste damals nicht, in welche Richtung die polnische Entwicklung weitergehen würde. Möglich war, dass Hitzköpfe wie Moczulski und seine Kampfgefährten für großen Wirbel sorgen würden. Möglich war aber auch, dass der graue und bürokratische Staatsapparat, von dem ich in der Person Wiesław Górnickis einen zynischen, aber die Realität durchaus wahrnehmenden Vertreter kennengelernt hatte, die Entwicklung irgendwie in den Griff bekommen könnte. Oder aber die katholische Kirche würde die mit dem Papstbesuch erreichte Position nutzen, um mitten im „realen Sozialismus“ eine noch nie dagewesene Sonderstellung zu erreichen. Welche Variante wahrscheinlicher war, ließ sich noch nicht sagen. Zu diesem Zeitpunkt schien die Teilung der Welt in feindliche Blöcke noch versteinert und auf Jahrzehnte unveränderbar zu sein. Aber eines war mir in Polen klargeworden: In diesem Land hatten Veränderungen von historischer Dimension begonnen. Und ich wollte sie weiter aus nächster Nähe beobachten.

Polnischer Aufbruch

Die Tage von Danzig

Das zweimotorige Propellerflugzeug vom russischen Typ Antonow 24 war auf dem Flug nach Danzig bis auf den letzten seiner fünfzig Plätze besetzt. In Warschau hatten an diesem Morgen im August 1980 westliche Reporter, Fotografen und Kameraleute vor dem Abflug beim Schalter der polnischen Luftlinie LOT mit Dollarnoten gewedelt und drängelnden Kollegen Prügel angedroht, um noch ein Ticket zu ergattern. Die Westler wollten unbedingt bei den historischen Umwälzungen dabei sein, die sich an der polnischen Ostseeküste abspielten. Zehntausende Arbeiter kämpften dort für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Sie traten in den Streik ein Verhalten, das im realen Sozialismus mit seinen staatlich kontrolierten Gewerkschaften unerhört war. Es klang nach Aufstand und Revolution, obwohl man nichts Genaues wusste, weil die Telefonverbindungen nach Danzig gekappt waren.

Auch ich hatte mich gleich nach den ersten Berichten vom großen Streik nach Polen aufgemacht und kam bald aus dem Staunen nicht mehr heraus. Kaum war die Antonow 24 auf dem Danziger Flughafen ausgerollt, sprangen die Passagiere auf. Einige von ihnen warteten nicht ab, bis die Gangway herangeschoben war. Sobald sich die Luke öffnete, hüpften sie die eineinhalb Meter zur Landebahn hinunter. Dann lief der Pulk, die durchtrainiert wirkenden Typen der US-Fernsehsender voran, zum Ausgang. Weil die Türen auf der Ankunftsseite noch versperrt waren, stürmten sie durch das Abflug-Gate in die Halle, wo ihnen polnische Sicherheitsbeamte mit offenem Mund nachschauten. Niemand hielt sie auf.

Als ich vor dem Flughafengebäude ankam, hatte die wilde Horde bereits alle Streikbrecher-Taxis gekapert. Nur eine Journalistin der österreichischen KP-Zeitung Volksstimme stand da und versuchte, sich mit dem einzigen verbliebenen Taxifahrer auf Russisch zu verständigen. Doch der deutete auf seine Ohren, als wollte er mitteilen, dass er für diese Sprache taub sei, und fuhr davon.

Etwas später gelang es mir und anderen Wartenden dann doch, per Autostopp in die Stadt zu kommen. Unser Wunsch, zur „Stocznia“ zu fahren, zur Danziger Werft, wurde von einem Fiat-Fahrer mit strahlender Miene erhört. Im beginnenden Nieselregen fuhr er durch die Vorstadt. Keine Straßenbahn und kein Bus waren zu sehen, auch Autos waren nur wenige unterwegs. Vor Lebensmittelgeschäften standen Frauen und Kinder Schlange, sonst waren die Straßen leer.

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