Hans Becker O5 - Erhard Stackl - E-Book

Hans Becker O5 E-Book

Erhard Stackl

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Beschreibung

Keine Gedenktafel, kein Platz und keine Straße erinnern heute an ihn: Hans Becker ist in Vergessenheit geraten. Der Journalist Erhard Stackl schildert, wie ein ursprünglich unpolitischer Weltreisender zum Propagandaleiter der austrofaschistischen Vaterländischen Front und schließlich zum Gründer der überparteilichen Widerstandsorganisation O5 wurde. Hans Becker war unter den Ersten, die mit einem »Prominententransport « in das Konzentrationslager Dachau verschleppt wurden. Dort, und später auch in Mauthausen, verbündet er sich mit Mithäftlingen im Kampf gegen die Nazis. Nach seiner Entlassung gelingt es ihm trotz Gestapo-Überwachung, Kontakt zu anderen Regimegegnern aufzunehmen, und er organisiert nach und nach die Widerstandsgruppe O5, von der noch heute die Gravur am Wiener Stephansdom zeugt. Anhand zahlreicher neuer Dokumente beschreibt Erhard Stackl nicht nur, wie Becker und die O5 die Befreiung Wiens 1945 planten und verraten wurden, sondern auch, welche Arten von Widerstand es gibt und wie wichtig der Kampf gegen das Vergessen ist.

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Erhard Stackl

HANS BECKER O5

Widerstand gegen Hitler

Erhard Stackl

HANS BECKER O5

Widerstand gegen Hitler

Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien, Kultur, des Zukunftsfonds der Republik Österreich und des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus

Stackl, Erhard: Hans Becker O5. Widerstand gegen Hitler / Erhard Stackl

Wien: Czernin Verlag 2022

ISBN: 978-3-7076-0779-6

© 2022 Czernin Verlags GmbH, Wien

Autorenfoto: Katharina F.-Roßboth

Umschlaggestaltung und Satz: Mirjam Riepl

ISBN Print: 978-3-7076-0779-6

ISBN E-Book: 978-3-7076-0780-2

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

INHALT

1Tod am Nachmittag

2Wege in den Widerstand

3K. k. Gymnasium mit Meerblick

Soldat und Feldflieger

4Durchstarten in Wien

5In Paraguays »Grüner Hölle«

6Von Hitler bis Bata

7Becker als Maler

8Werbung für Dollfuß

9In der Kanzlerdiktatur

10Vaterländischer Freimaurer

11Wurzeln des Widerstands

12Referendum für Österreich

13Aufbäumen im KZ

Familie auf der Flucht

Unter Arbeitssklaven

14Die »Afrikaforscherin«

15Weiße Rose, roter Pianist

16Traditionalisten und Alpenpartisanen

17Beckers buntscheckige Truppe

18Schießerei am Saarplatz

Überlebenskampf in Mauthausen

19Der verratene Aufstand

Befreiung von Mauthausen

20Wackeliger Neubeginn

21Gerichte und Familiengeschichte

Private Heilungsversuche

22Finale in Chile

Textverweise

Bibliografie

Bildnachweise

Danksagung

Erhard Stackl

– 1 –

TOD AM NACHMITTAG

Nichts deutete darauf hin, dass ein strahlender Tag im chilenischen Frühling Hans Beckers letzter sein würde. Während seiner 53 Lebensjahre war Becker schon oft an den Rand des Abgrunds geraten, manchmal sogar darüber hinaus.

Als österreichischer Fliegeroffizier überlebte er das feindliche Feuer in den klapprigen Flugzeugen des Ersten Weltkriegs. Danach, als Eisenbahnbauer in entlegenen Urwäldern Südamerikas, traf er bis dahin nicht kontaktierte indigene Völker und hielt bewaffnete Holzfäller in Schach, die in ihrem Camp betrunken tobten. Während des Zweiten Weltkriegs quälten Nazis den Hitlergegner Becker mehr als 1.000 Tage in Konzentrationslagern auf kaum sagbare Weise.

Wieder in Freiheit, kämpfte er trotz ständiger Todesgefahr im österreichischen Widerstand bis Kriegsende gegen Hitler. Freunde beschrieben Hans Becker als verwegenen Abenteurer im Stil früher Hollywoodfilme: 1,79 Meter groß, schlank und elegant, mit Witz und Charme anscheinend jeder Gefahr gewachsen.

An seinem letzten Tag, dem 16. Dezember 1948, saß Becker in seiner neuen, vermeintlich harmlosen Rolle als österreichischer Diplomat an seinem Schreibtisch in Santiago de Chile und führte bloß Papierkrieg. Gegen 16 Uhr kam im Vorraum Unruhe auf. Ein Mann war unangemeldet in die Gesandtschaft im sechsten Stock des neuen Bürogebäudes im Zentrum von Santiago eingedrungen und hatte Becker dringend zu sprechen verlangt.

Es war in diesen Tagen nicht der erste Versuch des Ungebetenen, einen Gesprächstermin zu erzwingen, aber sein heftigster. Im Empfangsraum konnten der Konsul Hugo Moser und Beckers Sekretärin Augusta Menjoni den wütenden Mann mittleren Alters – 1,60 Meter groß, blondes Haar, helle Augen – kaum zurückhalten. Er wedelte mit einem Brief, den Becker unbedingt lesen müsse. Um ihn zu beruhigen, nahm Frau Menjoni das Schreiben an. Sie eilte mit dem Umschlag in Beckers Zimmer. Als sie wieder herauskam, stürmte der Eindringling an Menjoni vorbei durch die Tür und warf sie hinter sich zu.

In den nächsten Minuten hörten sie einen »heftigen Wortwechsel«, so gaben Moser und Menjoni später zu Protokoll. Dann krachten drei Schüsse. Moser wollte sofort herausfinden, was geschehen war, doch die Tür war blockiert. Er drückte sie einen Spalt auf und sah im selben Moment, wie der Eindringling einen Revolver an seine rechte Schläfe hielt und schoss.1

Geschockt drückte Moser die Tür weiter auf und fand unmittelbar dahinter, in einer Blutlache liegend, Hans Becker. Als der Notarzt und die Polizei vor dem Hochhaus in der Calle Ahumada 312 eintrafen und wenige Minuten später in die Räume der österreichischen Gesandtschaft im Appartement 625 rasten, konnten sie nur noch den Tod Beckers wie auch seines Mörders feststellen.2

Zwei Schüsse hatten Becker getroffen, der erste von vorn in die Brust, der zweite, als er sich flüchtend zur Tür wandte, in den Hinterkopf. Eine dritte Kugel hatte das Opfer verfehlt und steckte in der Wand. Das stellten die Polizisten fest, die unter der Leitung des Präfekten Oscar Peluchoneau die Ermittlungen aufnahmen. Der Ablauf schien klar zu sein. Die Tatwaffe, ein Revolver der Marke Smith & Wesson, Kaliber 38, lag neben dem Täter, der auch einen chilenischen Personalausweis bei sich trug: er lautete auf Leo Sikorskyj, 42 Jahre alt, als Sohn ukrainischer Eltern im österreichisch-ungarischen Galizien geboren, seit Kriegsende staatenlos und erst vor drei Monaten in Chile angekommen.3

Als nächstes verständigte die Polizei das chilenische Außenministerium vom Diplomatenmord und versuchte, die erst 37-jährige Witwe zu erreichen. Beckers Ehefrau Etta und ihre beiden Töchter, die sechsjährige Angelika, genannt »Gika«, und die vierjährige Franka, verbrachten diesen Donnerstag im Thermalbad Colina, 100 Kilometer südöstlich von Santiago. Polizisten machten sie dort ausfindig, überbrachten die schreckliche Nachricht und lotsten sie zurück in die Stadt.

Schlagzeilen zu Beckers Tod in Österreich (»Kurier«), den USA und Chile

Inzwischen war Chiles Außenminister Germán Riesco vor dem Bürohaus in der Calle Ahumada eingetroffen, um Beileidswünsche seiner Regierung zu überbringen. Es herrschte ein wahrer Tumult, hunderte Schaulustige verstopften die damalige Durchzugsstraße, die heute eine Fußgängerzone ist. Reporter der Boulevardpresse veranstalteten ein Blitzlichtgewitter, um die erregte Menge, den Minister und die Arbeit der Polizei zu fotografieren.

Nachrichtenagenturen verbreiteten die Meldung in der Welt. »Austrian Envoy Slain« (Österreichischer Gesandter getötet), berichtete etwa die »New York Times« am 17. Dezember aus Chile.4 In Österreich machte der »Kurier«, – »Herausgegeben von den amerikanischen Streitkräften für die Wiener Bevölkerung« hieß es damals im Untertitel – mit großen Lettern auf: »Österreichischer Geschäftsträger in Chile durch drei Schüsse ermordet«. Ähnlich titelte die von der britischen Besatzungsmacht herausgegebene »Weltpresse«: »Österreichischer Diplomat in Chile ermordet.« Beide Blätter nannten bereits den »staatenlosen Ukrainer« Sikorskyj als mutmaßlichen Täter. Laut »Kurier« soll er mit einem Flüchtlingstransport aus Österreich nach Chile gekommen sein und »Becker mehrmals aufgesucht haben, um Arbeit zu finden«. Das Mordmotiv ließen die Berichte offen.5

Chilenische Journalisten forschten noch am Tag der Tat weiter nach Gründen. Ein Reporter von »Las Noticias de Última Hora« (etwa: Neueste Nachrichten), der überhaupt der erste am Tatort gewesen sein will, wie er in seinem Bericht stolz vermeldete, traf unter den Schaulustigen einen Österreicher. Dieser nannte sich Walter Kallich und bot eine Erklärung für die Bluttat: Becker sei ein hochrangiger »Anti-Nazi«, aber auch ein »Anti-Kommunist« gewesen. Sikorskyj, ein »eingefleischter Kommunist«, habe ihn wohl aus »politischen Gründen« und in höherem Auftrag liquidiert.6

Als Präfekt Peluchoneau* tags darauf eine Pressekonferenz zum Diplomatenmord abhielt, fragte der Reporter gleich nach diesem »internationalen Motiv«. Bei einer »Bluttat am helllichten Tag mitten im Zentrum von Santiago« sei der Gedanke an einen politischen Auftragsmord ausgesprochen »absurd«, lautete die negative Antwort. Der Täter sei äußerst nervös gewesen und wie ein Anfänger vorgegangen, nicht wie ein Berufskiller.7 Nachfragen, ob es dann vielleicht ein »Mord aus Leidenschaft« gewesen sei, ließ Peluchoneau unbeantwortet.

Aus Ermittlerkreisen sickerte zu den Medien durch, dass der Mord tatsächlich mit dem privaten Umfeld von Täter und Opfer zu tun haben könne. »Der Brief, den Sikorskyj zurückgelassen hat – der verrät das Motiv«, schrieb die Zeitung »Últimas Noticias«. Und das Konkurrenzblatt »Noticias de Última Hora« spekulierte, der »Immigrant« habe Becker wohl wegen »Eheproblemen« mit seiner Frau getötet.8

Konsul Moser berichtete empört an den damaligen Außenminister Karl Gruber nach Wien, dass er mit dem Rechtsanwalt der Gesandtschaft eine »mehrstündige Unterredung« gehabt habe, um eine »Richtigstellung der entstellenden Zeitungsnachrichten zu konzipieren«.9

Es war aber nicht ein mit Andeutungen spekulierendes Boulevardmedium, sondern »El Mercurio«, das Leibblatt der Konservativen, das als erstes den Namen Hilde Sikorskyj nannte. Die junge Ehefrau des Täters sei mit ihm ins Land gekommen und bald danach »als Kinderfrau in den Dienst Hans Beckers getreten«. Im Rahmen der damaligen Anstandsgrenzen noch deutlicher wurde die Zeitung »La Nación«: Der Täter habe eine Aussprache darüber verlangt, was an den Gerüchten über den Umgang Señor Beckers mit seiner Ehefrau dran sei. Darum sei es auch in dem ominösen Brief gegangen.10

Um weitere Spekulationen zu stoppen, gab die österreichische Vertretung in Chile die vorbereitete Erklärung an die lokale Presse und an Agenturen wie United Press weiter. »Danach hatte sich der Mörder Leo Sikorskyj in die Gesandtschaft begeben, um die Auslieferung seiner Frau zu verlangen, die Asyl gesucht hatte, weil sie von ihrem Mann stets mit Morddrohungen verfolgt wurde«, meldete der »Wiener Kurier« am nächsten Tag unter dem Titel »Motiv für Mord an Gesandten Dr. Hans Becker aufgeklärt«.11

Aber der Schaden war schon angerichtet. Im Wiener Ministerium, wo Becker nicht nur Freunde hatte, wurde sogar noch lange untersucht, ob es sich tatsächlich um einen »Dienstunfall« gehandelt habe. Es könnte auch ein »Selbstverschulden« Beckers vorliegen. Hatte er Schwierigkeiten mit Menschen bekommen, für die es keine Zuständigkeit gab, weil sie keine Österreicher waren? Die Beamten entschieden dann doch, dass es ein Dienstunfall war, was für die finanzielle Versorgung der Hinterbliebenen Bedeutung hatte.12

Den Angehörigen macht das Gerede aber bis heute viel Verdruss. Zu ihrem Ärger munkelten sogar Leidensgenossen Beckers, die gemeinsam mit ihm das KZ überlebt hatten, noch Jahre später, dass bei seinem Tod eine Frau im Spiel gewesen sein könnte.

In Santiago de Chile wurde bereits zwei Tage nach dem Mord ein Staatsbegräbnis für Becker ausgerichtet. Zur Einsegnung in der Sagrario-Kirche neben der Kathedrale sei am Samstagvormittag neben Regierungsvertretern, Diplomaten und Mitgliedern der österreichischen Kolonie »sehr viel chilenisches Publikum« erschienen, meldete Konsul Moser nach Wien. An der Bestattung selbst nahmen laut Moser »nach chilenischem Brauch Damen nicht teil«. Der Leichenwagen wurde vor dem Cemeterio General, Santiagos Zentralfriedhof, »von Lanzenreitern flankiert«. Eine Infanteriekapelle spielte Beethovens Trauermarsch.13

Als Vertreter des chilenischen Außenamts hielt Enrique Bernstein, ein späterer Botschafter seines Landes in Österreich, die Trauerrede für Becker, der für sein Vaterland viel gelitten und trotz seiner kurzen Amtszeit in Santiago starke Sympathien gewonnen habe. Für das Diplomatische Corps sprach der Nuntius des Vatikans und zitierte das biblische Buch Hiob. Dann gab eine Ehrenkompanie drei Salutschüsse ab, während der Sarg in einer Ecke des Mausoleums der Luftstreitkräfte beigesetzt wurde.14

Daheim in Österreich schrieben die Zeitungen über Beckers Rolle im Zweiten Weltkrieg, die von der Tragik seines Todes fast überschattet wurde. Die »Wiener Zeitung«, für die Becker 15 Jahre zuvor als Journalist gearbeitet hatte, betonte seinen Beitrag zur österreichischen Résistance: »Er war einer der führenden Männer der O5.« Auch das Regierungsblatt »Neues Österreich« und »Das Kleine Volksblatt« der konservativen Volkspartei (ÖVP) erinnerten an Beckers »Aufbau der Widerstandsbewegung«. Der ÖVP-Funktionär Fritz Bock, früher ein enger Mitarbeiter des Ermordeten, nannte Becker im »Kurier«-Interview »einen der größten Köpfe Österreichs im Kampf gegen den Nationalsozialismus«.15

O5-Zeichen auf dem Stephansdom: O und E für Österreich

Ähnlich klang es aus der entgegengesetzten politischen Ecke. Als »fanatischen Vorkämpfer für die Freiheit«, der für sie ins KZ ging und nach seiner Entlassung »als Organisator des Österreichischen Widerstands wirkte«, beschrieb ihn »Der neue Mahnruf«, das Organ »österreichischer KZler und politisch Verfolgter«, dem eine Nähe zur Kommunistischen Partei nachgesagt wurde. Für Beckers Engagement sah dieser Nachruf zwei Motive: seinen Glauben an Österreich, das für ihn »auch in den dunkelsten Tagen des Terrors und der Unterdrückung niemals gestorben« war, und den »Nazismus, den er aus tiefster Seele verabscheute«.16

Am 21. Dezember 1948 hielt Bundeskanzler Leopold Figl, der zehn Jahre zuvor mit Becker ins KZ Dachau verschleppt worden war, in der Sitzung des Ministerrats eine Gedenkminute für den Ermordeten ab. Am Tag darauf gab es im Wiener Stephansdom in Anwesenheit zahlreicher Überlebender des Naziterrors ein Requiem für Becker. Mit dabei war Theodor Innitzer. Österreicherinnen und Österreicher, die in der Nazizeit wegen ihres Patriotismus verfolgt wurden, schätzten den Kardinal wenig, weil er 1938 den Anschluss des Landes an Hitlerdeutschland befürwortet hatte.17

Auf der Fassade des Stephansdoms, rechts neben dem Riesentor, prangt jedenfalls bis heute deutlich sichtbar das Zeichen »O5«, das Kürzel der von Hans Becker gegründeten Widerstandsorganisation. Es ist ein leicht zu entschlüsselnder Code: Zum O kommt als fünfter Buchstabe des Alphabets das E und ergibt OE als Symbol für ein freies OESTERREICH, das sich entschlossen gegen die Auslöschungsversuche der Nazis wehrte.

*Im Spielfilm »Neruda« (2016) konfrontiert der chilenische Regisseur Pablo Larraín die Figur des weltberühmten Dichters und kommunistischen Senators Pablo Neruda mit einem Gegenspieler in Gestalt eines gewitzten Polizisten. Dieser fiktionale »Inspektor Oscar Peluchoneau«, der den 1948 zum Staatsfeind erklärten und untergetauchten Poeten aufspüren und verhaften soll, ist wohl nach dem im Fall Becker ermittelnden Polizeipräfekten modelliert.

– 2 –

WEGE IN DEN WIDERSTAND

Hans Becker stammte aus einer adeligen Familie der österreichischungarischen Monarchie. Er sympathisierte zwar prinzipiell mit der monarchischen Regierungsform, gehörte aber nicht zu jenen, die ihre Wiederherstellung verlangten. Becker sah sich als liberalen Konservativen und vor allem als österreichischen Patrioten und Nazigegner, der in allen politischen Lagern Verbündete suchte. Im Sammelbecken O5 gab es Monarchisten und Christlichsoziale, abgesprungene Soldaten ebenso wie einige Kommunisten. Auch Sozialdemokraten waren in der Bewegung aktiv – drei wichtige Verbindungsleute der O5 wurden in späteren Jahren enge Vertraute Bruno Kreiskys.

Zeitgenossen beschrieben Becker als ungewöhnliches Multitalent. Nach seiner Zeit als Offizier im Ersten Weltkrieg arbeitete der absolvierte Jurist zunächst als Bankkaufmann. Becker betätigte sich aber auch als Maler und Grafiker, arbeitete später in Übersee als Eisenbahningenieur und Völkerkundler. Nach seiner Rückkehr wurde er in Wien zum Werbefachmann und arbeitete für einen tschechischen Weltkonzern. Über diese Erfahrungen hielt er Vorträge und schrieb Zeitungsartikel. Anfang der 1930er-Jahre stieg er ganz in den Journalismus ein, wurde Autor und Art-Director einer Sonntagszeitung, für die auch der bekannte Essayist Alfred Polgar schrieb.

Becker hatte bis dahin keiner politischen Partei angehört. Sein Milieu war künstlerisch-kreativ und intellektuell. Seine erste Ehefrau brillierte als Solotänzerin auf großen Bühnen und stammte aus einer Familie jüdischer Großbürger und Kunstmäzene. Seine zweite Ehefrau forschte schon als junge Ethnologie-Studentin im afrikanischen Busch und berichtete über ihre Abenteuer in populären Zeitschriften und Rundfunksendungen.

Radiovorträge waren ein weiteres Metier Beckers, als er 1934 einen scharfen politischen Schwenk vollzog und als Werbeexperte für die zunehmend autoritäre Regierung zu arbeiten begann. Deren Einheitspartei, die »Vaterländische Front«, ernannte ihn zum »Propagandaleiter«, auch wenn Mittel und Macht weit von seinem deutschen Pendant, Hitlers Sprachrohr Joseph Goebbels, entfernt waren. Becker glaubte, die austrofaschistische Diktatur unterstützen zu müssen, um den Ansturm der Nazis auf Österreich zu stoppen.

Doch Hitler erhöhte den Druck auf Österreich, schleuste Vertrauensleute in das »vaterländische« Regime ein und untersagte öffentliche Kritik an Deutschland. Becker berichtete später, er habe deshalb schon Mitte der 1930er-Jahre einen Teil seiner Aktivitäten gegen Hitler in den Untergrund verlagert. Für dieses geheime »Operationsbüro« sammelte er Geld, knüpfte ein Netz von Kontaktleuten und legte für Nazis unsichtbare »Verbindungswege ins Ausland« an, wie er es in einer nach dem Krieg veröffentlichten Rechtfertigungsschrift formulierte.1

Am Ende des Schuschnigg-Regimes und dem von den Österreicherinnen und Österreichern massenhaft bejubelten Einmarsch der Deutschen war Becker im März 1938 unter den 70.000 Menschen, die von den Nazis sofort verhaftet wurden. Anfang April gehörte er zu den 150 Bedauernswerten – politische Aktivisten »vaterländischer« und linker Richtung sowie jüdische Geschäftsleute –, die mit dem ersten »Prominententransport« ins Konzentrationslager Dachau verschleppt wurden. Bis heute hält sich die Erzählung, dass dort linke und rechte Österreicher, eben noch Bürgerkriegsgegner, miteinander ins Gespräch kamen. Becker gehörte zu jenen, die sich zusätzlich schworen, die Nazis gemeinsam zu bekämpfen, wenn sie die Chance dazu hätten.

Anfang 1941 war für Hans Becker die Zeit im KZ vorerst vorbei. Gerade wieder in Freiheit, versuchte er mit anderen Haftentlassenen das Versprechen wahr zu machen. Er kontaktierte Verbindungsleute von früher und entwickelte ein Programm. Der wichtigste Punkt war, stets konspirativ vorzugehen, um unter dem Radar des nationalsozialistischen Überwachungssystems zu bleiben.2

An zweiter Stelle stand die Bemühung, Mitglieder der Gruppe vom Kriegsdienst fernzuhalten. Es gab Tipps, wie man sich »untauglich machen« konnte und Kontakte zu Ärzten, die dabei halfen.

Als »wichtigster Sektor der Widerstandsarbeit« wurde die Sabotage der Rüstungsproduktion gesehen. Beckers Gruppe wollte dazu mit »Zellen in den Fabriken« kooperieren und Anleitungen für erfolgreiche Sabotagemethoden weitergeben.

Ziel der Widerstandstätigkeit war es, das System der Naziherrschaft zu destabilisieren. Die von der Nazipropaganda anfänglich entfachte »Siegespsychose« (Becker) versuchten sie per Flüsterpropaganda zu unterminieren. So warnten sie vor kriegsbedingten Lebensmittelkürzungen für die Bevölkerung, während sich Nazibonzen zur gleichen Zeit bereicherten. Zusätzlich machten sich Beckers Leute bereits Gedanken darüber, wie Österreich nach dem Sturz der Nazis aussehen könnte.

Die Zusammenarbeit mit Widerstandsgruppen anderer Länder wurde geplant und mit Tschechien bald realisiert. Zusätzlich wollte die Gruppe auch Kontakt zu den Alliierten aufnehmen.

Zum Kürzel O5 kam es erst spät. Intern verwendete Becker ab 1942 nacheinander die Bezeichnungen »Operationsbüro«, »Zentralkomitee Österreich« und »Provisorisches Österreichisches Nationalkomitee«. Diese Netze sollten jeweils mehrere Widerstandsgruppen unter einem Dach zusammenbringen.

Im Herbst 1944 hielt Becker die Zeit für reif, gemeinsam an die Öffentlichkeit zu treten. Dazu war es notwendig, ein einprägsames Zeichen zu finden. Den zündenden Einfall hatte ein aus Graz kommender Nazigegner, der Medizinstudent Jörg Unterreiner. Soeben zur Wehrmacht eingezogen, kam Unterreiner nach Wien, wo er in einem Lazarett arbeitete und auf Beckers geheime Organisation traf.3

Becker soll Unterreiner aufgefordert haben, in der Nacht auf möglichst viele Hauswände in weißer Farbe »Freiheit für Österreich« zu schreiben. Unterreiner fand, dass das zu viel Zeit brauche – und schlug stattdessen das Kürzel O5 vor. Begonnen wurde die Malaktion am Wiener Stephansplatz, andere Städte Österreichs folgten.4

Die Bewertungen dessen, was Becker und die O5 dann tatsächlich geleistet haben, gehen weit auseinander. Hans Becker sei »zweifellos« die »wichtigste Persönlichkeit« im österreichischen Widerstand gewesen, schreibt der Historiker Radomír Luža. Becker sei es gelungen, ein »Auffangbecken« für die zersplitterten österreichischen Widerstandsgruppen zu schaffen, urteilte Luža, der an US-Universitäten lehrte. Gegen Hitler hatte Luža im Krieg selbst für die tschechischen Partisanen gekämpft, sein eigener Vater verlor dabei das Leben. Das Cover des Buches, das Luža über den österreichischen Widerstand verfasste, schmückt das Zeichen O5.5

Ein »Hauptträger« des Widerstands ist Becker auch für Otto Molden, der nach 1945 Gründer der Ideenschmiede »Forum Alpbach« in den Tiroler Bergen war. 1958 brachte Otto Molden ein erstes wissenschaftliches Werk über Gruppierungen wie O5 heraus, mit der er als junger Mann selbst in Berührung gekommen war.6

Schon weniger enthusiastisch fällt das Urteil des Zeithistorikers Gerhard Jagschitz aus, für den O5 als »parteiübergreifende, wenn auch eher konservative, lose Gruppe« nur »vorübergehend einige Bedeutung« hatte: als politisches Netzwerk, das die Wienerinnen und Wiener vor Kriegsende per Flugblatt zum Widerstand gegen die Nazis und zur Unterstützung der herannahenden sowjetischen Truppen aufrief. Eine »Hochstilisierung zu einer gesamtösterreichischen Widerstandsbewegung« hielt Jagschitz für »übertrieben«.7

Ähnlich skeptisch äußerte sich Wolfgang Neugebauer, der O5 in seinem umfangreichen Standardwerk über den österreichischen Widerstand bloß drei Seiten widmet. Die von der Gruppe behaupteten »umfassenden Widerstandsaktivitäten« wären kaum durch entsprechende »Gestapo- und NS-Justizdokumente« belegbar. Neugebauers Urteil: O5 sei zwar »eine der wichtigsten Widerstandsgruppen«, aber »keineswegs die Dachorganisation« des gesamten Widerstands gewesen.8

Wiener Palais Auersperg, 1945 Sitz der O5

Die Ziele von O5 und ihren Verbündeten im Militärapparat waren 1945 hochgesteckt. Sie wollten einen Volksaufstand entfachen, mit den Alliierten die kampflose Übergabe Wiens und anderer Städte vereinbaren und eine von allen Nicht-Nazis getragene Nachkriegsregierung formieren. Hans Becker sollte Regierungschef oder Außenminister werden.

Kontakte zu den heranrückenden Sowjets waren bereits hergestellt, die Vorbereitungen liefen. Doch Verrat vereitelte den Plan in letzter Minute. Becker kam ins KZ und entging dort nur knapp der Hinrichtung.

Der Volksaufstand blieb aus. Als die Sowjettruppen die Nazis dann in der »Schlacht um Wien« besiegten, betrieben die nicht verhafteten O5-Widerständler im Wiener Palais Auersperg ein Büro, um dort »die neue demokratische Verwaltung einzusetzen«.9 In der Hoffnung auf Posten strömten von allen Seiten Menschen herbei. Dubiose Figuren deklarierten sich plötzlich zu Aktivisten des Widerstands und diskreditierten so das Ansehen des ganzen Unternehmens.

Vertreter alter und neu entstehender Parteien, die im überparteilichen Projekt der O5 ohnehin eine unliebsame Konkurrenz sahen, besuchten das Palais Auersperg und fanden ihren negativen Eindruck bestätigt. Lois Weinberger, einer der Mitbegründer der ÖVP und im April 1945 selbst gerade aus dem KZ entkommen, sah im Auersperg »sehr zweifelhafte Gestalten« vom Typ »Graf Bobby«, wie er in seinen Erinnerungen schrieb.10

Adolf Schärf, Sozialdemokrat und späterer Bundespräsident, war im April 1945 provisorischer Leiter seiner Partei. Am 12. April erschienen in seiner Wohnung zwei Männer »mit rot-weiß-roten Armschleifen«, die ihn aufforderten, in das Palais Auersperg zu kommen. Schärf schrieb später darüber: »Ich ging sofort. Im Palais herrschte fieberhafter Betrieb. Es war, wie ich erfuhr, der offizielle Sitz der ›Widerstandsorganisation O5‹, sozusagen die einzige österreichische Stelle in Wien, die überhaupt amtierte.«11 Schärf bevorzugte dann aber doch Gespräche mit der neuen ÖVP und ging auf Distanz zu O5. Die Widerstandsorganisation stand nach seinem Eindruck zu sehr unter dem Einfluss der Kommunisten, weil ihre Vorstellung von einer gemeinsamen Regierung aller politischen Kräfte – ohne die Nazis – nach der von Moskau propagierten Volksfrontidee roch.

Doch ausgerechnet von Ernst Fischer, einem der aus Moskau heimgekehrten kommunistischen Parteiführer, kam die schärfste Verurteilung der O5. Fischer sah im Palais Auersperg nur eine »Bande von Gaunern, Schwindlern und naiven Leuten«, die »fantastische Erwartungen« hätten und mit denen sich eine Kooperation nicht auszahle.12

Und so geschah es. Von der SPÖ, der neuen ÖVP und der KPÖ wurde eine provisorische Regierung gebildet. Die Widerstandsorganisation blieb draußen. Als Hans Becker nach der Befreiung aus dem KZ Mauthausen endlich nach Wien zurückkam, war für ihn kein Posten mehr frei. Seine Rolle, und die der O5, geriet langsam in Vergessenheit. Farbe und Glamour kam in die Geschichte der O5 erst durch die Erzählungen von Fritz Molden. Der Zeitungsmann, zeitweise international erfolgreiche Verleger und jüngere Bruder von Otto Molden, schilderte Jahre später in Interviews und Büchern seine Abenteuer als 20-jähriger Wehrmachtsdeserteur im Geheimauftrag von O5.13 Mit gefälschten Papieren fuhr er mehrmals nach Italien und überquerte die Grüne Grenze zur Schweiz. Österreicherinnen und Österreicher im Schweizer Exil und in der französischen Résistance halfen ihm, Kontakt zu den Alliierten aufzunehmen.

Eindringlich schilderte Fritz Molden, wie er den Kontrollen der Wehrmacht mit knapper Not entging. Für den Zeithistoriker Peter Pirker ist das zu abenteuerlich: Moldens Erzählungen seien zwar »großartig zu lesen, in vielen Aspekten wunderbar erfunden, als verlässliche Quelle jedoch mit Vorsicht zu genießen«.14

Im Kern ist die Geschichte aber wasserdicht. Als O5-Verbindungsmann traf Molden in Bern 1944 mehrfach Allen W. Dulles, den Chef des damaligen amerikanischen Geheimdienstes OSS, später CIA. Für seinen Einsatz erhielt Molden 1947 – im selben Jahr wie Marlene Dietrich – die höchste US-Auszeichnung »Medal of Freedom«. Fritz Molden, so hieß es in der Würdigung, habe »außergewöhnlich verdienstvolle Taten und Dienste« vollbracht, und das mit »herausragendem Heldenmut unter großen persönlichen Risiken«.15 Er fand zum Geheimdienstchef Dulles sogar Familienanschluss und heiratete 1948 dessen Tochter Joan, die Ehe hielt knapp sechs Jahre.16

Laut Fritz Moldens Memoiren hatte er von den Amerikanern gehört, dass der Osten Österreichs zuerst von der Roten Armee eingenommen werden würde. Deshalb habe er in Paris am 30. März 1945 den russischen General Iwan Susloparow aufgesucht, um eine »baldige Verbindung zwischen O5-Vertretern und den auf Wien zu marschierenden Sowjetarmeen« herzustellen.17

Sowjetische Geheimdokumente, die nach dem Ende der UdSSR westlichen Forschern zugänglich wurden, bestätigen Moldens Darstellung. Aus ihnen geht hervor, dass Stalin sofort von der Unterredung in Paris informiert wurde. Die Sowjets waren zwar sauer, dass sich die Österreicher zuerst an Amerikaner und Briten gewandt hatten, stimmten »einer Zusammenarbeit mit O5 jedoch zu«.18

In Paris wurden Codes für Funkkontakte ausgetauscht und Losungsworte für einen Boten vereinbart, der von Wien kommend die Front durchqueren und die sowjetischen Truppen erreichen sollte. Auch dieses Husarenstück ist historisch verbrieft: Am 2. April 1945 fuhr Oberfeldwebel Ferdinand Käs mit gefälschten Kurierausweisen, die einen Besuch beim ungarischen Armeekommando vortäuschten, Richtung Bucklige Welt im Süden Niederösterreichs. In der Gemeinde Hochwolkersdorf erreichte Käs das damalige sowjetische Hauptquartier und berichtete Generaloberst Aleksej Zeltov, wie der Widerstand die kampflose Übergabe Wiens ermöglichen wollte. Im Gegenzug bat er, »die schweren alliierten Luftangriffe auf Wien einzustellen« und die Versorgung der Bevölkerung mit Hochquellwasser nicht zu unterbrechen.19

Vom Angebot der O5, eine neue österreichische Regierung aufzubauen, hielt Stalin offenbar nichts. Die Gruppe war ihm zu westlich orientiert. Der Sowjetdiktator erinnerte sich aber anscheinend an Karl Renner, der Österreich nach dem Zusammenbruch 1918 schon einmal als Staatskanzler gedient hatte. Dass der Sozialdemokrat Renner ein Antikommunist war und 1938 für den Anschluss Österreichs an Deutschland gestimmt hatte, schien Stalin nicht zu stören. Er gab seinen Truppen »den Befehl, nach Renner zu suchen.«20 Nach einer anderen Version fuhr Renner aus eigenem Antrieb der Roten Armee entgegen. Und Stalin habe dazu gesagt: »Was, der alte Verräter lebt noch immer? Er ist genau der Mann, den wir brauchen.«21 Seit in Moskauer Archiven Briefe Renners an Stalin auftauchten, in denen er selbst anbietet, eine Staatsregierung mit Billigung der Sowjets zu installieren, ist die zweite Version plausibler geworden.22 Am 3. April tauchte der 75-jährige Renner, der den Krieg zurückgezogen in Gloggnitz überlebt hatte, jedenfalls tatsächlich in Hochwolkersdorf auf.*

In einem Balanceakt gelang es Renner, nicht nur von den Sowjets, sondern danach auch von Westalliierten ausreichend Vertrauen zu erhalten, um am 27. April 1945 die Unabhängigkeit Österreichs (freilich noch ein Jahrzehnt lang unter alliierter Aufsicht) verkünden zu können.

Nur wenige Tage davor waren die Verbände von Wehrmacht und Waffen-SS in Ostösterreich von den Sowjettruppen besiegt worden. Die Schlacht um Wien hatte zehntausenden Menschen das Leben gekostet, in besonderem Ausmaß sowjetischen Soldaten von Einheiten, die aus der Ukraine stammten.

Die Bemühungen um eine kampflose Übergabe der Stadt war in der letzten Phase gescheitert. Schon Ende Februar war Hans Becker in eine Falle der Gestapo getappt. Die Verantwortung lag dann beim Hitlergegner Carl Szokoll, einem im Wehrkreiskommando tätigen Major. Szokoll war es auch, der den Funkkontakt mit den Sowjets aufrecht hielt. Unterstützt wurde er unter anderem von Major Karl Biedermann, Hauptmann Alfred Huth und Oberleutnant Rudolf Raschke – drei Offizieren der Heeresstreife, die als eine Art Militärpolizei große Bewegungsfreiheit genoss. Sie sollten den Radiosender Bisamberg besetzen und die Bevölkerung zum Aufstand gegen die Nazis aufrufen. Am 6. April sollte es losgehen.

Doch am 5. April denunzierte ein Bekannter Biedermann als Angehörigen der Widerstandsbewegung. Er wurde sofort verhaftet. Unter Folter begann er Namen zu nennen. Szokoll konnte der Gestapo rechtzeitig entfliehen, doch Huth und Raschke wurden gefangen genommen. Gemeinsam mit Biedermann wurden sie von einem Standgericht zum Tod verurteilt und am 8. April, nur fünf Tage vor der Eroberung Wiens, am Floridsdorfer Spitz an Laternenpfählen aufgehängt. Biedermann, noch in Offiziersuniform, bekam ein Schild umgehängt: »Ich habe mit den Bolschewiken paktiert.«

Insgesamt wurden in der Nazizeit fast 3.000 Österreicherinnen und Österreicher wegen ihres Widerstands hingerichtet. 32.000 starben in Konzentrationslagern und Gefängnissen.*

Es sei zwar nicht möglich, »die Österreicher mit der Gloriole eines kollektiven Widerstandes zu versehen«, resümierte Erika Weinzierl. Eine zu große Zahl ließ sich »vom Terror des NS-Regimes einschüchtern, verharrte in politischer Abstinenz oder dumpfer Gleichgültigkeit«, schrieb die Mitbegründerin der österreichischen Zeitgeschichteforschung.23

»Umso höher« bewertet Weinzierl deshalb das Verdienst der mehr als 35.000 Menschen, die in Österreich »ihr Leben für den Widerstand gaben«. Zu diesen Toten – »immerhin ein halbes Prozent der Bevölkerung« – kamen noch »Zehntausende, die Monate und Jahre im Gefängnis und im Konzentrationslager verbrachten« (Weinzierl).

Bei der politischen Zuordnung der Angeklagten kamen mehr aus der Kommunistischen Partei als aus allen anderen Gruppierungen zusammen.24 Sozialer Hintergrund war bei vielen Arbeiterschaft oder Adel, es gab Priester und nicht wenige Soldaten – nur Kleinbürger waren kaum vertreten.

Im Jahr 1930, bei den letzten freien Parlamentswahlen vor dem »Anschluss«, war die KPÖ nur auf 21.000 Stimmen gekommen, während für die Sozialdemokraten 1,5 Millionen Wählerinnen und Wähler gestimmt hatten. Die Christlichsozialen, die mit 1,3 Millionen Stimmen an zweiter Stelle lagen, schafften in Koalition mit kleineren Rechtsparteien dennoch eine knappe Regierungsmehrheit.

Nach dem Verbot der Linksparteien 1934 flüchtete ein Teil der sozialdemokratischen Funktionäre ins Exil. Viele Aktivisten schlossen sich den im Untergrund agierenden »Revolutionären Sozialisten« an. Ein anderer Teil ging zu den Kommunisten über, die nach dem »Anschluss« an Hitlerdeutschland im März 1938 sofort einen Aufruf an das »Volk von Österreich« kundmachten: »Wehre Dich!« Das Volk werde »nie und nimmer diese Fremdherrschaft« anerkennen und stehe »mit tödlichem Hass den faschistischen Tyrannen gegenüber«.25

Militante KP-Mitglieder – Frauen und Männer – begannen sofort, Flugblätter und Untergrundzeitungen gegen die Hitlerei zu verteilen und verübten in Fabriken Sabotageakte. Hunderte von ihnen wurden bald verhaftet. Trotz aller Vorsicht hatten sich Spitzel eingeschlichen. Und viele der neu hinzugekommenen Sozialistinnen und Sozialisten hatten von konspirativer Arbeit wenig Ahnung. Von den Angeklagten, die als Kommunistinnen und Kommunisten vor Nazi-Gerichten in Wien und Graz standen, waren zwei Drittel vor 1934 Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gewesen.26

Trotzdem kamen die Kommunistinnen und Kommunisten in der ersten, von Otto Molden verfassten Widerstandsgeschichte nur am Rande vor. In ihren Reihen hätten zwar »unzählige ehrliche Idealisten« mitgemacht, schrieb Molden. Sie hätten aber demokratiefeindlich für die Weltrevolution und die Diktatur des Proletariats gekämpft, »nicht für die Unabhängigkeit Österreichs«.27

Dem widersprach Wolfgang Neugebauer, von 1983 bis 2004 wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes in Wien. Trotz der »gigantischen Verbrechen des stalinistischen Kommunismus« könne man den tiefroten Widerstand nicht als »Verirrung« bezeichnen. Menschen wie die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky oder der Dichter Jura Soyfer, die Kommunisten waren, hätten »nicht für die Errichtung einer mörderischen stalinistischen Diktatur« gekämpft, sondern »für eine sozial gerechte, demokratische Gesellschaft« und gegen den Faschismus.28

Dem möchte ich hinzufügen: Wenn man unter den Frauen und Männern des Widerstands nach Lichtgestalten sucht, die damals das heutige Ideal einer liberalen Demokratie durchgehend vertreten haben, wird man nicht viele finden. Den Zeitumständen entsprechend, verirrten sich manche zunächst auch zu den Faschismen unterschiedlicher Ausprägung, ehe sie, nach innerer Wandlung, für die Freiheit ihr Leben gaben. So stand Karl Biedermann, der 1945 gehenkt wurde, weil er bei der unvermeidlichen Übergabe Wiens viele Menschenleben retten wollte, elf Jahre davor auf der anderen Seite. Der Mann, dem heute im Wiener Arbeiterbezirk Floridsdorf zurecht eine Gedenktafel und eine Gasse gewidmet sind, kommandierte im österreichischen Bürgerkrieg 1934 ein Heimwehr-Bataillon, das die im Karl-Marx-Hof verbarrikadierten Arbeiter angriff.29

Hans Becker hatte im Konzentrationslager drei Jahre gemeinsam mit den früheren Gegnern von 1934 gelitten und sich sogar mit kommunistischen Mithäftlingen angefreundet. Danach wollte er seine Widerstandsorganisation für alle Hitlergegner öffnen. 1946 rechtfertigte er sich in einer Broschüre gegen die zum Teil vernichtende Kritik, die O5 als »marktschreierische Organisation« von »Monarchisten und politischen Glücksrittern« bezeichnete, die hauptsächlich in den Tagen der Befreiung Österreichs großen Zulauf gehabt hätte.30

»Es gab in der O5 Monarchisten, Kommunisten, sicher auch politische Glücksritter aller Farben und ebenso seriöse Menschen aller Farben«, antwortete Becker. »Ich glaube, dass ein Unwetter, wie es in den Befreiungstagen über Österreich rollte, in allen Tümpeln viel Bodensatz aufwirbelte. Es hat manchen gegeben, der im nächtlichen Straßenkampf seinen Mann stellte und dann für den Schreibtisch in einem hohen Partei- oder Staatsamt weniger geeignet ist. Umgekehrt konnte man mit alten Hofräten nicht Widerstand organisieren.«

Welche Voraussetzungen Männer und Frauen für den Widerstand haben müssen und wie er selbst in diese Rolle hineingewachsen ist, darüber sagte Becker wenig. Ich möchte deshalb dazu einladen, Hans Beckers Lebensweg vom Anfang an zu folgen. Wie von einem Navigationsgerät geleitet, das »Points of Interest« links und rechts der Strecke anzeigt, sollen dabei Orte, Menschen und Ereignisse beschrieben werden, die ihn zu der Person machten, die den Widerstand gegen Hitler wagte.

*An dieser Stelle kommt meine eigene Familiengeschichte ins Spiel: Mir wurde als Kind erzählt, dass meine Tante Anna Pusiol, die 1945 als Bauunternehmerin in Gloggnitz lebte und über ein Auto verfügte, Karl Renner die 40 Kilometer bis zum temporären sowjetischen Hauptquartier in Hochwolkersdorf chauffiert habe.

*Weitere österreichische Opfer im Zweiten Weltkrieg: 65.000 österreichische Jüdinnen und Juden wurden ermordet, 120.000 konnten fliehen oder wurden vertrieben. 9.000 Roma wurden ermordet. In psychiatrischen Anstalten und Pflegeheimen wurden bis zu 30.000 Menschen umgebracht. 100.000 Menschen waren aus politischen Gründen in Haft. 247.000 Wehrmachtssoldaten aus Österreich kamen nicht lebend aus dem Krieg zurück. 15.000 Österreicher fielen als alliierte Soldaten oder als Partisanen. 24.000 Menschen kamen durch Bombenangriffe und Gefechte im Land um. (Opferstatistik aeiou.at und Wolfgang Neugebauer: Der österreichische Widerstand)

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K. K. GYMNASIUM MIT MEERBLICK

Zur Welt kam Hans Becker am 22. September 1895 in Pola an der Adria, damals eine der faszinierendsten Städte der österreichischungarischen Monarchie. Drei Generationen zuvor hatten in dem Ort an der Südspitze der Halbinsel Istrien – heute das kroatische Pula – nur 600 Einwohnerinnen und Einwohner zwischen römischen Ruinen gelebt. In ärmlichen Gassen spross zwischen Pflastersteinen Gras.

1856 reisten Kaiser Franz Josef und Kaiserin Elisabeth – seine »Sisi« – aus Wien an, um in der Bucht von Pola den Grundstein für ein neues »See-Arsenal« zu legen – eine Schiffswerft samt Flottenbasis für die Kriegsmarine. Der Grund für das Großprojekt war ein Aufstand, den es 1848 im damals österreichischen Venedig und dem dortigen Marine-Arsenal gegeben hatte. Mit brutalem Artilleriebeschuss eroberten die Österreicher unter General Radetzky ihre Vorherrschaft zwar zurück, als Flottenstützpunkt war ihnen Venedig aber nicht mehr sicher genug, deshalb wich man nach Istrien aus.

Aus der Umgebung Polas zogen kroatische und slowenische Bau- und Werftarbeiter in die davor überwiegend von Italienern bewohnte Stadt – Wachsoldaten, Matrosen und Offiziere kamen aus allen Teilen der Monarchie. Als der Schulbub Hans Becker durch die Gassen lief, hatte Pola bereits 60.000 Einwohnerinnen und Einwohner, neben Hafenanlagen, Kasernen und einem Krankenhaus gab es auch Theater und Cafés, seit neuestem elektrisches Licht und eine Straßenbahn.

Auch die Eltern des Knaben hatte der rasante Aufschwung nach Istrien gebracht. Sein Vater Alois wurde 1842 als Sohn des Wiener Bibliothekars und Pädagogen Moritz Ritter von Becker geboren, der den Kaisersohn und Kronprinzen Rudolf (1889 aus dem Leben geschieden) unterrichtet hatte. Alois absolvierte die Marineakademie in Fiume, dem heutigen Rijeka, und heiratete Emma Wickerhauser aus Oed bei Wiener Neustadt. Deren Vorfahren mütterlicherseits, die aus England kommende Industriellenfamilie Rosthorn, besaßen in dem niederösterreichischen Ort eines ihrer Metallwerke, die Eisenbahnschienen für das ganze Land produzierten. Emmas Vater war Moritz Wickerhauser, Professor für orientalische Sprachen in Wien.1

Als Erwachsener empfand Hans Becker Dankbarkeit dafür, an einem Ort aufgewachsen zu sein, »wo romanische, germanische und slawische Kultur sich überschnitt«. Er betonte zudem, dass ihm »beide Elternteile einen Lebenskreis von Wissen, Kunst und Kultur« mitgegeben hatten.2

Hans zeichnete und malte – wie schon vor ihm sein Vater, der ein Buch mit »Rot-weiß-roten Marine-Anekdoten« illustriert hatte. Wie der Vater, so spielte auch Hans mehrere Musikinstrumente, darunter Geige und Mandoline. Er war technisch interessiert und sprachenbegabt. Ungewöhnlich waren die großen Altersunterschiede der Geschwister. Sein ältester Bruder Moritz war 17 Jahre älter als Hans, auch zur ältesten Schwester Elsa und dem Bruder Max bestand ein großer Abstand. Insgesamt wurden dem Ehepaar Becker sieben Kinder geboren, von denen fünf ihre ersten Jahre überlebten. Die Abstände zwischen den Geburten haben wohl auch damit zu tun, dass Vater Alois als Schiffskapitän oft für längere Zeit auf See und von der Familie abwesend war.

Ein Höhepunkt dieser Laufbahn kam im Dezember 1892, als Alois Ritter von Becker mit Erzherzog Franz Ferdinand eine Weltreise unternahm – jenem Habsburger, dessen Ermordung 1914 in Sarajevo den ersten Weltkrieg auslöste. 22 Jahre vor seinem Tod stand Franz Ferdinand, ein Neffe des Kaisers, an zweiter Stelle in der Thronfolge und war bei schlechter Gesundheit. Man sprach von Tuberkulose. Da entschied der Hof, den Erzherzog auf große Tour zu schicken. Die Meeresluft würde ihm guttun, hieß es. Als Vorbild mag die einzige und spektakuläre Weltumsegelung der österreichischen Marine gedient haben, die auf der in Pola gebauten Fregatte »Novara« mit etlichen Gelehrten an Bord von 1857 bis 1859 unternommen wurde.

Erzherzog Franz Ferdinand wurde der Torpedo-Rammkreuzer »SMS Kaiserin Elisabeth« zur Verfügung gestellt. Der exzessive Jäger und Sammler könnte in fernen Ländern seiner Leidenschaft unter der Bezeichnung »wissenschaftliche Studien« nachgehen. »Anderseits«, so heißt es in einer kompetenten Einschätzung der Mission, »könnte Österreich-Ungarn durch die Entsendung eines imposanten Kriegsschiffes auf den Weltmeeren als moderne Seemacht Flagge zeigen.«3

Franz Ferdinand galt als mürrisch, er neigte zu Wutausbrüchen.4 Als Kommandant des Kreuzers wurde ein Mann mit starken Nerven gebraucht, der sich bereits in Extremsituationen bewährt hatte. So fiel die Wahl auf den 50-jährigen Alois Becker, damals Linienschiffskapitän im Rang eines Obersts, der schon als 34-jähriger Leutnant an einer waghalsigen Polarexpedition teilgenommen hatte.

Im Jahr 1876 wurde von Großbritannien die »Pandora«, eine Segelyacht mit Hilfsmotor, in den hohen Norden zwischen Kanada und Grönland zur Erkundung der »Nordwest-Passage« geschickt. Die Briten hatten ausländische Marineoffiziere eingeladen, an der Expedition teilzunehmen, Alois Becker vertrat Österreich.

Unterwegs legte das Schiff bei kleinen Inseln an, Mitglieder der Besatzung erkundeten sie und nahmen Kontakt zu den Inuit auf, die damals noch »Eskimos« genannt wurden. Weiter im Norden drängten Eisberge an ihr Schiff, die Besatzung fürchtete, »dass die ›Pandora‹ zerquetscht werde und sinke«. Das schrieb Alois Becker in seinem später in Pola veröffentlichten Reisebericht. Eine seiner Zeichnungen von den Landgängen im ewigen Eis erschien sogar in der »Illustrated London News«. 16 Jahre nach dieser Expedition, die schon viele Elemente kommender Übersee-Abenteuer seines Sohnes Hans hatte, erhielt Alois Becker das Kommando über ein Schiff auf der Weltreise des späteren Thronfolgers Franz Ferdinand übertragen, er selbst stand auf dieser Fahrt jedoch diskret im Hintergrund.

Nachdem der waffenstarrende Rammkreuzer »SMS Kaiserin Elisabeth« mit royalen Gemächern ausgestattet und mit reichlich Proviant sowie den besten Weinen bestückt worden war, begab sich Franz Ferdinand am 15. Dezember 1892 in Triest an Bord. Der Kreuzer hatte eine Länge von 103 Metern und war 15 Meter breit, die Deutsch, Italienisch und Kroatisch sprechende Mannschaft umfasste 400 Mann. Vier Dampfkessel mit einer Gesamtleistung von 9.000 PS trieben ihn an. Franz Ferdinand konnte die Mahlzeiten unter einem Sonnendach auf Deck einnehmen, die 18-köpfige Bordkapelle spielte dazu Tafelmusik.

Das Schiff steuerte das indische Bombay an, das heutige Mumbai. Der Erzherzog wurde als Staatsgast empfangen und im Sonderzug durch Britisch-Indien befördert. Franz Ferdinand konnte seinen beiden Leidenschaften frönen – dem Sammeln von Kunst- und Kultgegenständen sowie der Jagd. Hier kamen ihm auch Tiger vor die Flinte und er konnte sogar vom bequemen Salonwagen aus Tiere jagen. Insgesamt nahmen sie auf dieser Reise Zehntausende Artefakte, Tier- und Pflanzenpräparate sowie Zeichnungen und Fotografien mit, die heute unter anderem im Wiener Weltmuseum gehütet werden.

Während Franz Ferdinand von West nach Ost durch Indien fuhr, umrundete Kapitän Alois Becker mit der »Kaiserin Elisabeth« den indischen Subkontinent und wartete in Kalkutta (heute Kolkata) auf ihn. Weitere Stopps gab es in Indonesien, Australien und China, dann traf die »Kaiserin Elisabeth« im japanischen Yokohama ein.

Nach dem Staatsbesuch in Japan verwandelte sich Franz Ferdinand in einen Nobel-Touristen, der als zahlender Passagier per Schiff und Bahn Nordamerika erreichte und dann zurück nach Europa fuhr. Kapitän Becker steuerte die »SMS Kaiserin Elisabeth« währenddessen nach Pola zurück, wo sie im Dezember 1893 ankam.

Alois Becker hatte wieder Zeit für seine Familie. Im Jahr darauf wurde seine Tochter Margarethe geboren und 1895 der jüngste Sohn, der auf die Namen Johann Victor Sydonius getauft wurde.

In diesem Jahr 1895 besuchte der deutsche Kaiser Wilhelm II. Pola. Die Flotte Österreich-Ungarns zählte mittlerweile zu den größten Europas, wenn sie auch kleiner als die deutsche oder gar die britische war. Die Neugier der Öffentlichkeit stieg und so brachte etwa die »Wiener Abendpost« eine ausführliche Reportage aus Pola.5

Als Aufgaben der Marinestation nannte der Berichterstatter die Verteidigung der Handelshäfen Triest im österreichischen und Fiume im ungarischen Teil der Monarchie sowie den Schutz des istrischen Küstenlandes, das früher zu Venedig gehört hatte und das seit 1815 fix bei Österreich war.

Bewundernd schilderte er die Einrichtungen des Hafens, an dessen Kais die Kriegsschiffe vertäut waren: Die Werft mit ihren riesigen Kränen, mit den Schwimm- und Trockendocks auf der Oliveninsel mitten in der Bucht. »Mit einer Brücke verbunden war das Arsenal am Festland, in dessen Hallen eine Vielfalt von Arbeiten erledigt wurde. Da waren die Schiffbauschmiede, eine Dampfsäge und die Verzinkungswerkstätte«, so zählte der Berichterstatter auf, weiters »die Böttcherei, die Anstreicherwerkstätte und jene für die Masten- und Rudermacher, die Kesselschmiede, die Dampfhammerschmiede, das Walzwerk und die Metallgießerei, die Torpedowerkstätte, aber auch die Büchsenmacherei, das chemische Laboratorium und die Ölküche.«

Die Ufermauer des Arsenals war drei Kilometer lang. Um die einzelnen Bereiche für Dampfloks und Kräne befahrbar zu machen, wurden acht Kilometer Schienen verlegt, heißt es in der Reportage. Die gesamte Einrichtung befinde sich auf neuestem technischen Stand.

Dann warf der Berichterstatter noch einen Blick auf das zivile Pola mit dem römischen Amphitheater und einer lärmenden Altstadt im venezianischen Stil. Eindrucksvoller fand er die neuen, rasch »aus dem Boden gewachsenen« Vororte wie San Policarpo, wo die Marineangehörigen in ruhiger Grünlage wohnten.

Nicht erwähnt wurden damals aktuelle Probleme der Stadt wie die problematische Versorgung mit Trinkwasser und die Ausrottung einer Seuche, die einst zum Niedergang der ganzen Region beigetragen hatte: der Malaria. Kriege und Hungersnöte hatten im 18. Jahrhundert Istrien entvölkert, Klöster und Bauernhöfe wurden aufgegeben. Es breiteten sich Tümpel und Sümpfe aus, in denen sich die Stechmücken rasch vermehrten, von denen die fiebrige Infektionskrankheit ausging. Zunächst wurde sie auf »schlechte Luft« (Mal’aria) zurückgeführt, dann erkannte man, dass der Erreger etwas mit stehenden Gewässern zu tun hat.

1893, kurz vor Hans Beckers Geburt, kaufte der österreichische Eisenindustrielle Paul Kupelwieser die Pola vorgelagerte Inselgruppe Brioni (auf Kroatisch Brijuni genannt und später, in der jugoslawischen Zeit, als Residenz von Staatschef Tito bekannt), um dort ein mondänes Adria-Seebad zu errichten. Eben wegen der Malaria galten die Inseln damals als unbewohnbar. Kupelwieser hatte aber erfahren, dass der Berliner Seuchenforscher Robert Koch Methoden zur Bekämpfung dieser Krankheit entwickelte – und bot ihm Brioni als Testgebiet an. Koch kam tatsächlich, behandelte Kranke mit Chinin und ließ Sümpfe trockenlegen, wie er dann in Berlin berichtete.6

Auf Brioni konnte das geplante Seebad verwirklicht werden und auch im benachbarten Pola war die Malaria bald besiegt. Jahre später wurde Hans Becker allerdings von dieser Krankheit in Südamerika eingeholt.

Als Kind in Pola, wo die Unterrichtssprache in öffentlichen Schulen der Gemeinde Italienisch war, besuchte Becker nach der deutschsprachigen »Marine-Volksschule für Knaben« ab dem Herbst 1905 das »kaiserlich-königliche« Gymnasium, 1890 eröffnet und ebenfalls deutschsprachig geführt.

Das dreistöckige Gymnasium steht noch heute, obwohl in den zwei Weltkriegen durch Kämpfe und Bombenhagel in der Stadt etliches zerstört wurde. Jahrzehntelang beherbergte es das Archäologische Museum Istriens, das wertvolle Funde aus der Römerzeit zeigte. Ab 2013 wurde das Museum generalsaniert und war gesperrt, die Schätze kamen ins Depot. Als ich das im sonnengelben Fassadenputz neu erstrahlende Gebäude im September 2021 mit einer Sondergenehmigung betrat, waren die ehemaligen Klassenzimmer schon frisch ausgemalt und warteten auf die Rückkehr der Ausstellungsvitrinen.

Das Gebäude mit hohen Räumen in beiden Flügeln und der zentrale Mitteltrakt mit dem Treppenhaus gleicht vielen anderen Gymnasien, die damals in Österreich-Ungarn gebaut wurden. Und doch: Was für ein Unterschied! Die Mittelschule in Pola steht neben einem kleinen römischen Theater, angeblich wurden auch dessen Steine für den Bau verwendet. Aus den Fenstern der oberen Stockwerke sahen Becker und seine Mitschüler in nördlicher Richtung das über dreißig Meter aufragende Oval des großen Amphitheaters mit seinen hohen Arkadenbögen. Im Westen geht der Blick auf das blaue Mittelmeer und den Bootshafen, wo heute Ausflugsschiffe nach Venedig und Brijuni ablegen. Daneben der dahinrostende Industriefriedhof auf der Oliveninsel, einst das Herzstück der Werft und der Marinestation.

Beckers Heimweg nach der Schule führte in südliche Richtung nach San Policarpo. Er dauerte etwa eine halbe Stunde und ging ein Stück durch die Altstadt mit Modesalons und Konditoreien sowie mit Kaffeehäusern, in denen internationale Zeitungen auslagen. Gleich danach kam mit einem acht Meter hohen Triumphbogen ein weiteres Erinnerungsstück an die Römerzeit. Im Eckhaus daneben residierte eine Filiale der Berlitz School, wo ab 1904 James Joyce österreichischen Offizieren Englisch beibrachte. Der irische Schriftsteller hatte damals versucht, sich am Kontinent als Sprachlehrer durchzuschlagen. Nach Fehlschlägen in Zürich und Triest, wo gerade keine Stelle frei war, wurde er nach Pola geschickt, wo er ständig Notizen schreibend die Kaffeehäuser frequentierte.

Joyce und Pola waren keine Freunde. »Eines Märztages 1905 erhielt er von der Polizei die Aufforderung, binnen 24 Stunden die Stadt zu verlassen«, heißt es im Buch »Via Pula« von Dragan Velikić. Der serbische Autor und Diplomat vermutet, dass die überall Verrat witternden Behörden der durchmilitarisierten Stadt Joyce wegen seiner Notizenschreiberei der Spionage verdächtigten. Der spätere Großschriftsteller ging zunächst nach Triest zurück.7

Pola wurde von Joyce, vielleicht unter dem Einfluss ihm bekannter und kulturell ausgehungerter Marineoffiziere, in einem Brief als »Naval Siberia« bezeichnet, also als »Marine-Sibirien«. Wien, damals die strahlende Metropole der Monarchie, war – wenn man als Soldat frei bekam – mit dem schnellsten Zug 20 Stunden entfernt.

Vielleicht war das Urteil der in Friedenszeiten zwischen Kasino, Café und Bordell gelangweilten jungen Offiziere zu hart, es gab durchaus auch kulturelle Einrichtungen. Nur ein paar Gehminuten vom Triumphbogen entfernt kommt man – unterwegs in den Süden der Stadt – auf einem ziemlich steil ansteigenden Hügel an dem Theater vorbei, das der Impresario Pietro Ciscutti 1887 gegründet hat. Auch der Marinekapellmeister Franz Lehár trat dort auf.

Auf der anderen Seite des Hügels führt der sanft abfallende Weg durch ein Viertel mit mediterranem Flair. In den Vorgärten von Villen wachsen mehrere Meter hohe Oleanderbüsche in weiß und rot, dazu Olivenbäume und einige Palmen, wie es sie in dieser Region ohne Winterfrost schon vor 120 Jahren gab. Häuserzeilen im venezianischen Stil werden von einem Park unterbrochen, in dem duftende Pinien stehen, aber auch Zypressen und Zedern.

Gleich dahinter beginnt das Villenviertel, in dem einst höhere Offiziere mit ihren Familien wohnten. Die italienische Zeitung »Eco di Pola« habe die Gegend als »fremdes, sonderbares Wohnquartier« bezeichnet, heißt es in einem historischen Reiseführer der Stadt.8

Dem Klischee gemäß herrschten hier »germanische« Ordnung, Ruhe und »ernster Anstand«, während in der italienischen Stadt das Leben lärmte und brodelte. Jetzt ist es in der nun Ulica Budicina genannten Straße womöglich noch ruhiger. Manche Häuser stehen leer, andere wirken vernachlässigt. Dabei könnte das Viertel eine internationale Touristenattraktion sein, meint der Autor des Reiseführers.

Er denkt etwa an das Haus auf Nummer zehn, eine bröckelnde dreistöckige Villa mit großer Freitreppe. Sie ließ der Marineoffizier Baron Georg von Trapp errichten. Hier wurden die ersten Kinder einer siebenköpfigen Schar geboren, die Jahre später als »Trapp-Familie« auf der Flucht aus Nazideutschland singend durch die USA zog und in der Version des Hollywoodfilms »Sound of Music« Millionen amerikanischer und asiatischer Zuschauerinnen und Zuschauer berührte.

Einige Meter daneben, auf Nummer 13, steht eine Villa mit rundem Eckturm und klobigen Erkern. Sie gehörte Admiral Miklós Horthy, 1918 letzter Befehlshaber der österreichisch-ungarischen Kriegsmarine und von 1920 bis 1945 als autoritärer »Reichsverweser« das faktische Staatsoberhaupt Ungarns. Es gibt in der Gegend noch weitere Villen in unterschiedlichem Erhaltungszustand, Kaskaden pink leuchtender Bougainvillea wuchern über Balkone und Terrassen.

Wo die Beckers gewohnt haben, ist nicht bekannt. Eine Villa wäre für die recht großen Familie eines hohen Marineoffiziers – zuletzt im Rang eines Konteradmirals – wohl angemessen gewesen. (Die Werftarbeiter lebten beengt in einfachen Wohnungen; manche hausten auf ausrangierten Schiffen.) Vielleicht mussten die Beckers später mit einer Wohnung für Militärangehörige Vorlieb nehmen. Denn Alois Ritter von Becker starb, erst 58-jährig, im Jahre 1900. Sein ältester Sohn Moritz diente bereits bei der Marine und war für Hans so etwas wie ein Vaterersatz. Elsa, die ältere Tochter, arbeitete vor ihrer Heirat für einige Zeit als Gouvernante. Max, der nächstältere Sohn, war noch in Ausbildung. Wegen der Verdienste seines Vaters wurde sein Studium an der Marineakademie gnadenhalber »aus der Privatschatulle Kaiser Franz Josephs bezahlt«, wie sich Elsas Tochter Wilhelmine erinnert.9

Auch Hans war im Gymnasium vom Schulgeld befreit. Ihn und seine Schwester Gretel musste die Mutter mit ihrer Witwenpension durchbringen. Emma von Becker sei eine ehemalige »höhere Tochter« gewesen, erinnert sich Enkelin Wilhelmine. Im Alter erwartete sie, dass man sie mit »grand-mère« ansprach und Französisch parlierte.

Dabei herrschte nicht nur »ernster Anstand« im Hause Becker. Hans und Gretel hätten »ein sehr freies Leben« gehabt und viel Zeit mit anderen Kindern am nahen Strand verbracht, weiß Franka Lechner, die Tochter von Hans, aus Erzählungen in der Familie.10

Hans, das spätere Kontaktgenie, führte stets eine Schar Kinder an und hatte riskante Ideen. Um sein Taschengeld aufzubessern, fing er für einen Apotheker in Küstennähe Giftschlangen – »und seine Mutter hat beinahe der Schlag getroffen« (Franka Lechner).

Wo einst die Schlangengruben waren, befinden sich heute Badestrände. Stadteinwärts kommt das lange Mauerband des Arsenals. Zu Beckers Zeiten muss hinter der Mauer die dröhnende Betriebsamkeit der Dampfhämmer und -sägen geherrscht haben. Für einen technikbegeisterten Gymnasiasten gab es ein besonderes Spektakel: Wasserflugzeuge kreisten über einer 1910 errichteten Teststation, weltweit eine der ersten ihrer Art. Die in Pola herrschende Atmosphäre von Macht und technischer Machbarkeit regte nicht nur Fantasien zur persönlichen Weltentdeckung an. Auch die Idee des Widerstands war dort angelegt. Kleine und unbewohnte Inseln vor der Küste Istriens, von einer undurchdringlichen und immergrünen Vegetation überwuchert, die »Macchia« genannt wird, boten seit jeher Unterschlupf für Gesetzlose aller Art. Ähnliches gibt es auch anderswo im Mittelmeer. Auf Spanisch wird dieses Dickicht »Maquia« genannt, auf Französisch »Maquis«. In Frankreich ist dieses Wort so stark mit dem Begriff des Widerstands verbunden, dass »Maquis« im Zweiten Weltkrieg ein Synonym für die Résistance war.

1887 kam die deutschsprachige Ausgabe des Buches »Mathias Sandorf« heraus, eines Istrien-Romans des französischen Autors Jules Verne. In Verlagsankündigungen wird er als »eine Geschichte des Widerstands« bezeichnet – jener »der Magyaren gegen die Vorherrschaft der Habsburger«. Vernes »Reise um die Erde in 80 Tagen«, schon damals ein großer Erfolg, wird im Hause wohl bekannt gewesen sein. Und so könnte Hans Becker auch den neuen Roman Jules Vernes gelesen haben.

In einer für Verne typischen Geschichte wird die Verschwörung mutiger Ungarn geschildert, die chiffrierte Geheimbotschaften austauschen und damals utopische Techniken wie ein »von elektrischen Motoren bedientes Schnellboot« nutzen.

Zu Pola schrieb Verne, der den Ort zuvor selbst besucht hatte: »Diese istrische Provinz ist, vornehmlich an den westlichen Küsten, in Sitten und Sprache noch vollständig italienisch, noch besser gesagt, venezianisch geblieben.« Allerdings kämpfe dort »das slawische gegen das italienische Element sehr an«, während »die deutsche Strömung sich nur mit Anstrengung« zwischen beiden halte.

Die ethnischen Spannungen müssen sich zu Beckers Zeit im Gymnasium weiter aufgestaut haben, anders sind die Gewaltausbrüche der nächsten Jahrzehnte nicht zu erklären. Bei einer Volksbefragung 1910 bezeichneten im Bezirk Pola 45,8 Prozent ihre Umgangssprache als italienisch, 32 Prozent als kroatisch, 15,5 Prozent als Deutsch und 5,6 Prozent als slowenisch.11

Die Deutschsprachigen, zumeist vorübergehend stationierte Angehörige der Marine und ihre Familien, hatten auf lokaler Ebene kein Wahlrecht. Die Italiener, unter ihnen auch militante Anhänger der nationalen Unabhängigkeitsbewegung, der Irredenta, bestanden etwa im Schulbereich auf dem Primat ihrer Sprache. Das erzürnte wiederum die Kroaten, deren istrische Abgeordnete im Wiener Reichsrat wiederholt und lautstark kroatische Schulen verlangten.

Acht Jahre und einen Weltkrieg später war das Vielvölkerreich zerfallen. Italien wollte in Istrien die alte venezianische Glorie wiederherstellen. Am 20. September 1920 trat in Polas Ciscutti-Theater Benito Mussolini auf, Anführer der eben gegründeten faschistischen Bewegung. Er beschimpfte »die slawische Rasse« als »inferior und barbarisch«. Zum Schutz des eigenen Territoriums müsse man hart gegen sie vorgehen. »Wir können leicht 500.000 barbarische Slawen für 50.000 Italiener opfern.«12

Trotz des offenen Slawenhasses Mussolinis begeisterten sich auch etliche Kroaten für den Faschismus. Umgekehrt nahmen istrische Italiener den Kampf dagegen auf. Einer ihrer Anführer, Giuseppe »Pino« Budicin, wurde von Mussolinis Soldaten hingerichtet. In Jugoslawien galt Budicin als Widerstandsheld. Die Straße in Pula, in der die altösterreichischen Villen stehen, trägt seinen Namen.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, bei ihrem Vormarsch gegen Italien und auch nach dem Sieg 1945, nahmen die Tito-Partisanen Rache. Hunderttausende Italiener wurden vertrieben, die umstrittene Zahl der Todesopfer geht jedenfalls in die Tausenden.

Obwohl der heutige Tourismusmagnet Istrien auch Italienerinnen und Italiener anzieht und viele Bewohnerinnen und Bewohner Pulas ihre multikulturelle »istrische Identität« betonen, ist die Spirale des Hasses noch nicht zu Ende. Der »Opferdisput« hält bis in die Gegenwart an.

Hans Becker erlebte die Eskalation des Nationalitätenhasses in seinem Geburtsort nicht mehr mit. Er blieb nur bis zu seiner Matura 1913 in Pola. Wurden seine Leistungen im Gymnasium zunächst mit »vorzüglich« bewertet, so entwickelte er sich im Lauf der Jahre zu einem eher mittelmäßigen Schüler, der in einigen Fächern – vor allem in Altgriechisch, in manchen Jahren auch in Latein – nur auf die Note »genügend« kam. Zwischen »sehr gut« und »genügend« wurde, je nach Schuljahr, seine Leistung in Mathematik bewertet. Durchgehend »sehr gut« war er in Deutsch, Geschichte und im »Freihandzeichnen«.

In der zweiten Jahreshälfte 1913 übersiedelte Hans Becker nach Wien, wo er sich an der juridischen Fakultät der Universität immatrikulierte. Wohnen konnte er bei seinem älteren Bruder Max, der mittlerweile ein Haus in Purkersdorf nahe der Wiener Stadtgrenze besaß.13

Max, Absolvent der Marine-Akademie, arbeitete nun für die Wiener Straßenbahn. Moritz, der älteste Bruder, blieb dem Wasser treu: Er heuerte nach dem Krieg bei der DDSG an, der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft.

Hans Becker besuchte nach eigenen Angaben auch Lehrveranstaltungen für Malerei und Architektur an der Kunstgewerbeschule, einer Vorläuferin der Universität für angewandte Kunst. Während es darüber keine Dokumente gibt, hat Becker die »Frequentationszeugnisse« über den Besuch von juristischen Seminaren penibel gesammelt. Das letzte dieser Zeugnisse trägt das Datum 28. Juli 1914 – jenes Tages, an dem Kaiser Franz Joseph Serbien den Krieg erklärte. Genau einen Monat davor waren der Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie auf Truppenbesuch in Sarajevo von einem serbischen Nationalisten ermordet worden. Die Kriegserklärung löste einen Weltenbrand aus. Wenige Monate später war Hans Becker Soldat.

Die österreichische Flotte griff in den Ersten Weltkrieg kaum ein – auch die viel größeren Seestreitkräfte Englands und Deutschlands belauerten einander die meiste Zeit aus der Ferne. 1915, nachdem das ursprünglich mit Österreich verbündete Italien aufseiten der Entente in den Krieg eingetreten war, wurde Pola den österreichischen Kommandeuren als zentraler Flottenstützpunkt zu unsicher. Sie verlegten die meisten Schiffe in die Bucht von Cattaro im damals österreichischen Dalmatien (heute die Stadt Kotor in Montenegro). Im Februar 1918 kam es dort zu einem Matrosenaufstand mit der Forderung nach Frieden, einem Vorzeichen für den bereits verlorenen Krieg.

Viele Angehörige der Marinesoldaten, die Mitglieder der deutschsprachigen Community, verließen Pola, das Städtchen an der Südspitze Istriens. Auch Hans Beckers engere Familie hatte Möbel und Hausrat längst abtransportiert. In Pola lebte von ihr später niemand mehr.

Soldat und Feldflieger

Die im Sommer 1914 in Österreich herrschende Kriegsbegeisterung erfasste auch Becker. Der 19-jährige Jusstudent meldete sich als »Einjährig-Freiwilliger« zum Militär, das ihn am 15. September in der Reserveoffiziersschule in Innsbruck aufnahm.14

Hans Becker als Offizier im Ersten Weltkrieg

Für viele Jahrgänge von »Einjährig-Freiwilligen« war die Ausbildung künftiger Akademiker zu Reserveoffizieren die Eintrittskarte in die Elite der Monarchie. Die jungen Männer, die hier Freundschaften schlossen, stiegen später im Zivilleben zu höheren Beamten, Rechtsanwälten oder zu Wirtschaftsbossen auf, die oftmals miteinander Kontakt hielten und im Kaiserreich mit seinen 50 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern zu den tonangebenden Schichten gehörten. Das galt für Friedenszeiten. 1915 erwartete viele der jungen Offiziersanwärter Kampf, Verstümmelung, Krankheit und Tod.

Hans Becker zog nach einer nur wenige Monate dauernden Ausbildung im Jänner 1915 in den Krieg. Seine Truppe waren die Tiroler Kaiserjäger, laut Bundesheer damals »die bekannteste österreichische Infanterieeinheit«.15 Neben Tirolern gehörten ihnen Soldaten aus der ganzen Monarchie an. Begleitet von Militärmusik waren ab August 1914 an die 45.000 Männer, darunter die vier Regimenter der Kaiserjäger, von Innsbruck aus in Viehwaggons in einer tagelangen Reise »an die russische Front in Galizien ausgerückt«, wie es in einem Tiroler Bericht über das »Galizientrauma« heißt.16

In Galizien, auf dem heutigen Gebiet Südpolens und der Westukraine, mit rund 80.000 Quadratkilometern fast so groß wie nun Österreich, prallten die kaiserliche Armee und die zaristischen Truppen zusammen. Kadett Becker, Zugführer in einer Kompanie des 1. Regiments der Kaiserjäger, tat sich schon nach wenigen Wochen mit einer Heldentat hervor. In Sekowa (jetzt der polnische Ort Sękówa 130 Kilometer südöstlich von Krakau) gelang es ihm am 8. März 1915, gemeinsam mit einem Feldjäger namens Angerer, ein russisches Maschinengewehr zu erbeuten. Der junge »Ritter von Becker« erhielt eine Tapferkeitsmedaille und wurde zum Fähnrich befördert.17

Im Mai 1915 nahm Becker an der Durchbruchschlacht bei Gorlice teil, als die Österreicher noch vorwärts stürmten. Insgesamt mündete der Galizienfeldzug für die Kaiserjäger jedoch in einem Desaster. Mehr als 10.000 Soldaten starben, doppelt so viele gerieten in russische Gefangenschaft.18 Die »am besten ausgebildete Truppe der österreichisch-ungarischen Armee wurde nahezu vernichtet«, weiß man beim Bundesheer. Die vier Regimenter der Kaiserjäger »verloren bis zu achtzig Prozent ihrer Mannstärke.«19

Die Soldaten hatten noch keine Stahlhelme, für Verletzte gab es nur unzureichende medizinische Versorgung. Viele »starben auch an Cholera und Ruhr«.20

Hans Becker holte sich eine schwere Lungenentzündung. Am 20. Mai wurde er ins Garnisonsspital in Wien-Leopoldstadt eingeliefert. Einigermaßen ausgeheilt, durfte er zur Kur ins niederösterreichische Sanatorium Grimmenstein. Danach machte er Urlaub und kehrte erst am 18. August 1915 zu seiner Stammeinheit nach Innsbruck zurück.

Inzwischen hatte sich die Welt- und Kriegslage entscheidend verändert. Am 23. Mai war Italien gegen Österreich-Ungarn in den Krieg eingetreten. Diese Südgrenze des Habsburger Reiches war kaum bewacht gewesen. Eilends wurden die personell aufgefüllten Regimenter der Kaiserjäger an die sogenannte Isonzo-Front verlegt. Trotz ihres Namens waren die Tiroler Kaiserjäger keine ausgebildeten Gebirgssoldaten, sondern normale Infanteristen. Nun zogen sie in den verlustreichen und irrwitzigen Gebirgskrieg.

Beckers Truppenteil kam im Oktober 1915 in der Nähe von Cortina d’Ampezzo zum Einsatz. Er kommandierte nun eine Maschinengewehrabteilung im ersten Kaiserjäger-Regiment und wurde abermals für »tapferes Verhalten vor dem Feinde« belobigt, weil er »mit einigen todesmutigen Leuten« feindliche Stellungen aus der Nähe ausgekundschaftet hatte. Am 1. Jänner 1916 wurde Becker zum Leutnant der Reserve befördert.21

Die Offensive, in deren Rahmen sich Beckers Heldentat abspielte, ist letztlich gescheitert, schreibt seine Biografin Elisabeth Jauk. In Beckers Belobigungen sieht sie, auch wenn man den Militärjargon (»tapfer«, »schneidig«) abzieht, Hinweise auf Eigenschaften, die sein ganzes Leben lang hervortraten: »Abenteuerlust und Risikobereitschaft«.22

Der nun 20-jährige Becker war aber nicht nur ein Offizier im Kriegseinsatz, er war auch ein braver Sohn, der regelmäßig an die Frau Mama schrieb. »Liebe Mutter«, so begann er am 8. August einen Feldpostbrief, der an »Frau Admiral Emma von Becker« im Militärkurhaus Hofgastein adressiert war. »Habe gerade eine Siesta beendet und mir inzwischen gute Vorsätze anerzogen, den Schreibstecken in die Hand zu nehmen.«23

Viel zu sagen hatte der Schreiber angesichts der Briefzensur nicht. »Hier alleweil das Gleiche«, betonte er zur Beschwichtigung der besorgten Mutter. Die Lage habe sich »großenteils beruhigt« und er werde »spätestens Anfang September auf Urlaub gehen« können. In seinem nächsten Brief bedankte sich Becker bei seiner Mutter für die Karte aus Hofgastein und schrieb ihr von seinem Ärger, dass man ihn offenbar nicht an seinen Geburtsort Pola reisen ließ, »dieweil ein Kamerad von mir, so einen Bruder bei der Marine hat, ruhig, ohne weiteres und ohne Erlaubnis nach Pola gefahren« sei.

Auf losen Blättern hielt Becker auch dichterische Versuche fest. Ausgerechnet auf einem mit dem Stempel seiner Maschinengewehrabteilung versehenen Zettel entwarf er ein Liebesgedicht. »Du darfst nicht glauben, dass mein Sehnen Dich allein umflicht«, heißt es da in Richtung einer spröden Angebeteten. »Dein wär’ ich, Mädchen, ach so bald, wenn nur Dein Sehnen hätte mehr Gewalt.«24

Zwischendurch fand Becker offenbar auch noch Zeit, Skripten für das Jusstudium durchzugehen. Während seines Heimaturlaubs legte er im Oktober 1916 an der Uni Wien die Staatsprüfung in Rechtsgeschichte erfolgreich ab.25 An die Isonzo-Front kehrte er danach nicht mehr zurück.

Stattdessen bemühte sich Becker im Herbst 1916, in die Fliegerschule in Wiener Neustadt aufgenommen zu werden. Was immer ihn zur damals hochmodernen Fliegerei zog, Gefahrenvermeidung war es nicht. In den Augen der Öffentlichkeit waren die Piloten »alle Selbstmörder«, sagte ein damaliger Kollege Beckers Jahrzehnte später dessen Biografin Elisabeth Jauk in einem Interview. »Wir haben gewusst, es geht uns an den Kragen«, verriet der ehemalige »Feldpilot« Othmar Wolfan. »Aber es sind ja nur Leute gekommen, die Draufgänger waren oder Fatalisten, und alle sind freiwillig dagewesen«.26

Schon wenige Jahre nach den ersten motorisierten Flugversuchen der Brüder Wright im Jahr 1903 hatten Militärs weltweit die Bedeutung der neuen Technik für den Krieg erkannt. Weit besser als die davor üblichen Fesselballone und »Lenkluftschiffe« wie dem Zeppelin konnten die Flugapparate feindliche Stellungen von hoch oben auskundschaften und die Nachschubwege im Hinterland beobachten.

Bereits 1910 hatten die Streitkräfte Österreich-Ungarns die Aufstellung einer Fliegertruppe mit bis zu 200 Aeroplanen beschlossen. Bei Kriegsbeginn waren 85 Piloten mit 39 Flugzeugen im Einsatz – aus Holzstreben zusammengeleimte, mit Stoff bespannte Kisten aus der Pionierzeit der Fliegerei.27

Beobachtungsflieger von Hansa Brandenburg

Die Entwicklung ging rasant voran. Als Becker in Wiener Neustadt ab November 1916 drei Monate lang zum Beobachter ausgebildet wurde, waren bereits neue, metallverstärkte und in größeren Serien produzierte Flugzeuge deutscher Firmen im Einsatz. Sie wurden zumeist in Österreich in Lizenz gebaut und mit rund 160 PS starken, von Ferdinand Porsche konstruierten Austro-Daimler Motoren ausgestattet. Standardmodell war der Typ C.I der Flugzeugwerke Hansa Brandenburg.