Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Dieses Buch nimmt Sie mit in ein Jahr, das für viele von uns noch weit entfernt scheint, aber schon heute in greifbarer Nähe liegt. Es zeigt eine Welt, in der Technologie und Gesellschaft neue Formen angenommen haben, in der Erfindungen unser Leben in einer Weise verändern, die wir uns heute kaum vorstellen können. Von Reisen zum Mond als Wochenendausflug bis zu winzigen Organismen, die unsere Kleidung reinigen, von denkenden Implantaten bis zu Städten auf dem Ozean. Jede Seite öffnet ein Fenster in eine mögliche Realität. Die hier beschriebenen Entwicklungen sind nicht nur Fantasie. Sie basieren auf wissenschaftlichen Konzepten, aktuellen Forschungen und dem, was kluge Köpfe von heute für möglich halten. Doch dieses Jahr 2060 ist nicht nur eine Welt des Fortschritts. Es ist auch eine Welt der Konsequenz, in der Gesetze mit Härte durchgesetzt werden, in der Sicherheit und Ordnung über allem stehen. Zwischen Innovation und Strenge entfaltet sich ein Bild, das ebenso fasziniert wie beunruhigt. Dieses Buch lädt Sie ein, schon heute zu sehen, was uns morgen erwarten könnte.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 108
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vorwort
Gedankenschalter
Die Morgenmaden
Gesprochen – und besiegelt
Das Theater über mir
Der Wandelkörper
Aufzug ins Silberlicht
Der Schrank, der atmet
Das Bett, das heilt
Ein Tag mit deinem Star
Das Gedankenarchiv
Reise zum Herz der Erde
Die vierte Station – Schattenkammer
Die Stadt, die sich selbst tritt
Die Krawatte, die zurückblickt
Das Foyer von Davos
Der Schatten, der uns folgt
Der Rückzug ins Haarhaus
Das Gedächtnis im Schacht
Der Preis des Platzes
Der Sprung ins neue Zuhause
Das Licht ohne Rauch
Kein Stand, kein Entkommen
Die Nomaden des Wassers
Der zweite Körper
Der Schlundzapfen
Die ersten Worte über den Sternenrand
Himmelstau
Der letzte Käfig war virtuell
Das Ende des Löschens
Dieses Buch widme ich meinem Sohn Julius. Er wird wohl wirklich das Jahr 2060 noch erleben und vielleicht eines Tages in diesen Seiten blättern, um zu prüfen, wie nah meine Gedanken, meine Hoffnungen und meine kühnsten Fantasien an der Wirklichkeit lagen. Ich wollte eine Voraussicht geben, kein starres Orakel, sondern ein lebendiges Bild einer Welt, die möglich ist. Manche Ideen mögen wie reine Utopie klingen, andere wie drohende Dystopie, doch alle entspringen dem Versuch, unsere Zeit weiterzudenken.
Die Welt verändert sich schneller, als wir begreifen können. Technologien, die heute noch als Spinnerei gelten, sind morgen selbstverständlich. Gesellschaftliche Normen, die Jahrhunderte galten, können in wenigen Jahren verschwinden. 2060 ist für mich ein Jahr, das gerade nah genug ist, um es zu greifen, und weit genug, um es mit der ganzen Freiheit meiner Vorstellung zu formen.
Vielleicht wirst du, Julius, dann lächeln, wenn du liest, welche Erfindungen ich mir ausmalte. Vielleicht wirst du staunen, wenn sich manche meiner Szenarien tatsächlich erfüllt haben. Und vielleicht wirst du den Kopf schütteln, wenn sich zeigt, dass die Welt einen ganz anderen Weg genommen hat. Doch in jedem Fall soll dir dieses Buch zeigen, dass man die Zukunft nicht nur abwarten, sondern auch erträumen darf, mit allen Konsequenzen, guten wie schlechten.
Möge es ein Fenster sein, durch das du zurückblicken kannst, auf die Gedanken eines Vaters, der seine Zeit, seine Sorgen und seine Visionen in Worte fasste, um dir etwas zu hinterlassen, das bleibt.
Es beginnt noch vor dem Aufwachen. Bevor ich die Augen öffne, weiß ich schon, wie spät es ist, welche Nachrichten mich erwarten und wie mein Puls über Nacht geschwankt hat. Das Interface hat leise, fast zärtlich, den Schlaf begleitet, Störungen geglättet, Albträume in ungefährliche Bilder umgeschrieben. Früher brauchte man Apps oder Armbänder für so etwas. Heute ist es schlicht Teil von mir.
Ich bleibe liegen, weil ich den Moment genieße, in dem der Morgen und der Rest der Welt noch eine unscharfe Fläche sind. Meine Gedanken wandern, aber das Interface wandert mit – es setzt kleine Marker, ordnet sie nach Priorität, schiebt die Wichtigsten in die Nähe der Bewusstseinsschwelle. „Heute keine Meetings vor zehn“, meldet die ruhige Stimme in meinem Kopf. Kein Ton, kein Lautsprecher – es ist wie ein eigener Gedanke, nur dass ich genau weiß, er wurde mir zugetragen.
Ich öffne meine Augen, und sofort legt sich die erste Schicht über die Realität. Halbtransparente Icons, eingebettet in die Luft, wo früher nur leere Wand war. Temperaturanzeige. Nachrichten-Cluster. Der Stand meines Kalorienkontos. Alles unsichtbar für Außenstehende – sichtbar nur für mich, direkt ins Sehnervfeld projiziert.
Das Gerät selbst – wenn man es noch so nennen will – ist winzig. Eine hauchdünne Schicht Graphen, knapp unter der Haut an den Schläfen und am oberen Nacken. Eingespeist wird es durch Nanophotonen-Zellen im Haaransatz, kaum größer als Staubkörner, die das Licht einfangen und direkt in elektrische Impulse umwandeln. Frühe Modelle hatten Probleme mit Wärmeentwicklung, später löste man es mit einem Kühlfilm aus Bionanopolymeren, der gleichzeitig als Schnittstelle zum Nervensystem dient. Die eigentliche Revolution kam aber nicht durch die Hardware, sondern durch die Software – durch neuronale Sprachprotokolle, die so nah an menschliche Denkmuster angelehnt sind, dass sie sich anfühlen wie ein Teil des eigenen Bewusstseins.
Ich gehe in die Küche. Bevor ich den Kühlschrank öffne, hat das Interface schon die Essensvorschläge sortiert: optimiert nach meinen aktuellen Blutwerten, meiner Aktivitätsplanung und meinen Vorlieben. „Heute weniger Zucker – leichte Entzündungsmarker“, flüstert es mir zu. Ich rolle innerlich mit den Augen. „Ich will Croissants.“ Die Antwort kommt prompt: „Geht. Aber nur, wenn du den Nachmittagsspaziergang auf zwölf Kilometer ausdehnst.“ Ich nicke, obwohl ich weiß, dass es mich am Ende doch irgendwie dazu bringen wird.
Während ich frühstücke, öffne ich meine Erinnerungssammlung. Das ist keine klassische Datenbank mit Bildern und Videos – es ist ein Katalog echter Erlebnisse. Ein Sonnenuntergang in Marrakesch, bei dem ich den Duft von Minze und den trockenen Staub in der Luft noch immer schmecken kann. Die Stimme eines Freundes, den ich seit Jahren nicht gesehen habe. Das Klopfen meines Herzens in einer Nacht, in der ich fast gestorben wäre. Alles in perfekter sensorischer Wiedergabe.
Manche Erinnerungen sind privat verschlüsselt, andere frei zugänglich für jene, mit denen ich meine „Mind Cloud“ teile. Das Teilen ist wie ein Handschlag in Gedanken – schnell, wortlos, aber verbindlich. Ich habe schon Abendessen in Gesellschaft verbracht, bei dem wir nicht redeten, sondern uns gegenseitig Erlebnisse „spielten“: sie gab mir den Blick aus ihrem Apartment im 87. Stock in Singapur, ich ihr das Geräusch von Regen auf Blechdächern in einer mexikanischen Kleinstadt.
Doch nicht alle sehen das so romantisch. Es gibt Gruppen, die Schnittstellen strikt ablehnen. „Gedankensklaven“ nennen sie uns – Menschen, deren Innenleben durch Algorithmen kartografiert ist. Sie behaupten, dass jeder Gedanke, der gefördert oder unterdrückt wird, am Ende kein eigener mehr ist. Ich kann den Einwand verstehen. Manchmal frage ich mich selbst, ob ich noch ich bin oder nur die Summe aus mir und meinem KI-Kern.
Gegen neun Uhr setzt mein Arbeitsmodus ein. Kein Knopfdruck – das Interface kennt meine Routinen. Die Nachrichtenflut verdichtet sich zu einem einzigen, klaren Pfad. Meine To-Do-Liste sortiert sich in der Reihenfolge, in der sie meine kognitive Leistungsfähigkeit optimal ausnutzt. Ich wechsle zwischen Gesprächen in drei Sprachen, ohne zu merken, wann ich den sprachlichen Kanal umschalte. Die Übersetzung läuft unterbewusst, die Lippen formen Wörter, die mein Gehirn vor Sekundenbruchteilen erst in einer anderen Sprache formuliert hat.
Mittags mache ich einen Spaziergang. Kein Handy, keine Brille, nur ich – und das unsichtbare Netz, das mit mir geht. Ich passiere ein Café, in dem zwei Jugendliche lachen. Sie tragen offensichtlich neuere Modelle – man erkennt es an dem leichten, fast tanzenden Blick, der immer wieder in die Ferne springt, dorthin, wo ihre Overlays erscheinen. Wahrscheinlich spielen sie eines dieser „Gedanken-Pingpong“-Spiele, bei denen man sich in Sekunden gegenseitig kleine Szenen schickt. Ich erinnere mich, wie das bei mir war: am Anfang eine Offenbarung, später Routine.
An einer Straßenecke bleibe ich stehen. Vor mir steht eine Info-Säule, altmodisch mit Display. Das Interface erkennt den Ort, ruft mir historische Daten ab. Vor 40 Jahren war hier ein Einkaufszentrum, jetzt ist es ein vertikaler Garten mit öffentlichen Schlafkapseln. Ich muss nicht tippen oder fragen – das Wissen setzt sich einfach in meinen Kopf, wie eine Erinnerung, die ich längst hatte.
Nicht alle Vorteile sind so harmlos. Ich habe Projekte geleitet, bei denen wir ganze Strategien im Team in Sekunden „denken“ konnten. Wir saßen schweigend in einem Raum, und doch bauten wir gemeinsam Modelle, Entscheidungen, komplexe Kalkulationen – alles ohne ein Wort.
Aber ich habe auch Menschen erlebt, die nach Jahren mit dem Interface nicht mehr ohne es zurechtkamen. Manche mussten in Kliniken, um wieder „linear“ zu denken, wie wir es vor 2030 taten.
Am Nachmittag findet mein Meeting statt.
Eigentlich bin ich allein im Wohnzimmer, aber in meinem Kopf sitzen sechs Personen an einem Tisch. Ihre Stimmen sind so klar, dass ich manchmal vergesse, dass sie tausende Kilometer entfernt sind. Einer von ihnen – Ravi aus Neu-Delhi – sendet mir während des Gesprächs ein Diagramm. Ich sehe es vor meinem inneren Auge, kann es drehen, hineinzoomen, Punkte markieren. Niemand sonst bemerkt es, außer denen, für die es gedacht ist. So laufen Besprechungen 2060 – wortlos, wenn es sein muss, oder parallel zu einer sichtbaren Unterhaltung, ohne dass Außenstehende auch nur eine Ahnung haben.
Nach dem Meeting schalte ich für einen Moment alles ab. Die Stille ist ungewohnt. Früher war Stille normal, jetzt fühlt sie sich an wie ein Raum ohne Sauerstoff. Ich sitze da, höre den Wind durchs Fenster, und merke, wie mein Gehirn versucht, mit mir zu sprechen – ohne den Filter des Interfaces.
Der Ton ist rauer, ungeschliffen, fast archaisch. Es ist mein eigener. Ich lasse ihn gewähren.
Am Abend treffe ich Mara. Wir gehen nicht ins Kino – wir synchronisieren. Zwei Stunden lang teilen wir Erlebnisse, projizieren uns in gemeinsam gestaltete Szenen. Heute ist es ein Strand bei Nacht, den wir aus Fetzen alter Erinnerungen zusammensetzen: ihr Sternenhimmel aus dem Jahr 2048, mein Gefühl von warmem Sand aus einer Reise 2055. Wir fügen Stimmen hinzu, erfundene Musik, Gerüche, die nie existiert haben. Als wir uns trennen, fühlt es sich an, als hätten wir wirklich irgendwo gewesen. Und doch weiß ich: Es war nur in uns.
Zu Hause lehne ich mich zurück. Das Interface meldet eine Empfehlung: „Schlafmodus aktivieren?“ Ich antworte gedanklich mit Ja. Die Welt wird leiser. Der Gedankenschalter dreht sich langsam herunter, bis nur noch mein eigenes Rauschen übrig ist.
Ich wache auf, gähne – und strecke die Hand aus, noch bevor ich die Augen richtig geöffnet habe. Der Spender auf meinem Nachttisch ist kühl und glatt. Ein kurzes Tippen, und aus der schmalen Öffnung kriechen drei gläsern schimmernde Maden in meine Handfläche. Sie bewegen sich träge, noch halb in ihrem Ruhemodus. Ein sanftes Zucken durchläuft sie, als sie meine Körperwärme spüren.
Ihr Geruch ist kaum wahrnehmbar – eine Mischung aus feuchter Minze und etwas, das an frisch geschnittenes Gras erinnert. Die Hersteller haben lange experimentiert, um diesen „Neutralduft“ zu perfektionieren. Früher, in den ersten Jahren der BioDental-Maden, rochen sie nach Erde. Viele fanden das ekelhaft. Heute riechen sie nach nichts, oder nach dem, was man ihnen im Pflegemodul programmiert.
Ich setze mich auf, öffne den Mund und lasse sie hineingleiten. Sie suchen sofort den Weg über die Zunge, kriechen entlang des Zahnfleischrandes.
Es kitzelt, aber nur für die ersten Sekunden. Ihre Haut ist weich, fast schleimig, aber niemals unangenehm. Mikroskopisch kleine Härchen ertasten Speisereste, Zahnstein, Bakterienbeläge.
Die Enzyme, die sie absondern, sind so gezielt, dass sie nur organische Reste angreifen – kein Zahnschmelz, kein Füllmaterial.
Ich schließe die Augen. Es ist ein seltsam intimer Moment: drei Lebewesen arbeiten in meinem Mund, bewegen sich in einer synchronen Choreografie, die auf meinen Kieferabdruck abgestimmt ist. Sie lösen kleinste Krümel aus den Zahnzwischenräumen, massieren das Zahnfleisch, saugen winzige Beläge ab. Ein leises Knacken ist zu hören, wenn sie auf härtere Partikel stoßen – alte Mohnkörnchen oder Nussschalenreste, die sonst den ganzen Tag gestört hätten.
Das System ist alt genug, um selbstverständlich zu sein. Kinder lernen schon früh, wie man die Maden einsetzt, wie lange sie arbeiten müssen (durchschnittlich vier Minuten), und wie man sie am Ende zurückgibt. Denn ja – sie sind wiederverwendbar. Nach getaner Arbeit kriechen sie von selbst zur Zungenspitze, wo ich sie vorsichtig in den Spender zurückgleiten lasse.
Dort werden sie in einer Nährlösung gereinigt, die gleichzeitig ihre Enzyme regeneriert und eventuelle Krankheitserreger neutralisiert.
Die ersten BioDental-Maden kamen in den 2030ern auf den Markt, damals noch als Luxusprodukt für Raumfahrer, die im All keine Zahnbürsten nutzen wollten. Bald darauf entdeckten Kliniken ihren Wert für Patienten mit motorischen Einschränkungen oder Zahnfleischproblemen. Die Genetik hat sie seitdem perfektioniert: Sie leben nur in der vorgesehenen Nährlösung, können sich nicht außerhalb des Spenders vermehren, und ihr „Hunger“ erlischt, sobald alle erkennbaren Essensreste entfernt sind.
Ich spüre, wie die letzte Made einen kreisenden Weg um meinen unteren Eckzahn nimmt – eine Art Politurgang. Manche schwören, dass diese Massage das Zahnfleisch jung hält. Tatsächlich gibt es Studien, die zeigen, dass die mechanische Stimulation durch die Maden das Gewebe stärkt und Entzündungen vorbeugt. Kritiker bemängeln dagegen, dass der menschliche Biss- und Kaudruck, den wir früher beim Bürsten erzeugten, nun vollständig entfällt.
Ich schlucke. Nicht die Maden – die winzigen Mengen Nährflüssigkeit, die sie beim Arbeiten abgeben. Sie enthält Spuren von Probiotika, die angeblich das gesamte orale Mikrobiom ins Gleichgewicht bringen. Ob es stimmt? Schwer zu sagen. Aber ich kann mich nicht erinnern, in den letzten Jahren Zahnfleischbluten gehabt zu haben.
Es gibt auch die Luxusvarianten: Maden, die während der Reinigung ätherische Öle abgeben, oder solche, die in schwachem Bioleuchten arbeiten, um den Nutzer bei Nacht optisch zu unterhalten. Ich halte mich an die Standardversion – funktional, geruchlos, effizient.
Natürlich gibt es Nebenwirkungen. Manche Menschen sind allergisch gegen bestimmte Enzyme. Andere klagen über das Gefühl, nicht allein zu sein – als würden die Maden auch Gedanken anknabbern, nicht nur Plaque.
