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Ausgesetzt. Allein. Mitten im Wald bei Schwerin. Ein kleines Kind, zurückgelassen ohne Erklärung, ohne Hilfe, ohne Hoffnung. Was hätte das Ende sein können, wurde zum Beginn einer unglaublichen Geschichte. Eine Familie roter Eichhörnchen nahm das hilflose Menschenkind auf. Sie gaben ihm Wärme, Nahrung und Schutz. Sie lehrten es, im Geäst zu klettern, die Zeichen des Windes zu lesen und Gefahren zu erkennen. Der Anführer, ein großes Männchen mit schiefem Lauf und einer Narbe über dem Auge, wurde zum Vaterersatz. Zwischen Baumkronen und Waldboden lernte das Kind zu überleben. Es teilte Nester, suchte Nüsse, floh vor Raubvögeln und überstand Winter, in denen selbst das Knacken einer einzigen Haselnuss wie ein Festmahl war. Die Jahre vergingen, ohne ein menschliches Wort zu hören, und doch mit einer Familie, die niemals von seiner Seite wich. Dies ist kein Märchen. Dies ist der Bericht einer Kindheit fern von Menschen, in der Nähe, Treue und Überleben andere Formen annahmen. Eine wahre Geschichte aus den Wäldern Mecklenburgs, so unwahrscheinlich, dass sie kaum zu glauben ist und doch geschehen.
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Seitenzahl: 91
Veröffentlichungsjahr: 2025
Vorwort
Kapitel 1 – Erweckung
Kapitel 2 – Horn
Kapitel 3 – Die Kletterschule
Kapitel 4 – Die Nussordnung
Kapitel 5 – Fremde Zeichen
Kapitel 6 – Die Jäger
Kapitel 7 – Der Winterzug
Kapitel 8 – Die Rückkehr der Jäger
Kapitel 9 – Der Hungerwald
Kapitel 10 – Der große Aufbruch
Es gibt Erinnerungen, die wie lose Blätter durch den Kopf treiben, flatternd, unbeständig, leicht vom Wind der Jahre zu zerreißen. Und es gibt andere, die sich wie Rinde um das Holz legen, das man geworden ist. Meine Kindheit gehört zu der zweiten Art. Sie ist nicht bloß ein Abschnitt meines Lebens, sie ist der Stamm, aus dem alles gewachsen ist.
Ich bin nicht in einem Haus groß geworden. Kein Dach hat mich vor Regen geschützt, keine Wände vor Kälte, kein Herd hat meine Mahlzeiten gewärmt. Mein erstes Dach war das dichte Geflecht einer Baumkrone, mein erster Herd die Wärme eng aneinandergedrängter Körper, deren Herzschlag schneller war als meiner. Ich wuchs unter Eichhörnchen auf und nicht im übertragenen Sinn.
Es war kein Märchen und kein Spiel. Niemand brachte mich abends ins Bett, um mir Geschichten von Tieren zu erzählen, die in den Zweigen leben. Ich wachte dort auf. Ich spürte ihr Fell an meinem Gesicht, ihre Krallen auf meinen Armen, den Druck ihrer Körper, wenn sie sich gegen mich drängten, um die Nachtkälte abzuwehren. Ich hörte ihre Rufe, ihre Warnlaute, das Schaben ihrer Zähne an Nussschalen. Ich teilte ihre Nahrung, ihre Nester, ihre Gefahren.
Wer mich in diesen Wald gebracht hat, weiß ich bis heute nicht. Ich erinnere mich an keine Menschenstimme, bevor ich Horn begegnete, dem Anführer unserer Familie. Ein großes rotes Eichhörnchen mit einem schiefen Lauf und einem dunklen, pilzbefallenen Fleck über dem Auge. Er nahm mich auf, nicht wie ein Kind, sondern wie einen Schützling, der zu schwer, zu unbeholfen, zu anders war, um einer von ihnen zu sein und dem man gerade deshalb einen Platz geben musste.
Ich habe keine Sprache von ihnen gelernt, die man auf Papier setzen könnte. Meine Kehle konnte ihre Laute nicht formen. Doch wir verstanden einander. Nicht in Worten, sondern in Bewegung, Geruch, Blicken, im Knacken eines Zweigs, im Zucken eines Schwanzes. Und dieses Verstehen, das ohne Worte auskam, hat mich mehr geprägt als jede Schule, die später kam.
Ich schreibe diese Aufzeichnungen nicht, um zu beweisen, dass es geschehen ist. Ich weiß, dass es so war. Ich schreibe sie, um festzuhalten, was ein Leben sein kann, wenn es nicht zwischen Wänden beginnt, sondern zwischen Stämmen, Ästen, Blättern. Wenn man nicht lernt, wie man lebt, sondern lebt, um zu lernen.
Dies ist keine Fabel. Es ist mein Anfang.
Der Morgen im Wald begann nicht abrupt. Er kam schichtweise, in einem langsamen Vorrücken, das man nicht sehen konnte, ohne es zugleich zu hören und zu riechen. Zuerst war da ein fahles Glimmen im Blattwerk, kaum mehr als ein Schimmer in den feinen Adern der oberen Kronen. Das Licht drang nicht von außen her, sondern schien sich in den Blättern selbst zu entzünden, als ob sie das erste Feuer des Tages aus ihrem Inneren freigäben. Dazu kam ein Geruch, den nur der kennt, der hoch genug schläft, um über den stillen Nebelschwaden zu liegen. Er war trocken, harzig, mit einer kühlen Klarheit, die in den Nasenflügeln prickelte. Unter diesem Atem des Morgens mischte sich ein Lautmosaik, zusammengesetzt aus winzigen Vorgängen: das Kratzen einer Kralle an Rinde, das rasche Gleiten einer Pfote über eine glatte Astfläche, das elastische Nachgeben eines Zweigs, wenn ein Körper sich darauf niederließ.
Noch im Übergang zwischen Schlaf und Wachen spürte ich das leise Streifen einer Schnauze an meinem Gesicht. Die Härchen an ihrer Spitze kitzelten meine Nase, und ich sog unwillkürlich einen Atemzug tiefer ein. Das war das Zeichen zum Aufstehen. Es kam nicht mit einer Stimme, die mich rief, sondern mit einer Berührung, die mich aus dem Traum in die Gegenwart führte.
Über mir, unter mir und um mich herum waren sie bereits in Bewegung. Ein flüchtiges Wispern, wenn ein Schwanz durch das Blattwerk fuhr. Das trockene Knacken einer Nussschale. Das kaum wahrnehmbare Schlagen von Herzschlägen, wenn zwei Geschwister nebeneinander in einem Astwinkel ruhten. Die Familie war wach, und damit war auch ich wach.
Horn, der Anführer, hatte seinen Platz auf einer astbreiten Brücke zwischen zwei Stämmen. Dort saß er regungslos, und doch strömte von ihm eine Energie aus, die den Raum um ihn in Ordnung hielt. Sein Fell war von einem tiefen Rot, das im Morgenlicht dunkler wirkte, fast bräunlich. Über dem linken Auge trug er einen blassen, kreisförmigen Fleck, der wie ein altes Siegel auf seiner Stirn lag. Damals wusste ich nicht, dass es ein Pilz war, ich nahm es als ein Abzeichen, wie es nur Tiere tragen, die mehr Winter gesehen haben als andere. Sein rechter Lauf setzte etwas sanfter auf als der linke, als sei dort eine alte Verletzung verborgen, doch in seinen Sprüngen verriet sich kein Mangel.
Ich hatte für ihn keinen Namen. Meine Kehle konnte die feinen Laute der Eichhörnchensprache nicht formen. Was ich von mir gab, war ein raues, unregelmäßiges Krächzen, das sie geduldig ertrugen. Später, als ich die menschliche Sprache kannte, nannte ich ihn Horn. Das Wort passte, nicht weil es etwas über ihn erklärte, sondern weil es den Klang meiner Erinnerung in sich trug.
Der Abstieg vom Schlafplatz war jeden Morgen eine Prüfung. Die Rinde war kühl und feucht vom Tau, und ich musste mich mit Händen und Füßen an den Vorsprüngen festhalten, während die Eichhörnchen in kurzen, sicheren Sätzen an mir vorbeizogen. Ihre Bewegungen hatten einen fließenden Rhythmus, der nichts mit meiner ungeschickten Kletterei gemein hatte. Ich rutschte oft ab, griff daneben, spürte das Schürfen der Rinde an Haut und Gelenken.
Manchmal fiel ich mehrere Äste tief, bevor ich mich fing. Vielleicht stammt die Krümmung meines Rückens aus jenen Stürzen. Mein Gedächtnis hat den entscheidenden Moment gelöscht, doch mein Körper trägt die Spur.
Wie sie mich überhaupt auf diesen Baum gebracht hatten, ist mir bis heute unklar. Ein Menschenkind ist schwer, zu schwer für ihre zarten Glieder. Vielleicht führten sie mich Stufe um Stufe, lockten mit Nüssen, mit Bewegung, bis ich von selbst den Weg ins Geäst fand. Vielleicht setzte mich eine unbekannte Hand dort oben ab.
Wer mich damals in den Wald brachte, bleibt im Dunkel, und es ist nicht ausgeschlossen, dass nur der Teufel selbst die Antwort kennt.
Der Tag begann stets mit den Nüssen. Sie lagen in kleinen Gruppen bereit, nicht zufällig, sondern so geordnet, dass jedes Mitglied seinen Anteil fand.
Horn gab mir fünf pro Woche, eine für jeden Finger der guten Hand. Die andere nannte er die böse Hand. Er missbilligte, dass ich mich mit ihr am Rücken kratzte. Damals war mir nicht klar, warum es ihn störte. Später begriff ich, dass er den Ast kannte, an dem ich mich mit den Pobacken verkeilte, um Halt zu finden, und dass das Jucken von dieser Klemme kam.
Ich bemühte mich, nicht zur Last zu fallen. Ich kletterte, so gut ich konnte, sprang kurze Distanzen, schüttelte Bäume, bis ihre Zweige leer waren. Wenn Horn es zuließ, kraulte ich sein Fell.
Ich wusste, dass ich anders war. Mein Körper war langsamer, meine Stimme fremd, meine Sinne stumpfer als die ihren. Doch die Gemeinschaft nahm mich auf, und ich lernte, ihre Ordnung zu achten.
Der Wald war am Morgen durchsichtig. Die Sonne fiel in langen, schrägen Bahnen auf den Boden, und der Nebel löste sich in leichten Schwaden. Das Unterholz lag still, nur vereinzelt bewegte sich eine Ameise über meine nackten Füße, prüfte mich und zog weiter.
Den ersten Menschen sah ich von weit oben. Er trat in eine Lichtung, deren Rand noch vom Dunst gehalten wurde. Seine Gestalt stand scharf gegen das helle Grau des Nebels. Er bewegte sich mit jener Sicherheit, die der offene Boden gibt, und in seinem Gang lag nichts von der wachsamen Sprungbereitschaft, die ich kannte.
Ich begann so stark zu zittern, dass Horn und zwei Geschwister mich festhalten mussten.
Damals wusste ich nicht, was dieser Anblick bedeutete. Aber ich wusste, dass ich kein Eichhörnchen war. Diese Erkenntnis brannte in mir wie eine Wunde, die nicht heilt, sondern nur tiefer wird.
Ich verharrte noch, den Blick auf den Menschen gerichtet, bis er im Nebel verschwand. Erst als das letzte Flimmern seiner Gestalt im Dunst verging, löste sich meine Anspannung. Horn war längst wieder seiner Tätigkeit nachgegangen, als hätte er nichts gesehen, doch ich bemerkte, dass er den Kopf öfter hob als sonst. Die Geschwister kehrten zu ihrem Sammeln zurück, als sei der Wald unverändert, und doch lag eine andere Schwere in den Bewegungen.
Wir stiegen hinab. Der Tau, der in der Höhe nur als kühle Frische zu spüren gewesen war, legte sich nun in Tropfen auf meine Haut. Zwischen den Wurzeln war der Boden weich, noch feucht vom nächtlichen Nebel. Der Geruch veränderte sich.
Wo oben Harz und Blattgrün den Atem bestimmten, drang hier der schwere Duft der Erde in die Lungen, gemischt mit der Schärfe von Pilzen und verrottetem Holz.
Horn führte uns zu einem Platz, an dem die ersten Nüsse des Tages zu finden waren. Sie lagen unter einer alten Hasel, deren Äste vom Moos beschwert waren. Die Eichhörnchen bewegten sich in einem festen Ablauf. Jeder wusste, welchen Bereich er absuchte, und nur selten kam es zu Überschneidungen. Wenn doch, entschieden ein kurzer Blick und ein Knurren, wem die Beute gehörte. Ich versuchte, mich an diesen Takt zu halten, doch meine Bewegungen waren langsamer, und oft erreichte mich ein anderer, bevor ich zupacken konnte.
Horn gab mir an diesem Morgen eine Walnuss, schwer und noch von feuchter Erde umhüllt. Ich versuchte, sie wie die anderen zwischen den Zähnen zu knacken, doch mein Kiefer konnte den Widerstand nicht brechen. Schließlich schlug ich sie auf einem Stein auf, und das scharfe Geräusch trug weit. Ein Geschwister fuhr herum, die Augen weit, und für einen Moment glaubte ich, etwas falsch gemacht zu haben. Horn beobachtete mich aus der Ferne, rührte sich jedoch nicht. Vielleicht war es ihm recht, dass ich einen eigenen Weg fand, die Schale zu öffnen, auch wenn er lauter war.
Nach dem Frühstück folgte die Kletterübung.
Horn wählte einen Stamm, an dem sich die Rinde in langen, festen Bahnen löste. Er sprang vor, griff nach oben, zog sich mit einem einzigen Satz hoch und verschwand im Blätterdach. Die Geschwister folgten ihm in einer Abfolge, die an eine Kette erinnerte. Ich war zuletzt an der Reihe.
Der Stamm war kühl, das Harz klebte an meinen Händen, und die Muskeln brannten schon nach wenigen Griffen. Zweimal rutschte ich ab und musste von vorn beginnen. Beim dritten Versuch schaffte ich es, mich bis zu einem Ast vorzuarbeiten, von dem ich die anderen wieder sah. Horn blickte nur kurz zu mir, dann wandte er sich ab und setzte den Weg fort.
