21 Kurven - Fred Poulet - E-Book

21 Kurven E-Book

Fred Poulet

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Beschreibung

Als "der Pirat" Alpe d'Huez kaperte Die 21 Kurven hinauf nach Alpe d'Huez sind ein Mythos im Radsport. Der mörderische Anstieg in den Alpen erstreckt sich über 13,8 Kilometer mit einer durchschnittlichen Steigung von 8,1 Prozent. Hier wurde mehrfach die Tour de France entschieden und Helden geboren. Einer davon war Marco Pantani: In seinem unnachahmlichen Wiegetritt kaperte "der Pirat" 1997 in Rekordzeit den Berg und schrieb Radsport-Geschichte. Der italienische Kletterspezialist hatte sich zuvor bei einem Unfall so schwere Verletzungen zugezogen, dass ein Karriereende nicht auszuschließen war. Doch er kämpfte sich zurück und feierte mit seinem legendären Ritt am 19. Juli 1997 ein fulminantes Comeback. Dieses Comeback beflügelt die Fantasie des Autors Fred Poulet. In 21 Kapiteln taucht er in die Gedankenwelt Marco Pantanis ein und nimmt uns in diesem Buch mit in diese schlaflose Nacht vor seinem Triumph. - Roman über den italienischen Radsport-Helden Marco Pantani - Der Mythos Alpe d'Huez - Serpentine für Serpentine - Am 14. Februar 2024 jährt sich zum 20. Mal Marco Pantanis Todestag - die Originalausgabe des Buches "21 Virages" wurde 2021 mit dem französischen Buchpreis "Sport & Littérature" ausgezeichnet Eine Hommage an den italienischen Rennrad-Volkshelden Marco Pantani Am 20. Februar jährt sich zum 20. Mal Marco Pantanis Todestag. In Italien ist er immer noch ein Volksheld, um dessen Tod sich weiterhin zahlreiche Theorien ranken. Aufgrund der guten Erreichbarkeit ist Alpe d'Huez auch bei Hobbyrennradfahren sehr beliebt. Grenoble ist nicht weit weg und andere beliebte Pässe wie der Col du Galibier und der Col de la Croix de Fer sind ebenfalls nah. Durchschnittlich fahren täglich 400 Radsportler die 21 Serpentinen hinauf, im Sommer sind es etwa 1000.

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FRED POULET

21 KURVEN

MARCO PANTANI UND DER MYTHOS ALPE D’HUEZ

Übersetzt aus dem Französischenvon Robert Paulig

INHALT

DIE EBENE

21

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1

»AM TELEFON SAGTE ER MIR, ERHOFFE, DASS ICH GLÜCKLICH SEI.«

Christina Jonsson

DIE EBENE

Che confusione. Die Tour de France ist das reinste Chaos, der Radsport ist das reinste Chaos, das Leben ist das reinste Chaos, in meinem Kopf herrscht das reinste Chaos. Wer ein Lied mit den beiden Worten Che confusione beginnt, ist ein Genie. Du betrittst die Bühne, gehst gemächlich ans Mikro und dann legst du los: Che confusione. Du weißt, dass du bereits alles gesagt hast, du weißt, dass du zu Menschen sprichst. Beim nächsten Karaoke werde ich es ganz genauso machen: Ich werde zum Mikro schreiten, eine Hand in der Hosentasche, am besten mit leerem Blick in die Ferne. Che confusione … Was für ein Chaos, in diesem Vorort mit seinem Gewerbegebiet und seinen vierspurigen Straßen. Diese Stadt ist abscheulich. Das macht geniale Lieder aus: Irgendein Typ hat eines Tages den Song geschrieben, woran auch immer er dabei dachte, doch ich spüre, dass er ihn für mich geschrieben hat. Das ist mein Lied, sorry. Der Typ konnte nicht ahnen, dass ich das Lied in einem Hotelzimmer in Saint-Étienne anhöre, dabei aus dem Fenster auf diesen gottverdammten Parkplatz schaue, dass mein Leben ein einziges Chaos ist. Zwar kann er all das nicht wissen, und doch wollte er gerade deshalb, dass die ersten Worte Che confusione lauten. Sein Lied geht über seine persönlichen Erfahrungen hinaus. Wenn man etwas sehr gut hinbekommt, wird man immer von dem eigenen Werk überwältigt. Er hat beschlossen, sein Lied mit dieser Zeile zu beginnen, und damit ist er selbst in den Hintergrund gerückt. Er weiß nicht, dass ich morgen die einundzwanzig Kehren nach Alpe d‘Huez hinaufklettern und dieses Lied singen werde, wenn ich das Peloton in Grund und Boden fahre. Achtung, Il Pirata wetzt die Messer, che confusione! Der kleine Glatzkopf lässt es krachen, so wie 1995. Der kleine Glatzkopf knallt in einen Geländewagen, der kleine Glatzkopf lernt auf Krücken die Liebe kennen, was für ein Chaos! Natürlich ist es so, weil ich dich liebe! Sarà perché ti amo, anfangs ist man sich nicht sicher, man weiß es nicht und sagt sich: Es muss so sein. Jetzt weiß ich es. Ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht als die Liebe, ich habe sie endlich gefunden, und doch werde ich keine Ruhe mehr haben. Der Typ – eine Bohnenstange, ich erinnere mich nicht mehr an seinen Namen – beginnt sein Lied mit den Worten „Was für ein Chaos“, weil er wusste, dass die nächste Zeile „Es muss so sein, weil ich dich liebe“ lauten würde. Mein ganzes Leben spielt sich zwischen diesen beiden Zeilen ab, sie markieren die gegenwärtigen Grenzen meiner Existenz. Alles, was zwischen Kurve 21 und 1 passiert, befindet sich zwischen diesen beiden Zeilen. Der Typ, der sich den Anfang der Strophe ausgedacht hat, muss gewusst haben, wie sehr ich das brauche. Ein Jahr ohne Rad: Ich habe gemalt, ich habe geschrieben, ich habe Charly aufgesucht, es muss so sein, weil ich dich liebe. Für alles, was ich vor dir gemacht habe – klettern, hinfallen, aufstehen und gewinnen – und für alles, was ich seit dir gemacht habe – mich verlieren, zu mir selbst zurückfinden – und für alles, was ich verdammt noch mal tun werde, gilt natürlich: sarà perché ti amo. Das ist alles, was ich dir sagen möchte, nur leider gehöre ich nicht zu denjenigen, die ihre Gefühle leicht in Worte fassen können. È un’emozione Che cresce piano piano. Da ich nicht weiß, wie ich dieses Gefühl in Worte fassen soll, schwillt es an, nimmt den gesamten Lebensraum ein und schließlich sämtliche Luft zum Atmen, sodass ich um jeden weiteren Atemzug kämpfen muss und es am Ende doch nur unterdrücken kann, ehe es erneut anschwillt. So sehr ich es mir gewünscht habe, ich kann es nicht kontrollieren. Damit dieses Gefühl weiter wachsen kann, ohne mich zu töten, muss mein Leben mitwachsen, muss ich wachsen, ich bin noch ganz klein. Stringimi forte, damit ich wachsen kann. Man kann niemanden festhalten, wenn man nicht liebt. Es ist eine zu große Lüge, ein allzu durchschaubares Bekenntnis. Du kannst so weit weggehen, wie du willst, aber wenn du zurückkommst, dann halt mich fest.

Se ci sto bene sarà perché ti amo. Sei du selbst, lass mich wachsen, und wenn es mir gut geht, dann muss es so sein, weil ich dich liebe. Dabei bin ich mir sicher, dass ich zu hässlich und zu blöd bin, dass dein Interesse an mir auf einem Missverständnis beruht. Das macht mir zu schaffen, und ich habe Angst, dass ich dem nie gewachsen sein werde, habe Angst, dass du mich betrügst, aber wenn es mir gut geht … Es ist schon komisch, bevor mich die Liebe zersetzt hat, habe ich beim Musikhören vor allem auf die Melodie geachtet; seit ich dich liebe, sind es die Worte, die mich aufwühlen. Das Lied, das ich letztes Jahr aufgenommen habe, hätte ich selbst schreiben sollen. Doch ich hatte nicht genug Selbstvertrauen. Die Texterin hat sich zwar ganz gut geschlagen, aber es fehlt an Selbstverständnis und Tiefe. Ah, jetzt erinnere ich mich an seinen Namen: Er heißt Enzo Ghinazzi. Die Komponistin meines Liedes lag schon in der ersten Strophe daneben, darin heißt es sinngemäß: Am Meer bin ich geboren, Berge sind mein Halt (so weit, so gut), dann aber Jage Illusionen pur, finde Emotionen nur. Das ist allerdings nicht so gut. Außerdem ist es falsch, vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Ich suche Emotionen, finde aber nur Illusionen. Nur um des Wortspiels willen begeht sie einen weiteren Fehler: La bici l’ho voluta io e tiro la volata ormai. Tiro la volata. Ich habe noch nie in einen Sprint reingehalten, das ist überhaupt nicht meine Aufgabe. Für einen Kletterer wie mich ist das doch eine Beleidigung. Zum Glück ist das Lied nur einem kleinen Kreis zu Ohren gekommen. Ich werde den Text selbst schreiben, werde ihn jeden Tag verfeinern, dann gehe ich wieder ins Studio und kann Ihnen versichern, dass das Ganze eine gänzlich andere Hausnummer sein wird.

Cade una stella. Eines Nachts erblickte ich eine Sternschnuppe, die senkrecht in den Himmel emporstieg. Es hatte sicherlich mit der Perspektive zu tun, aber ich weiß, dass nicht alle Sternschnuppen vom Himmel fallen, und ich wünschte, der Schweifstern, den ich erblickte, würde mir helfen, weiter daran zu glauben. Dieser Enzo Ghinazzi ist ein Genie, er geht mir nicht mehr aus dem Kopf! Ich gewinne hier 1995, erlebe einen kometenhaften Aufstieg, und zwei Monate später krache ich mit voller Wucht in ein Auto. Wie lautete gleich die Diagnose? Doppelte Sternfraktur. Ich werde es mit einer Kontaktaufnahme versuchen, der Bekanntheitsgrad wird sicherlich helfen. Ich würde mit ihm gern über die Mystik sprechen, die uns verbindet. Er soll mir sagen, ob ein Stern immer vom Himmel fällt oder ob ich weiter daran glauben soll, dass er auch emporsteigen kann. Ich würde mit ihm gern den Abend auf der Terrasse verbringen und mit ihm über all diese Dinge reden, anstatt mich allein in meinem Zimmer zu langweilen. Warum essen wir eigentlich so zeitig? Ma dimmi dove siamo, sag mir bitte, was ich in dieser Stadt und in diesem Zimmer mache … Dieser Ort ist prädestiniert dafür, um im Nu depressiv zu werden. Das Zeitfahren heute war zu kurz, ich bin einfach noch nicht erschöpft genug und werde nie im Leben einschlafen können. Sag mir, wo wir sind … Weiß sie es? Oder ist es nur eine Art, sich die Frage gemeinsam zu stellen? Dein Ort und mein Ort verschmelzen miteinander zu einem neuen Ort. Wir wissen nicht, wo er ist – weder du noch ich. Er ist dort, wo wir sind. Also, dimmi dove siamo, sag mir, wo die Sternschnuppen aufsteigen und niemals vergehen, sondern nur in den Augen jener verblassen, die nicht an sie glauben.

Sempre più in alto si va. Siehst du, ich habe es dir gesagt: Der Stern steigt immer weiter empor. Immer weiter hinaufklettern, intensiver leben, intensiver lieben, immer. Die mechanische Verbindung, die zwischen dem Rad und mir besteht, lässt sich nicht aufhalten. Es handelt sich um ein Perpetuum mobile. Hosianna, jeder Pedaltritt ist ein Gebet! Höher, immer höher, in den höchsten Himmel hinauf. Ein Kletterer muss sterben, bevor er wieder hinabfährt, oder nicht sterben, und du musst mit mir fliegen. Und an dieser Stelle, meine sehr verehrten Damen und Herren, holt Enzo Ghinazzi zu seinem Meisterstück aus: der Todesstoß, der unwiderstehliche Antritt. Er schreibt: Il mondo è matto perché. „Perché“ – „weil“ … Danach hört der Satz einfach auf. Die Welt ist verrückt, weil. Punkt. Er bringt in diesem Nichts alles zum Ausdruck: weil es eben so ist, darum halt, und eben auch aus allen möglichen und unmöglichen Gründen, die man hinter diesem „weil“ anführen könnte, einschließlich des ti amo, das er nicht ausspricht. Chapeau, Künstler. Bücher halten mich vom Denken ab und führen mir meine Unwissenheit vor Augen; Lieder hingegen sind so erhaben, dass ich mich dem Geheimnisvollen hingeben kann.

Basta una sola canzone per far confusione. Schon ein einziges Lied genügt, um sich über das Chaos zu legen, das von der Liebe ausgeht, um mich die Konturen und Linien deutlicher wahrnehmen zu lassen, bis ich die Zeichnung schließlich erkennen kann. Ein Lied genügt, um die Hieroglyphen der verschlüsselten Botschaft, die uns das Leben schenkt, zu vollenden und daraus verständliche Worte zu machen. Innen wie außen. Fuori e dentro di te. Alles, was ich vor der Begegnung mit der Liebe für mein Ich hielt, verdammt, confusione. Die Tour de France und die Liebe, der Landarbeiter und der Pirat, die Öffentlichkeit und die Einsamkeit, das Chaos in mir und um mich herum. In diesem Moment weiß Enzo Ghinazzi, dass er alles gesagt hat, also wiederholt er die vorherigen Verse, damit man sie mitsingt und damit sie sich im Kopf festsetzen und dort ihre Arbeit verrichten. Nachdem die Strophen zweimal wiederholt worden sind, haut er einen Satz heraus, der sich wie ein Bergpass in der Ebene anfühlt, wie Cesenaticos berühmtes Hochhaus Grattacielo: Se cade il mondo, allora ci spostiamo. Selbst wenn die Welt zusammenfällt, hab keine Angst – geh einfach ein bisschen zur Seite … Er hat verstanden, dass die Welt nur so groß ist, wie du sie groß werden lässt. Wenn dich die Liebe hat so weit wachsen lassen, dass du weiter atmen kannst, dann schau auf die Welt, die dir zu Füßen liegt; fällt sie zusammen, dann gehe einfach einen Schritt zur Seite. Die Liebe ist größer als die Welt. Die Welt reicht niemals an die Liebe heran.

Der Himmel hat eine wunderbare Farbe, das Licht lässt den Parkplatz beinahe schön erscheinen.

Stringimi forte, e stammi più vicino È cosi bello, che non mi sembra vero

Se il mondo è matto, che cosa c’è di strano Matto per matto, al meno noi ci amiamo

E vola vola si sa, sempre più in alto si va E vola vola con me, il mondo è matto …

Bumm, bumm! Wie eine Basstrommel hämmert es gegen die Wand. Scheiße, manche schlafen schon, es ist deprimierend.

21

Ich habe große Lust, mein Rad auseinanderzubauen. Ich will es auseinander- und dann wieder zusammenbauen und dabei Radio Studio Delta hören. Se bastasse una buona canzone … Lager und Kette ölen, in die Kette hineinhören und sie so lange schmieren, bis sie genau so klingt, wie eine gut geölte Kette klingen muss. Mit einem Fensterleder über den Rahmen wischen und dann alles wieder zusammenbauen. Se bastasse una grande canzone … Warum nur isst man als Radsportler so früh zu Abend? Warum finden die Grand Tours statt, wenn die Tage am längsten sind? Schon seit zwei Stunden versuche ich in meinem Zimmer, die Zeit totzuschlagen, und draußen ist es immer noch hell. Unter dem Fenster meines Hotelzimmers wirft der Mannschaftsbus von Mercatone Uno Schatten, während sich auf dem Parkplatz zwei Mechaniker in kurzen Hosen unterhalten. Es scheint, als würde es nie dunkel werden. Es scheint fast so, als würde sich jede einzelne Minute vor mir mit einem hämischen Grinsen in die Länge ziehen. Gefangen in meinem Zimmer – wie damals, als mich mein Vater bestrafte, wenn ich wieder zu spät von meinen Radtouren nach Hause kam. Von Cesenatico sind es fast 30 Kilometer zu den ersten Anstiegen, das macht hin und zurück knapp zwei Stunden. Eine Ausfahrt unter drei Stunden war sinnlos, aber mein Vater wollte das nie verstehen. Für Dinge, die mich betreffen, zeigte er generell nicht viel Verständnis. Er wollte es einfach nie verstehen. Bei Carrera war ich Teamkollege, man hat mich nicht nach meiner Meinung gefragt, ich habe mir ein Zimmer mit Chiesa geteilt, wir haben wenig miteinander geredet. Aber wenigstens verging die Zeit schneller. Jetzt hat Mercatone Uno ein Team um mich herum aufgebaut, eine Nazionale Romagnola, und ich wurde nicht einmal gefragt – seither hab ich ein Einzelzimmer. Vielleicht ist es auch besser so, Chiesa hat fürchterlich geschnarcht. Wenn ich an all die Stunden denke, in denen ich achterbahngleich seinem Schnarchen folgen musste, das sich nahezu heimlich, still und leise entspann und dann immer weiter anstieg, bis es laut dröhnend in einem Atemstillstand gipfelte, von dem ich jedes Mal befürchtete, es könnte ihn sein Leben kosten, ehe es nach einem kurzen Moment der Stille fast unbemerkt von Neuem losging … Ich frage mich, ob sich alle Radrennfahrer so langweilen wie ich. Cipollini hat womöglich einen ganzen Harem in seinem Zimmer, und Ullrich lutscht wahrscheinlich am Daumen, während er sein zusammengerolltes Gelbes Trikot befummelt. Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich würde gern lesen. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie ein Buch gelesen. Da wäre es doch seltsam, wenn ich ausgerechnet jetzt damit anfangen würde.

Am liebsten würde ich diesen Tag, den es nicht gibt, so schnell wie möglich hinter mich bringen. Morgen erwartet mich die ganze Welt in Alpe d‘Huez – und niemand hat mich gefragt, wie es mir heute geht. Der kleine Pass beim Zeitfahren auf 1.201 Metern Höhe war ein Witz dagegen. Oben bin ich vom Rennrad auf die Zeitfahrmaschine gewechselt, damit es nicht in der totalen Langeweile endete. Gestern der Ruhetag, heute das Zeitfahren: Ich habe das Gefühl, schon seit einer Ewigkeit in Saint-Étienne zu sein. Ich hasse Ruhetage, ich hasse Zeitfahren, ich hasse Jan Ullrich, und ich hasse den Abend vor Alpe d‘Huez. Wie oft habe ich nun schon auf diesen Parkplatz gestarrt? Ich könnte ihn mit verbundenen Augen nachzeichnen. An nichts denken, die Fensterläden schließen und Schluss machen für heute. An nichts denken, was für ein komischer Ausdruck. Sollte es nicht eher heißen, die Gedanken auszuschalten? Aber an nichts denken, wie soll denn das gehen? Das hieße ja, doch an etwas zu denken, eben an nichts, das ist doch nicht möglich, oder? In jedem Fall kann es einem den Schlaf rauben. Dabei weiß man eigentlich, dass es unmöglich ist, nicht zu denken, weswegen ich an etwas denken muss, das mir beim Einschlafen hilft.

Während ich im Dunkeln daliege, muss ich mir eingestehen, dass sich ein Anflug von Angst in meinem Bauch breitmacht. Da haben sie ein Team um mich herum aufgebaut, und ich habe noch nichts gewonnen. Wenn ich es morgen verkacke, wird es langsam kritisch. Ich kann nichts dafür, dass mir beim Giro eine Katze in die Laufräder gerannt ist. Aber morgen zählts, da kommt meine Etappe. Ich versuche, mir die Bilder zu vergegenwärtigen, die mich in den Schlaf bringen – so wie ich es in der Entspannungstherapie gelernt habe: mich in meine Wohlfühlblase begeben, durch die Nase einatmen, ganz langsam durch den Mund ausatmen. Ich breite die Arme aus, male vor meinem geistigen Auge eine Lichtblase, mein Herzschlag verlangsamt sich, ich atme in den Bauch. Es warten einhundertachtzig Kilometer durch diverse Täler, ehe es die 21 Kehren nach oben geht – da muss ich vorne dabei sein. Einundzwanzig. Das war meine Startnummer, als ich hier 1995 den Sieg geholt habe. Ich sehe das als positives Vorzeichen. Vor meinem geistigen Auge lasse ich das Rennen von Anfang bis Ende ablaufen. Gleich zu Beginn kommt eine Passage mit mehr als 10 Prozent, das geht in die Beine. Bis zur ersten Kehre geht es ziemlich gerade bergauf, mein Herzschlag verlangsamt sich weiter, beim Ausatmen drückt mein Bauchnabel bis auf die Wirbelsäule, meine Arme sind schwer, meine Beine sind schwer, mein ganzer Körper ist schwer, angenehm schwer, und ich erlaube mir loszulassen und komme zu Kurve 21. Ich lasse alle Anspannung los, visualisiere die Anspannung, derer ich mich entledige, stelle mir die einundzwanzig Serpentinen vor, die es morgen hinaufzuklettern gilt, und mit jeder Kurve lässt die Angespanntheit weiter nach. Wie ein Wasserfall des Wohlbefindens macht sich die Entspannung in meinen Armen breit, die Schultern werden locker. Der Anstieg, den es zu erklimmen gilt, ist eine Ressource, ein wunderbares Zwischenspiel. Direkt vor der Kurve türmt sich senkrecht eine Felswand auf, es riecht nach warmem Gestein, nach Flucht; der Geruch von Trockenmauern in den Hügeln von Cesena liegt in der Luft. Das Flachstück zählt nicht, es ist nichts weiter als die Anfahrt zum Fuße des Anstiegs. Ich verachte die Ebene, in der ich geboren wurde, ich löse mich von den flachen Ebenen Cesenaticos und vom Geruch des Meeres in Kurve 21, um den Anstieg, die Freiheit und die von der Sonne erwärmten Steine für mich zu gewinnen. Ich bin voll und ganz in meine innere Welt eingetaucht, ich habe unglaubliches Potenzial. Kurve 21 biegt nach rechts ab, und sobald man aus ihr herausfährt, hat man den ewigen Schnee im Blick. Nicht an den Hängen, die es hinaufgeht, sondern auf den gegenüberliegenden Gipfeln der anderen Talseite. Kurve 21, die erste Kehre, die Verheißung des Gipfels, wie alle, die mir neue Kraft geben werden, nachdem ich mich durch die Täler geschleppt habe. Die Straße steigt mit mehr als 10 Prozent an, und die ganze Welt blickt auf mich. Es fühlt sich an wie ein Schalter: Ich existiere nicht, ich existiere. Im Flachen würdigt mich das Peloton keines Blickes. Die anderen Fahrer versuchen noch nicht einmal herauszufinden, wo ich gerade bin, ich existiere nicht. Aber ab der ersten Kurve, sobald ich Kurve 21 erreiche, blitze ich auf. Ich stelle mir den Renntag ganz konkret vor, und ich bin vollkommen entspannt. Noch ist die Vegetation abwechslungsreich – Laub- und Nadelbäume, saftige Wiesen. Noch sind die Gipfel von den Baumwipfeln verdeckt. Ich fahre ganz dicht an die Idioten heran, die mich immer noch „Elefantino“ nennen, und mit einem Lächeln auf den Lippen singe ich leise, ohne zu keuchen: Liebes Kind, weine nicht, wenn das Herz mir auch bricht, schmieg dich an, ich bin für dich da, ich bin dir nah, mein liebes Kind.