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How long does it take to heal a shattered soul? Für Kat bedeutet Weihnachten vor allem eins: nervige Weihnachtslieder in Dauerschleife und gruselige Santa-Claus-Figuren in den Schaufenstern. Dass sich in diesem Jahr auch das bedrückende Gefühl von Schmerz und Verlust dazugesellt, macht die Adventszeit für sie noch unerträglicher. Und das Schlimmste daran: Ein Ausweg aus dieser Dunkelheit ist nicht in Sicht. Zumindest bis ihr alter Schwarm Dean unerwartet zurück in ihr Leben tritt und ein wenig Licht in den Winter bringt ... Dean hätte nie gedacht, sich einmal über einen Schneesturm zu freuen. Doch dass Kats Flug ausfällt, ist das Beste, was ihm dieses Jahr passiert ist. Statt in den Urlaub zu fliegen, begleitet sie ihn in sein neues Haus nach Honey Daze, der verschlafenen Kleinstadt in der Nähe seiner Heimat. Aber etwas ist anders an seiner ehemaligen Kollegin. Sie lacht weniger als früher und hält ihn auf Abstand. Dean ist fest entschlossen, ihr der Freund zu sein, den sie braucht. Wie schwierig kann es schon werden, die Finger voneinander zu lassen, wenn die gegenseitige Anziehung spürbar ist und man den ganzen Dezember lang unter einem Dach wohnt? Und kommt inmitten verschneiter Berge und prasselndem Kaminfeuer vielleicht doch Weihnachtsstimmung auf? Lass dich von einer herzerwärmenden Weihnachtsgeschichte verzaubern und begleite Kat und Dean in 24 romantischen Kapiteln durch die Adventszeit!
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Seitenzahl: 453
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Ich wünsche mir das bestmögliche Leseerlebnis für euch.
Eure Alison
Für alle, die glauben, ihr Licht verloren zu haben. Du bist dein eigenes Licht.
How Long Will I Love You - Ellie Goulding
If You Saw Me Now - Matilda & Tyler Hilton
Lover - Taylor Swift
Oh Santa! - Mariah Carey
No Mercy - Austin Giorgio
Saviour - Picture This
Broken - Lifehouse
Have You Ever Seen The Rain -
Creedence Clearwater Revival
Begin Again - Taylor Swift
Hell of a Holiday - Pistol Annies
Freedom! ’90 - George Michael
Happier Than Ever - Billie Eilish
Turn Right - Jonas Brothers
Come Home - OneRepublic & Sara Bareilles
Let’s Get It On - Marvin Gaye
Praying - Kesha
Love In The Dark - Adele
That’s Amore - Dean Martin
Fix You - Coldplay
Love Grows - Edison Lighthouse
I Didn’t Know - Sofia Carson
All This Time - OneRepublic
Lights on (Acoustic) - Kelvin Jones
Welcome Home, Son - Radical Face
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Bonuskapitel
Alles begann mit dem Ende. Dem Ende meiner Freundschaft zu Louisa. Dem Ende meiner Schwangerschaft. Dem Ende meiner Beziehung zu Allec.
Das letzte Jahr hatte mich emotional auf eine Achterbahnfahrt ohne Anschnallgurt gepackt. Und als ich schrie, dass ich nicht mehr kann, dass ich genug habe, dass ich sterbe, wenn es so weitergeht, drehte die Achterbahn noch mal voll auf und legte eine Extrarunde ein.
Also ja, das letzte Jahr hatte mich zerstört.
Doch nun stand ich hier, fast dreihundertfünfundsechzig Tage später. Kufen kratzten über die vor mir liegende Eisbahn. Der Duft von gebrannten Mandeln und Bratapfel stieg mir in die Nase. Ich hielt die Luft für einige Sekunden an, um sie dann stoßweise aus meiner Lunge zu pressen. Vor genau einem Jahr hatte ich erfahren, dass ich schwanger war. Diese Nachricht stellte meine Welt komplett auf den Kopf. Kinder waren nie Teil meines Plans gewesen. Ich hatte mich nie als Mutter gesehen. Und dann irgendwie doch – als da diese kleine Erbse in mir heranwuchs, hatte sich etwas verändert. Mit einem Mal war da Hoffnung. Hoffnung, dass ich anders werden könnte als meine eigene Mutter. Hoffnung, dass ich nicht nur eine eiskalte Business-Lady war. Sondern mehr. Eine liebende Mutter, die für ihr Kind da war. Eine andere Frau als die, die mich geboren hatte.
Ein Jahr lang war ich mehr oder weniger untergetaucht. Nachdem ich ... nachdem ... Ich schluckte.
Verdammt, es fiel mir immer noch schwer, daran zu denken.
Als klar gewesen war, dass ich doch keine Mutter werden würde, hatte es mir erneut den Boden unter den Füßen weggezogen. An Arbeit war nicht zu denken. Ich verlor meinen Job, meine Beziehung und meine Wohnung. Nachdem ich einige Monate von meinem Ersparten gelebt hatte, arbeitete ich inzwischen bei einer Telefonvertriebsstelle. Die Arbeit erfüllte mich nicht und ich kam mir vor wie eine lästige Fliege, wenn ich die immer gleichen Firmen anrief, um nachzufragen, ob sie diese Woche Bedarf an Büromaterial hätten. Immerhin bezahlte es meine Miete und es lenkte mich ab. Was noch viel wichtiger war: Ich konnte es von zu Hause aus machen, wo ich niemandem begegnen musste. Doch jetzt stand ich hier. Mit beiden Füßen fest in meinen liebsten Louboutins. Ich war noch da. Die verdammte Achterbahn namens Leben hatte mich nicht kleingekriegt.
Ich saugte am Strohhalm meines Eiskaffees. Augenblicklich zog sich alles in meinem Mund zusammen. Ich liebte kalten Kaffee, sogar im Winter. Insbesondere im Winter. Aber vielleicht durfte ich mir ein wenig Süße im Kaffee zugestehen und trotzdem eine Badass-Bitch sein. Über mich selbst schmunzelnd, nahm ich noch einen Schluck. Hm. Der war schon nicht mehr so schlimm, doch zukünftig würde ich definitiv wieder meinen Iced Cinnamon Swirl Coffee nehmen.
In der letzten Woche hatten sich die Schaufenster bei HomeGoods komplett gewandelt. Die herbstliche Thanksgiving-Deko war nach ganz hinten verbannt und mit fetten Sale-Schildern versehen worden. Nun grinsten einem wieder absolut gruselige Santa-Claus-Figürchen durch die Scheibe entgegen. Ein Schaudern durchfuhr mich.
Die Weihnachtszeit begann.
Bei dem Gedanken schnürte sich meine Kehle zu. Die schwierigste Zeit des Jahres stand mir bevor. Gott sei Dank hatte ich erst mal Urlaub und würde morgen früh den Flieger in ein süßes kleines Wellness-Resort in den Rocky Mountains nehmen. Auf und davon. All den Mist des letzten Jahres hinter mir lassen. Ausspannen. Verdrängen. Nein, vergessen. Das war es, was ich wollte. Mich trennte nur noch ein Dinner bei Mr. und Mrs. Spooky, aka. meinen superspießigen Großeltern, mit meiner sogenannten Mutter von purer Entspannung. Vier Wochen lang nichts tun und Massagen genießen. Ein Abendessen würde ich schaffen. Wie hatte meine Mutter gesagt, nachdem ich mir den Knöchel bei einem Eiskunstlauf-Turnier verknackst hatte? Du reißt dich jetzt am Riemen und kneifst die Arschbacken zusammen. Die letzte Kür stehst du auch noch durch.
Ich ließ den Blick über die Eisbahn schweifen, auf der sich so viele Menschen drängten, dass es ein Wunder war, nicht alle zwei Sekunden jemand stürzen zu sehen. Wahrscheinlich war es so voll, dass sich die stur im Kreis fahrende Masse dadurch selbst aufrecht hielt. Der grau verhangene Novemberhimmel erinnerte mich an meinen ersten Kuss. Den Geschmack von Fruchtkaugummis auf der Zunge, leicht schwitzige Hände, trotz der eisigen Kälte. Es war ein unschuldiger Kuss gewesen, den ich an jemanden verschenkt hatte, der mir eigentlich nichts bedeutete. Es ging um die Sache, nicht ums Gefühl. Der Typ war ein waschechter Badboy gewesen, drei Jahre älter, mit Tätowierungen und Motorrad. Wenn ich heute darüber nachdachte, musste ich fast lachen. So ein Klischee. Und doch war es traurig, wie verzweifelt ich versucht hatte, die Aufmerksamkeit meiner Mutter zu erlangen. Um jeden Preis.
Am Tag meines achtzehnten Geburtstages war ich ausgezogen und hatte von da an beschlossen, nur noch Dinge für mich zu tun. Nicht mehr von Karen Nicholson abhängig zu sein oder ihr etwas zu schulden. Und siehe da: Ich hatte mir einen Job in einem Café mit Blick auf das Rockefeller Center gesucht – das Cinnabon konnte ich sogar von hier aus sehen. Ich hatte es für mich getan. Ich hatte Marketingmanagement studiert. Auch für mich. Als ich für eine Freundin einsprang und auf der Gala einer angesehenen Anwaltskanzlei kellnerte, stolperte ich ausgerechnet in einen viel zu gut aussehenden, anzugtragenden Jurastudenten. Mit seinen silbrig glänzenden Augen und dem frechen Grinsen brachte er mich total aus dem Konzept, während er sich mit mir über die anderen spießigen Schlipsträger lustig machte. Obwohl er selbst dazugehörte. Aber irgendwie hatte er etwas an sich, etwas, das sagte: Ich bin anders als die da. Ich bin so wie du. Ich verstehe dich.
Alles an ihm gefiel mir viel zu gut. Das hätte mich schon damals stutzig machen sollen.
Ein Gutes hatte die Sache: Er sprach mit seinem Chef, organisierte mir eine Stelle in der Kanzlei und so kam es, dass ich wenige Wochen später meinen Job im Cinnabon kündigte. Statt der dunkelroten Schürze mit Kaffeeflecken trug ich fortan schicke Bleistiftröcke und Hosenanzüge. Die standen mir deutlich besser. Finanziell war der Jobwechsel ebenfalls eine echte Erleichterung. Der Geschäftsführer, Mr. Carlisle, war ein alter, knauseriger Mann, doch er mochte mich auf Anhieb. Dank ihm hatte ich eine realistische Chance, die Studiengebühren zu bezahlen, ohne über eine Privatinsolvenz nachdenken zu müssen. Durch den Wegfall der finanziellen Sorgen wurden sogar meine Noten besser. Es zeigte sich, ich konnte lernen. Ich konnte gut sein. Meine schlechten Schulnoten waren damals wohl nur ein verzweifelter Ruf nach Aufmerksamkeit gewesen. Ich zog mein Studium in der Regelzeit durch, lieferte stets gute Leistungen ab, arbeitete zunächst dreimal die Woche am Empfang der Kanzlei und dachte öfter, als mir lieb war an einen gewissen Anzugträger. Schlank, attraktiv, witzig. Es war unmöglich, nicht an ihn zu denken, wo ich ihn jedes Mal sah, wenn er an meinem Tresen vorbeikam. Ein paar Monate später fand sich jemand Neues für den Empfang. Endlich durfte ich richtige Büroluft schnuppern und das Marketingteam unterstützen.
Bei der Erinnerung kroch Hitze meinen Hals hinauf, bis in die Wangen. Ich schloss die Augen. Dean war jemand, den meine Mutter vermutlich sogar gemocht hätte. Doch darum war es mir zu diesem Zeitpunkt Gott sei Dank schon nicht mehr gegangen. Er war anders. Er war ...
»Kat?«
Erschrocken zuckte ich zusammen und fuhr herum. Die trübe Nachmittagssonne blendete mich. Vermischt mit den schimmernden Lichterketten, die die Eislaufbahn säumten, war es mir beinahe unmöglich, die Augen offen zu halten. Nur deshalb fühlten sie sich plötzlich feucht an. Sicher. Nicht etwa wegen der vertrauten Stimme, die mir geradewegs den Boden unter den Füßen wegriss. Hastig blinzelte ich, um meine Sicht zu klären. Vielleicht hatte ich mich verhört.
»Kat?« Wieder seine Stimme. Dieses Mal direkt neben mir. Als ich nun auch noch eine warme Hand auf meiner Schulter spürte, zuckte ich umso heftiger zusammen.
»Dean!«, stieß ich überrascht aus und gab mir die größte Mühe, es unbekümmert klingen zu lassen. Was zur Hölle hatte er hier verloren? Das ganze letzte Jahr über war ich ihm kein einziges Mal über den Weg gelaufen. Zugegeben, ich hatte mich so gut es ging in meiner kleinen Wohnung eingeigelt, doch hin und wieder war ich schon einkaufen oder spazieren gewesen. Ich dachte, er wäre zurück nach Sugar Hill gezogen und hätte meine Heimatstadt wieder mir überlassen. Hätte New York hinter sich gelassen, ohne je zurückzublicken. New York und mich. Ihn jetzt hier zu treffen, als würde er … als würde er noch hierhergehören, als wäre nichts geschehen, sorgte dafür, dass mein ganzer Körper vor Überforderung kribbelte und mein Hirn Mühe hatte, diese Information zu verarbeiten.
Ich zwang mich zu einem Lächeln, musterte sein Gesicht. Sog jedes Detail auf und starrte dann wieder zur Eislaufbahn. Es war das erste Wochenende, an dem sie aufgebaut war. Ich kam jedes Jahr her und sah den Leuten zu, wie sie auf dem Eis mit ihren Kindern herumtollten und Pirouetten drehten. Wieso? Allein aus masochistischen Gründen. Anders konnte ich es mir nicht erklären.
»Wie geht es dir? Du ... du siehst gut aus.« Er lehnte sich mit den Unterarmen auf die Bande, die die Eisbahn eingrenzte. Ich musste ihn nicht einmal ansehen, um zu wissen, dass sein Blick auf mir ruhte. Innerlich schnaubte ich. Dean war so nett. Nein, höflich. Das war der richtige Ausdruck. Er war immer höflich, zuvorkommend und korrekt. Klar, er konnte mir schlecht sagen, dass ich beschissen aussah. Obwohl es der Wahrheit entsprach. Er hingegen sah perfekt aus. Wie immer. Genauso, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Die hellbraunen Haare in einem akkuraten Kurzhaarschnitt. Kein Haar zu lang. Das Kinn glatt rasiert. Die dunklen Brauen ordentlich gezupft. Seine schimmernden stahlgrauen Augen, eingerahmt von der dunkelbraunen Hornbrille. Ein schwarzer Mantel über einem maßgeschneiderten Anzug mit blassblauem Hemd. Er war unfassbar attraktiv. All das hatte ich in dem Bruchteil der Sekunde, in der ich ihn angesehen hatte, registriert. Oder vermischten sich hier Erinnerungen mit der Realität?
Ich riskierte einen kurzen Seitenblick. Nein. Er war perfekt. Und ich hatte doch tatsächlich schon wieder den Fehler begangen, ihm in die Augen zu sehen. Unsere Blicke verhakten sich und mein Mund wurde trocken. Ein paar Herzschläge lang schwiegen wir. Die Geräusche um uns verstummten. Meine Sinne waren wie benebelt. Was passierte hier? Erst jetzt bemerkte ich den fragenden Ausdruck auf seinem Gesicht.
»Wolltest du etwas wissen?«
»Hm?« Er blinzelte, als hätte ich ihn mit meiner Frage ebenfalls von ganz weit weg zurückgeholt. »Äh ja, richtig. Ich habe gefragt, wie es dir geht.«
»Oh.« Ich räusperte mich. »Gut!«
Er kaufte mir diese miserable Lüge sicher nicht ab. Dafür kannte er mich einfach zu gut. Wobei sich mir die Frage aufdrängte, ob er mich wirklich noch so gut kannte. Ich hatte mich verändert. Das letzte Jahr hatte mich verändert. Die Stille, die sich nun zwischen uns ausdehnte, war unangenehm. Ihn anzusehen, tat weh. Doch ihn nicht anzusehen, tat noch viel mehr weh.
»Ich bin seit ein paar Tagen wieder mal in der Stadt«, begann er. »Hatte noch einige Besprechungen in der Kanzlei und hab die letzten Weihnachtseinkäufe erledigt, bevor es wieder nach Hause geht.« Er deutete auf zwei große Papiertüten neben sich.
Nach Hause.
Es schmerzte, zu wissen, dass New York nicht mehr sein Zuhause war.
»Hm. Schön, schön«, sagte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst darauf antworten sollte.
»Ach, und heute Abend ist eine Gala von der Arbeit aus. So eine Art Weihnachtsfeier. Kommst du auch?«
»Wieso sollte ich?«, fragte ich und erschrak selbst über meinen scharfen Tonfall.
»Na ja, du hast auch einige Jahre bei uns gearbeitet. Hast du keine Einladung bekommen?«
»Nein.« Doch. Sie war letzte Woche per Post eingetrudelt und ich hatte sie nach dem Öffnen direkt in den Mülleimer befördert.
»Seltsam. Da ist wohl etwas schiefgelaufen.«
Ich wurde hellhörig. Hatte er womöglich angeordnet, dass ich eine Einladung bekommen sollte?
»Normalerweise bekommen auch Ehemalige eine Einladung, wenn sie sich nicht gerade im Streit von der Kanzlei getrennt haben.« Während er sprach, gestikulierte er vage mit seinen Händen, was mich erneut aus dem Konzept brachte. Was gäbe ich dafür, dass diese Hände sanft über meine Wangen strichen und langsam zu meinem Hals hinabglitten? Als die Bedeutung seiner Worte zu mir durchgedrungen war, spürte ich einen kleinen Anflug von Enttäuschung in meinem Brustkorb.
»Ah, okay. Jedenfalls werde ich trotzdem nicht zur Gala kommen.«
»Solltest du aber.« Fragend zog ich die Augenbrauen hoch. »Ich fänd’s schön, wenn du kommen würdest.«
Da war es wieder, das verräterische Flattern in meinem Herzen. Ich musste diese Konversation schleunigst beenden.
»Wie würde das denn rüberkommen, so ganz ohne Einladung?«, fragte ich schnaubend.
»Du könntest ja mit mir kommen. Als meine Begleitung.«
Das Flattern in meiner Brust verwandelte sich in Hitze, als er mich mit seinen intensiven grauen Augen ansah.
»Was ist mit Louisa? Gehst du nicht mit ihr hin?«
Jetzt machte sich Verwirrung in seinem Gesicht breit. »Kat, du weißt schon, dass Louisa und ich nicht mehr zusammen sind, oder?«
Ich musste mich ganz stark zusammenreißen, dass mir nicht die Kinnlade runterklappte. Stattdessen biss ich mir auf die Unterlippe und senkte den Blick. »Wusste ich bisher nicht. Tut mir leid.«
Das schlechte Gewissen, das ich das letzte Jahr krampfhaft zu verdrängen versucht hatte, kam gerade winkend auf einem pinken Fahrrad an mir vorbeigedüst.
»Kat«, wisperte Dean und streckte die Hand nach meiner aus, doch ich zog sie zurück. Seine Hand sank wieder nach unten. »Da ist nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest. Also tust du mir den Gefallen und begleitest mich zur Gala?« Seine Stimme klang so sanft. Es war verlockend, einfach Ja zu sagen. Einen Abend an Deans Seite zu verbringen. Sich für ein paar Stunden im Licht seiner Aufmerksamkeit zu sonnen und Wärme zu tanken. Aber es ging nicht. Ich straffte die Schultern. Arschbacken zusammenkneifen, Katherine.
»Ich kann nicht. Ich hab was vor.«
»Oh, okay. Schade.«
Ich nickte, klopfte ein paar imaginäre Schneeflocken von meinem schwarzen Mohair-Mantel und trat einen Schritt zurück. »Ja, total. Na ja, war schön, dich mal wieder gesehen zu haben, Dean.«
Ohne eine Antwort abzuwarten oder ihm noch einen Blick zuzuwerfen, drehte ich mich auf meinen Penny-Absätzen um und ging schnellen Schrittes davon. Das hieß, so schnell es eben ging, denn natürlich war am ersten Adventswochenende vor dem Rockefeller Center nicht gerade wenig los. Zu meiner Erleichterung hörte ich Dean nicht noch einmal nach mir rufen. Ich hatte ihn abgeschüttelt. Wie lange würde ich brauchen, um diese kurze Begegnung zu verarbeiten? Eine Lavastein-Massage und einen großen Gin Tonic? Vielleicht auch zwei ...
Als ich die Menschenmassen und die kitschigen Weihnachtsmarktstände hinter mir gelassen hatte, blickte ich über die Schulter, nur um sicherzugehen, dass er mir wirklich nicht folgte. Die Erkenntnis erfüllte mich wider Erwarten nicht mit Freude, sondern versetzte mir einen Stich direkt in die Brustgegend. Ich schluckte schwer und beschleunigte mein Tempo.
Früher war ich diesen Weg fast täglich gelaufen. Vom Rockefeller Center zu meinem ehemaligen Zuhause, in dem ich mit meinem Ex-Freund Allec gewohnt hatte, war es zwar ein gutes Stück, doch ich hatte es gemocht, die Strecke nach Feierabend zu laufen. Dass mich die Begegnung mit Dean mehr aus der Bahn geworfen hatte, als ich zugeben wollte, fiel mir erst auf, als ich schon eine gute Meile in die Richtung des hellblauen Reihenhauses gelaufen war. Richtig, ich wohnte dort ja gar nicht mehr. Meine neue Wohnung lag in Hell’s Kitchen. Das war tatsächlich ein Stadtteil in New York. Ohne Scheiß. Eigentlich war es ein schönes und offenherziges Künstlerviertel, aber ich fand es trotzdem ironisch, dass ausgerechnet dort Anfang des Jahres eine Wohnung frei geworden war, die ich mir allein leisten konnte.
Ich wollte gerade an die Straße herantreten, um mir ein Taxi zu nehmen, als ich mein Handy in der Manteltasche vibrieren spürte. Ein Blick aufs Display verriet mir, was mich erwartete, ehe ich den Anruf annahm.
»Was willst du?« Ich hob den Arm und kurz darauf kam ein Taxi vor mir zum Stehen.
»Katherine? Wo bist du?«, tönte die spitze Stimme meiner Mutter durch den Hörer. Ich sprang auf die Rückbank des Taxis und wisperte dem Fahrer meine Adresse zu. »Was hast du gesagt?«
»Nichts. Ich habe nicht mit dir geredet, Mutter.«
»Mit wem redest du dann, wenn wir gerade telefonieren?«
Ich verdrehte die Augen. »Gibt es etwas Wichtiges oder willst du einfach nur wissen, wie weit ich meine Augen verdrehen kann, ohne dass sie mir rausfallen?«
Stille. Ich konnte mir regelrecht vorstellen, wie sie vor Empörung den Mund auf und zuklappte. Ratlos, was sie auf solch eine Frechheit erwidern sollte. Zugegeben, das gab mir ein wenig Genugtuung.
»Du sollst nicht immer so frech sein. Du bist eine erwachsene Frau!«
»Aha«, brummte ich. Zehn Sekunden würde ich ihr noch geben. Wenn sie bis dahin immer noch nicht mit der Sprache rausgerückt war, was sie von mir wollte, würde ich auflegen.
»Denkst du an das Essen heute Abend bei deinen Großeltern?«
Ach so, daher wehte der Wind. Sie hatte Angst, dass ich sie vor ihren Eltern blamierte, indem ich mit Abwesenheit glänzte.
»Denke den ganzen Tag an nichts anderes.«
»Hast du Blumen?«
»Nein.«
»Katherine, so habe ich dich nicht erzogen!«, tadelte sie mich.
»Stimmt, denn du hast mich eigentlich gar nicht ...« Ich biss mir auf die Zunge, um den Satz nicht zu Ende zu führen, aber wir wussten beide, wie er geendet hätte. Jetzt fragte sie sich sicher wieder, womit sie so eine ungezogene Tochter verdient hatte. Und ich fragte mich, womit ich so eine lieblose Mutter verdient hatte.
»Wie dem auch sei«, fuhr sie fort. »Der Fahrer holt dich um sechs Uhr ab. Ich sag ihm, dass er vorher noch Blumen für dich kaufen soll.«
»Oh, wie lieb von dir«, säuselte ich in den Hörer. Der Taxifahrer warf mir einen belustigten Blick durch den Rückspiegel zu. »Nur sehe ich Pete nicht auf diese Weise, Mom.«
Meine Mutter schnaubte. »Ich werde auf dieses kindische Verhalten nicht eingehen, Katherine. Ich denke, es ist alles gesagt. Wir sehen uns dort.«
»Wer verhält sich hier ...«
Tuut-tuut-tuut. Verdammt! Sie hatte aufgelegt und damit das letzte Wort gehabt. Ich hasste es.
Als der Wagen wenige Minuten später vor meinem Wohnkomplex zum Stehen kam, lehnte ich mich nach vorne, um den Fahrer zu bezahlen. Ich verließ das Auto und schirmte mein Gesicht mit der Hand vor dem nasskalten Schneeregen ab. Es schien, als hätte sich der Himmel noch nicht für Regen oder Schnee entschieden und bot stattdessen mal beides an. Mit jedem eisigen Tropfen klebten meine langen dunklen Haare mehr an meinem Kopf, während ich in meiner schwarzen Shopper Bag nach meinem Schlüssel kramte. Fantastisch. Jetzt musste ich auch noch duschen. In einer halben Stunde würde schon der Fahrer meiner Mutter vor der Tür stehen. Im Hausflur grüßten mich Elaine und Tish, die gerade aus ihrer Wohnung im Erdgeschoss kamen.
»Sorry, ihr beiden. Hab’s eilig!«, rief ich, während ich die Treppe nach oben rannte. Normalerweise war ich immer für einen Plausch mit den beiden zu haben. Sie waren nur ein paar Jahre älter als ich und hatten mich Anfang des Jahres mit offenen Armen in diesem Wohnkomplex aufgenommen. Durch sie wusste ich, dass Prajit aus der 4D sonntags immer Curry kochte und dass man, wenn man ihn im Hausflur freundlich grüßte, gute Chancen hatte, die Reste angeboten zu bekommen, wenn er zu viel gekocht hatte. Was so gut wie immer der Fall war. Durch meine beiden Nachbarinnen hatte ich so einiges an Insiderwissen über die anderen Bewohner erhalten, was mich an manchen Tagen zum Kichern gebracht und mir an anderen Tagen regelrecht den Arsch gerettet hatte.
Oben angekommen, sperrte ich die Wohnungstür auf, drückte sie wieder ins Schloss, nachdem ich eingetreten war, und lehnte mich einen Moment dagegen.
Kurz durchatmen.
Und weiter.
Ich sprang unter die Dusche, genoss für ein paar Minuten das heiße Wasser, das mir auf die Schultern prasselte und mich aufwärmte. Während ich wenig später im Schlafzimmer nach etwas zum Anziehen suchte, rubbelte ich mir die Haare trocken. Schwarze Jeans, schwarzer Rollkragenpullover, dazu die großen Perlenohrringe, die Großmutter mir vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Ich könnte mich selbst verfluchen, dass ich mich ihrem Willen beugte und die verdammten Dinger zu Anlässen trug, bei denen ich ihr begegnete. Aber sonst würde sie sich nur wieder beschweren. Die Klingel schrillte durch meine Wohnung.
»Komme«, rief ich, obwohl ich wusste, dass mich der Fahrer definitiv nicht bis unten auf der Straße hören konnte. Ich schlüpfte noch schnell in meine schwarzen Lederboots. Ausnahmsweise mal keine Absatzschuhe. Mein kleiner Ausflug zum Rockefeller Center hatte mir gezeigt, dass ich mich bei dem ganzen Schneematsch auf den Straßen langsam von meinen hohen Hacken verabschieden musste. Auch die kurze Dusche hatte nicht ausgereicht, um meine von der Kälte durchfrorenen Füße wieder aufzuwärmen. Ich brauchte jetzt etwas Warmes, etwas zum Wohlfühlen. Hastig lief ich nach unten und stieg in das wartende Auto vor der Haustür ein.
»Hey, Pete«, grüßte ich den Fahrer meiner Mutter. Ich schätzte ihn auf Mitte Ende fünfzig, für sein Alter hatte er sich echt gut gehalten. Ich erwischte mich bei dem Gedanken, wie selbst Pete mir als Stiefvater lieber wäre als Haiden McFadden. Würg. Insgeheim nannte ich ihn immer McArschkriecher.
Ach, das würde wieder toll werden heute Abend.
Die zwanzigminütige Fahrt zur Upper East Side nutzte ich, um ein wenig Make-up aufzutragen und mit Pete zu plaudern. Als wir bei dem vierstöckigen Koloss von Reihenhaus meiner Großeltern ankamen (ja richtig, vierstöckig!), kam Pete um das Auto herum und öffnete mir die Tür. Ich hatte ihm zwar schon oft gesagt, dass er das nicht tun musste, doch er bestand darauf. Zu allem Überfluss reichte er mir einen überdimensionalen Blumenstrauß. Er bestand aus weißen Rosen, Nelken, zartgelben Lilien und ebenfalls weißen blumigen Schneebällen, deren unbekannter Duft mir in der Nase kitzelte.
»Einen größeren hast du nicht finden können, oder?«, scherzte ich und verdrehte die Augen.
»Anweisung Ihrer Mutter.«
Ich nickte knapp. »Schon klar. Danke trotzdem.« Ich drehte mich auf dem Absatz um und steuerte auf das Messingtor zu, als mir etwas einfiel. »Pete, bist du noch anderweitig eingespannt heute Abend oder kann ich dich anrufen, wenn mir das hier bei Frankensteins alles zu viel wird?«
Er lachte auf. »Sie können mich jederzeit anrufen, Ms. Nicholson.«
»Du bist der Beste!« Grinsend warf ich ihm einen Luftkuss zu und er schüttelte belustigt den Kopf, während er zurück in den Wagen stieg.
Nun stand ich vor dem großen weißen Haus und blickte daran empor, und mit einem Mal war mir gar nicht mehr nach Grinsen zumute. Ich schluckte. Mit jedem Schritt, den ich auf das Haus zu tat, kam mir der Blumenstrauß schwerer vor. Es widerte mich an, dass meine Großeltern zu zweit in so einem riesigen Haus lebten, während sich in meinem Wohnkomplex eine sechsköpfige Familie eine Zweizimmerwohnung teilen musste, weil etwas anderes einfach unbezahlbar war. Der Wohnraum war in New York ohnehin begrenzt, und Menschen wie meine Großeltern und ihre reichen Freunde verschlimmerten das Ganze maßgeblich. Ich fühlte mich jetzt schon wie eine Katze, die man entgegen der Fellrichtung streichelte.
Die dunkle Holztür wurde geöffnet, noch ehe ich das dritte Mal klopfen konnte.
»Katherine«, hörte ich eine vertraute, schrille Stimme hinter dem Blumenstrauß. Ich senkte den Strauß und grinste gezwungen darüber hinweg.
»Hallo, Großmutter, die sind für dich.«
Nachdem ich den Begrüßungssekt im Kaminzimmer über mich ergehen lassen hatte, pilgerten wir ins Esszimmer. Großvater an einem Tischende, Großmutter am anderen. Mom gegenüber von mir und McArschloch neben ihr. Der Platz zu meiner Linken war schon immer frei gewesen. Leider hatte ich keine blutsverwandten Leidensgenossen wie zum Beispiel Geschwister, mit denen ich diese Farce zusammen durchstehen konnte.
Haiden hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, meiner Großmutter den Stuhl zurechtzurücken und meinem Großvater seine Bewunderung für die ausgezeichnete Wahl des Weins zum Essen auszusprechen. Ich nippte an eben diesem Wein und schlürfte extra laut, sog ihn zwischen meinen Zähnen hindurch und schob ihn von einer Seite zur anderen.
»Katherine«, mahnte meine Mutter zischend. Sie trug wie so oft eines ihrer kratzigen, karierten Chanel-Kostüme.
Ich musste mich zusammenreißen, nicht laut loszulachen, ehe ich den mittlerweile warmen Wein hinunterschluckte. Vermutlich hatte es ohnehin niemand außer meiner Mutter mitbekommen, doch das reichte mir völlig.
»Was? Warst du noch nie bei einer Weinprobe? Das machen da alle so«, entgegnete ich lammfromm.
Jetzt war sie an der Reihe, die Augen bis zum Anschlag zu verdrehen. Ich mochte es nicht, dass ich das mit ihr gemein hatte. Allerdings war es mehr als bezeichnend für unsere Beziehung, dass das vermutlich unsere einzige Gemeinsamkeit war.
»Katherine, wie läuft es in der Kanzlei?«, fragte mein Großvater, während die Bediensteten die Vorspeise auftischten.
»Äh, gut.« War ja nicht einmal gelogen. Die Kanzlei lief bestimmt gut. Nur eben ohne mich. Für einen Moment verlor ich jegliche Kontrolle über meine Gesichtszüge, als ein Teller vor mir abgestellt wurde. Was zur Hölle! War das etwa eine Nacktschnecke?
»Makrele mit knuspriger Hühnerhaut an Zwiebelconfit mit Makrelenhaut«, verkündete einer der Kellner. Ich warf meiner Mutter einen angewiderten Blick zu. Da wären mir Nacktschnecken ja fast lieber gewesen.
Der restliche Abend war wie immer gefüllt von stocksteifen Gesprächen und mir, die versuchte, möglichst unauffällig das ekelhafte Essen auf meinem Teller von links nach rechts zu schieben. Bei diesen Abendessen ernährte ich mich hauptsächlich von der Salatdeko und Brotstangen, die in der Mitte des Tisches standen. Nachdem ich auch den verschwindend kleinen Nachtisch, der so etwas wie Zitronenparfait und damit sogar ganz lecker war, hinter mich gebracht hatte, zog sich mein Großvater wie immer mit McAffenarsch in sein Jagdzimmer zurück. Sie taten stets so, als würden sie dort irgendwelche weltherrschaftlichen Dinge besprechen, was ich stark bezweifelte. Meist gesellten sie sich eine halbe Stunde später wieder zu uns, umnebelt von dem Gestank nach Zigarren und teurem Whiskey.
Möglichst unauffällig fischte ich mein Handy aus der Handtasche und tippte eine SOS-Nachricht an Pete. Die Antwort kam wenige Sekunden später.
Bin in 15 Minuten da, Ms. Nicholson.
Erleichtert atmete ich auf, als plötzlich ein gemurmeltes Gespräch meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich sah vom Handy auf, schielte zu meiner Großmutter, die sich auf den nun freien Platz neben meiner Mutter gesetzt hatte und ihr durch die dunklen schulterlangen Haare strich. »Mit Haiden haben wir dir damals wirklich eine gute Partie ausgesucht, findest du nicht auch, Kind?«
Irgendwie war der Anblick surreal, weil ich nicht leugnen konnte, dass die ungewohnt liebevolle Geste und die Worte meiner Großmutter meine sonst so unterkühlte Mutter tatsächlich wie ein Kind wirken ließen. Bevormundet von ihrer Mutter, genau wie ich.
»Nicht hier«, mahnte Karen sie.
»Jetzt stell dir mal vor, wir hätten mit diesem Tölpel an diesem Tisch sitzen müssen. Mit ihm wäre dein Vater sicher nicht in sein Jagdzimmer gegangen.« Meine Mutter straffte die Schultern.
Ich wurde hellhörig. Ging es hier gerade um meinen leiblichen Vater? Karen verzog das Gesicht. Ich kannte diesen Ausdruck nur allzu gut. Weil er sonst immer mir gewidmet war. Ihr gefiel nicht, was ihre Mutter da sagte. »Stell dir vor, was aus Katherine geworden wäre, wenn er sie erzogen hätte.«
Ich kniff die Augen zusammen. Es ging nie um meinen Vater. Jegliche Gespräche rund um dieses Thema wurden seit jeher gemieden und abgeblockt. Als würde sie spüren, dass ich sie ansah, zuckte Karens Blick kurz zu mir. Ertappt räusperte sie sich.
»Wollen wir wieder ins Kaminzimmer gehen?«, fragte sie an meine Großmutter gerichtet und bedeutete ihr mit einem kaum merklichen Nicken in meine Richtung, dass ich der Grund war, wieso das Gespräch unterbrochen wurde.
»Großmutter?« Ich ergriff meine Chance. Vielleicht hatte sie schon genug getrunken und war dadurch redseliger.
»Ja, Liebes?«
»Wieso denkst du, dass Großvater nicht mit meinem Vater ins Jagdzimmer gegangen wäre?« Ich musste meine Fragen geschickt formulieren. Zu oft hatte ich zu direkt nach ihm gefragt. Wollte einen Namen wissen. Doch damit hatte ich bisher nie Erfolg gehabt.
Sie schnaubte. »Kindchen, dein Vater war selbst ein halbes Tier.«
Was sollte das nun wieder heißen?
Meine Mutter senkte den Blick. Sie wirkte traurig und beschämt.
»Er war ...« Meine Großmutter schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Er war ...« Sie gluckste, was mir zeigte, dass sie definitiv zu viel Wein getrunken hatte.
»Er war was?« Auch wenn es schmerzhaft werden könnte, ich musste weiterbohren.
»Nicht sehr zivilisiert.«
»Mateo war ein anständiger Mann, Mutter!«
Ich traute meinen Ohren kaum. Mateo? Mein Vater hieß Mateo? Und sie verteidigte ihn? Ich verstand die Welt nicht mehr. In mir brach etwas auf. Nein, ein Knoten löste sich, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass er da gewesen war. Gleichzeitig fühlte ich mich so verletzlich. Es war, als hätte meine Mutter ein Pflaster abgerissen, das all die Jahre kläglich versucht hatte, diese Wunde zu verschließen.
Wieso war er fortgegangen?
Mein ganzes Leben lang hatte sie dichtgemacht. Mich allein durch den Nebel der Unwissenheit waten lassen. Doch dieser Name, sein Name, erhellte die Dunkelheit wie ein Blitz für den Bruchteil einer Sekunde und ließ mich hoffen, dass es einen Weg gab. Einen Weg, der mich zu einer liebevollen Familie führen würde. Es schmerzte, den Namen meines Vaters auf diese Art zu erfahren. Aufgebracht und nur, weil sich meine Mutter in die Enge gedrängt gefühlt hatte.
Wieso hatte er uns im Stich gelassen?
Seit ich wusste, dass Haiden nicht mein leiblicher Vater war, hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass meine Mutter mich in den Arm nehmen und mir alles über meinen richtigen Vater erzählen würde. Alles, was ich über ihn wissen wollte. Und vor allem eine Frage beantworten würde. Die eine Frage, die mir am dringendsten auf der Seele brannte: Wieso wollte er mich nicht in seinem Leben?
»Mom?«, wisperte ich und jetzt war ich diejenige, die sich ganz klein fühlte. Wie ein Kind. Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper. Sofort zog sie ihre Zugbrücke wieder hoch und verschloss sich vor mir. Sie winkte ab, stand auf und ging ins Kaminzimmer. Ich wusste, dass ich heute nichts mehr aus ihr herausbekommen würde und sosehr ich es auch ausnutzen wollte, dass meine Großmutter offenbar betrunken genug war, um mir mehr über meinen Vater zu erzählen, so unsicher war ich, ob ich wirklich ihre Version der Dinge hören wollte. Mein Handy vibrierte auf meinem Schoß.
Ich stehe vor dem Tor.
Die ganze Fahrt über sagte ich kein Wort. Die Gedanken flogen nur so durch meinen Kopf. Mateo. Mateo … Ließ sich anhand des Namens etwas über seine Herkunft schließen? Konnte ich ihn googeln? Wohl eher nicht.
In meiner kleinen Wohnung angekommen, war ich so durch den Wind, dass ich immer wieder zwischen Couch und Küchenzeile auf und ab lief. Auf einmal blieb mein Blick an etwas silbrig Glänzendem unter meiner Spüle hängen.
Silbrig glänzend, genau wie Deans Augen.
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Am liebsten würde ich ihm von dem Abendessen bei meinen Großeltern erzählen. Auch als ich noch mit Allec zusammen war, waren es schon immer eher Louisa oder Dean gewesen, denen ich mich anvertraut hatte. Nun, Louisa fiel definitiv weg, aber Dean … Ich schluckte. Würde er mir zuhören? Wäre er für mich da? So wie früher?
Ich bückte mich, griff in den Papiermülleimer und fischte die Einladung zur Weihnachtsfeier von der Kanzlei heraus. Dabei merkte ich, wie all die lauten Gedanken, die durch meinen Kopf kreisten, gegen meine Schädeldecke wummerten. Vielleicht würde es mir helfen, den Kopf für heute Abend freizubekommen. Nach einem Jahr Funkstille zwischen Dean und mir war es womöglich nicht die beste Idee, ihn direkt mit solch einem schweren Thema zu überfallen. Doch Gratisdrinks und die Aussicht auf Ablenkung waren ein Pluspunkt für die Gala. Nachdenklich betrachtete ich die Karte, lief ins Schlafzimmer und nahm mein liebstes schwarzes Kleid aus dem Schrank.
Lang, eng anliegend, rückenfrei. Stilvoll, gewagt, ein wenig sexy, aber nicht zu sehr.
Trag mich, Kat. Du wirst dich gut fühlen, wenn du mich trägst. Es ist viel zu lange her, säuselte mir das Kleid gedanklich zu.
Und scheiße noch mal, dieses Kleid hatte recht!
»Louisa? Hörst du mich?« Ich schaltete mein Handy auf Lautsprecher und legte es neben dem Waschbecken ab. In der Leitung knackte es. Dann wurde eine Autotür zugeschlagen und ihre Stimme klang wieder ganz nah.
»Jap, bin gerade nach Hause gekommen. Ich musste noch was beim Supermarkt einkaufen für die Torte, die ich morgen früh fürs Adventsfrühstück backe.«
Ich schmunzelte, während ich meine Haare erst mit dem Handtuch trocken rubbelte, um es mir anschließend um die Hüften zu schlingen. »Was gibt’s für eine?«
Ein Rascheln war zu hören und ich stellte mir vor, wie sich meine Ex-Frau ihre dicke Winterjacke im Hausflur abstreifte. »Lebkuchenböden mit Vanille-Buttercreme und ein zimtiges Apfel-Birnenkompott als Fruchteinlage. Dachte, ich mache etwas Weihnachtliches. Ist ja schließlich schon fast Dezember.« Sie ächzte, als würde sie einen schweren Gegenstand hochheben oder abstellen.
»Klingt gut. Meinst du, du kannst mir ein Stückchen sichern?«
Louisa lachte. »Kommt drauf an, wann du morgen hier eintriffst.«
»Planmäßig werde ich nachmittags in Sugar Hill ankommen. Aber hey, du könntest ja einfach direkt ein Stück abschneiden und zu Hause in den Kühlschrank stellen.«
»Pfff, wie würde das denn aussehen? Die Bäckerin hat sich erst mal selbst ein Stück gegönnt und bringt einen angeschnittenen Kuchen mit in die Kirche?« Sie verstellte die Stimme, um einen der Dorfbewohner nachzuäffen.
Ich wollte gerade zu einem Gegenargument ansetzen, als ich Marvin, meinen mittlerweile sechsjährigen Sohn, im Hintergrund plappern hörte. Seit Louisas und meinem Streit im letzten Dezember lebten die beiden in Sugar Hill. Marvin fühlte sich dort so wohl, dass für uns relativ bald klar gewesen war, dass er dort hingehörte. Genauso wie Louisa. Und wo meine Familie zu Hause war, war ich ebenfalls zu Hause. Ich hatte ein Haus im Nachbarort gekauft und im letzten Jahr zusammen mit meinem Bruder angefangen, es zu renovieren, wobei John als Schreiner da deutlich begabter war als ich. Aber es ging um die Sache an sich, dass wir ein gemeinsames Projekt hatten und zusammenarbeiteten. Uns wieder annäherten. Mit dem Tod unseres Vaters hatten wir uns voneinander entfernt, was vor allem meine Schuld gewesen war. Die letzten Jahre hatte ich meine Mom und ihn von mir gewiesen. Hatte all den Schmerz verdrängt, doch im letzten Jahr hatte ich daran gearbeitet und mich verbessert.
»Ist das Daddy?«, hörte ich Marvin fragen.
»Hey, Dean, hier ist jemand, der dich gern sprechen würde«, sagte Louisa. Sofort hellte sich meine Miene auf und ich stellte den Lautsprecher aus. Presste mein Handy fest ans Ohr, damit ich seine zarte Stimme noch besser hören konnte.
»Na, mein Großer, wie geht’s dir?« Ich drehte mich vom Badezimmerspiegel meines Hotelzimmers weg und lehnte mich mit der Hüfte an den Waschtisch.
»Gut! Ich und Onkel John haben gerade Schokoeis gegessen«, rief er in den Hörer. Ich hörte Louisa im Hintergrund nach Luft schnappen und musste lachen.
»Du meinst Onkel John und ich? «, korrigierte ich ihn.
»Äh, was? Habt ihr auch Eis zusammen gegessen?«
Grinsend rieb ich mir über die Stirn. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, ihn verbessern zu wollen? »Das klingt toll«, sagte ich, bemüht, nicht zu lachen. »Und sag mal, freust du dich, wenn ich morgen nach Hause komme? Dann kauf ich dir noch ein vieeeel größeres Eis als Onkel John.«
»Jaaaa!«, jubelte er und ich freute mich, obwohl ich wusste, dass das nicht sehr reif war. Ich gab mein Bestes, damit klarzukommen, dass meine Ex-Frau und High-School-Freundin Louisa inzwischen mit meinem kleinen Bruder zusammen und mein Sohn die meiste Zeit bei ihnen war. Aber manchmal spürte ich da so ein fieses Stechen in meinem Bauch und gerade war wieder so ein Moment. Ich war verdammt noch mal eifersüchtig auf meinen Bruder, dass er das Leben lebte, das ich aufgebaut hatte. Obwohl ich wusste, dass es nicht fair war. Louisa und ich hatten viele Gespräche darüber geführt und wir waren uns einig, dass es besser so war. Wir liebten uns, aber mehr als Freunde. Als Familie. Allerdings nicht so, wie es als Paar sein sollte.
Dass ich nun auch noch eine tiefere, mir mehr als vertraute Stimme im Hintergrund murmeln hörte, die vermutlich der Auslöser für Louisas Gekicher und Gequietsche kurz darauf war, machte das Gefühl in meiner Magengrube nicht gerade besser. Ich atmete tief durch und versuchte, mich wieder auf das Gespräch mit meinem Sohn zu konzentrieren.
»Wie war die Woche im Kindergarten? Was habe ich verpasst?« Theoretisch hätte Marvin schon seit dem Sommer in die Schule gehen können, doch aufgrund des Umzugs und der familiären Veränderungen hatten wir entschieden, ihm noch ein Jahr mehr Zeit zu geben. Damit er es locker angehen lassen und im Kindergarten neue Freundschaften schließen konnte.
»Hm, dies und das«, murmelte er geschäftig. »Kalsey und ich haben einen Schneemann gebaut. Dann kam Tony und hat ihn kaputt gemacht.«
»Oh«, entwich es mir überrascht, während ich mich bemühte, weiterhin ernst zu klingen. Es war einfach zu niedlich, wenn er so erwachsen sprach. »Und was ist anschließend passiert?«
»Kalsey hat ihn gehauen und wurde von ihrer Mom abgeholt.«
»Oh«, wiederholte ich. Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.
»Außerdem haben wir noch so Sterne für das Fenster gebastelt. Als Überraschungsweihnachtsgeschenk für die Eltern.«
»Marvin«, mahnte ich lachend. »Das darfst du doch nicht sagen, wenn du mit mir telefonierst und Mommy neben dir steht.«
»Upsi.« Er kicherte.
»Was habe ich hier mit Überraschung gehört?«, fragte Louisa neben ihm und nahm das Handy wieder an sich.
»Wenn du es nicht genau verstanden hast, sag ich nichts. Meine Lippen sind versiegelt. Damit wenigstens noch einer von uns überrascht ist.« Ich schaltete sie wieder auf Lautsprecher und warf mein Handy auf das gemachte Kingsize-Bett, während ich das Handtuch von meinen Hüften löste und in frische Boxershorts schlüpfte.
»Na gut.« Durch den Hörer klang ihre Stimme blechern. Ich betrachtete den Smoking, den ich gestern extra zum Aufbügeln für die Gala in die Reinigung hatte bringen lassen. Nun hing er auf einem Bügel, in eine Plastikfolie eingehüllt, an dem Schrank in meinem Hotelzimmer. Das letzte Jahr hatte ich mich bei der Arbeit zurückgezogen. Ich war nur noch selten selbst vor Gericht. Inzwischen fungierte ich eher als juristischer Berater und das konnte ich genauso gut von Sugar Hill aus machen, beziehungsweise dem Nachbarort Honey Daze, in dem mein Haus stand. Einmal im Monat flog ich für drei Tage nach New York, um ein paar Dinge persönlich mit den Kollegen zu besprechen. Für diese Zeit stellte mir die Kanzlei ein Hotelzimmer in der Nähe. Obwohl es nicht das Gleiche war, wie in den eigenen vier Wänden zu leben, konnte ich mich nicht beklagen. Es war ein schönes großes Zimmer in einem Fünfsternehotel.
»Du, Louisa?« Bäuchlings warf ich mich auf das Bett und betrachtete ihr Profilfoto, das auf meinem Handy aufleuchtete. Es zeigte sie und Marvin beim Plätzchenbacken in der Küche. Ein Schnappschuss von letztem Jahr kurz nach Weihnachten.
»Hm?«
»Kannst du ... Also, können wir einen Moment allein reden?«
Einen Moment herrschte Stille und die Hintergrundgeräusche von Marvin und John wurden leiser.
»Bin ins Badezimmer gegangen. Ist was passiert?« Sie senkte die Stimme.
»Ja, irgendwie schon. Ich hab Kat gesehen.«
»Was? Wo? Wie? Habt ihr euch getroffen?«, fragte sie und klang dabei so aufgebracht, dass sich ihre Stimme fast überschlug.
»Nicht verabredet. Ich hab sie zufällig vorm Rockefeller Center getroffen. Sie stand bei der Schlittschuhbahn und ich bin zu ihr gegangen.«
»Und?«
Ich wusste, was sie fragen wollte. Kat war in den letzten Jahren Louisas beste Freundin gewesen. Und dann war sie plötzlich einer der Auslöser gewesen, warum Louisa New York so plötzlich verlassen hatte. Die Umstände waren ungünstig gewesen, sodass Louisa dachte, ich hätte sie mit ihrer besten Freundin betrogen und Kat zu allem Überfluss auch noch geschwängert. Es stimmt zwar, dass Kat und ich uns geküsst hatten – aber das war schon Jahre her und ich hatte nicht mit ihr geschlafen. Am liebsten würde ich gar nicht mehr darüber nachdenken, weil das alles ein riesengroßes Schlamassel war.
Dennoch war es Louisa nicht egal, wie es Kat ging. Leider hatte keiner von uns sie das letzte Jahr über erreicht. Sie hatte uns beide blockiert oder ihre Nummer geändert. Jedenfalls schienen unsere Nachrichten nicht anzukommen. Anfang des Jahres war ihre Kündigung per Post in der Kanzlei eingetrudelt, sodass ich sie auch dort nicht mehr sah. Ich hätte ihren Freund Allec nach ihr fragen können, doch während der Feiertage in Sugar Hill erreichte mich eine Nachricht meiner Sekretärin. Es gab Gerüchte, dass es einen Überläufer in der Kanzlei gab und einer der Kollegen sich unserem größten Konkurrenten anvertraut hätte. Das Gerücht bestätigte sich, als ich im neuen Jahr nach New York zurückkehrte und mir im Gerichtssaal plötzlich Allec als Anwalt der Klägerseite gegenüberstand. Dieser verdammte Bastard! Seitdem konnte er mir gestohlen bleiben.
»Dean?« Louisa riss mich aus meinen Gedanken. »Wie geht es ihr?«
Ich schüttelte den Kopf, um mich wieder ins Hier und Jetzt zurückzuholen. »Sie hat gesagt, ihr geht’s gut, aber ... sie sah müde aus.«
»Na ja, sie wird wohl die letzten Monate nicht viel Schlaf bekommen haben.«
»Hm?«
»Wegen ihres Babys«, erinnerte mich Louisa.
»Ach ja, richtig. Wobei sie gar kein Baby bei sich hatte. Sie war allein«, sagte ich nachdenklich.
»Bestimmt hat Allec gerade auf das Kind aufgepasst.«
Säure stieg meine Kehle hinauf, allein beim Klang seines Namens, doch ich grummelte zustimmend. Früher waren Allec und ich beste Freunde gewesen. Wir hatten uns während des Jurastudiums kennengelernt und ich selbst hatte ihn mit Kat bekannt gemacht, sie in seine Arme getrieben. Konnte ja keiner ahnen, dass er sich als verräterisches Arschloch entpuppen würde. Oder dass sich mir auch noch Jahre später die Nackenhaare aufstellten, allein bei dem Gedanken daran, dass die beiden sich küssten.
»Sorry, ich weiß, du bist nicht gut auf ihn zu sprechen, aber ...«
»Jaja, schon klar.« Ich drehte mich auf den Rücken und starrte an die mit Stuck verzierte cremefarbene Decke. »Ich hab sie gefragt, ob sie mich heute Abend auf die Gala begleitet.«
»Was? Wie kommst du denn darauf?«
»Weiß nicht. Irgendwie ist es so aus mir rausgesprudelt. Vielleicht, weil ich mir einfach gewünscht hätte, dass es funktioniert.«
Louisa seufzte. »Ach, Dean. Ich hätte mir für dich gewünscht, dass es mit euch beiden geklappt hätte. Aber anscheinend ist sie immer noch mit Allec zusammen, und die beiden haben ein Kind. Sie sind eine Familie.«
Einen Moment lang schwieg ich, um abzuwarten, ob sie selbst darauf kam. Ha! Da konnte ich den Groschen förmlich fallen hören.
»Ja gut, das hat bei uns nichts zu heißen gehabt, und womöglich hätten wir uns früher eingestehen können, dass das mit uns nichts mehr wird, nur bei Kat und Allec muss es nicht genauso sein. Es soll Paare geben, die sich wirklich noch mal aufraffen und bei denen es dann viel besser läuft.«
»Mhm«, brummte ich amüsiert.
»Hab ich persönlich noch nicht mitbekommen, soll es jedoch geben. Sagt meine Mom.«
Jetzt konnte ich mir mein Lachen nicht mehr verkneifen. Louisas Mutter war Psychotherapeutin. Vermutlich spielte sie darauf an.
»Jedenfalls werde ich heute Abend ganz allein auf die Gala gehen«, verkündete ich theatralisch.
»Du Ärmster! Aber möglicherweise lernst du ja jemanden kennen. Eine holde Maid oder eine sexy Lady?« Sie verstellte wieder ihre Stimme.
»Okay, okay, stopp! Das reicht, Louisa!«
Sie war schon manchmal ein wenig durchgeknallt. Diese Seite war ihr während der letzten Jahre in New York abhandengekommen. Zu sehen, dass sie in Sugar Hill wieder aufblühte und dort glücklich war, erfüllte mein Herz mit Wärme. Da konnte ich über diese schräge Art hinwegsehen. Und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, war es doch genau diese Art, in die ich mich damals verknallt hatte und wegen der wir jetzt wieder so gute Freunde waren.
Die Gala der Kanzlei fand im Großen Ballsaal der Gotham Hall statt. Der fucking Gotham Hall! Wenn ich das Marvin morgen erzählte, würde er vermutlich davon überzeugt sein, dass sein Dad Batman war und es all seinen Freunden im Kindergarten stecken.
Ich passierte die gigantischen Messingtüren, wurde sogleich freundlich begrüßt und meines Mantels entledigt. Ein junger Mann huschte damit nach rechts zur Garderobe, ehe mir eine dunkelhaarige Frau zu meiner Linken ein Glas Champagner auf einem Tablett anbot. Würde ich meine Brille nicht tragen, hätte ich sie im ersten Moment glatt für Kat gehalten. Fuck. Ich erinnerte mich zu gut, wie wir uns vor sechs Jahren bei genau solch einer Gala der Kanzlei kennengelernt hatten. Ich war damals mitten in meinem Jurastudium und sie war vertretungsweise für eine Freundin als Kellnerin eingesprungen.
Wir hätten uns eigentlich nie treffen sollen.
Doch das Schicksal hatte es wohl so gewollt.
Lächelnd nahm ich mir ein Glas vom Tablett und bedankte mich. Mein Blick glitt durch die Empfangshalle, von den marmorverkleideten Wänden hinauf zu den geometrischen Holzschnitzereien und Goldverzierungen an der Decke.
»Mund zu, Dean. Sonst fliegt Ihnen noch eine Fliege rein.« Die vertraute, tiefe Stimme erklang gleich neben mir.
»Edmond«, grüßte ich meinen Chef freudig und stieß mein Glas gegen seins. »Wenn ich gewusst hätte, dass die Kanzlei so viel Geld übrig hat, hätte ich nichts gegen eine kleine Gewinnausschüttung zum Ende des Jahres gehabt.«
Edmond Carlisle war ein rundlicher Mann in den Sechzigern. Seine grauen Haare waren stets ordentlich zur Seite gekämmt und der volle Schnauzer zuckte, als er laut auflachte. Ich konnte nicht anders, als mitzulachen. Ich verdiente definitiv mehr als genug und sollte mich nicht beklagen. Die neue Mitarbeiterin im Marketingteam versuchte anscheinend, irgendjemandem etwas zu beweisen, wenn sie so eine prunkvolle Feier geplant hatte. Ich hatte kaum mit ihr zu tun. Zugegeben, als Kat noch diese Stelle besetzt hatte, war kein Tag vergangen, an dem ich nicht in ihr Büro geschneit war und bei einem Kaffee mit ihr geplaudert hatte. Doch seit sie gekündigt hatte und ich ohnehin nur für ein paar Tage im Monat vor Ort war, gab es diese Besuche in der Marketingabteilung nicht mehr. Kat hatte sich lieber auf das Wesentliche beschränkt und das Geld nicht in verschwenderische, überzogene Events gesteckt. Nun ja, ich würde trotzdem versuchen, mich zu amüsieren. Ich wollte niemandem die Laune verderben und hatte gegen ein bisschen Schickimicki nichts einzuwenden.
»Wie geht es Ihrer Familie?«, erkundigte er sich ehrlich interessiert.
»Sehr gut. Ich fliege morgen früh wieder nach Vermont in die Heimat und freue mich schon auf die Feiertage mit meinem Kleinen. Ich habe zwar Urlaub, werde aber hin und wieder in die Mails schauen.«
»So soll es sein! Sie haben die richtige Entscheidung getroffen.« Edmond zwinkerte und klopfte mir auf den Rücken. Dann prostete er mir zu und bedeutete mir mit einem Kopfnicken, dass er weiterziehen würde, um sich mit anderen Mitarbeitern zu unterhalten. Ich lächelte und nahm noch einen Schluck von dem prickelnden Champagner. Vermutlich war ich auch gut damit beraten, mich unter die Leute zu mischen und Small Talk zu halten. Sosehr ich es hasste, es war meine Pflicht. Dafür, dass ich Partner der Kanzlei war, bekamen mich meine Angestellten ohnehin zu wenig zu Gesicht.
Die Eingangshalle hatte sich mittlerweile gefüllt und ich scannte den Raum nach einer Person ab, mit der Small Talk nicht ganz so schlimm sein würde. Erleichterung machte sich in mir breit, als ich Patricia entdeckte. Sie war bis vor ein paar Jahren Edmonds Sekretärin gewesen und hatte eine ähnliche Statur wie er. Inzwischen war sie in ihrem wohlverdienten Ruhestand. Obwohl bei den beiden todsicher nie etwas gelaufen war und ich mir das auf keinen Fall vorstellen wollte, hatten sie sich schon früher wie ein altes Ehepaar verhalten. Als ich noch im Studium gewesen war, hatte ich ehrlich gesagt eine Scheißangst vor meinem Chef gehabt, doch dass sie seine Sekretärin war, hatte ihn menschlicher auf mich wirken lassen. Patricia hatte mich unter ihre Fittiche genommen und bei Edmond ein gutes Wort für mich eingelegt, als ich meinen ersten eigenen Fall gleich so richtig in den Sand gesetzt hatte.
Ich schlich mich von hinten an Patricia und ihren Mann heran, um sie zu überraschen. »Einen schönen guten Abend, ihr beiden!«
Patricia zuckte so heftig zusammen, dass ihr Sekt über den Glasrand schwappte. Sie presste die Hand auf ihr üppiges Dekolleté. »Du liebes Bisschen, Küken! Du kannst mich doch nicht so erschrecken.«
Ach ja, hatte ich erwähnt, dass sie mich früher immer Küken nannte?
Lachend schlang sie einen Arm um meinen Hals und zog mich ruckartig zu sich hinunter in eine feste Umarmung. Ich tätschelte ihren Rücken und warf ihrem Mann einen gespielt gequälten Blick zu. Dieser grinste nur und prostete mir mit seiner Sektflöte zu. Nachdem Patricia mich wieder freigegeben hatte, richtete ich mich auf und strich mein Jackett glatt.
»Wie geht’s euch so?«, fragte ich. »Langweilst du dich schon ohne mich?«
Sie winkte ab. »Ach, frag nicht! Dieser junge Herr hier neben mir«, sie deutete mit dem Daumen auf ihren Mann, der Ende sechzig sein musste, »denkt sich jeden Tag irgendwelche neuen Projekte aus. Patty, wollen wir nicht die Terrasse neu machen? Wie wäre es mit einem Teich? Was hältst du von einer Kreuzfahrt, Patty?«
Patricia verdrehte die Augen, bis sich ihr Mann zu Wort meldete. »Die Kreuzfahrt ist noch nicht vom Tisch, Liebling.«
Ich schmunzelte in mein Glas hinein und genoss das blubbernde Getränk auf meiner Zunge, nachdem ich noch einen Schluck genommen hatte.
»Genug von unserem Rentnerstress. Erzähl mir lieber, wieso du heute Abend allein hier auftauchst.«
»Louisa ist doch in Sugar Hill mit Marvin. Und ich meine … äh … Also du weißt doch, dass wir uns letztes Jahr getrennt haben, oder?«
»Schätzchen, ich denke, sogar die englische Königsfamilie weiß das, aber ich habe auch nicht von Louisa geredet.« Ihr Blick sprach Bände und sorgte dafür, dass ich mich verschluckte. Glücklicherweise wurden wir genau in diesem Moment von Edmond Carlisle unterbrochen, der ein paarmal mit einem Löffel gegen sein Glas tippte, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen.
»Es freut mich, dass Sie alle heute Abend hier sind und das gelungene Jahr gemeinsam mit uns abschließen wollen. Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass das Essen angerichtet ist. Von daher bitte ich Sie, mir in den Ballsaal zu folgen. Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Abend!«
Wir klatschten höflich und folgten ihm in den Saal. Heilige Scheiße! Der Raum war in warmes Licht gehüllt und überall funkelte und glänzte es. Louisa hätte das definitiv gefallen. Es war wie ein richtiges Winter Wonderland. Von der vergoldeten Decke hingen Tausende Buntglassteine in unterschiedlichen Größen, die das Licht reflektierten. Die kleinen Lichtpunkte tanzten über den polierten Marmorboden. Dieser Raum versuchte, Weihnachten zu schreien, doch wenn man genau hin hörte, schrie er noch viel lauter Geld.
Große Kalksteinsäulen schmückten die Wände des ovalen Ballsaals, und vor jeder Säule war ein hoher künstlicher Baum aufgestellt, der über und über mit Lichterketten verziert war. Mir fiel kein anderes Wort als magisch dafür ein.
Rasch suchte sich jeder einen Platz an den eingedeckten runden Tischen, die mehr an der linken Seite angeordnet waren. Rechts von uns entdeckte ich eine endlos wirkende Aneinanderreihung von schmalen Tischen mit silbernen abgedeckten Schalen, unter denen ich ein üppiges Buffet vermutete. Da Patricia wusste, dass ich allein gekommen war, hakte sie sich bei mir unter und zog mich mit sich und ihrem Mann zu einem der freien Tische. Ich war dankbar für ihre herzliche Art und ihre Gesellschaft. Das machte den Abend ein bisschen erträglicher.
Nachdem ich mich am Buffet bedient und mir einen Vorspeisenteller zusammengestellt hatte, wandte ich mich ab, um wieder an unseren Tisch zurückzugehen. Neben Patricia und ihrem Mann hatten sich in der Zwischenzeit zwei anderen Menschen niedergelassen. Als ich näher kam, erkannte ich ihn, was mir sofort jeglichen Appetit verdarb. Sofort versteifte ich mich. Mein Kiefer knackte, als ich die Zähne zusammenbiss. Unsanft stellte ich den Teller an meinem Platz ab.
»Ich wusste gar nicht, dass sie heute Abend auch Schlangen reinlassen«, knurrte ich, noch immer im Stehen. Ja, ich wollte damit meine Überlegenheit demonstrieren. Allec sah mich an, während er sich ebenfalls erhob.
»Ganz ruhig, mein Freund. Ich habe eine Einladung bekommen, also dachte ich ...«
»Erstens: Ich bin nicht dein Freund. Zweitens: War das sicherlich ein Missverständnis. Der heutige Abend ist nur für loyale Mitarbeiter der Kanzlei. Loyal. Weißt du, was das heißt?« Mein Blick glitt zu seiner Begleitung. Die blonde junge Frau sah mich irritiert an. Definitiv nicht Kat.
Allec schnalzte mit der Zunge und setzte sich wieder. »Können wir uns heute Abend vielleicht wie Erwachsene verhalten?«