24 Days till Snow - Alison Reese - E-Book

24 Days till Snow E-Book

Alison Reese

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Beschreibung

Jess war immer die mit dem lautesten Lachen, den schrillsten, hässlichsten Weihnachtspullis und einem Herzen so groß wie ein Lebkuchenhaus. Doch diesen Dezember fühlt sich alles anders an. Während ihre Freundinnen längst heiraten und Kinder kriegen, tritt sie selbst scheinbar auf der Stelle - überfordert, voller Zweifel und irgendwie verloren. Als sie spontan den Skiverleih in Sugar Hill übernehmen soll, ist das Chaos vorprogrammiert. Erst recht, weil plötzlich Caleb wieder vor ihr steht. Caleb hat seinem Heimatort vor einem Jahr den Rücken gekehrt - entschlossen, in Paris neu zu beginnen. Nun zwingt ihn ein familiärer Notfall zurück in die verschneite Kleinstadt. Wen er im Geschäft seines Dads am wenigsten erwartet hat? Jess. Schlagfertig wie eh und je, aber mit einem Blick, der mehr Unsicherheiten verbirgt, als sie zugeben will. Zwischen hitzigen Wortgefechten, heißen Chats und Snowboardfahrten durch den glitzernden Schnee müssen sich beide einer Frage stellen: Wie viel Mut braucht es, um zu bleiben - und vielleicht sogar zu lieben? Ein prickelnder, humorvoller Weihnachtsroman mit 24 Kapiteln - für alle Fans von cozy Small Town Romance, Romcom-Filmen und dem Gefühl von Ankommen.

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Seitenzahl: 465

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr auf der Seite → eine Inhaltswarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Ich wünsche mir das bestmögliche Leseerlebnis für euch.

Eure Alison

Für alle, die sich manchmal verloren fühlen und sich ein bisschen zu oft mit anderen vergleichen. Für alle, die an sich zweifeln und befürchten, für irgendetwas zu spät zu sein. Wir sind genau richtig so, wie wir sind.

PLAYLIST

Hot and Stupid - Beth McCarthy B!tch - Spencer Sutherland 1 step forward, 3 steps back - Olivia Rodrigo A Sunday Kind Of Love - Etta James That's So True - Gracie Abrams Sally, When The Wine Runs Out - ROLE MODEL FU In My Head - Cloudy June QUARTER LIFE CRISIS (Acoustic) - Taylor Bickett A Nonsense Christmas - Sabrina Carpenter Christmas Is Coming - Velvet Aduk Song To Myself - Picture This All The Small Things - blink-182 Mess It Up - Gracie Abrams Pick Your Poison - Knox Always - Ashe I GUESS I'M IN LOVE - Clinton Kane Let It Snow! Let It Snow! Let It Snow! - Frank Sinatra, B. Swanson Quartet What Was I Made For? - Billie Eilish ceilings - Lizzy McAlpine Casual - Chappell Roan The First Time - Damiano David So Far Gone - ROLE MODEL, Lizzy McAlpine cliché - mgk Time After Time - Eva Cassidy Like It's Christmas - Jonas Brothers I'll Be Here When You're Back - beaux

Inhaltsverzeichnis

Prolog

JESS

Kapitel 1

CALEB

Kapitel 2

JESS

Kapitel 3

JESS

Kapitel 4

JESS

CALEB

Kapitel 5

CALEB

Kapitel 6

JESS

Kapitel 7

CALEB

JESS

Kapitel 8

JESS

CALEB

Kapitel 9

JESS

Kapitel 10

CALEB

JESS

Kapitel 11

CALEB

Kapitel 12

CALEB

JESS

Kapitel 13

JESS

Kapitel 14

JESS

Kapitel 15

CALEB

Kapitel 16

JESS

Kapitel 17

JESS

Kapitel 18

JESS

CALEB

Kapitel 19

JESS

Kapitel 20

JESS

Kapitel 21

CALEB

Kapitel 22

JESS

Kapitel 23

JESS

CALEB

JESS

Kapitel 24

JESS

Bonuskapitel

JESS

Prolog

JESS

10 Monate zuvor

»Oh, oh. Wen starrst du denn nieder?«

Meine beste Freundin ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen und versperrte mir damit die Sicht. Reflexartig reckte ich den Kopf, um an ihr vorbeizusehen, während ich mit den Lippen wie ein dehydrierter Goldfisch nach dem Strohhalm fischte. Als ich mir dabei beinahe das Auge ausstach, zog Louisa das Glas aus der Gefahrenzone. Anschließend folgte sie meinem Blick.

»Immer noch Caleb?«, kam es nun von meiner Linken.

Ich schnaubte und schaffte es endlich, wegzusehen. Sophie, Louisas jüngere Schwester und mittlerweile Teil unserer Mädels-Clique, versenkte ihre Gabel in dem Stück Torte, das sie sich gerade ergattert hatte, und schob sich einen großen Bissen in den Mund. Was vor ein paar Jahren mit dezenten rosa Strähnchen angefangen hatte, war inzwischen ein leuchtender Verlauf von ihrem natürlich hellblonden Haar in pinke Spitzen.

»Ich behalte nur die Bar im Auge. Damit ich uns gleich eine zweite Runde Cocktails holen kann«, sagte ich.

Wir befanden uns auf der Hochzeit von unseren Freunden Brianna und Tristan. Es war Mitte Februar und die letzten Tage hatte es unaufhörlich geschneit. Die Location war ein kleines Schloss, irgendwo im Nirgendwo, das aussah wie der Drehort für eine Royal-RomCom – mit Türmchen, stuckverzierten Decken und dem starken Gefühl, Plastikhäubchen über den Schuhen tragen zu müssen und am besten nichts anzufassen. Ich saß an einem der Dutzend runden Tische. Diese sahen aus wie ein wahr gewordenes Pinterest-Moodboard: burgunderfarbene Tischdecken, rosa Kerzen in goldenen Haltern und Blumengestecke, die jedem Valentinstag Konkurrenz machten. Das Farbkonzept zog sich durch den ganzen Tag. In meinem knallpinken Satinkleid mit Puffärmeln fiel ich mal wieder auf wie ein Bonbon in einer Packung Haferflocken. Aber es hatte keinen Dresscode und keine Vorgaben für die Gäste gegeben, was die Farben anging. Bri hatte gemeint, wir sollten tragen, worin wir uns am wohlsten fühlten. Also sah ich aus, als wäre ich der Prom-Folge einer 80er-Jahre-Sitcom entsprungen.

Meine schwarzen Locken hatte ich vor einer Weile kurz schneiden lassen. Mittlerweile reichten sie mir wieder bis zum Kinn und ich hatte versucht, sie an einer Seite mit einigen Haarnadeln zu bändigen, damit sie flach an meinen Kopf gepinnt waren. Vor etwa einer Stunde hatte meine Freundin Kat den Brautstrauß gefangen – in einem Kleid, das laut ihr sehr, sehr dunkelgrün war, aber ehrlich gesagt nur knapp an Beerdigungs-Couture vorbeischrammte. Ich selbst war zu dem Zeitpunkt im ständigen Wechsel zwischen Candybar und DJ-Pult gewesen, wo ich mir zum dritten Mal anhören konnte, dass Hot and Stupid von Beth McCarthy angeblich nicht angemessen für eine Hochzeit war. Der Kerl hatte doch keine Ahnung!

Eine hübsche Brünette näherte sich der Bar, weshalb meine Aufmerksamkeit unweigerlich zurück auf Caleb gelenkt wurde. Die Frau war groß und schlank. Heidi Klum hätte ihre Freude mit ihr gehabt. Es war zum Mäusemelken. Wieso hatte sich Caleb auch einen Anzug von einem seiner Ice-Hockey-Teamkollegen leihen müssen? Wieso musste ihm dieser Anzug so unglaublich gut stehen? Und wann hatte er beschlossen, die Fliege um seinen Hals zu lockern und den obersten Knopf seines Hemdes zu öffnen?

Soph hob schmatzend ihre Gabel in mein Sichtfeld und gestikulierte, dass sie gleich etwas sagen wollte, sobald sie fertig gekaut hatte. »Caleb sieht total heiß aus heute Abend.«

Innerlich seufzte ich und wollte am liebsten hinzufügen, dass er immer gut aussah. In seinen verwaschenen Bandshirts, in seiner Ice-Hockey-Kluft und sogar in einer bescheuerten Jogginghose. Verdammter Bockmist. Wann leitete mein Verstand endlich den Selbstschutzmechanismus ein, um mein armes Herz zu schützen?

Ich biss mir auf die Unterlippe. »Echt? Ist mir gar nicht aufgefallen«, sagte ich stattdessen betont beiläufig.

»Soph, du solltest rübergehen und Tristans Cousine vor Caleb retten«, schlug Louisa vor.

Wenn meine Blicke töten könnten, würden wir nun den Tod meiner besten Freundin betrauern. Tja, schade. Ich hatte sie wirklich gern. Sie wollte mich nur aus der Reserve locken und am liebsten dafür sorgen, dass ich ihr und am besten gleich der ganzen Welt mein Herz ausschüttete. Aber das konnte sie so was von vergessen.

Caleb war mir egal, nur um das mal klarzustellen. Fand ich ihn optisch ansprechend? Ja. Brachte er mich zum Lachen? Auch ja. Doch das war‘s auch schon.

»Gute Idee!« Sophie legte ihre Gabel nieder und schob den Stuhl zurück, um aufzustehen.

Mist, mein dummes, eifersüchtiges Herz schien es nicht zu ertragen, noch eine weitere Frau mit Caleb zu sehen. Selbst wenn es nur Soph war. Ich hatte Louisas ach so ausgefuchstes Manöver längst durchschaut.

»Ich mach schon«, brummte ich.

Die beiden Schwestern tauschten wissende Blicke und rissen sich sichtlich zusammen, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Sobald ich mir die leeren Gläser geschnappt und mich drei Schritte von ihnen entfernt hatte, gackerten sie jedoch los.

Auf dem Weg zur Bar dankte ich mir selbst, dass ich mich nicht dem Gesellschaftszwang gebeugt hatte, hohe Schuhe zu tragen. Da ich das Vintage-Kleid in einem süßen Secondhand-Laden gefunden und für einen Schnapper von zwanzig Dollar erstanden hatte, hatte ich mir anlässlich der Hochzeit ein neues Paar weißer Chucks mit Plateausohle gekauft. Mein Ziel für den heutigen Abend war es, nichts von diesem dunkelroten Cocktail darauf zu verschütten.

Nur noch wenige Meter vom Bartresen entfernt, sah ich, wie sich Caleb gerade näher zu der Frau mit den unverschämt glänzenden braunen Haaren hinüberlehnte und sie kurz darauf anfing zu kichern. Ehrlich gesagt wirkte sie kein bisschen so, als wollte sie gerettet werden.

Caleb fuhr sich mit einer Hand durch die blonden welligen Haare und warf den Kopf lachend in den Nacken. Sein Ziel war es, diese Hochzeit nicht allein zu verlassen, das war offensichtlich. Ich sollte mir dasselbe Ziel setzen. Schließlich hatte ich mich nicht umsonst herausgeputzt und meine Spitzenunterwäsche angezogen. Wäre doch viel zu schade, wenn die gar keiner zu sehen bekäme. Allerdings gab es da ein Problem: dass ich seit ein paar Monaten so ein bescheuertes Kribbeln in der Magengrube spürte, wann immer ich in Calebs Nähe war. Seitdem fand ich keinen anderen Typen mehr attraktiv. Ich meine, geht’s noch? Was soll das denn?, hatte ich mein Herz gefragt, als mir klar wurde, dass ich kein Magen-Darm hatte und dieses blöde Schmetterlingsgefühl wohl nun Dauerzustand war, wenn ich den Möchtegern-Frauenheld mit den Engelslocken sah. Auf einmal fing ich an, jeden Kerl mit ihm zu vergleichen. Leider vermasselte meine innere Stimme mir stets die Tour mit so Sätzen wie: »Der ist süß, aber nicht so groß wie Caleb.«

»Auch nett, nur will ich jemanden, der nett ist? Caleb ist lustiger.«

»Wow, er ist aufmerksam und wirklich zuvorkommend. Meine Mutter würde ihn mögen. Nächster, bitte.«

Langsam glaubte ich, ich war eine Katze. Je mehr er mich ignorierte, desto reizvoller fand ich ihn. Desto mehr wollte ich mich an ihm reiben. Aaaaah! Stopp, stopp, stopp!

»Was darf ’s sein für dich?«, fragte der Barkeeper, als ich die leeren Gläser etwas heftiger als nötig auf den Tresen knallte. Tristans Cousine zog erschrocken die Schultern hoch und rutschte ein Stück näher zu Caleb. Perfekt. Wieso musste sie aussehen wie eins der Models, die ich früher aus der Zeitschrift ausgeschnitten hatte, um sie auf mein Inspirationsboard zu kleben?

»Das Gleiche noch mal, bitte. Diesen dunkelroten Cocktail.«

»Ah, der Bleeding Heart?«

Ich biss die Zähne zusammen und lächelte höhnisch. »Klingt passend.«

Passend für meine Situation, doch wieso wählte man so einen Cocktail für eine Hochzeit? Vermutlich, weil er zum Farbkonzept passte. Während ich auf die Getränke wartete, schielte ich zu Caleb und seinem Flirt und versuchte, ein paar Gesprächsfetzen über die Musik hinweg aufzuschnappen.

»... schläfst auch hier?«

So weit waren sie also schon? Das war ja wirklich wunderbar.

Es sollte ein Ding der Unmöglichkeit sein, weil mich die Frau um einen Kopf überragte, aber Caleb war noch mal ein gutes Stück größer. Also kreuzten sich unsere Blicke kurz über ihre Schulter hinweg. Ich meinte, so etwas wie ein kurzes Aufblitzen in seinen blauen Iriden auszumachen, könnte mich jedoch auch täuschen. So ging das seit Monaten. Ich bildete mir ein, dass er mit mir ein bisschen lauter lachte. Dass er bei mir ein bisschen fieser war als bei den anderen. Dass er mir mit Absicht die kalte Schulter zeigte und mir gleichzeitig etwas tiefer in die Augen sah als anderen Frauen. Und das alles, weil er genauso empfand wie ich. Weil er auch spürte, dass da etwas zwischen uns war. Und weil sein Flirtverhalten scheinbar in der Grundschule stecken geblieben war, wo man der Auserwählten den Stift klaute oder sie an den Zöpfen zog. Aber die Sache war die: Wir waren nicht mehr in der Grundschule. Ich sollte nicht auf so ein Verhalten anspringen. Wir waren Mitte zwanzig. Ich sollte mich zu Männern hingezogen fühlen, die freundlich waren. Die emotional verfügbar und erwachsen genug waren, sich mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen und diese – Achtung, jetzt wird’s wild – vielleicht sogar auszusprechen. Tja, ich sollte vieles. Zwischen dem, was objektiv gut für mich wäre und dem, was mein Herz tatsächlich wollte, lagen manchmal Welten.

»Meinst du nicht, du hast langsam genug?«

Ich brauchte eine Sekunde, bis ich verstand, dass Caleb mit mir sprach. Er nickte zu den frischen Cocktails, die der Barkeeper gerade vor mir abgestellt hatte. Tristans Cousine drehte sich interessiert zu mir um, doch ich ignorierte sie komplett. Caleb hatte wohl nicht mehr alle Latten am Zaun! Das war mein zweiter Drink und mit Sicherheit nicht mein letzter, wenn ich weiter zusehen musste, wie er sich hier durch alle weiblichen Wesen durchflirtete, als gäbe es einen Preis dafür zu gewinnen. Als ob ich mir von ihm sagen ließ, wann ich genug hatte!

»Dasselbe könnte ich dich fragen«, sagte ich deshalb nur, ließ meinen Blick kurz zu der Frau zucken.

»Eifersüchtig?«

Ich lachte auf, laut und schrill. Eine Übersprunghandlung meines Körpers, weil Caleb genau ins Schwarze getroffen hatte. »Ganz sicher nicht.«

»Noch niemanden abgeschleppt?«, fragte er lässig und ignorierte vollkommen die entsetzte Miene von Tristans Cousine.

»Arsch!«, zischte sie, kippte ihm ihren Sekt ins Gesicht und legte einen filmreifen Abgang hin.

Für einen Moment blinzelte Caleb irritiert, als wäre er sich keiner Schuld bewusst. Dann grinste er breit, wischte sich einmal übers Gesicht und ich versuchte unterdessen, nicht allzu genau zu beobachten, wie sich sein weißes Hemd langsam mit Sekt vollsog und der Stoff an seiner breiten Brust immer durchscheinender wurde. Caleb lehnte sich neben mir an den Tresen und stützte sich mit den Unterarmen hinter sich ab, als gehörte ihm der Platz – und möglicherweise auch gleich noch der ganze verdammte Ballsaal.

»Vielleicht habe ich Standards.« Ich hob vielsagend die Brauen.

»Oder Angst, einen Korb zu kassieren?«

Sein Blick wanderte – nicht unangenehm, aber auch nicht respektvoll – über meinen Körper und hinterließ eine kribbelnde Spur auf meiner Haut. Ein Grübchen bohrte sich in seine rechte Wange. Ich wusste genau, dass dieser Ausdruck so viel bedeutete wie: Ich weiß, dass du weißt, dass ich heiß bin. Und ich hasste es, dass ich es wusste.

»Ich kann sehr gut allein einschlafen.« Mit einem zuckersüßen Lächeln auf den Lippen nahm ich die Drinks und ging zwei Schritte, ehe ich mich noch einmal zu ihm umdrehte. »Und aufwachen.«

Kapitel 1

CALEB

Ein weiser Mann hat mal gesagt: »Hab keine Angst. Es ist nur beim ersten Mal schlimm.« Zitat: Ich, gestern.

Ich war nicht wirklich ein Schisser. Wobei, konnte man überhaupt beurteilen, ob man ein Angsthase war, wenn man sich nie aus seinem Käfig getraut hatte? Die meisten Amerikaner wagten sich ihr ganzes Leben lang nicht über den Ozean. Trauten sich nicht aus ihrem Käfig. Wieso auch? Er war riesig und an jeder Ecke gab es einen Five Guys. Ich würde gern behaupten, dass ich mein Heimatland aus reinem Entdeckergeist verlassen hatte. Chris Columbus und so. Aus Abenteuerlust. Doch das wäre nur zur Hälfte richtig.

Zurück zu meinem schlauen Spruch. Mit der Angst war es so: Egal, wie groß sie einem vorkommen mochte, sie war meist nur beim ersten Mal schlimm. Wenn man diese Hürde genommen hatte, hatte man es eigentlich geschafft. Wie wenn man vom Dreimeterbrett sprang … äh … vom Fünfmeterbrett, meinte ich natürlich. So hatte es sich auch angefühlt, über Nacht nach Europa abzuhauen. Paris. Oder das erste Mal durch die überfüllten Straßen der Metropole zu laufen, nachdem ich ausschließlich das schläfrige, amerikanische Kleinstadtleben gewohnt gewesen war. Das erste Mal Metro zu fahren, nachdem mein Arsch seit sechsundzwanzig Jahren lediglich die Sitze eines Land Rover gekannt hatte – wie oft ich mich in dem Tunnelsystem der Metro verlaufen hatte, würde ich nie jemandem verraten. Das erste Mal in einem Café zu sitzen, seinen Laptop aufzuklappen, einen Kaffee bestellen zu wollen und festzustellen, dass hier keine Sau Englisch sprach. Habt ihr mal pantomimisch einen Kaffee bestellt? Kann ich nicht empfehlen.

Aber das Angsteinflößendste ist definitiv: das erste Mal ganz allein auf sich gestellt zu sein.

Der Bass dröhnte in meinen Ohren. Die Beats wurden immer schneller. Wechselten sich ab zwischen hohen und tiefen Tönen. Es war laut und eng und ich konnte mich keinen Zentimeter bewegen. Das Brummen wummerte durch meinen Körper, ließ meine Wirbelsäule vibrieren und meinen Schädel pochen. Es war, als würde mir das Blut in den Adern gefrieren. Generell war es hier ziemlich kalt. Niemand hatte mir gesagt, dass ich meine Sweatshirtjacke lieber hätte anlassen sollen. Ein elektronisches Fiepen ertönte. Immer und immer wieder. Dahinter das surrende, tiefe Geräusch. Es war wirklich ein skurriler Song und allmählich wurde mir schlecht. Ich konzentrierte mich auf meine Atmung. Darauf, die Augen geschlossen zu halten.

»Monsieur O’Connor«, sagte eine Frauenstimme.

Mein Kopf schnellte nach oben und donnerte sogleich gegen etwas Hartes.

Fuck!

Etwas unter mir bewegte sich. Ich bewegte mich. Oder nein: Ich wurde bewegt. Alles begann, sich zu drehen. Die Liege, auf der ich lag, wurde nach vorne gezogen. Raus aus der beengenden Röhre voll grellem weißen Licht. Dem Technosarg.

»War das Ihr erstes MRT?«, fragte die Arzthelferin, netterweise sogar auf Englisch, als sie über mir aufragte. Meine Miene musste Bände sprechen, denn sie versuchte, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Erfolglos. Sie war diejenige, die mir gesagt hatte, ich solle mir das Höllending wie einen Technoclub vorstellen. Tja, Techno war wohl nicht meins und vermutlich würde ich nie wieder einen Fuß in einen Club jeglicher Art setzen.

Die Arzthelferin nahm mir vorsichtig die Kopfhörer ab, die als Gehörschutz dienten, entfernte mir den Zugang mit dem Kontrastmittel aus der Armbeuge und drückte rasch eine Kompresse darauf. »Richten Sie sich langsam auf und nehmen Sie sich gern noch einen Moment in der Kabine. Der Arzt wird sich morgen mit den Ergebnissen bei Ihnen melden.«

Ich nickte erschöpft und ließ mich von der Liege rutschen. Mit wackeligen Knien schlurfte ich zurück in die Kabine, wo ich zunächst meine Jeans anzog und anschließend in meine Sneakers schlüpfte, ohne sie zu öffnen. Im Gehen streifte ich noch meine Sweatshirtjacke über.

Die Sonne stand hoch am Himmel, als ich die Praxis verließ, und ich musste meine Augen vor dem hellen Licht abschirmen. War es normal, dass mir flau im Magen war? Ich hatte einen Termin für ein MRT meines Kopfes vereinbart, weil ich seit etwa zwei Monaten durchgehend Kopfschmerzen hatte. Das dröhnende Gehämmer des Geräts hatte den Zustand nur verschlimmert und nun war mir übel. Am liebsten würde ich mich zu Hause auf die Couch legen und eine Suppe essen. Doch ich hatte niemanden, der mir eine kochen würde, und wenn ich ehrlich war: Für mich selbst würde ich mir nicht die Mühe machen. Das höchste der Gefühle wäre, mir eine Buchstabensuppe aus der Tüte mit heißem Wasser aufzugießen, aber auch dazu war ich zu faul.

Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und prüfte, ob ich in der letzten Stunde irgendwelche Nachrichten oder Anrufe verpasst hatte. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus.

Johnny Boy: Alles gut? Ruf mich an, sobald du wieder raus bist.

Ich tippte seinen Namen an und startete einen Videoanruf mit meinem besten Kumpel. Sein Gesicht erschien auf dem Display. Oder mehr sein Doppelkinn und die Hälfte seines dick eingepackten Oberkörpers. Etwas raschelte und dann sah ich ihn nur noch ganz in der Ecke. Der Rest war von seinem Autodach ausgefüllt.

»Hey, Mann«, grüßte er in Richtung seines Handys.

»Fährst du gerade?«

Er zögerte kurz, ehe er zerknirscht entgegnete: »Ja, aber ich hab mein Handy nicht in der Hand.«

»Eben hattest du es in der Hand.« Er wusste, dass ich es hasste, wenn er während der Fahrt an sein Handy ging. Manchmal waren wir echt wie ein altes Ehepaar.

»Ist gut, Schatz. Ich merk’s mir fürs nächste Mal.« Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ich war heilfroh, John zu haben. »Erzähl mir lieber, was beim Arzt rausgekommen ist. Wie war’s?«

»Scheiße, und die Ergebnisse bekomme ich erst morgen.«

»Verdammt. Wenn du jetzt hier wärst, könnte ich dir eine Suppe machen.«

Mein Herz wurde ein bisschen warm. »Kannst du Gedanken lesen?«

Er lachte. »Ich bin der Beste, ich weiß.«

»Aber du würdest Louisa die Suppe kochen lassen und so tun, als hättest du sie selbst gekocht.«

»Zählt trotzdem.«

Ich schielte auf die Uhrzeit und legte einen Zahn zu, um die nächste Bahn zu erwischen. »Wenn du meinst.«

»Wann kann ich dir denn endlich eine Suppe machen?«, fragte John, während ich die Stufen zur U-Bahn-Station nach unten sprintete.

Ich klemmte mein Handy zwischen Ohr und Schulter und fischte die Monatskarte aus meinem Portemonnaie, um sie gegen die elektronische Schleuse zu halten. Ein Piepen ertönte und ich passierte das Drehkreuz. »Was hast du gesagt?«

»Hübsches Ohr. Und ich wollte wissen, wann du wieder nach Hause kommst.«

Ich erreichte das Gleis wenige Sekunden, bevor sich die Türen schlossen, und ließ mich auf einen freien Sitz in der Bahn fallen. Nach knapp einem Jahr kannte ich mich endlich in dem unterirdischen Bahnsystem aus. Hatte auch lange genug gedauert.

Zu gern wäre ich von der Praxis direkt zu meiner Wohnung gelaufen und hätte sie heute nicht mehr verlassen. Aber nein, ich hatte Spätschicht. Ich kellnerte in einem Restaurant, das meinte, alle menschlichen Bedürfnisse abdecken zu müssen. Zu jeder Zeit. Nicht das, was ihr jetzt denkt. Sie boten Frühstück, Mittagessen, Nachmittagskuchen und Abendessen an. Und nach zweiundzwanzig Uhr kam meistens irgendein dürrer Student mit bleichem Gesicht und legte ein paar fetzige Beats auf. Dann wurde aus dem Restaurant so etwas wie eine Bar oder ein Club. Für mich war das Konzept der absolute Albtraum, weil es meinen Schlafrhythmus, gelinde gesagt, fickte. Doch irgendwie war ich bei dem Job hängen geblieben.

Angefangen hatte ich als Tourismusführer, weil ich keinen Tacken französisch sprach. Nicht, dass sich daran im letzten Jahr etwas geändert hatte. Es stellte sich jedoch relativ schnell heraus, dass ich nicht sonderlich begabt darin war, mir historische Fakten und Daten zu merken. Ich dachte, es wäre nicht schlimm, wenn ich die Geschehnisse mit ein bisschen Kreativität behandelte. Dass ich Spielraum hätte oder wenigstens Welpenschutz, aber offenbar fand irgendein Napoleon-Experte es nicht so lustig, wie locker ich mit den Daten der Geschichte Frankreichs umging.

Danach war ich ein paar Wochen Nachhilfelehrer gewesen. In Englisch natürlich. Nichts leichter als das, oder? Doch bald wurde eine meiner Schülerinnen recht aufdringlich. Bei einer Nachhilfestunde rückte sie auf einmal immer näher, zog ihre Strickjacke aus und deutete an, sich auf meinen Schoß setzen zu wollen. Ich war davon ausgegangen, dass sie schon am College wäre. Es verwirrte mich immer, wenn Mädels so viel Make-up auftrugen. Als würden sie dadurch mindestens fünf Jahre älter aussehen. In diesem Fall war das genauso gewesen. Ich war froh, dass ich nur mit angedrohten Schlägen ihres Vaters und ohne Bezahlung davongekommen war statt mit einer Haftstrafe. Schlimm genug, dass ich damit klarkommen musste, eine Sechzehnjährige geküsst zu haben. Eigentlich hatte sie mich geküsst, aber das würde wohl vor Gericht niemanden interessieren. Nachhilfelehrer war damit auch flachgefallen.

Anschließend hatte ich mich auf den Schock hin in der erstbesten Bar betrunken und war in einer Ecke eingeschlafen. Als ich am nächsten Morgen von der Chefin des Restaurants geweckt und mir eine Schürze zugeschmissen wurde, hatte ich einen neuen Job und übernahm direkt die erste Frühstücksschicht. Endlich hatte ich etwas gefunden, wo ich nichts über die französische Geschichte wissen musste und nicht allein mit Minderjährigen war. Das klang unheimlich falsch. Ich konnte doch nichts dafür, dass ich so unfassbar charmant und sexy als Nachhilfelehrer war. Jedenfalls hatte mich diese Erfahrung fürs Leben geprägt und verstört. Vielleicht würde ich zukünftig ausschließlich ältere Frauen daten. Oder gar nicht. Das war die sicherste Variante.

»Bist du noch dran?«

Ich blinzelte ein paarmal, um mich ins Hier und Jetzt zurückzuholen. »Was?«

»Wann du wieder nach Hause kommst.«

»Frag mich was Leichteres.« Ich stieß ein ehrliches Seufzen aus. Rasch schlug ich einen theatralischen Tonfall an, um zu überspielen, wie dunkel es zurzeit wirklich in meinem Kopf war. »Aber ich kann mich einfach nicht an der atemberaubenden Architektur sattsehen.«

»Hier gibt es auch schöne Häuser, Caleb.«

»Und einen Eiffelturm?«

»Wir könnten einen Roadtrip nach Las Vegas machen, wenn du das willst.«

Ich schnaubte. »Bitte nicht. Und kannst du aufhören, so verflucht süß zu sein? Ich stelle sonst noch meine Sexualität infrage.«

John lachte laut auf. »Ich denke, du bist einfach chronisch untervögelt.«

Auch wenn ich mir das Bahnabteil mit nur wenigen Menschen teilte, fiel mir in dieser Sekunde auf, dass ich noch immer per FaceTime mit meinem besten Freund telefonierte, und das auf Lautsprecher. Und dass Englisch eine Weltsprache war, die sicher nicht nur ich verstand. Obwohl mich die Franzosen oft genug glauben lassen wollten, dass sie nicht meine Sprache sprachen.

Meine Wangen wurden warm, als ich eine ältere Dame beim Starren erwischte. Ich drosselte die Lautstärke an meinem Handy, hielt es näher an mein Gesicht und drehte mich in Richtung Fenster.

»Woher willst du das bitte wissen?«, fragte ich leise.

»Sonst prahlst du doch immer mit deinen Bettgeschichten. Und sagen wir es mal so: Es gab echt lange keine Storytime von Caleb mehr. Wurde die Sendung abgesetzt?«

»Fick dich.«

»Oh, oh, Rückzug. Sensibles Thema!«, rief er aus und ich schnaubte.

»Okay, hier muss ich raus«, sagte ich zu John und erhob mich vom Sitz. »Hast du eigentlich nichts zu tun?«

»Schon verstanden. Melde dich, sobald du bessere Laune hast.«

»Also nie«, sagte ich feixend und legte auf. Das war eine dreiste Lüge, weil ich ein gottverdammter Sonnenschein war. Normalerweise.

Es tat gut, zu wissen, dass John und ich uns in einem Moment wie ein altes Ehepaar verhalten, uns unsere Liebe gestehen und uns eine Minute später beleidigen konnten. Wüsste ich nicht, dass er mit Louisa glücklich war, würde ich mein Glück bei ihm probieren. Spaß. Führte ich mal wieder Konversationen in meinem Kopf, die nur ich hörte und lustig fand? Man sollte mich auf eine Bühne stellen und Leute Eintritt dafür zahlen lassen, dass ich meine Gedanken zum Besten gab.

Ich eilte die Treppe aus der U-Bahn-Station nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Der Himmel spannte sich wie ein knallblaues Zelt über meinem Kopf und ich musste unwillkürlich an Tristans abenteuerlichen Junggesellenabschied im letzten Winter denken. Wir hatten es für eine gute Idee gehalten, im Schnee zu zelten und unserem Freund ein Abenteuerwochenende in der Wildnis zu bieten. Ich hatte mir den Knöchel gebrochen, als ich meine Freunde vor einem Bären beschützt hatte. Das war die Story, die ich den Mädels damals erzählt hatte – meiner Meinung nach die einzige Version, die eine Daseinsberechtigung hatte und die ich meinen Enkelkindern erzählen würde. In Wahrheit hatte ich mir beim Pinkeln im Wald den Fuß umgeknickt, weil ich dachte, dass das Gebüsch neben mir ein Bär wäre. Ehrlich gesagt, war ich froh, dass ich mir nicht vor Angst in die Hose gemacht und immerhin nur mein Knöchel darunter gelitten hatte. Und gleich drifteten meine Gedanken wieder zu ihr ab ... Jess. Sie war diejenige, die mich in die Notaufnahme gefahren und begleitet hatte. Ich schluckte.

Die Schicht im Restaurant zog sich wie Kaugummi. Normalerweise scherzte ich mit den Gästen, setzte ein Grinsen auf, wenn sie sich über meine grauenvolle französische Aussprache lustig machten, aber heute war das Stechen in meinem Kopf besonders schlimm. Der Schmerz pochte in meinen Schläfen und ich biss die Zähne fest zusammen, um mich trotzdem zu einem Lächeln durchzuringen. Hoffentlich würde mir der Arzt helfen können. So lange schluckte ich eben weiter Schmerztabletten wie Smarties.

»Caleb, peux-tu venir une seconde?«

Ich sah über die Schulter und fing Adelines strengen Blick auf. Meine Chefin stand an der Theke und sortierte Kassenbons. Ihre langen hellbraunen Haare hatte sie mit einer Haarklammer am Hinterkopf hochgesteckt. Ich schätzte sie ein paar Jahre älter als mich. Sie war attraktiv, ganz objektiv gesehen. Hohe Wangenknochen, große Augen, die ein bisschen zu weit auseinanderstanden, doch ihre Lippen waren immer ein schmaler, strenger Strich. Sie hatte ihre Mühe mit mir und ich fragte mich, was mich nun erwartete. Hoffentlich kündigte sie mich nicht. Ich hatte die Kohle bitternötig.

Nachdem ich mein Tablett am Tresen abgestellt hatte, steckte ich meinen kleinen Notizblock und den Stift, mit dem ich die Bestellungen aufnahm, in die Jeanstasche an meinem Hintern. Ich folgte Adeline durch die dunkelgrüne Schwingtür, seitlich an der Küche vorbei in den Mitarbeiterraum. Die Leuchtstoffröhren an der Decke in diesem Raum waren so grell, dass es mir in den Augen schmerzte und ich sie ein wenig zusammenkneifen musste.

»Tu vas bien?«, fragte sie. Das verstand ich mittlerweile. Sie wollte wissen, ob es mir gut ging.

»Äh ... oui.« Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte ich mich gegen den Spindschrank. »Warum fragst du?«, fuhr ich auf Englisch fort. Ich wusste, dass Adeline mich verstand. Sie konnte es nur nicht leiden, wenn ich zu meiner Muttersprache wechselte. Doch anscheinend strahlte ich etwas Bemitleidenswertes aus, denn sie ließ sich darauf ein.

»Du siehst beschissen aus. Du lächelst zu wenig. Willst du unsere Kunden vergraulen? Willst du, dass sie eine schlechte Zeit haben? Dass sie ihren Freunden erzählen: Im Éclipse arbeitet so ein Typ, der einem jegliche Lebenslust raubt? Das ist nicht die Vision, die ich hatte, als ich dieses Restaurant eröffnet habe.«

Autsch. Meine Schultern verkrampften sich merklich bei ihren Anschuldigungen. Ich zwang mich zu einem Grinsen, obwohl mein Körper dagegen ankämpfte. »Wäre zumindest etwas Besonderes, oder?«

Ihr ohnehin schon ernster Gesichtsausdruck verwandelte sich in den einer Giftnatter. »Willst du damit sagen, dass mein Restaurant sonst nichts Besonderes hat? Dass du das einzig Besondere hier bist? Ist es das, was du versuchst, mir zu sagen, Caleb?«

»Was? Nein! Das war nicht ... Es sollte ein Scherz sein.« Ich löste meine verschränkten Arme und ging einen Schritt auf sie zu. Jetzt war sie es, die ihre Arme verschränkte und einen Schritt nach hinten trat. Adeline sah hoch zur Decke, als überlegte sie, was sie mit mir anstellen sollte. Ob sie mich weiter dulden oder mich endlich feuern würde. Allein die Tatsache, dass Adeline fähig war, länger als eine Millisekunde nach oben zu sehen, ohne dass ihre Augen vom künstlichen Licht verbrannt wurden, sollte mir zu denken geben. Entweder bedeutete es, dass sie tatsächlich ein übernatürlicher Dämon oder dass ich ein physisches Wrack war.

»Ich denke, es wäre das Beste, wenn du ...« Ein Vibrieren ertönte und unterbrach sie. Sie hielt inne. Es folgte Musik. Die schrammenden Töne einer Gitarre, untermalt von einer klaren Männerstimme. »Was ist das?«

Suchend sah ich mich im Zimmer um. »Ich glaube, da klingelt ein Handy. Sicher hat nur einer der Kellner vergessen, es auf stumm zu schalten.«

»Du weißt, dass alle Handys ausgeschaltet werden müssen, oder?«

»Was, ich? Ja, natürlich. Mir brauchst du das nicht zu sagen.«

Sie verengte die Augen und ging auf den Spindschrank zu. Nach und nach ließ sie ihre Hand über jede Tür gleiten. Wohl, um die Vibration des Handys zu spüren. Ich wusste genau, dass es mein Handy war, dass da klingelte. Gerade als Spencer Sutherland beim Refrain meines Lieblingssongs ankam und munter sang, dass er eine Bitch war, stand sie vor meinem Spind. Sie drehte sich auf dem Absatz zu mir um und ich räusperte mich. Senkte den Blick. Das war ja mal wieder ein perfektes Timing. Wenn das John war, der erneut plaudern wollte, würde ich ihn höchstpersönlich erwürgen, sobald ich zurück in Sugar Hill wäre.

»Je crois que ton téléphone sonne.«

»Was?«

»Ich glaube, dein Handy klingelt«, presste sie hervor und trat einen Schritt zur Seite. Auffordernd deutete sie auf meinen Spind. Ich wollte ihn wirklich nicht öffnen. Insgeheim betete ich, dass es aufhören würde zu klingen und stattdessen spontan ein Feueralarm in der Küche losging, der mich aus dieser Situation rettete. Doch es blieb mir nichts anderes übrig. Widerwillig öffnete ich den Spind und griff nach meinem Handy, von dem mir Spencer Sutherland noch immer meinen aktuellen Lieblingssong entgegen trällerte. Ich spürte Adelines Wärme hinter mir. Vermutlich war sie näher gekommen, um mir über die Schulter zu sehen und sicherzugehen, dass sie mich ruhigen Gewissens vor die Tür setzen konnte. Irritiert musste ich feststellen, dass es nicht John war, der mich anrief. Es war niemand, den ich eingespeichert hatte. Eine fremde Nummer lief über mein Display. Die amerikanische Landesvorwahl, gefolgt von der Vorwahl von Burlington. Die nächstgrößere Stadt nahe meiner Heimatstadt Sugar Hill. Wer sollte versuchen, mich von dort aus anzurufen?

»O´Connor«, meldete ich mich, nachdem ich den Anruf angenommen und mein Handy ans Ohr gedrückt hatte.

Adeline schnappte nach Luft, als könnte sie nicht fassen, dass ich die Dreistigkeit besaß, ans Telefon zu gehen. Sie murmelte irgendwelche französischen Worte, die nicht sehr nett klangen, und verließ den Mitarbeiterraum. Immerhin konnte ich mich nun auf das Telefonat mit der fremden Nummer konzentrieren.

»Spreche ich mit Caleb O´Connor?«

»Ja, richtig. Wer ist denn da?«

»Hier ist das MCB Medical Center Burlington. Ihr Vater hatte einen Unfall.«

Kapitel 2

JESS

»Und deswegen heißt der Berg in unserem Ort Sugar Hill.«

Stille.

»Tante Jess?«

Mein Arm wurde mit einem Stift zur Seite gestupst. Der Arm, dessen Hand mein Kinn gestützt hatte, während ich melancholisch und mit einem Hauch Dramatik durchs Fenster in die Ferne geblickt hatte. Für eine Sekunde schnellte mein Kopf nach unten und drohte, Bekanntschaft mit der Tischplatte zu machen. Ich schreckte jedoch rechtzeitig hoch und richtete mich kerzengerade auf dem Stuhl auf.

»Himmel, willst du mich umbringen, Kleiner?«

Marvin kicherte frech, woraufhin ich nur den Kopf schüttelte. Zwischen dem Sohn meiner besten Freundin und mir lagen knapp zwanzig Jahre, aber manchmal kam es mir so vor, als wäre ich im Spätsommer mit ihm eingeschult worden. Hatten wir in der ersten Klasse auch eine Präsentation halten müssen? Schien mir ein wenig übertrieben. Und wieso hatte ich mich noch gleich bereit erklärt, heute Nachmittag auf Marvin aufzupassen und ihm bei seinem Plakat zu helfen?

Richtig. Weil ich die weltbeste Tante war.

»Hast du mir zugehört?«

»Natürlich habe ich dir zugehört. Was denkst du denn von mir?«

Marvin verengte die Augen und tippte sich mit dem blauen Filzstift grübelnd ans Kinn. Jedoch hielt er ihn falsch herum und war gerade dabei, in seinem Gesicht herumzukritzeln, ohne es zu merken. Ich grinste und stand auf, um ihm den Stift aus der Hand zu nehmen und ihn wortlos umzudrehen. Irritiert blinzelte er mich an, doch ich winkte ab. Darum würde sich Louisa später kümmern. Das war das Tolle daran, die lustige Tante zu sein. Ich bekam all den Spaß – wenn man eine Präsentation über den namensgebenden Berg unserer Kleinstadt dazuzählen konnte – und Louisa, John und Dean konnten sich mit den nervigen Themen rumschlagen. Zähneputzen, Neinsagen im Supermarkt oder dem Frechdachs das Gesicht abzuwaschen, nachdem er sich mit dem Filzer angemalt hat.

Zunächst war Marvin verständlicherweise ein bisschen verwirrt gewesen über die neue Familiensituation. Dass er nun nicht nur eine Mom und einen Dad hatte, sondern gleich zwei Dads. Wen würde das nicht verwirren? Kurzfassung: Louisa und Dean waren in der High School zusammen. Louisa wurde schwanger. Also heirateten die beiden, als wären wir im sechzehnten Jahrhundert. Sie zogen nach New York, wo beide immer unglücklicher wurden, bis Louisa vor zwei Jahren nach Sugar Hill zurückkehrte. Endlich hatte ich meine beste Freundin zurück. Yeah! Aber nicht nur das, sie traf auch John wieder. Wir drei waren in der High School unzertrennlich. John war seit der ersten Sekunde in Louisa verliebt und traute sich endlich, ihr das zu sagen. So oder so ähnlich. Großes Drama, Schlägerei, Happy End. Dean kam dann letztes Jahr mit Louisas bester Freundin aus New-York-Zeiten, Kat, zusammen. Ach so, und Dean und John sind Brüder und meine beiden Cousins. Ihre Mom, Camille, ist die Schwester meines Dads. Sorry an alle, die jetzt schon ausgestiegen sind. Jetzt wird es leichter, versprochen.

Anders als Louisa war ich nicht in festen Händen. Single like a Pringle, not ready to mingle. Ich war gern allein, denn eigentlich war ich nicht wirklich allein. Ich hatte eine wunderbar nervige Familie und noch nervigere Freunde, und ich liebte alles daran. Mir ging es gut. I’m totally fine!

Perfekt, ich klang genau wie Ross aus Friends, als er ganz und gar nicht fine war.

Ich sah zu der ulkigen Wanduhr in Hühnerform über der Tür. »O Shit! Ist es schon so spät?«

Im selben Moment hörte ich, wie die Eingangstür geöffnet wurde. »Bin zu Hause!«, rief Louisa aus dem Flur. Sie erschien mit vor Kälte geröteten Wangen im Wohnzimmer und wickelte sich ihren drei Meter langen Strickschal vom Hals. Der Anblick erwärmte mein Herz. Anfang des Jahres hatte ich eine sehr kurze, aber sehr intensive Phase gehabt, in der ich dachte, stricken würde jetzt mein Ding werden. Mit etsy-Shop und allem. Das Monstrum, das meine beste Freundin da vollkommen schamlos in der Weltgeschichte ausführte, war ein Beweis meines Scheiterns. Ich hatte sie gezwungen, dass sie, wenn sie das Teil trug, wenigstens so tun sollte, als handle es sich dabei um ein seltenes Designerstück von Evans. Meinen Nachnamen sollte sie dabei aber bitte möglichst nasal und französisch aussprechen. Der Schal bestand aus blauer und grüner Wolle in unterschiedlicher Garndicke. Ausschließlich rechte Maschen, weil mein Ehrgeiz nie über ein YouTube-Video hinausgegangen war. Wenn man ihn vor sich hielt, sah man, dass nicht nur die Dicke des Garns variierte, sondern auch die Breite des gesamten Schals. War natürlich beabsichtigt, um ein bisschen Dynamik reinzubringen. Ist doch klar. Aber mit dem Strahlen auf Louisas Gesicht könnte sie vermutlich alles tragen und wäre nach wie vor der schönste Mensch auf Erden.

Ich breitete die Arme aus, um sie zu begrüßen, doch kurz bevor wir uns berührten, ging sie in die Hocke und Marvin flitzte an mir vorbei. Meine Arme schlossen sich zunächst um die Luft und dann resigniert um meinen Oberkörper.

»O Shit!«, rief Marvin aus.

O Shit war auch das, was mir jetzt durch den Kopf schoss, als Louisa anklagend zu mir aufblickte. Warum musste der Kleine mir auch alles nachplappern?

Verlegen fuhr ich mir durch die schwarzen Locken. »Ich sage ja immer: John ist kein guter Umgang.«

Sie durchschaute sofort meinen kläglichen Versuch, die Schuld für den neuen Kraftausdruck, den ihr Sohn gelernt hatte, auf ihren Freund abzuwälzen. Es war ohnehin nicht ernst gemeint. Wir beide wussten, dass John der beste Onkel-Dad war, den die Welt je gesehen hatte – selbst wenn dieser Ausdruck noch immer verstörend war. Er hatte den Knirps vom ersten Moment an in sein Herz geschlossen und behandelte ihn wie seinen eigenen Sohn.

Louisa verdrehte die Augen, richtete sich auf und schlang die Arme fest um mich. Ich löste meine Solo-Umarmung und legte die Arme stattdessen um ihren Oberkörper.

»Bleibst du zum Essen?« Mein Magen knurrte wie auf Kommando, da hatte sie die Frage nicht einmal zu Ende gestellt, doch ich winkte ab. »Ich wollte Veggie-Bolognese machen.« Louisa wackelte verführerisch mit den Augenbrauen.

»Bolognese, Polonäse, Schmollorese!«, rief Marvin aus und wankte in großen Bewegungen vom linken auf den rechten Fuß.

Louisa und ich sahen uns verwirrt an und ich beugte mich näher an ihr Ohr. »Kann es sein, dass er quatschiger geworden ist, seit er in die Schule geht? Vorher kam er mir –«

Sie schnaubte. »Sag es nicht. Ich denke, mit der Entwicklung ist es kein stetiger Anstieg, sondern mehr ein Schritt vorwärts und drei zurück.«

»Zitierst du Olivia Rodrigo?«

»Hast du meinem Sohn einen blauen Schnurrbart gemalt?«

Ein unkontrolliertes Lachen sprudelte aus mir heraus, während sie den Kleinen genauer unter die Lupe nahm. »Ich mach dann mal die Mücke. Adios, Muchachos!« Ich feuerte rückwärtsgehend ein paar Fingerpistolen ab und verließ den Raum.

»Deine Sprache wird immer schrulliger. Du hängst zu viel mit alten Leuten ab.«

»Was soll ich sagen? Sie lieben mich.« Ich grinste, deutete mit zwei Fingern ein Salutieren an und nickte Marvin zu. »Halt die Ohren steif, Marvinio. Du rockst die Präsi. Hab dich lieb, Lui. Wir sehen uns morgen!«

Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, blieb ich kurz auf der Veranda stehen, um die klare Luft durch meine Nasenflügel strömen zu lassen. Beim nächsten Atemzug kroch mir der Geruch von aufkommendem Regen in die Nase.

In den letzten Wochen war es zwar immer kühler geworden, jedoch nicht kalt genug, als dass der Regen endlich zu Schnee werden würde. So lange hatte ich noch nie auf den ersten Schnee warten müssen, seit ich wieder nach Vermont gezogen war. Meistens waren wir zu Thanksgiving komplett eingeschneit. Dieses Jahr ließ uns Väterchen Frost zappeln, obwohl schon Ende November war.

Ich blinzelte in den dunkelblauen Abendhimmel und zog den Reißverschluss meiner knallroten Winterjacke bis zum Kinn hoch. Schnell durchquerte ich den Vorgarten und machte mich auf den Weg ins Zentrum unseres kleinen Dorfs zu Mary’s Buchladen. Seit ein paar Monaten leitete ich dort beim Seniorentreff das Bingo. Irgendwie war ich da mehr zufällig reingestolpert und inzwischen waren die älteren Damen und Herren so vernarrt in mich, dass sie immer nach mir fragten, deshalb plante ich es seitdem fest ein. Heute spürte ich die Müdigkeit allerdings in den Knochen. Vielleicht war es doch ein bisschen viel mit dem Marvin-Sitting und danach noch das Senioren-Bingo.

Man sollte meinen, dass die älteren Menschen früh ins Bett wollten, aber nichts da. An manchen Abenden hatte ich das Gefühl, Eugene und Raymond mit dem Hochdruckreiniger aus dem hinteren Raum der Buchhandlung spülen zu müssen. Doch damit hätte Mary, die Besitzerin des Buchladens, vermutlich ein Problem. Die beiden Männer waren wirklich am schlimmsten. Ich wette, dass sie schon in jungen Jahren kein Ende gefunden hatten. Sie hatten mir einmal erzählt, dass sie schon ihr gesamtes Leben lang unzertrennlich waren. Ich kam nicht umhin, an Louisa und mich zu denken und zu hoffen, dass wir auch mit achtzig noch beste Freundinnen wären und gemeinsam zum Senioren-Bingo gingen. Vermutlich würde ich genauso die Nacht zum Tag machen wollen. Nur weil man ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel hatte, musste man noch lange kein Langweiler werden.

Ich straffte die Schultern, zog die Mundwinkel nach oben und stapfte durch die Dunkelheit.

Am Morgen erwachte ich zu Nieselregen und unweihnachtlichen Temperaturen, die eher an Herbst erinnerten. Wie immer nach dem Senioren-Bingo war ich gestern Abend viel zu spät schlafen gegangen. Fix und foxi, aber happy. Ich schwang die Beine aus dem Bett und trottete ins Bad. Mit dem nächsten Blinzeln befand ich mich schon auf dem Weg durch die Dunkelheit zum CC’s, dem Café im Ort, um mir meinen morgendlichen Kaffee zu holen. Beim nächsten Blinzeln begrüßte ich meinen Boss Vincent im Skiverleih, und ab da raste die Zeit noch schneller. Ein Kunde folgte dem anderen. Ich beriet, reichte Skier, Skistöcke, Snowboards und Schuhe über den Tresen, kassierte und wünschte viel Spaß auf der Piste. Und am nächsten Tag? Tat ich genau das Gleiche. Und an dem darauf? Überraschung, wieder das Gleiche. So war das eben als Erwachsener.

Das Leben zog an einem vorbei und man versuchte, möglichst viele erinnerungswürdige Momente in seinen Alltag zu integrieren. Selbst wenn sie nur klein waren. Es waren die Augenblicke, die ich mit meinen Freunden oder meiner Familie teilte. Und natürlich meinen Senioren-Besties. Momente, die mich berührten. Mein Herz berührten. Versteht mich nicht falsch. Ich war glücklich. Ich hatte mir dieses Leben hier selbst ausgesucht. Niemand hatte mich gezwungen, im Frühjahr auf Vincents Türschwelle zu stehen und zu fragen, ob er Unterstützung im Verleih bräuchte. Nachdem ich mein Architekturstudium abgebrochen hatte und zu meinen Eltern zurückgezogen war, fühlte ich mich erst mal wie eine Versagerin. Es kam mir so vor, als hätten alle um mich herum ihr Leben im Griff. Ihre Bestimmung gefunden. Mit dem Auszug aus meinem Elternhaus in die süße Wohnung am Dorfplatz und dem neuen Job im Skiverleih war ich mir zunächst wieder selbstsicherer vorgekommen. Ich hatte gedacht, es ginge in die richtige Richtung. Doch seit einiger Zeit war diese fiese Stimme in meinem Kopf zurück, die flüsterte, das meine Freunde schlichtweg besser darin waren, erwachsen zu sein. Hatte irgendjemand über Nacht ein Handbuch mit dem Lösungsweg zum erfolgreichen Erwachsensein verteilt und meinen Briefkasten dabei übersehen?

Am Sonntag war der erste Advent und ich freute mich darauf, endlich wieder mit der ganzen Familie zusammenzukommen. Obwohl es erst letzten Donnerstag an Thanksgiving der Fall gewesen war. Ich liebte es, wenn fünf Gespräche gleichzeitig quer über den Tisch geführt wurden und man sich regelrecht anbrüllen musste, um ein Wort zu verstehen.

Als ich von der Kirche und dem ersten Adventsfrühstück, das immer im Anschluss ausgerichtet wurde, nach Hause kam, war es bereits Mittag. Ein weiterer Grund, weshalb ich die Adventssonntage liebte. Ich musste mir überhaupt keine Gedanken darüber machen, was ich essen sollte, da ich mich an Louisas leckeren Weihnachtsgebäcken, Torten und den herzhaften Häppchen der anderen Gemeindemitglieder satt futterte, bis es mir fast zu den Ohren rauskam. Und für den Abend war ich auch versorgt, dank unserer wöchentlichen Adventsdinner. Ich streichelte über meinen Food-Baby-Bauch und spielte mit dem Gedanken, meine kleine Wohnung ein bisschen auf Vordermann zu bringen. Wenn ich unter der Woche nach Hause kam, war ich immer zu k. o. dafür und ließ jegliche Kleidung dort liegen, wo ich sie mir vom Körper streifte, bevor ich ins Bett fiel.

Mein Handy vibrierte.

Louisa: Das ist das Rezept, von dem ich dir eben erzählt habe.

Uuuund Aufräumen war so was von abgeschrieben. Wie ferngesteuert ging ich auf meine Küchenzeile zu und öffnete das Rezept. Die einfachsten Schoko-Plätzchen der Welt! Okay, ganz ruhig. Wieso fühlte ich mich plötzlich angeschrien und provoziert von dieser übermotiviert formulierten Überschrift? Ich las weiter. Superschnell, supereinfach, superlecker! Die Ausrufezeichen waren wohl im Sonderangebot gewesen. Nur sechs Zutaten, die wirklich jeder zu Hause hat! Wollen wir doch mal sehen, Karen, ob die wirklich jeder zu Hause hat.

Ich öffnete die Schranktür mit meinen Vorräten. Zugegeben, ich hatte alle dafür benötigten Zutaten da. Rein zufällig. Glück gehabt, Karen. Und ja, das Rezept ging schnell und war sogar für eine Person wie mich, die zwei linke Hände in der Küche hatte, problemlos zu bewältigen.

Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass die spontane Backaktion ein komplettes Desaster werden würde und ich lediglich meine Zeit vertrieb, um das ganze Blech mit verbrannten Keksen am Ende in den Müll zu befördern. Zwischendurch naschte ich vom rohen Teig und stellte fest, dass er tatsächlich nach einem normalen Keksteig schmeckte. Ich sah mich schon Nara-Smith-mäßig mit einem Teller herrlich duftender Plätzchen bei meiner Familie antänzeln und ihnen ins Ohr säuseln, wie erfüllend das Backen war. Doch diese Rolle war für Louisa reserviert. Mein Ding war es eher, ungeduldig auf den Countdown meines Smartphones zu starren, das Blech eine Minute vor Ablauf der Zeit rauszuholen und mir die Zunge am ersten glühend heißen Plätzchen zu verbrennen.

»Heilige Scheiße, sind die lecker!«, stieß ich nuschelnd aus, weil ich Teile meines Gaumens nicht mehr spürte. »Wenn das mal nicht der Anfang einer vielversprechenden Küchenkarriere ist, Jessica Evans!« Ich biss erneut ab und der restliche Keks zerfiel in meinen Fingern. Vermutlich hätte ich sie erst ein bisschen abkühlen lassen sollen.

Ich schnappte mir meinen Laptop, schaltete einen x-beliebigen Weihnachtsfilm ein und schielte immer wieder vom Bett aus hinüber zu dem Backblech auf dem Herd. Alle zehn Minuten stand ich auf, um mir noch einen Keks zu gönnen. Nur noch einen. Ich hatte sie ja schließlich auch gebacken. Demnach standen mir die meisten zu. Das war doch fair.

Irgendwann war ich an dem Punkt angekommen, an dem ich sie abzählte und mir gerade noch so viele gestattete, dass wenigstens für jeden aus meiner Familie ein Keks übrig war.

Aber Marvin durfte bestimmt gar nicht so viel Süßkram essen. Der Kleine war in der Adventszeit doch eh vollkommen überzuckert.

Und meine Mom war kein Süßmäulchen. Sie würde nichts dagegen haben, wenn sie keinen abbekam.

War es überhaupt sicher, dass Dean und Kat heute Abend dabei waren? Hatte Louisa nicht gesagt, dass sie aktuell geschäftlich in New York waren?

Mein kleiner Bruder Steven rechnete gar nicht damit, ein Plätzchen abzubekommen. Das wäre ein zu großes Liebesgeständnis. Da würde er am Ende noch übermütig werden.

Letztlich hatte ich das ganze Blech allein verdrückt. Ich war nicht stolz darauf, okay? Aber irgendwann war ich an dem Punkt angekommen, an dem nur noch drei Plätzchen übrig waren, und dann hätte ich entscheiden müssen, wen von meiner riesigen Familie ich am liebsten hatte. Das hätte für schlechte Stimmung gesorgt. Also stand ich um Viertel nach sechs wie immer mit leeren Händen, einem breiten Grinsen und Bauchschmerzen vor Louisas Haus. Alles andere wäre untypisch für mich gewesen und hätte für Verwirrung gesorgt. Mein Blutzuckerspiegel hatte seinen Höhepunkt erreicht und mir wurde ein bisschen übel bei dem Gedanken daran, gleich wieder zu essen.

»Hi, komm rein«, rief John von der Tür aus. Ich stapfte durch den Vorgarten und wir begrüßten uns mit einer Umarmung.

Nachdem ich meine Jacke an der Garderobe aufgehängt und meine Sneakers von den Füßen gestreift hatte, betrat ich das Wohnzimmer, wo sich elf Köpfe augenblicklich in meine Richtung drehten. John ließ sich am Kopfende auf seinen Stuhl sinken. Nun war lediglich ein Stuhl frei. Jap, ich war wie immer die Letzte. Noch so etwas, was sich wohl nie ändern würde. Wie gesagt, alles andere würde nur Verwirrung stiften!

»Hey, alle zusammen. Sorry für die kleine Verspätung«, sagte ich und winkte in die Runde.

»Keine Sorge, Cookie. Du hattest wirklich einen weiten Weg, oder?«, fragte mein Dad und lachte über seinen eigenen Witz.

Ich richtete eine Fingerpistole in seine Richtung, woraufhin er sich erschrocken an die Brust griff, als hätte ich ihn mit einer richtigen Pistole angeschossen. Ich gluckste. An uns war ein Comedy-Duo verloren gegangen. Meine Mom neben ihm zog bloß die Augenbrauen hoch. Sie hatte es mittlerweile aufgegeben, uns zurechtzuweisen. Louisas Mom, Barb, war Therapeutin und hatte ihr den Tipp gegeben, sich nicht mehr über uns aufzuregen, weil es ihr nicht guttat. Ehrlich gesagt, hatte ich das Gefühl, es brodelte nur so unter ihrer Oberfläche und irgendwann würden sich ihre angestauten Aggressionen dennoch Bahn brechen. Ich wusste nicht, ob mein Dad und ich darauf hinarbeiteten oder Angst davor haben sollten. Wir waren solche Monster.

Weil meine Familie mich kannte und die beste der Welt war, hatten sie mit dem Tischgebet gewartet. Wir fassten uns an den Händen. Mein Dad links von mir, mein Bruder rechts. Abwechselnd quetschten wir uns gegenseitig zu fest die Hände, als wären wir wieder zehn. Steven war drei Jahre jünger als ich und die längste Zeit hatte ich ihn in diesem Spiel besiegt. Es hatte immer damit geendet, dass er irgendwann schmerzerfüllt aufjaulte und damit strenge Seitenblicke aller beim Gebet erntete. Doch jetzt war er zwei Köpfe größer als ich und hatte im letzten Jahr anscheinend mal ein Fitnessstudio von innen gesehen. Ich biss die Zähne zusammen, bis mein Kiefer knackte. Die Genugtuung würde ich ihm nicht geben. Vielleicht war er mir körperlich überlegen, aber meinen Geist würde er nicht brechen.

»Amen«, schloss Camille das Gebet und ich schleuderte Stevens Hand in derselben Sekunde von mir.

Heiliger Strohsack! Hoffentlich hatte er mir mit seinem Schraubstockgriff nicht den Handrücken gebrochen. Er grinste mich an wie ein Labrador, der den größten Ast im Wald gefunden hatte, und ich äffte es sofort nach. War es möglich, seine Hände zu trainieren? Ich war ein absoluter Sportmuffel, aber meine Finger mussten dringend an ihrem Bizeps arbeiten.

»Hast du das Rezept ausprobiert, das ich dir geschickt habe?«, fragte Louisa, während sie eine kleine Schale Bohnensuppe vor mir platzierte.

»Danke, und äh ... nee, hatte nicht alles dafür zu Hause«, log ich.

Wie sich herausstellte, waren Dean und Kat doch gekommen. Sie würden erst morgen nach New York fliegen, um ein paar Angelegenheiten in der Kanzlei zu klären, in der beide arbeiteten, und pünktlich zum zweiten Adventsessen wieder da sein. Und Marvin stürzte sich vollkommen ungebremst auf jeglichen Süßkram, als gäbe es keinen Morgen. Somit wurden alle Ausreden, die ich vorhin versucht hatte zu finden, hinfällig. Ich fuhr besser mit meiner kleinen Lüge.

Der restliche Abend verlief friedlich. Wie erwartet, unterhielten Sophie, Louisas jüngere Schwester, Kat und ich uns brüllend von drei verschiedenen Ecken des Tisches aus über die neueste Staffel Der Bachelor. Darunter mischten sich Deans anonymisierte Erzählungen seines aktuellen Falls, die ich mit halbem Ohr mitbekam und krampfhaft versuchte, auszublenden, weil sie aus dem gut aussehenden Single-Texaner mit Sprachfehler einen verurteilten Straftäter mit Aussicht auf dreimal lebenslänglich machten.

Hach ja, ich liebte die Familienessen.

Nachdem wir fertig gegessen hatten – ich wette, ich war nicht die Einzige, die vor dem Nachtisch ihren Hosenknopf aufmachen musste –, spazierten wir nach Hause. Dean und Kat kamen im Winter immer mit dem Auto zu den Familienessen, da sie im Nachbarort Honey Daze wohnten. Sie boten an, mich mitzunehmen, damit ich nicht über das unbeleuchtete Feld nach Hause laufen musste. Doch ich lehnte ab. Der kleine Verdauungsspaziergang entlang der Straße würde mir guttun.

Gemeinsam mit meinen Eltern und meinem Bruder lief ich die vor Weihnachtsbeleuchtung funkelnde Pine Cone Street in Richtung Hauptstraße entlang. Ab hier trennten sich unsere Wege, sie wohnten auf der anderen Seite des Ortes nahe dem Waldrand. Mit einem letzten Boxhieb verabschiedete ich mich von Steven, ehe ich losrannte, um seiner Rache zu entkommen.

Auf dem Rückweg hatte es angefangen, zu nieseln. Der Geruch von Regen hing schon seit Tagen in der Luft.

Als ich vor zweieinhalb Jahren mein Architekturstudium abgebrochen und nach Sugar Hill zurückgezogen war, war ich zunächst wieder bei meinen Eltern untergekommen. Doch bald darauf versöhnten Louisa und ich uns mit unserer High-School-Rivalin Brianna Baker, und ich erfuhr, dass sie und ihr damaliger Freund Tristan zusammenziehen wollten und ihre Wohnung direkt am Dorfplatz frei werden würde. Bri und Tris waren mittlerweile verheiratet und Brianna war nicht mehr einfach nur Brianna, sondern Bürgermeisterin Baker. Irgendwie hatte es niemanden überrascht, als sie bei der Hochzeit Anfang des Jahres verkündet hatte, dass sie ihren Namen behalten würde. Sie war eine Strong Independent Woman und ich feierte sie dafür.

Seit sie das Amt von ihrem Großvater übernommen hatte, hatte sich schon einiges in unserem verschlafenen Örtchen verändert. Zusätzlich zu den üblichen Festen wie dem Ostermarkt, dem Grillfest zum vierten Juli, dem Pumpkin-Festival und dem Weihnachtsmarkt gab es nun eine monatliche Dorfversammlung in der Kirche. Zweimal im Jahr veranstalteten wir einen Vintage-Markt im gesamten Ort und das Angebot des Kindertheaterkurses, das sich sonst nur auf ein Weihnachtsstück beschränkt hatte, wurde aufs ganze Jahr ausgeweitet, um die Kreativität und das Selbstbewusstsein der Kinder zu stärken. Kurzum, Bri machte ihre Sache wirklich gut, und jeder, der etwas anderes behauptete, bekam es mit mir zu tun.

Jedenfalls war Briannas Wohnung frei geworden. Also packte ich meine sieben Sachen – oder eher siebzig – und zog von meinem Elternhaus in die Ortsmitte. Ich liebte es, immer mitten im Geschehen zu sein und entspannt von den Veranstaltungen und Festen im Ort nur einen Schritt rückwärts machen zu müssen, um ins Bett zu fallen.

Oben angekommen, schaltete ich alle Lämpchen und Lichterketten in meiner Einzimmerwohnung an und tauchte sie damit in ein warmes, einladendes Licht. Von meiner Decke baumelte lediglich eine nackte Glühbirne in ihrer Fassung. Seit dem Einzug hatte ich sie höchstens dreimal angeschaltet. Bei dem kalten Licht fühlte ich mich immer wie auf einem OP-Tisch. Deshalb hatte ich mir schleunigst viele kleine Lichtquellen angeschafft, um für ein gemütliches Ambiente zu sorgen.

Ich drehte meine allabendliche Runde durch die Wohnung, ließ die Jalousien runter und spähte noch einmal auf den Dorfplatz. Die verschnörkelten Laternen ließen ihn in einem warmen Licht leuchten. Über Nacht waren die Stühle zusammengeklappt und an die Tische der Außengastro gelehnt worden. Ehrlich gesagt, wusste ich gar nicht, zu wem die Garnitur gehörte. Vermutlich war es eine von Briannas Ideen gewesen. Damit alle Dorfbewohner zu jeder Zeit zusammenkommen und sich beispielsweise einen Kaffee im CC’s und eine Tüte hausgemachte Karamellbonbons bei Andrew’s Candy Shop holen konnten und einen Platz zum Sitzen und Reden an der frischen Luft hatten. Von Frühling bis in den späten Herbst hinein hatte ich meine Mittagspause gern dort verbracht. Wenn endlich der Winter hereinbrach, musste ich mir etwas anderes überlegen.

Ich schlängelte mich an dem runden Esstisch vorbei zu dem letzten Fenster. Im Vorbeigehen zog ich an der feinen Metallkette der Tischlampe, die ich vor ein paar Wochen auf dem Flohmarkt erstanden hatte, und lächelte bei dem Lichtschein, den sie auf die Holzplatte warf. Manchmal fühlte ich mich wie die Wächterin unseres kleinen Ortes. Jeden Abend blickte ich noch einmal auf den Platz und ging sicher, dass alles in Ordnung war. Ich griff nach der Jalousienschnur und wollte sie schon mit einem schwungvollen Ratschen nach unten lassen, als etwas meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Oder besser ... jemand. Mitten über den Platz lief eine dunkle Gestalt. Im schummrigen Licht erkannte ich eine schlanke Silhouette. Es war ein Mann, dessen langer Schatten ihm über das feucht schimmernde Kopfsteinpflaster hinterhereilte. Er wirkte gehetzt, wie er so mit zielstrebigen Schritten den Platz überquerte. Ich wusste nicht, was es war, aber irgendetwas an ihm kam mir vertraut vor.