31 Jahre hinter Gittern - Norbert Henke - E-Book

31 Jahre hinter Gittern E-Book

Norbert Henke

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Beschreibung

Knast hat noch niemandem geholfen, oder doch? Was kann und soll der deutsche Strafvollzug leisten? In seinem Buch teilt der erfahrene Sozialpädagoge und Jurist Norbert Henke seine einzigartigen Einblicke in den Alltag deutscher Gefängnisse. Nach über drei Jahrzehnten im Justizvollzug und als „Gefängnisdirektor“ wollte Henke mit dem Ruhestand sein Wissen und seine Erfahrungen nicht einfach „abschließen“. Das Buch bietet mehr als bloße Sachinformationen. Es enthält fesselnde Erzählungen, berührende Anekdoten und historische Hintergründe über die Justiz und den Strafvollzugsalltag. Henke eröffnet uns eine Welt, die bisher kaum bekannt war. Dabei zeigt er nicht nur die Chancen auf, Menschen zu verändern, sondern beleuchtet auch die Unzulänglichkeiten und Herausforderungen des Systems „Gefängnis“. Mit überzeugender Stimme appelliert Henke an uns alle, den Strafvollzug nicht länger als reine Abstellkammer für Gescheiterte zu betrachten. Er ruft dazu auf, die Gefangenen als Menschen ernst zu nehmen und das Ziel der Resozialisierung in den Mittelpunkt zu stellen. Denn eine erfolgreiche Wiedereingliederung ist nicht nur im Interesse der Gefangenen, sondern auch der beste Schutz für potenzielle Opfer. Norbert Henke ist damit ein eindringliches Buch gelungen, das nicht nur den Gefängnisalltag eines ehemaligen Anstaltsleiters beleuchtet, sondern zugleich ein Spiegelbild unserer heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse darstellt.

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Seitenzahl: 470

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31 Jahre hinter Gittern

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-95894-261-5

© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2023

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1: Der letzte Diezer Ausbruch und die Sicherheit der Anstalt

Kapitel 2: Die JVA Diez, Begegnungen mit Dr. Dieter Bandell und Lebenslangen in der Referendarzeit

Kapitel 3: Menschliche Nähe, Beziehungen hinter Mauern und unüberwachte Partnerbesuche

Kapitel 4: Die Anstaltsleitersprechstunde, Beschwerdeschreiber, krumme Füße und eine untergeschobene Feile

Kapitel 5: Von Geldstrafen, die andere bezahlen, sowie vom Sinn und Unsinn kurzer Freiheitsstrafen und Ersatzfreiheitsstrafen

Kapitel 6: Die Alten und die Kranken

Kapitel 7: Wenn die Gefangenen über einen Kamm geschoren werden

Kapitel 8: Warum Justizvollzugsanstalten so weit von den Verhältnissen in Freiheit entfernt sind

Kapitel 9: „Einer muss das ja machen“, die Motivation, sein Berufsleben als Anstaltsleiter hinter Gittern zu verbringen, und Gefangene, die Konfetti werfen

Kapitel 10: Der fünffache Mörder und der falsche Anstrich

Kapitel 11: Die Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes und ihre tragende Rolle in den Gefängnissen

Kapitel 12: Dr. Bandell, fürsorgliche Gefangene und eine Verwechselung

Kapitel 13: Der Lebenslange, der mit einem Panzer aus dem Gefängnis herausfuhr, der Holzpanzer, viel Blut und unschuldige Gefangene

Kapitel 14: Drogen und das Verbot, Mohnschnitten zu essen

Kapitel 15: Vollzugslockerungen und das Restrisiko

Kapitel 16: Die ehrenamtlichen Vollzugshelfer und anderes Engagement

Kapitel 17: Besuche von der alten Mutter und den Kindern

Kapitel 18: Am falschen Ort zur falschen Zeit oder wenn flüchtige Gefangene einem in die Arme laufen, Tätowierungen und andere Erkennungsmerkmale

Kapitel 19: Aus der Geschichte der JVA Diez; Gestank und Randale wegen der Klöße

Kapitel 20: Vom Sterben in der Justizvollzugsanstalt und von der Verantwortung

Kapitel 21: Gefangene mit Migrationshintergrund

Kapitel 22: Die inhaftierten Frauen

Kapitel 23: Die Opfer und der Film über Schuld und Sühne

Kapitel 24: Der Doc und die Suche nach den Serienmördern

Kapitel 25: Arbeitende Gefangenen und die Abschaffung der Zwangsarbeit

Kapitel 26: Wenn Gefangene durch Abwasserrohre kriechen oder bequem durchs Pfortentor in die Freiheit gehen

Kapitel 27: Aggressionsdelikte

Kapitel 28: Die chiantiroten Jogginganzüge, die Haftraumfenster und die Sicherheit der Anstalt

Kapitel 29: Wenn Gefangene das Gewehr des Beamten tragen und andere Hilfestellungen

Kapitel 30: Weihnachten und die Amnestie

Kapitel 31: Die JVA Koblenz; Zwischenetappe bei den Schängelcher auf der Karthause, Karneval im Knast und ein singender Gefängnisdirektor

Kapitel 32: Die Gefängnispfarrer und die Sportzeitungen

Kapitel 33: Psychiatrie und das Ende des Schmalspurmodus

Kapitel 34: Die Rentenlücke

Kapitel 35: Die Gelder der Gefangenen

Kapitel 36: Der Fall G. und das Verschieben des Scheiterns auf später

Kapitel 37: Die Rückfallquote

Kapitel 38: Das Foto von dem unterschenkelamputierten Gefangenen mit der Fußfessel, Ausführungen zum Arzt und wie ein mutiger Beamter eine Geiselnahme verhinderte

Kapitel 39: Die NS-Zeit in der JVA Diez, Begegnungen mit Opfern und Tätern

Kapitel 40: Soziales Training, Spaziergänge und die Kommunikation mit Gefangenen

Kapitel 41: Die Diezer Ziergitter, die Hinrichtung des achtfachen Mörders Fritz Angerstein und wie eine rheinland-pfälzische Justizvollzugsbeamtin die Vollstreckung der Todesstrafe an einer Kindermörderin verhinderte

Kapitel 42: Vom Strafen, der Resozialisierung und Fernsehgeräten

Kapitel 43: Das Freigängerhaus der JVA Rohrbach in Wonsheim

Kapitel 44: Die Psychologen

Kapitel 45: Sexualstraftäter und Grenzen der Resozialisierung

Kapitel 46: Fesselungen und zerbrochene Menschen in der Einzelhaft

Kapitel 47: Schlussgedanken

Anmerkungen

Einleitung

Als ehemaliger Sozialpädagoge mit Erfahrungen in der Heimerziehung landete ich nach den beiden juristischen Staatexamen auf Dauer hinter Gefängnismauern. Insgesamt 31 Jahre war ich im rheinland-pfälzischen Justizvollzug tätig. Begonnen habe ich 1989 in der JVA Frankenthal. Weitere Stationen als stellvertretender Leiter waren das Koblenzer und Diezer Gefängnis. Anschließend war ich insgesamt 21 Jahre als Anstaltsleiter in der JVA Koblenz (1999 - 2001), JVA Diez (2001 -2011) und der in rheinhessischen Gemeinde Wöllstein liegenden JVA Rohrbach (2011 - 2020) tätig.

Dem Leser möchte ich einen Blick in die fremde Welt der Gefängnisse ermöglichen. In 47 Kapiteln habe ich über eine Vielzahl von Themen geschrieben. Berichte über meine Erfahrungen als Anstaltsleiter oder einfach nur Erlebnisse, die mich beschäftigt haben, sollen unterhaltsam und teilweise eher beiläufig über den Justizvollzug informieren.

Einige Kapitel enthalten ironische Passagen. Auch wenn sich Ironie in Deutschland angeblich nicht allgemeiner Beliebtheit erfreut und nicht immer auch als solche erkannt wird, hoffe ich dennoch, dass dies positiven Anklang findet. Die allermeisten Passagen sind jedoch durchaus ernst gemeint, bisweilen sogar sehr ernst.

Der Schwerpunkt der Texte und Beispiele bezieht sich auf den geschlossenen Vollzug mit dem Strafvollzug insbesondere an männlichen Erwachsenen.

Den inhaftierten Frauen, die nur einen Anteil von zwischen ca. 6 und 7 Prozent der Strafgefangenen in Deutschland ausmachen, habe ich zwar nur ein Kapitel gewidmet. Die Texte behandeln allerdings viele Themen, die gleichermaßen Männer und Frauen im Vollzug betreffen.

Den Untersuchungshaftvollzug habe ich nur am Rande thematisiert, da ich mich auf den Strafvollzug konzentrieren wollte.

Ich habe von Erlebnissen berichtet, die sich auf alle vier Justizvollzugsanstalten beziehen, in denen ich tätig war. Relativ häufig geht es in den Texten um Gefangene, die langjährige oder lebenslange Freiheitsstrafen verbüßen mussten. Dies hängt damit zusammen, dass ich zu diesen Inhaftierten angesichts deren langer Aufenthaltszeit hinter Gittern am häufigsten Kontakt hatte und sie mir daher auch am meisten in Erinnerung geblieben sind. Zudem verbrachte ich mehr als die Hälfte meiner Dienstzeit in der JVA Diez, wo überwiegend Gefangene mit langjährigen Freiheitsstrafen untergebracht sind. Dort war ich während meiner Ausbildung als Rechtsreferendar, später als stellvertretender Anstaltsleiter und schließlich als Leiter der Einrichtung tätig.

Die meisten Inhaftierten befinden sich dagegen nur eine überschaubare Zeit in den deutschen Gefängnissen wie auch überwiegend in den weiteren drei rheinland-pfälzischen Einrichtungen, in denen ich gearbeitet habe und von denen ich berichte. Die vermeintlich „dicken Fische“, die im Mittelpunkt des Interesses der Öffentlichkeit, der Medien und deshalb auch der Politik stehen, machen die deutlich kleinere Gruppe der Inhaftierten aus. So verbüßen 32,1 % der insgesamt 36.830 männlichen Strafgefangenen nur eine Freiheitsstrafe bis zu 9 Monaten (11.812) und 29,5 % von mehr als 9 Monaten bis 2 Jahre (10.867). Daher haben 61,6 % der Inhaftierten weniger schwere Straftaten begangen.1 Mehr als 2 Jahre bis 5 Jahre Freiheitsstrafe haben 24,8 % (9.124), mehr als 5 Jahre bis 15 Jahre 9,1 % (3.356) und 4,5 % der Strafgefangenen lebenslange Freiheitsstrafen (1.671).

Hinzu kommen noch als kleinste Gruppe die 602 Sicherungsverwahrten in speziellen Einrichtungen, deren Unterbringungsgebäude sich wie auch in Diez zumeist auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalten befinden.

Dieses Buch widme ich den vielen Tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich tagtäglich auf diesem oft steinigen Acker der Justiz abmühen. Ihre engagierte Tätigkeit leistet einen wesentlichen Beitrag zur Resozialisierung der Strafgefangenen und damit zugleich für den Schutz potentieller Opfer. Dies wird leider in der Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommen, obwohl die Ausgangslage für die Bediensteten in den Justizvollzugsanstalten besonders anspruchsvoll ist. In die Justizvollzugsanstalten kommt nur ein kleiner Teil der Straffälligen. Lediglich 6 bis 7 Prozent der Straftaten werden mit einer unbedingten Freiheitsstrafe geahndet, weil die Kriminalprognose ungünstig ist oder es sich um eine schwerere Straftat handelt, bei der aufgrund der zwei Jahre überschreitenden Strafhöhe eine Bewährungsstrafe ausscheidet.

Dennoch wird nur etwa ein Drittel der erwachsenen Strafgefangenen nach der Entlassung so erheblich rückfällig, dass sie erneut eine Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt verbüßen müssen.2 Allein dies ist ein Erfolg.

Den Strafvollzug sollte man weder über- noch unterschätzen. Er ist nicht der Reparaturbetrieb der Gesellschaft, der alle früheren Versäumnisse ausgleichen kann. Die Persönlichkeit, die Stärken und Schwächen eines Menschen sind Ergebnis seiner Sozialisation, Erziehung und Lebensbedingungen.

Nach wie vor sind Menschen aus unteren sozialen Schichten in den Gefängnissen zwar deutlich überrepräsentiert. Doch ist ihr Weg in die Kriminalität keineswegs zwingend. Der in seinen Entscheidungen freie Mensch gehört zu unserem Menschenbild und entspricht dem unseres Grundgesetzes. Auch die Entscheidung, Regeln zu brechen oder einzuhalten, unterliegt uneingeschränkt der Verantwortung eines Menschen, sofern er nicht vom Gericht als schuldunfähig oder eingeschränkt schuldunfähig betrachtet wird. Letztlich ist auch der Strafvollzug nicht in der Lage, einen Menschen gegen seinen Willen zu ändern. Er bietet Chancen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diese Chancen sollte man gleichwohl anbieten. Ein Strafvollzug, der die Gefangenen überwiegend verwahrt, hat den gesetzlichen Auftrag der Wiedereingliederung verfehlt. Resozialisierung bedeutet Opferschutz.

Das Persönlichkeitsrecht der Gefangenen lässt es im Regelfall nicht zu, in den Texten Namen zu nennen, Fälle in allen Einzelheiten darzustellen oder Personen betreffende Informationen dergestalt zu schildern, dass sie identifiziert werden können. Der Konkretisierungsgrad wurde deshalb auf das Notwendige beschränkt und teilweise wurden auch Inhalte verfremdet.

Kapitel 1: Der letzte Diezer Ausbruch und die Sicherheit der Anstalt

Zur Einstimmung soll mit einem Ereignis begonnen werden, das in den Justizvollzugsanstalten selten geworden ist: ein Ausbruch aus dem geschlossenen Vollzug. Der einzige, den ich erlebt habe, und der letzte aus der JVA Diez. Verbesserte Sicherheitstechnik, Gitter aus Manganstahl vor den Zellenfenstern und mit dreifachem Sicherheitsdraht gekrönte Gefängnismauern sollen verhindern, dass Gefangene mit einer altertümlichen Feile mühevoll Gitterstäbe durchsägen, sich mit zusammengeknüpften Bettlaken auf den Gefängnishof herunterlassen und womöglich noch frech winkend über die Mauern klettern. In Spielfilmen über die vergitterte unbekannte Welt ist dies ein Spannungsmoment, das gerne genutzt wird, um den Zuschauer gut zu unterhalten.

1993 an einem schönen Frühsommertag gegen 16.20 Uhr. Die Alarmsirene der JVA Diez schrillte über das Anstaltsgelände. Ein Gefangener fehlte. „Ein bisschen Schwund ist immer“, bemerkte einer der zur zentralen Sammelstelle der Anstalt geeilten Beamten. Da ich als Mitglied der Anstaltsleitung schon vor Ort war, sagte niemand etwas zu dieser Bemerkung. Doch besaß sie einen wahren Kern. Einen Tag später sagte ein sehr erfahrener Bediensteter, der die Sicherheit der Anstalt durchaus im Auge hatte: „Vielleicht ist es für das Personal ja ganz gut, wenn einem Gefangenen einmal die Flucht gelingt. So gibt es keine Geiselnahme. Das wäre viel schlimmer.“ Er dachte offenbar an Vorfälle in anderen Justizvollzugsanstalten, bei denen Bedienstete zum Teil schwer verletzt worden waren.3

Nahezu zeitgleich mit der Auslösung des Alarmes meldete sich ein Kollege in der Anstalt, der bereits in den verdienten Feierabend gestartet war. Von seinem Wohnhaus aus hatte er die Flucht beobachtet, jedenfalls den letzten Teil. Die für die zahlreichen Beamten errichteten Dienstwohnungshäuschen wurden 1912, zeitgleich mit dem Preußischen Zentralgefängnis Freiendiez, der heutigen Justizvollzugsanstalt Diez, errichtet. Die Gebäude sind mit dekorativem Schiefer verkleidet. Jedem Grundstück ist ein kleines Gartengelände zugeordnet. Fast eine Idylle, wäre da nicht der ständige Blick auf die Gefängnismauern. Vielleicht ist es auch so zu erklären, dass selten ein JVA-Beamter straffällig wird. Die Häuser stehen unter Denkmalschutz, anders als der nach einem Ausbruch gefährdete Anstaltsleiter, dessen Stuhl in solchen Fällen bedenklich ins Wackeln gerät. Der Mitarbeiter beobachtete, wie der Gefangene sich mit einem Seil geradezu klassisch von der Anstaltsmauer herunterließ und einen lang gezogenen Sprint startete. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um einen aus Ex-Jugoslawien stammenden Inhaftierten, Ende 20 und recht sportlich. Dem Gefangenen war es gelungen, nach Arbeitsende in den Werkhallen zu verbleiben. Wie immer erhielten die Gefangenen an der Außentür des Betriebes ihren zum Arbeitsbeginn eingesammelten Arbeitsausweis zurück. Sind sie ausgegeben, weiß der Betriebsbeamte, dass alle den Arbeitsbereich verlassen haben. Zumindest geht er dann davon aus. Der Ausbrecher hatte zwar seinen Arbeitsausweis erhalten, schlüpfte jedoch an dem offensichtlich abgelenkten Mitarbeiter vorbei zurück in die Halle. Der Gefangene hatte damals eine knappe Stunde bis zur nächsten Vollzähligkeitszählung zur Verfügung. Die Zeit nutzte der gut vorbereitete Ausbrecher. Er verschaffte sich Zugang zu einem Trennschneider und einer Zange. Außerdem hatte er bereits ein Seil mit Leinen von einer der vielen Wäschespinnen geflochten, die damals in den Arbeitshallen hergestellt wurden und viele private Hausgärten mehr oder weniger zierten. Am Ende des Seils hatte der handwerklich nicht ungeschickte Gefangene eine ankerartige Vorrichtung befestigt. So ausgestattet gelangte er über einen Lagerraum der Halle an die Außenwand des Gebäudes, das an das große Sportgelände der Anstalt grenzte. Mit dem Trennschneider sägte er das Gitter eines Fensters durch und sprang vom Fenster auf das Sportgelände, das zu diesem Zeitpunkt nicht überwacht war, da zur maßgeblichen Zeit hier kein Sport getrieben wurde. Dort, wo die Außenmauer der Werkhalle mit der Außenmauer des Anstaltsgeländes einen spitzen Winkel bildete, warf er den Wurfanker mit dem Kletterseil über die mehr als fünf Meter hohe Mauer, wo es sich in der Mauerkrone hinter dem Stacheldraht verhakte. Der Ausbrecher konnte den Mauerwinkel wie einen Kamin nutzen, indem er sich mit den Beinen an den beiden Mauerseiten abstemmte und gleichzeitig am Seil hochziehend an die Mauerkrone kletterte. Dort schnitt er mit der Zange den Stacheldraht durch, kletterte auf die Mauerkrone und ließ sich mit dem Seil an der anderen Mauerseite herunter.

Der Beamte, der den Ausbrecher bemerkt hatte, fasste den Vorsatz, dem Fluchtversuch ein Ende zu setzen. So eilte der Mitarbeiter, der noch seine Pantoffeln trug, Anfang 40 und mit einem leicht überdurchschnittlichen Body-Mass-Index ausgestattet war, dem Gefangenen nach. Ein bisschen hatte es etwas von einer Pflichtübung, da dem Mitarbeiter durchaus bewusst war, dass er bei dem Lauf nur den zweiten Platz belegen würde. Er beendete seine sportliche Aktivität und informierte die Anstalt, nicht ohne rechtfertigend sein ungeeignetes Schuhwerk zu erwähnen, das er für seine Niederlage im Rennen verantwortlich machte.

Der Strafvollzug wird in den Augen der Bevölkerung und damit auch der Politiker, die ja auf die Stimmen der Bevölkerung angewiesen sind, mit Wohlwollen betrachtet, sofern dort nichts Schlimmes geschieht. Als eher unschön wird ein Ausbruch bewertet. Dort, wo dies geschehen ist, scheint die Welt hinter Gittern nicht mehr in Ordnung. Der Strafvollzug hat dann kläglich versagt. So die Meinung der Öffentlichkeit. Ein Ausbruch wird als Justizskandal begriffen. Hat doch ein nicht geringer Teil der Bevölkerung wenig Verständnis dafür, dass tatsächlich ein Gefangener die hohen, mit Stacheldraht versehenen Anstaltsmauern überwinden kann. Wenn die Welt vor den Mauern schon nicht in Ordnung ist, muss sie doch wenigstens dahinter funktionieren, ist die Erwartung. Manche gehen in einem irrealen Optimismus von einer geradezu klösterlichen Ordnung aus, in der die evangelischen Räte Armut, Keuschheit und vor allem Gehorsam vermeintlich strikt befolgt werden.

Dagegen wissen weniger weniger blauäugige Bürger durchaus, dass dort keine heile Welt gibt. Dass man dennoch überzogene und irreale Erwartungen an die Gefängnisse äußert, entspricht wohl dem menschlichen Bedürfnis, einen scheinbar greifbaren Ansatzpunkt für Kritik an den Schwächen und Mängeln des Staates zu besitzen.

Die jeweilige Opposition im Landtag bewaffnet sich nach einem solchen Vorfall und verlangt regelmäßig nach Konsequenzen. Getreu dem Motto, dass der Fisch vom Kopf aus stinkt, soll ein Verantwortlicher in die Wüste geschickt werden. Dies betrifft selten den Justizminister, sondern vielmehr den Anstaltsleiter, obwohl dieser zumeist noch unsportlicher ist als die meisten seiner Mitarbeiter und bei einer Nacheile zweifelsohne auch das Nachsehen gehabt hätte. Der Minister, der in Mainz seinen Platz hat, hätte zwar auch nicht die Möglichkeit gehabt, den Flüchtenden nachzurennen. Er trägt aber Mitschuld an dem Skandal, weil er einen Anstaltsleiter eingesetzt hat, der weder schnell rennen kann noch seine Anstalt so organisiert hat, dass ein Ausbruch ausgeschlossen ist.

Gelingt ein Ausbruch aus dem geschlossenen Bereich, werden oftmals von der Ferne verallgemeinernde Schlüsse gezogen und man kommt zum Ergebnis, dass die Anstalt nicht sicher genug ist.

1993 hat eine Expertenkommission formuliert, was unter Sicherheit im Strafvollzug zu verstehen ist.4 Danach soll die Sicherheit gewährleisten, dass die Allgemeinheit, die Bediensteten und die Gefangenen keinen Schaden nehmen. Man unterscheidet zwischen der inneren und der äußeren Sicherheit.

Die äußere Sicherheit umfasst die Verhinderung von Gefährdungen der Allgemeinheit, Fluchtversuchen von innen und Fluchthilfe von außen, das Einschleusen unerlaubter Gegenstände und Stoffe, wie unter anderem Betäubungsmittel, Waffen, Briefe, Werkzeuge, verbotene Kontaktaufnahme mit der Außenwelt und Abwehr terroristischer oder sonstiger Angriffe und Sabotageakte.5

Bei der inneren Sicherheit geht es insbesondere um den sicheren Verschluss der Gefangenen in den Hafträumen, die Überwachung der Gefangenen, die Verhinderung von kriminellen subkulturellen Strukturen, Erpressung und Unterdrückung von Gefangenen, die Vermeidung von Gefährdungen der Bediensteten und die Aufrechterhaltung geordneter organisatorischer Abläufe.6

Auf der Basis des von der Expertenkommission entwickelten Sicherheitsverständnisses gibt es vier Bausteine, die das Fundament dieser äußeren und inneren Sicherheit bilden.7

Hierzu gehören die instrumentelle Sicherheit, die bauliche und technische Vorkehrungen wie Mauern, Wachtürme, Zäune, Videoanlagen umfasst. Das Personal, das die Sicherheitsmaßnahmen umzusetzen und zu kontrollieren hat, ist wesentlicher Aspekt bei diesem Teilbereich der Sicherheit. Ein zweiter Baustein ist die kooperative Sicherheit. Hiermit ist die Qualität der Zusammenarbeit aller am Justizvollzug im weitesten Sinne beteiligten Behörden und Personen gemeint.

Die administrative Sicherheit ist die dritte Säule. Sie ist in erster Linie von den Führungskräften der Anstalt neben dem Justizministerium als Aufsichtsbehörde zu gewährleisten. Dies geschieht, indem gute sicherheitsrelevante Vollzugsabläufe gestaltet werden. So sind zum Beispiel schriftliche Regelungen für den Umgang mit besonderen Vorkommnissen wie Bränden, Geiselnahmen und Ausbrüchen erforderlich. Hierfür werden Alarm- und Sicherungspläne als Vorgabe oder Richtlinie erstellt. Dort wird zum Beispiel auch geregelt, wie häufig und wann Vollzähligkeitskontrollen der Gefangenen zu erfolgen haben.

Der Diezer Ausbrecher konnte es sich zunutze machen, dass erst geraume Zeit nach dem Arbeitsende der Inhaftierten die nächste Zählung erfolgte. So besaß er ein ausreichendes Zeitfenster für die Flucht. Seit diesem Ausbruch wurde eine Vollzähligkeitskontrolle unmittelbar nach Ende der Arbeitszeit der Gefangenen eingeführt.

Prägend für die administrative Sicherheit ist der effiziente Personaleinsatz, der sich mit der Frage beschäftigt, wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für bestimmte Aufgaben eingesetzt werden. Nahezu alle Bediensteten nehmen unabhängig von ihrer konkreten Zuständigkeit zumindest auch Sicherheitsaufgaben wahr. Ist zum Beispiel ein Bereich wie die Anstaltsküche unterbesetzt, besteht die Gefahr, dass die Beamten, die für eine gute Verpflegung der Gefangenen verantwortlich sind, ihre Aufsichtsaufgaben vernachlässigen. Ist die Nachtdienstbesetzung zu knapp bemessen, kann die Sicherheit bei unvorhersehbaren Vorkommnissen wie einer plötzlich notwendig gewordenen Krankenhausunterbringung erheblich gefährdet sein. Pro Schicht müssen nämlich zwei Mitarbeiter für die Überwachung des Gefangenen abgestellt werden. Sofern sich ein weiteres besonderes Vorkommnis in diesem Zeitraum ereignet, stößt eine Anstalt personell an ihre Grenzen. Der Ausbruch aus der JVA Diez wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindert worden, hätte man hinter dem Beamten, der die Arbeitsausweise einsammelte, einen zweiten zur Absicherung eingesetzt.

Alle Aufgaben müssen konkret genug bestimmt sein. Es muss eindeutig sein, wer die Leitungsaufgaben in den einzelnen Arbeitsbereichen wahrnimmt. Die Verantwortlichkeiten müssen klar benannt sein.

Daneben wird die administrative Sicherheit auch von der sachlichen Zuständigkeit einer Anstalt bestimmt, für die das Justizministerium verantwortlich ist. Konzentriert man Strafgefangene mit langen Haftzeiten in einer Anstalt, unterscheiden sich die Sicherheitsanforderungen von denen, die für eine Einrichtung mit kürzeren Freiheitsstrafen gelten. Für die Sicherheitslage einer JVA ist in besonderem Umfang die Binnendifferenzierung innerhalb einer Anstalt maßgeblich. Sie bestimmt das Ausmaß an Freizügigkeit in der Anstalt bzw. innerhalb einer Abteilung. Die Entscheidung, ob die Hafträume in den Wohnbereichen zeitweise offen sind, gehört hierzu. Diese Binnendifferenzierung ist häufig zu wenig ausgeprägt. Deshalb ist ein erheblicher Teil der Inhaftierten in unnötigem Umfang Beschränkungen ausgesetzt, die ausschließlich bei problematischeren Gefangenen notwendig sind.

Als Letztes ist die soziale Sicherheit zu nennen. Sie besitzt eine herausragende Bedeutung und umfasst die Qualität der sozialen Beziehungen zwischen Gefangenen und Bediensteten. Kommunikationsbereitschaft und gegenseitiger Respekt prägen die Atmosphäre einer Einrichtung wesentlich und wirken sich auch unmittelbar auf die Sicherheit aus. Schlagwortartig wird hierzu oftmals von „Sicherheit durch Nähe“ gesprochen.

Teilweise wird die soziale Sicherheit, der vierte Tragpfeiler der Sicherheit, als eine eher diffus erscheinende Vorgabe betrachtet und mehr dem Vollzugsziel der Resozialisierung zugeordnet, als sei die Wiedereingliederung der Strafgefangenen eine von der Sicherheitsaufgabe trennbare Größe. Eine solche Einschätzung würde die Zusammenhänge zwischen dem Vollzugsziel der Resozialisierung und der Sicherheitsaufgabe verkennen. Ein Strafvollzug, der die Sicherheit in überzogenem Umfang über alles stellt, wäre ausschließlich ein restriktiver Verwahr- und Wegsperrvollzug. Wolfgang Suhrbier, ein im Justizvollzug tätiger Sicherheitsexperte, hat sich treffend hierzu geäußert:8

„Nur eine sinnvolle und sich ergänzende Verknüpfung aller Instrumentarien führt zur Sicherheit in den Anstalten. Im Mittelpunkt aller Überlegungen hat dabei allerdings der Mensch, sowohl das Personal als auch die Inhaftierten, zu stehen. Der personelle Einsatz im Inneren der Anstalt im Zusammenwirken mit Vollzugsmaßnahmen für den Inhaftierten ist allein der Garant für einen sicheren und humanen Strafvollzug. Wenn im Strafvollzug zu beengend und überwachend für die inhaftierten Menschen vorgegangen wird, steigt der emotionale Druck der Häftlinge derart, dass sich die Gefahr von Geiselnahmen erhöht. Beispiele dafür gibt es in den vergangenen Jahren im Bundesgebiet reichlich.“9

Zum Abschluss dieses Kapitels soll es um einen Ausbruchsversuch in der JVA Koblenz um die Jahrtausendwende gehen. Ein Inhaftierter war offenbar nicht mit der Unterbringung in der JVA Koblenz zufrieden und nahm einige Probebohrungen im Bereich der Außenwand seines Haftraumes vor. Allerdings ohne nennenswerten Erfolg. Um sich zu motivieren, hatte der gescheiterte Ausbrecher vor Arbeitsbeginn an die Haftraumwand geschrieben: „Der Geist besiegt die Materie!“ Ich muss einräumen, ein wenig hat mich dieser Versuch der Selbstmotivation schon beeindruckt. Dies hat mich an eine Phase während meines Jurastudiums erinnert. Damals überlegte ich, das Studium, das ich erst im Alter von 24 Jahren begonnen hatte, abzubrechen, um in meinen alten Job als Sozialpädagoge zurückzukehren. Mir kam der Weg bis zum 1. und später 2. Staatsexamen plötzlich unendlich lang vor. Beim morgendlichen Lesen der Tageszeitung stieß ich auf eine kurze Meldung. Sie bestand aus der Überschrift „Jeder 2. bricht ab“ und zwei kurzen Sätzen, mit denen berichtet wurde, dass die Hälfte der Jurastudenten abbricht. Ich schnitt diese kleine Meldung aus und versah sie mit dem an mich selbst gerichteten Appell: „Ich nicht!!!“ Das Zettelchen legte ich gut sichtbar in mein Portmonee, wo es mir gelegentlich in die Augen fiel. Manchmal war ich allerdings kurz davor, mir das Zettelchen in den Mund zu stecken und aufzuessen. Ballaststoffreiche Nahrung soll schließlich gesund sein.

Kapitel 2: Die JVA Diez, Begegnungen mit Dr. Dieter Bandell und Lebenslangen in der Referendarzeit

1989, während des letzten halben Jahres meiner Referendarzeit, die mich auf das zweite juristische Staatsexamen und mein späteres Berufsleben vorbereiten sollte, durfte ich in der Justizvollzugsanstalt Diez erste Praxiserfahrungen im Justizvollzug sammeln. Damals verbüßten dort von insgesamt etwa 500 Gefangenen die meisten langjährige, davon 120 lebenslange Freiheitsstrafen. Hinzu kam eine in den neunziger Jahren noch recht überschaubare Anzahl von etwa 13 Sicherungsverwahrten. Noch ahnte ich nicht, dass ich in dieser Justizvollzugsanstalt insgesamt mehr als 15 Jahre in der Anstaltsleitung ausharren würde, nämlich zunächst 7 Jahre und 9 Monate als Dezernent und stellvertretender Anstaltsleiter und später ebenso lang als deren Leiter. Bei dem Diezer Gefängnis handelt es sich um einen 1912 erstellten Gefängnisbau, der dem damals üblichen preußischen Modell entsprach. Man spricht von dem panoptischen System. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass man von einem zentralen Punkt aus – eben der Zentrale mit der kleinen Bürokanzel – in alle Hafthausflügel Einsicht nehmen kann. Wenn ein Anstaltsleiter an dieser Stelle steht, glaubt er den Überblick zu haben. Jedenfalls sofern er naiv genug ist.

Das Hafthaus des geschlossenen Vollzuges besteht aus den drei aus der Erbauungszeit stammenden Gebäudetrakten neben dem 1974 erbauten vierten großen Hafthausflügel. Die älteren drei Flügel besitzen jeweils vier Stockwerke, die nicht mit Zwischendecken voneinander getrennt sind. Vielmehr schließen sich parallel zu den sich auf beiden Seiten der Hafthausabschnitte befindlichen Haftraumreihen Galeriegänge an, die durch Treppenaufgänge miteinander verbunden sind. Solche martialisch anmutenden Gefängnisbauten werden gerne als Kulisse in Krimis benutzt. Die neueren Bauten besitzen kleinere bauliche und voneinander abgetrennte Einheiten. Darüber hinaus gibt es in der JVA Diez noch das nur wenige Meter von der Außenmauer des geschlossenen Vollzuges entfernt stehende Gebäude des offenen Vollzuges, das Freigängerhaus.

Ich hatte als Referendar die Möglichkeit, mit allen Berufsgruppen ein Gespräch zu führen, und durfte ihnen zeitweise im Dienst über die Schulter schauen. Die meisten begegneten mir recht offen, da sie mich nur als vorübergehenden Gast des Gefängnisses betrachteten und wohl kaum mit meiner Rückkehr als Vorgesetzter rechneten.

Ich hatte eine Justizvollzugsanstalt als letzte Ausbildungsstation der Rechtsreferendarzeit ausgewählt, da ich mir eine Tätigkeit in diesem Bereich der Justiz gut vorstellen konnte. Bereits als Sozialpädagoge hatte ich in der Heimerziehung geraume Zeit mit Menschen zu tun gehabt, denen man auf den Abstellgleisen unserer Gesellschaft einen Platz zugewiesen hatte. Daher erschien mir dieses Arbeitsfeld passgenau. Einen der Jungen, für die ich im Landesjugendheim Ingelheim verantwortlich war, traf ich in der JVA Diez wieder. Wir hatten in der ein wenig abseits vom Zentrum des rheinhessischen Ingelheim gelegenen Einrichtung neben vielen Gesprächen stundenlang Tischtennis im Freizeitraum des Heimes gespielt, erinnerte ich mich. Es stimmte mich ein wenig traurig, als ich ihm wieder begegnete.

Während der Referendarzeit hatte ich jedoch einige Erlebnisse, die meine Motivation, nach dem 2. Staatsexamen im Justizvollzug zu arbeiten, ins Wanken gebracht hatten.

In den ersten Wochen in Diez nahm ich an mehreren Dienstschichten des allgemeinen Vollzugsdienstes teil. Dies sind die uniformierten Bediensteten, die insbesondere in den Gefangenenvollzugsabteilungen und den Arbeitsbetrieben tätig sind. Sie stellen mehr als 80 % des Personalkörpers und besitzen den unmittelbarsten und häufigsten Kontakt zu den Gefangenen. Diese Mitarbeitergruppe hat maßgeblichen Einfluss auf ein gutes und menschliches Klima. Sie sind den größten psychischen Belastungen im Berufsalltag ausgesetzt. Die Mitarbeiter müssen sich Tag für Tag auf teilweise sehr schwierige Menschen und manchen Konflikt einstellen. Ein Anstaltsleiter sollte sich dies stets bewusst machen. Er tut gut daran, die engagierte Arbeit dieser Mitarbeitergruppe wertzuschätzen und dies immer wieder zum Ausdruck zu bringen.

Ich begleitete einen in der Zentrale des Hafthauses tätigen Mitarbeiter des allgemeinen Vollzugsdienstes. Der Zentralbeamte ist insbesondere für die Organisation des täglichen Ablaufes zuständig und trifft eigenständig viele Entscheidungen, je nach deren Bedeutung auch in Zusammenarbeit und in Absprache mit den Vorgesetzten. Außerhalb der üblichen Dienstzeiten der Verwaltung ist er als Schichtleiter für die gesamte JVA verantwortlich. Bei gravierenden Vorkommnissen informiert er fernmündlich einen Vorgesetzten oder hält Rücksprache bei Fragestellungen, wenn er Unterstützung benötigt.

Bei dem Bediensteten, dem ich einen Tag über die Schulter schauen durfte, handelte es sich um einen Mitarbeiter, der ein ruhiges, bescheidenes Auftreten und aufgrund seiner väterlichen Art einen guten Draht zu den Inhaftierten besaß. Nachdem er seinen Blick in einen der drei Hafthausflügel, die er von seinem Platz aus sehen konnte, hatte schweifen lassen und offenbar einen der inhaftierten Männer erkannt hatte, äußerte er: „Der war auch schon mal hier; kommen alle wieder.“ Geprägt von meiner sozialpädagogischen Vorbildung und dem hierbei vermittelten beruflichen Optimismus war ich etwas irritiert und verkniff mir einen Kommentar. Wenn man viele Jahre in einer Justizvollzugsanstalt tätig ist, nimmt man zwangsläufig nur die Rückkehrer wahr, sagte ich mir. Ebendiese sieht man; diejenigen, denen es nach einer guten Vorbereitung im Gefängnis in Freiheit gelingt, ihr Leben zu ordnen, dagegen weniger. Man läuft als Mitarbeiter Gefahr, überwiegend die Misserfolge zu sehen, erklärte ich mir die Wahrnehmung des Zentralbeamten.

Einen ungewöhnlichen Kontakt hatte ich zu einem sehr erfahrenen Sozialarbeiter. Er neigte zu einer direkten und offenen Sprache. Wie viele Bedienstete hatte er das Bedürfnis, einem Außenstehenden, der ich als auszubildender Referendar ja noch war, seine beruflichen Sorgen und Nöte mitzuteilen. Der Sozialarbeiter schockierte mich zunächst mit einer recht derben Äußerung. Nachdem ich ihn gefragt hatte, ob er den Eindruck habe, dass seine Arbeit erfolgreich sei, antwortete er sinngemäß: „Ich gehe zweimal täglich auf die Toilette, um dort ein großes Geschäft zu erledigen!“ Mit seinen drastischen Worten wollte er zum Ausdruck bringen, dass man nicht überzogen hohe Erwartungen an berufliche Erfolge im Strafvollzug haben dürfe. Er relativierte seine Botschaft jedoch und teilte mir mit, er erhalte immer wieder Anrufe von ehemaligen Gefangenen, die stolz darüber berichten, dass sie „draußen“ gut zurechtkämen. Dies motiviere ihn immer wieder. Offenbar wollte er einen blutigen Anfänger wie mich nur ein wenig erschrecken.

In einer Einrichtung wie der JVA Diez, wo langjährige Freiheitsstrafen vollzogen werden und manche Gefangene sogar ihr Leben hinter den Mauern beschließen, nahm ich mehr perspektivlose Inhaftierte wahr als später in anderen Justizvollzugsanstalten mit überschaubaren Haftzeiten.

Ein Anstaltspsychologe gab mir Gelegenheit, in einer Gesprächsgruppe zu hospitieren, an der einige dieser Menschen teilnahmen. Sie bestand neben dem Therapeuten aus zehn Gefangenen und traf sich wöchentlich in einem in die Jahre gekommenen wenig wohnlichen Gruppenraum, der mit ungepolsterten Holzstühlen ausgestattet war. Die Gefangenen befassten sich mit Hilfe des sehr erfahrenen Psychologen mit dem Thema soziale Beziehungen. Bei dem Therapeuten handelte es sich um einen stets gut gelaunten und sehr engagierten Mann, der mich mit seiner optimistischen Lebenseinstellung beeindruckte.

Die Teilnehmer der Gesprächsgruppe hatten Gelegenheit zur Selbsterfahrung und Weiterentwicklung, da sie außer von dem Therapeuten auch von den Mitgefangenen kritische und konstruktive Rückmeldungen erhielten.

Ein älterer Gefangener fing plötzlich an leise zu weinen; einer von den eher schweigsamen Gruppenmitgliedern, die im Stuhlkreis wenig von sich gaben. Der Mann, der so emotional reagierte, ging auf die siebzig zu, wirkte aber deutlich älter. Gelbe Fingerspitzen wiesen ihn als starken Raucher aus.

Der Psychologe setzte das Gruppengespräch zunächst nicht fort und wartete, bis der Gefangene sich wieder gefasst hatte. Er murmelte lediglich etwas, was sich anhörte wie: „Ich komme nicht weiter!“ Ich wunderte mich darüber, dass der Therapeut nicht näher auf die Reaktion des Gefangenen eingegangen war. Nach Beendigung der Therapiestunde erklärte mir der Psychologe die Gründe hierfür. Der ältere Mann verbüßte schon seit nahezu zwanzig Jahren eine lebenslange Freiheitsstrafe, weil er einen Sexualmord begangen hatte. Die Teilnahme an der Gruppe war eher eine Notlösung, da der Gefangene in einer Einzeltherapie gescheitert war. Ohne eine erfolgreiche Psychotherapie war zum damaligen Zeitpunkt bei dem Gefangenen eine Verlegung in den offenen Vollzug nicht verantwortbar. Er wurde erst in einem Alter entlassen, in dem er bereits so gebrechlich war, dass ein Rückfall nicht mehr zu befürchten war.

In der Therapiegruppe befand sich auch ein Gefangener, der mehrfach ein Medienereignis war. Seine kriminelle Karriere und die letzte von der Flucht vor der Polizei geprägte Phase vor der 1962 erfolgten Festnahme wurde im Rahmen der Reihe „Stahlnetz“ verfilmt. Anfang der 60er-Jahre hatte er – damals war er erst Anfang zwanzig – bei einem Bankraub als Anführer mehrerer Mittäter einen Angestellten erschossen. Bereits zuvor hatte er mehrere Banküberfälle, allerdings als Einzeltäter, begangen.

Die Tat, bei der er den Mord begangen hatte, hatte er als Anführer mehrerer Mittäter verübt. Da sich dies spektakulärer anhört, machte die Presse ihn deshalb schnell zu einem Bandenchef. Bei den Vernehmungen äußerte er: „Wenn einer erschossen wird, ist er selbst daran schuld, woll!“ Der Gefangene hängte sehr oft ein „woll“ an das Satzende. Er unternahm während der ersten Haftjahre einige Ausbruchsversuche, die nicht erfolgreich waren. Irgendwann gab er auf. Die Ausbruchsversuche, aber auch sich selbst.

Der Inhaftierte äußerte selten Bedürfnisse und stellte Anträge nur, wenn es unbedingt notwendig war. Sein Haftraum war ausgesprochen karg und leer. Nahezu steril. Der Gefangene achtete sehr auf Sauberkeit und Ordnung. Er besaß noch nicht einmal ein Fernsehgerät. Das Innenleben des Gefangenen lag weitestgehend im Dunkeln. Der wortkarge Mann arbeitete viele Jahre in der Anstaltskammer. Unter anderem wird dort die Gefangenenkleidung aufbewahrt und Wäsche ausgegeben. Der väterliche Leiter der Kammer nahm ihn unter seine Fittiche und wurde die wichtigste Bezugsperson für ihn, ohne dass sich jedoch eine menschliche Nähe entwickelte. Dem Gefangenen genügte offenbar das Wissen, dass ihn jemand so, wie er ist, akzeptierte. Als wortkargen und etwas mürrischen Sonderling. Er hatte zu keinem Zeitpunkt Kontakte zu anderen Gefangenen oder nach draußen.

Als ich während der Referendarzeit einige Stunden in der Kammer hospitierte, fiel mir auf, dass der introvertierte Mann einen graublauen Anstaltspullover trug, der sich von denen der dort arbeitenden Mitgefangenen unterschied. Sein Pullover besaß einen roten aufgenähten Streifen an beiden Ärmeln im Bereich der Unterarme. Ein Mitarbeiter erklärte mir, es handele sich um ein sehr altes Anstaltskleidungsstück, das eigentlich nicht mehr ausgegeben werde. Als es noch die Unterscheidung zwischen Zuchthaus- und Gefängnisstrafen gegeben hatte, hatten die Zuchthausgefangenen den Pullover mit dem roten Streifen am Unterarm tragen müssen.10 Der Gefangene wollte seinen alten Pullover behalten. Vielleicht hat er ihn für seine Identität und Wertigkeit innerhalb der Gefangenengemeinschaft, obwohl er sie mied, benötigt. Gleichsam ein Zeichen dafür, dass er etwas Besonderes ist, oder auch ein Symbol der Abgrenzung gegenüber anderen Menschen. Lasst mir meine Ruhe, wollte er möglicherweise damit sagen.

In einer der Therapiestunden sprach der Psychologe lächelnd den Gefangenen an und fragte ihn, ob er auch etwas zum Besprechungsthema sagen möchte. Der Therapeut rechnete wohl schon damit, dass der Gefangene sich nicht äußern würde. Der Psychologe beabsichtigte offenbar ausschließlich, dass der Inhaftierte erführe, dass er noch wahrgenommen wurde und zu der Gruppe gehörte. Der Gefangene murmelte hierauf mit einem scheuen Lächeln etwas Unverständliches, machte eine abwehrende Handbewegung und brachte so zum Ausdruck, dass er lieber in der Zuhörerrolle bleiben wollte.

Als ich dem Gefangenen 1989 begegnete, hatte der 1962 Festgenommene bereits 27 Jahre seiner lebenslangen Freiheitsstrafe verbüßt und sollte, da er nicht mehr als gefährlich galt, auf die Entlassung vorbereitet werden. Der nächste Schritt war kurze Zeit später die Verlegung in den offenen Vollzug. Von dort aus flüchtete er während seiner Tätigkeit in der Anstaltsgärtnerei, wo die Gefangenen, die als Freigänger erprobt werden, nur stichprobenweise kontrolliert werden. Er gelangte in die Gegend südlich von Koblenz, die er sehr gut kannte. Ein Bahnpolizist, der in seiner Freizeit mit seinem Hund unterwegs war, fand den Gefangenen in einem Schuppen. Der Flüchtige nannte ihm bereitwillig seinen Namen. Der passiv und ausgehungert wirkende Mann ließ sich widerstandslos festnehmen und folgte ihm. In der Anstalt hatte man den Eindruck, dass er froh war, wieder in seine gewohnte Umgebung zurückgekehrt zu sein. Warum er flüchtete, vermochte er nicht zu erklären. Möglicherweise eine Kurzschlusshandlung, weil er nach der langen Zeit hinter Mauern endlich in die Freiheit wollte.

Am 27. September 1993 wurde er nach 31 Haftjahren bedingt entlassen und zog in eine Betreuungseinrichtung für ehemalige Strafgefangene. Bereits am ersten Tag suchte er das Weite. Man hörte niemals wieder etwas von ihm. Sein ehemaliger Vollzugsabteilungsleiter, der ihn aus den Jahren im geschlossenen Vollzug sehr gut kannte, vertrat die Meinung, es sei ein Fehler gewesen, ihn in dieser Einrichtung in einem Doppelzimmer unterzubringen.11 Dies habe der Einzelgänger, der im Gefängnis stets allein in einer Zelle untergebracht gewesen sei, nicht aushalten können. Vielleicht versuche er irgendwo in einem abgelegenen Gebiet, eventuell im Wald, in einem Unterschlupf zu leben. Irgendwann werde man wohl seine Leiche finden, befürchtete der Mitarbeiter.

Die Situation der beiden beschriebenen Gefangenen machte mich sehr nachdenklich. Ich fragte mich, ob ich in einem Arbeitsfeld tätig sein wollte, in dem ich so häufig ein Scheitern erleben würde. Doch wich diese Befürchtung bald, nachdem ich in den kommenden Monaten der Ausbildungszeit erfahren durfte, dass sich viele Gefangene der Therapiegruppe positiv entwickelten. Sie wurden später im Freigängerhaus erprobt und nach dem erfolgreichen Verlauf der Testphase vom Gericht – der Diezer Strafvollstreckungskammer – bedingt entlassen.

So nahm ich bereits als Referendar einerseits die Situation einiger perspektivloser Gefangenen wahr, andererseits aber auch, dass ein erheblicher Teil der Gefangenen im Strafvollzug nachgereift war oder jedenfalls gelernt hatte, mit seinen Defiziten umzugehen und sich zu kontrollieren. Menschen können sich verändern. Manchmal gibt es erstaunliche, positive Entwicklungen.

Mein Eindruck war, dass sich Resozialisierungsbemühungen lohnen. Dafür stand auch der damalige Anstaltsleiter Dr. Dieter Bandell, der für eine rekordverdächtig lange Zeit, nämlich von 1970 bis 2001, der JVA Diez vorstand und bereits in jungen Jahren seine Laufbahn als Richter zugunsten des Justizvollzugs aufgegeben hatte. Während seines gesamten Berufslebens und sogar nach seinem Ruhestand wohnte er in einer Dienstwohnung in Reichweite der Anstalt und konnte während seiner Freizeit auf die wuchtigen Gebäude des Gefängnisses, dessen Mauern und Stacheldraht blicken. Dr. Bandell war ein eher kleinerer Mann mit schwarzen welligen Haaren. Sein Gesicht zierte viele Jahre ein kleiner sorgfältig geschnittener Oberlippenbart. Er sprach mit einer kraftvollen Stimme und verkörperte einen väterlichen selbstbewussten Vorgesetzten alter Schule. Zumeist im Anzug, einem hellen Hemd und Krawatte gewandet, thronte er in dem ausladenden Anstaltsleiterbüro auf einem Lederchefsessel, dessen Rückenlehne ihn ein wenig überragte. Die Krawatten zeichneten sich oft durch ein farbenfrohes, modernes Design aus. Hierfür stand seine Frau Sigrid, die eine künstlerische Vorbildung besaß und ihren Ehemann bei seiner Tätigkeit sehr unterstützte. Sie war jahrzehntelang in der Anstalt als ehrenamtliche Vollzugshelferin tätig und leitete mit einer weiteren Dame eine Gesprächsgruppe für Gefangene. Ich habe sie als kluge und sehr freundliche Frau in Erinnerung. Sie erklärte ihr Engagement für die Gefangenen einmal mit folgender Äußerung: „Die Gefangenen sind meine Nachbarn. Um seine Nachbarn muss man sich kümmern.“

Ich erlebte Dieter Bandell, der im Alter von nahezu 80 Jahren 2016 verstarb, als sehr gütigen Menschen mit einem großen Herzen für die Gefangenen. Dies galt auch für den Umgang mit seinen Mitarbeitern. Wenn es notwendig war, griff er zwar durch, konnte aber auch über Fehler und Versäumnisse hinwegsehen, da er stets den gesamten Menschen sah und nicht einen schlechten Tag zum Maßstab machte. Dieter Bandell war Mitbegründer der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter und jahrelang deren Vorsitzender. Auch in der Kommunalpolitik engagierte er sich. Ihm wurde das Bundesverdienstkreuz insbesondere für sein Engagement im Strafvollzug verliehen. Nachdem er sein Amt als Anstaltsleiter Anfang der 70er-Jahre angetreten hatte, krempelte er das Diezer Gefängnis mutig um. Innerhalb der Anstalt ermöglichte er den Inhaftierten mehr Freiheit und wirkte vor allem darauf hin, dass die Bediensteten den eher militärisch geprägten und distanzierten Umgangsstil der frühen Nachkriegszeit aufgaben und den Gefangenen als Ansprechpartner auf Augenhöhe und offener begegneten.

Dieter Bandell nahm sich während meiner Diezer Ausbildungsstation Zeit für Gespräche mit mir und hat mich auch motiviert, mich für eine Stelle im Strafvollzug zu bewerben. Viele Äußerungen dieser beeindruckenden Persönlichkeit sind mir in Erinnerung geblieben und werden in den folgenden Texten auch Erwähnung finden.

Dennoch zögerte ich noch, bevor ich meine Bewerbung abgab. Ich stellte mir die Frage, ob man sich als Mitarbeiter im Strafvollzug verändert? Wird man möglicherweise misstrauischer und pessimistischer? Davor hatte ich ein wenig Angst.

Ein älterer Kollege behauptete, wir würden den Gefangenen im Laufe der Zeit immer ähnlicher. Er meinte damit wohl, dass sich unsere Persönlichkeit im Laufe unseres Gefängnisberufslebens nachteilig verändern könne, da wir tagtäglich mit Tätern, deren Verbrechen und gescheiterten Leben zu tun hätten. „Wenn du zu lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“, sagte Nietzsche. Dagegen war ich überzeugt, dass eine solche Gefahr allenfalls droht, wenn man bei den Gefangenen ausschließlich die Abgründe wahrnimmt. Ich nahm mir vor, mich auf das Positive, das Erreichbare zu konzentrieren.

Alles in allem hatte ich während der Referendarzeit einen realistischen Eindruck von meinem späteren Arbeitsgebiet erhalten. Die Aufgaben des Justizvollzuges erschienen mir spannend, reizvoll und – so hoffte ich – erfüllend. Ein Lebenssinn gebender Beruf. Diese Erwartung hat sich in den mehr als drei Jahrzehnten hinter Mauern erfüllt.

Damit, dass der Strafvollzug in der öffentlichen Wahrnehmung nicht immer die gebotene Wertschätzung erfährt, muss man als Mitarbeiter leben. Ein ehemaliger Anstaltsleiter, den ich persönlich nicht mehr kennengelernt habe, soll des Öfteren gesagt haben: „Der Strafvollzug ist der Pickel am A… der Justiz.“ Sicherlich ist diese derbe Formulierung übertrieben, besitzt aber einen wahren Kern. Zu wenige Staatsanwälte und Richter interessieren sich für den Ort, an dem die von ihnen verurteilten Menschen verbleiben müssen, um eine Strafe zu verbüßen. Nur einmal habe ich es erlebt, dass Richter den Wunsch hatten, tiefer in die Niederungen der Justiz hinunterzusteigen. Mehrere Richter und eine Richterin des Oberlandesgerichts Koblenz verbrachten einen Tag in der Justizvollzugsanstalt und begleiteten einen Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes im Dienst. Die Vertreter der Gerichtsbarkeit waren für Strafvollzugs- und Strafvollstreckungsangelegenheiten in der zweiten Instanz beim Oberlandesgericht Koblenz zuständig, wozu unter anderem Entscheidungen über die bedingte Entlassung gehören. Die Richterin begegnete bei ihrem Besuch einem Sicherungsverwahrten, den sie selbst als Mitglied einer großen Strafkammer zu einer langjährigen Freiheitsstrafe und der Maßregel der Sicherungsverwahrung verurteilt hatte. Der Mann hatte sie im sogenannten E-Flügel angesprochen, dem erst 1974 erbauten vierten Hafthausabschnitt, wo die Gefangenen bereits auf das Freigängerhaus vorbereitet werden. Im E-Flügel, bei dem anders als in den drei älteren Gebäudeteilen die Stockwerke voneinander abgetrennt sind, leben Inhaftierte, von denen viele eine positive Entwicklung genommen haben. Die Haftraumtüren in den wohngruppenartigen Bereichen stehen dort, anders als in den drei älteren Gebäudetrakten des geschlossenen Vollzuges, tagsüber zumeist offen. Der Sicherungsverwahrte sprach die Richterin freundlich an, die ihn auch unmittelbar erkannte. Er teilte ihr mit, dass er lange Zeit mit der Verurteilung gehadert, aber im Laufe der Zeit eingesehen habe, dass es ohne die harte Reaktion nie zu einer Veränderung bei ihm gekommen wäre. Der Gefangene wurde einige Monate später in den offenen Vollzug verlegt und konnte nach einer intensiven Zeit der Vorbereitung auf die Freiheit bedingt entlassen werden.

Kapitel 3: Menschliche Nähe, Beziehungen hinter Mauern und unüberwachte Partnerbesuche

„Ich begrüße die Gefangenen immer mit Handschlag“, sagte mir ein Anstaltsseelsorger. Die Gefangenen erleben dies als Zeichen des Respekts. Wenn ich einem Menschen die Hand gebe, berühre ich ihn. Körperlich und, gerade wenn dies die einzige Form der Berührung ist, auch emotional.

Wenn ich ein Gespräch mit Gefangenen zum Beispiel in der Sprechstunde führte, habe ich ihnen auch sehr häufig die Hand zur Begrüßung gegeben. Allerdings habe ich dies von der Situation abhängig gemacht. Man spürt, wann es passt und wann nicht.

Es gibt Gefangenengruppen, bei denen es als ehrenrührig gilt, Bedienstete per Handschlag zu begrüßen, vor allem wenn Mitgefangene dies beobachten können. Bei den Russlanddeutschen, einer Gruppe, in der ein ausgeprägter subkultureller Anpassungsdruck besteht, habe ich dies erlebt. In der JVA Rohrbach findet in den Sommermonaten parallel zur Europa- oder Weltmeisterschaft ein bei den Gefangenen sehr beliebtes Fußballkleinfeldturnier statt. Zwei Mitarbeiter des allgemeinen Vollzugsdienstes, die Sportbeamten, wie sie gemeinhin genannt werden, organisieren mit viel Herzblut dieses Gefängnis-Highlight. Jede Station der Vollzugsabteilungen, die jeweils mit ca. 22 Gefangenen besetzt ist, stellt ein Team und repräsentiert eine der Nationen, die an der jeweiligen EM oder WM teilnehmen. Das kleine Außenfußballfeld ist von einem Ballfangzaun umgeben, an dem die Flaggen der Teilnehmerländer angebracht sind. Ein buntes schönes Bild. Nach dem Endspiel findet eine kleine Feier in der Sporthalle statt. Meine Aufgabe war es, den Teams die Pokale und Medaillen zu überreichen. Den Gefangenen habe ich per Handschlag gratuliert. Ich war zugegebenermaßen irritiert, als einer der Sportler mir den Handschlag verweigerte. Er befolgte die ungeschriebenen Regeln der inhaftierten Russlanddeutschen, zu denen er gehörte. Distanz gegenüber den Beamten ist eines der Gebote. Unter vier Augen sprach ich ihn am Ende der Abschlussfeier auf sein unhöfliches Verhalten an. Er antwortete kurz, er dürfe das nicht. Realität hinter Mauern, die ich so stehen lassen musste.

Körperlicher Kontakt zu Bezugspersonen wie vor allem Familienangehörigen ist in den großen Besucherräumen der rheinland-pfälzischen Justizvollzugseinrichtungen zumeist nur bei der Begrüßung und Verabschiedung erlaubt. Gefangene und Besucher sitzen sich in den großen Räumen getrennt voneinander gegenüber. In der Mitte der Tische befindet sich eine 30 Zentimeter hohe durchsichtige Scheibe.

Die despektierlich von manchen Medien als Liebeszellen bezeichneten Partnerbesuchsräume, in denen ein unüberwachter Besuch stattfindet, gibt es in Rheinland-Pfalz in der JVA Diez, wo langjährige Freiheitsstrafen vollzogen werden. Außenstehende verbinden diese Besuchsräume ausschließlich mit Sexualität. Hier geht bei manchem Bürger, Politiker und auch Medienvertreter die Fantasie durch. Die ablehnende Skepsis der Kritiker beruht offenbar auf deren Grundeinstellung zu den Aufgaben des Strafvollzuges, dem man nur sehr eingeschränkt zutraut, Menschen zu resozialisieren. Vielmehr wird der Strafzweck der Vergeltung und des Schuldausgleichs in den Mittelpunkt gestellt. Die vermeintlichen „Liebeszellen“ seien damit nicht vereinbar, sondern sichtbarer Ausdruck eines allzu laschen Kuschelvollzuges.

Es ist lebensfremd anzunehmen, dieser Besuch diene überwiegend dem sexuellen Kontakt. Die Gefangenen, die diese Besuchsform nutzen, wollen oftmals nur eine Zeit lang mit ihrer Partnerin allein zusammen sein, ohne dass ihnen jemand zuschaut oder zuhört. Welchen Anteil die Sexualität hat, die zu einer Partnerbeziehung gehört, mag offenbleiben. Nicht wenige Partnerinnen weigern sich zudem, die inhaftierten Männer im Ehepartnerbesuchsraum zu besuchen, da sie sich vorkommen wie Prostituierte, die einem Freier zugeführt werden.

Diese Besuchsform soll dazu beitragen, dass bereits vor der Inhaftierung bestehende tragfähige Beziehungen aufrechterhalten werden können. Bei diesen Kontakten können leicht Drogen eingebracht werden, die zuvor in den Körperöffnungen versteckt wurden. Zu den unüberwachten Besuchen werden daher ausschließlich Gefangene zugelassen, bei denen keine Sicherheitsbedenken wie beispielsweise eine Drogenabhängigkeit bestehen. Weitere Voraussetzungen sind, dass der Häftling eine stabile Persönlichkeit besitzt und keine Kontakte zur Gefangenensubkultur pflegt. Auch ist bei einem Gefangenen, der sich am unteren Ende der Knasthierarchie befindet, vorsichtig zu verfahren, da er eher unter Druck dazu veranlasst werden kann, Drogen für andere einzuschmuggeln, selbst wenn er selbst kein Konsument ist.

Nicht nur wie bislang bei den Inhaftierten mit langen Freiheitsstrafen, sondern auch bei Gefangenen mit kürzeren oder mittleren Freiheitsstrafen, sollten unüberwachte Partnerbesuche ermöglicht werden, sofern die Beziehung bereits vor der Inhaftierung bestand. Es sollten vermehrt Freiräume geschaffen werden, innerhalb derer eine Beziehung, zu der auch der sexuelle Kontakt gehört, gelebt werden kann. Eine normal gelebte Beziehung begünstigt die Resozialisierung der Gefangenen. Da die Mehrzahl der Gefangenen eine Freiheitsstrafe bis maximal ein Jahr verbüßt, überdauern vor der Haft bestehende Partnerbeziehungen noch die Monate der Abwesenheit. Diese Beziehungen verdienen es, Unterstützung zu erfahren.

Dagegen ist sehr zurückhaltend bei Partnerbeziehungen zu verfahren, die erst während der Haft entstehen. Insbesondere männliche Gefangene mit langen Freiheitsstrafen begründen Brieffreundschaften zu zumeist in Freiheit lebenden Frauen. Deren Motive sind vielschichtig und nicht selten kritisch zu sehen. Zum Teil liegt bei den Frauen ein Helfersyndrom vor, zum Teil sind es einsame Menschen, die einen Partner suchen. Der Gefangene ist dagegen ein Mann, der nicht weglaufen kann. Einzelne klammern sich an die Inhaftierten, die sie oft in der Anfangszeit des Kontaktes mit sensiblen Liebesbriefen zu beeindrucken verstehen, aber dabei von sich ein Bild vermitteln, das nicht der Realität entspricht. Manchmal hilft auch ein talentierter Mitgefangener beim Verfassen der Schreiben. Es schließen sich Besuchskontakte an und im Einzelfall wird sogar eine Ehe geschlossen. Eine Ehe, die naturgemäß weit entfernt vom Lebensalltag ist und sich von Hoffnungen und Wünschen nährt. Nicht selten werden manche der mitunter naiv erscheinenden Partnerinnen ausgenutzt und für den eigenen Vorteil missbraucht.

Ein Mitarbeiter des Ministeriums hatte noch eine weitere Erklärung für das Interesse an Beziehungen zu Gefangenen parat. Sinngemäß äußerte er mit leicht frustriertem Gesichtsausdruck Folgendes: „Die Knackis haben doch ein spannendes Leben im Vergleich zu unserem langweiligen Beamtendasein. Kein Wunder, dass dies manche Damen interessant finden. Um wie viel langweiliger ist mein Lebensrhythmus. Ich bin täglich etwa zehn Stunden außer Haus, esse zumeist dreimal täglich, abends bin ich an Arbeitstagen zumeist müde, schaue noch ein wenig Fernsehen, schlafe meistens beim Programm ein und gehe dann schlafen.“ Ich hätte antworten können: „Im Gefängnis kann ich nicht über Langeweile klagen.“ Eine solche Rückmeldung habe ich mir allerdings verkniffen, um keine Neidgefühle aufkommen zu lassen.

Manchmal scheinen in Justizvollzugsanstalten wie der JVA Rohrbach, wo Männer und Frauen untergebracht sind, Gefangene zueinandergefunden zu haben. Doch handelt es sich eher um eine von irrealen Hoffnungen genährte flüchtige Beziehung zwischen zwei Gestrauchelten, die hoffen, einander Halt zu geben. Dies ist kaum eine Basis für eine tragfähige Partnerschaft. Die Erwartungen an den anderen sind in der unwirklichen Umgebung einer vergitterten, abgeschiedenen Welt übermäßig hoch und an Äußerlichkeiten wie Aussehen oder einem witzigen Spruch bei einer zufälligen kurzen Begegnung auf dem Gefängnisflur geknüpft.

Für manche Insassen der JVA Diez waren die Vermögensverhältnisse der Damen, für die sie sich interessierten, nicht unwichtig, wie ich bereits während meiner Referendarzeit erfahren hatte. Ich erinnere mich noch an einen Gefangenen, der wegen unzähliger Vermögensdelikte zum wiederholten Mal hinter schwedische Gardinen kam. Mit einem gewissen Stolz berichtete er mir, er gelange nach der bald anstehenden Entlassung in sehr geordnete Verhältnisse. Er zeigte mir ein Foto seiner Brieffreundin, die ihn kürzlich besucht habe. Die Dame sei eine gut verdienende „höhere“ Beamtin, habe sich in ihn verliebt und wolle ihn heiraten. Auf dem Foto war eine gepflegt wirkende Endfünfzigerin mit einer etwas langweiligen Frisur und einem bemühtem Lächeln zu sehen.

In der Dienst- und Vollzugsordnung vom 1.12.1961 (Fassung vom 1.5.1971), der Vorläuferin des erst ab dem 1.1.1977 geltenden Strafvollzugsgesetzes, gab es mit Nr. 149 eine Vorschrift, die verhindern sollte, dass Gefangene bereits in einem frühen Haftstadium auf dem Heiratsmarkt aktiv werden:12

„Heiratsinserate

Unverheiratete erwachsene Gefangene dürfen innerhalb des letzten Jahres vor der voraussichtlichen Entlassung Heiratsinserate aufgeben und beantworten. Der Anstaltsleiter kann dies auch schon früher gestatten.“

Im Strafvollzug wird den Inhaftierten außerhalb der unüberwachten Besuche die partnerschaftliche Sexualität entzogen. Auch dies ist mit einer Freiheitsstrafe verbunden.

Während meiner Zeit als Rechtsreferendar in der JVA Diez 1989 bezeichnete ein Lebenslanger seine Sexualität derb als Einhandbetrieb. Sexualität in Form der Selbstbefriedigung, bei der es das Gegenüber ausschließlich in der Vorstellung gibt. Dies entspricht durchaus der Realität der Gefangenen in den Einrichtungen des geschlossenen Vollzuges.13

Einzelne, eigentlich heterosexuell orientierte Inhaftierte haben homosexuelle Kontakte als Ersatzbefriedigung während der Haftzeit. Homosexuelle männliche Gefangene verstecken ihre sexuelle Orientierung zumeist, um nicht von Mitgefangenen abgelehnt zu werden. Insbesondere von Gefangenen mit Migrationshintergrund werden sie verachtet. Gleichgeschlechtliche echte Freundschaften gibt es selten. Sexuelle Kontakte mit gleichgeschlechtlichen orientierten Mitgefangenen sind ausschließlich möglich, wenn die Inhaftierten Situationen nutzen können, in denen sie unbeobachtet sind. Inwieweit hierfür die Gelegenheit besteht, hängt von den baulichen und organisatorischen Bedingungen der einzelnen Anstalten ab. In Einrichtungen, wo sich die Gefangenen ausschließlich in Freizeiträumen treffen können, sind sexuelle Begegnungen weniger wahrscheinlich, sofern nicht irgendwelche Überwachungslücken ausgenutzt werden. Können sich die Gefangenen auch in den Hafträumen treffen, sieht dies anders aus.

Homosexuelle Frauen gehen im Vergleich zu männlichen Gefangenen zumeist offener mit ihrer Sexualität um. In der JVA Rohrbach gab es nicht selten Konflikte zwischen den Frauen, manchmal auch mehr oder weniger große Eifersuchtsdramen.

In der JVA Diez begegnete ich einem Gefangenen, der für Reinigungsarbeiten eingesetzt wurde. Ein unauffälliger Mann, den man leicht übersehen hat. Der Gefangene verbüßte eine längere Freiheitsstrafstrafe. In den 50er-Jahren hatte er eine erste Freiheitsstrafe von drei Monaten wegen einer sexuellen Beziehung zu einem erwachsenen Mann erhalten. § 175 StGB, der endgültig erst 1994 gestrichen wurde, ermöglichte bis 1969 noch Verurteilungen wegen sexueller Beziehungen zwischen erwachsenen Männern. Erst 2017 wurden die Verurteilten rehabilitiert und die Urteile aufgehoben. Möglicherweise hat das Urteil eines Nachkriegsrichters, der bereits wie die meisten Strafrechtler in der NS-Zeit eine traurige Stütze des Terrorregimes war, in dem homosexuelle Menschen wie Abschaum behandelt und viele in Konzentrationslagern ermordet wurden, den Gefangenen aus der Bahn geworfen. Der im Gefängnis alt gewordene Mann wurde schließlich aus der JVA Diez entlassen, doch hörte ich bereits wenige Monate danach wieder etwas von ihm. Er hatte eine Bank überfallen, indem er zu Fuß zu dem Geldinstitut ging und mit einer Spielzeugpistole bewaffnet die Herausgabe eines größeren Geldbetrages einforderte. Wenige Minuten nach der laienhaft durchgeführten Straftat wurde er festgenommen. Ich bin mir sicher, dass es ihm nicht um den Geldbetrag ging, sondern dass er in erster Linie wieder in den Strafvollzug zurückwollte, der seine Heimat geworden war.

Es ist eine traurige Realität, dass sexuelle Bedürfnisse im Strafvollzug auch unter Anwendung von Gewalt oder Erpressung befriedigt werden. Diese Delikte sind schwer aufklärbar. Nur selten gibt es Hinweise. Hier muss man von einer Dunkelziffer ausgehen. Mir sind wenige Fälle bekannt, wo Gefangene, die zu sexuellen Handlungen gezwungen worden waren, überführt und verurteilt werden konnten. Nachgewiesen werden konnte zum Beispiel ein Fall, in dem ein Inhaftierter unter Einsatz eines Besenstiels vergewaltigt wurde. Hier ging es überwiegend um die Bestrafung und Demütigung des Opfers.

Manche Bürger, die den Strafvollzug als nicht abschreckend genug betrachten, vertreten offenbar die Auffassung, dass zu einer Strafe auch der Entzug jeglicher Sexualität gehöre. So zeigte sich ein Kommunalpolitiker irritiert darüber, dass Gefangene einen Sender schauen durften, der sich tagsüber überwiegend mit Sport beschäftigte und in den späten Stunden – nicht pornographische – Sexfilmchen zeigte. Bevor dieses nächtliche Unterhaltungsprogramm den Gefangenen zur Verfügung stand, machte ein Mitarbeiter der JVA Koblenz die Erfahrung, wie findig Gefangenen sein können, wenn es darum ging, menschlichen Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Während des Nachtdienstes, einer Zeit, in der die Anstalt nur sehr knapp mit Personal besetzt ist, machte der Bedienstete einen Rundgang durch die JVA Koblenz und bemerkte etwa gegen 23.00 Uhr, dass die Geräuschkulisse im Hafthaus etwas anders war als sonst. Es war ungewöhnlich ruhig. Der aufmerksame Mitarbeiter, der tagsüber in der Sicherheitsabteilung tätig war, hatte angesichts der ungewöhnlichen Stille, die nahezu an klösterliche Verhältnisse erinnerte, eine plötzliche Eingebung. Er legte sein Ohr an eine Haftraumtür und vernahm Stöhngeräusche, die vom Lautsprecher des Fernsehgerätes abgesondert wurden. Daraufhin öffnete er, so leise es nur ging, die kleine sogenannte Kostklappe, die sich in den Haftraumtüren befindet. Er kippte sie vorsichtig ein Stück zu sich und hatte unmittelbar die Erklärung für die besondere Atmosphäre in dieser Nacht. Dafür hatte der Gefangene gesorgt, der für das Einspeisen von Videofilmen in die Fernsehanlage der Anstalt zuständig war. Der Inhaftierte hatte die Aufgabe, den Gefangenen neben den Fernsehprogrammen, die den Gefangenen über die kleinen Mietfernsehgeräte zugänglich waren, den ein oder anderen Film oder auch dokumentarischen Beitrag zukommen zu lassen. Für die Aufnahmen nutzte er damals gebrauchte Videokassetten, die der Anstalt zumeist als Spenden zugewendet worden waren. Es sollen auch Kassetten dabei gewesen ein, die von Polizeibehörden beschlagnahmt worden waren und nicht mehr als Beweismittel gebraucht wurden. Üblicherweise handelte es sich um gelöschte Videokassetten, es gab aber offensichtlich aus Versehen Ausnahmen. Unser Filmvorführer entdeckte einen noch nicht gelöschten Pornofilm, der glücklicherweise keine strafrechtliche Relevanz besaß. Er informierte einige Mitgefangenen im Hafthaus, die die Nachricht in Windeseile verbreiteten, so dass die meisten Häftlinge mit großem Interesse und Konzentration den seichten Streifen mit den mehr oder weniger stöhnenden Hauptdarstellern anschauten.

Kapitel 4: Die Anstaltsleitersprechstunde, Beschwerdeschreiber, krumme Füße und eine untergeschobene Feile

Ein Strafgefangener, der eine lebenslange Freiheitsstrafe vor sich hatte, verfasste unzählige Beschwerdeschreiben und Rechtsbehelfe an das Justizministerium, den Bürgerbeauftragten und das Gericht. Er beschwerte sich zum Beispiel häufig über das Anstaltsessen. Eine Formulierung ist mir noch gut in Erinnerung. Es gab an einem Tag das recht beliebte Gericht Schinkennudeln. Der Gefangene behauptete, es habe sich um „übel verbratenen Speck“ gehandelt. Außerdem gab er an, er sei nicht in der Lage, einer Arbeit in der Anstalt nachzugehen, da man ihm orthopädisches Schuhwerk verweigere, das er unbedingt benötige.

Der Häftling wurde von den Bediensteten als notorischer Beschwerdeschreiber betrachtet, mit dem man nicht reden könne. Einer, der seine Wut auf sich selbst und sein gescheitertes Leben auf seine Umwelt ablade. Ich wollte mir selbst einen Eindruck von dem Mann verschaffen und bat den Gefangenen zu einem persönlichen Gespräch. Die Fronten zwischen ihm und der Anstalt waren offenbar verhärtet. In der Hoffnung, den Gefangenen bei einem persönlichen Kontakt erreichen zu können, erkundigte ich mich zuvor bei dem Sanitätsdienstleiter, ob an der Behauptung, dass der Beschwerdeführer geeignete Arbeitsschuhe benötige, etwas dran sei. Der Mitarbeiter verneinte dies. Der Gefangene sei wegen dieses Themas bereits beim Anstaltsarzt gewesen. Ich hatte das Gefühl, bei dem Gespräch mit dem Gefangenen auf das Thema Arbeit und Arbeitsschuhe näher eingehen zu müssen. Erfahrungsgemäß reduziert sich die Frequenz der Eingaben erheblich, wenn der Autor ausgelastet ist. Eine regelmäßige tägliche Beschäftigung in den Anstaltsbetrieben tut das Ihre hierzu. Bei dem Gefangenen handelte es sich um einen sehr großen und stämmigen Mann im Alter von ungefähr 40 Jahren, der wegen eines Raubmordes verurteilt worden war. Er zeigte sich recht wortkarg und besaß stets eine ernste angespannte Miene. Sein Gesicht war von einem dichten Bart verhüllt.

Ich fragte den Häftling, der mich erwartungsvoll und zugleich skeptisch anschaute, ob er an einer Arbeit bzw. Beschäftigung interessiert sei. Meistens möchten die Gefangenen arbeiten, damit sie aus der Zelle herauskommen, Kontakt zu anderen Gefangenen und eine sinnvolle Tagesstruktur haben. Zudem können sie sich ein regelmäßiges, wenn auch überschaubares Einkommen erarbeiten. Ein eher kleinerer Teil – etwa ein Viertel – der Gefangenen möchte nicht arbeiten. Manche sind aus psychischen oder körperlichen Gründen auch nicht dazu in der Lage.

Meine Frage nach der Arbeitsmotivation bejahte der Gefangene, sodass sich zwangsläufig meine nächste Frage anschloss, was denn bislang die Hinderungsgründe gewesen seien. Der Häftling erklärte, er benötige orthopädische Schuhe. Daraufhin fragte ich ihn, welches medizinische Problem er denn habe. Der Gefangene antwortete, seine Zehen seien verkrümmt. Ich bat den vor mir sitzenden Gefangenen, er möge mir doch einmal seine Füße zeigen. Er schaute sehr überrascht auf, um sich dann etwas zögerlich seiner Schuhe und Strümpfe zu entledigen. Mein laienhafter Blick auf die Füße des Mannes erbrachte keine neuen Erkenntnisse. Der Gefangene nahm dies offenbar wahr und führte ergänzend aus, dass man die Fehlbildung nicht sehen könne, solange er sitze. Ich bat ihn sodann, er möge sich stellen. Stehend veränderte sich automatisch die Haltung einiger Fußzehen, die sich krallenartig nach oben krümmten. Man nennt diese Fehlstellung passend Krallenzehe. Diese Vorführung überzeugte mich. Ich sagte dem Gefangenen zu, er erhalte alsbald orthopädisches Schuhwerk. Der Mann wurde dem Anstaltswirtschaftsbetrieb zugeteilt, der unter anderem für die Reinigung und Pflege des Gefängnisgeländes sowie die Abfallentsorgung zuständig war. Er verfasste seit dem ersten Arbeitstag keinerlei Beschwerden und Eingaben mehr.

Ein Anstaltsleiter aus Nordrhein-Westfalen äußerte einmal zur Kommunikation mit Gefangenen: „Wer schreibt, der will auch reden.“ Bei dem Lebenslangen mit den schiefen Fußzehen traf es jedenfalls zu.

Die meisten Inhaftierten lernte ich im Lauf der Zeit bei verschiedenen Anlässen persönlich kennen. Einen ersten Kontakt mit allen Gefangenen hatte ich in Diez im sogenannten Zugangsgespräch, das ich mit jedem neu in die Anstalt gekommenen Gefangenen führte. Damit wollte ich mir einen groben ersten Eindruck über den Menschen verschaffen, der nun über viele Jahre hier verbleiben musste. Außerdem wollte ich dem Gefangenen signalisieren, dass ich für seine Anliegen auch persönlich ansprechbar war. Da wöchentlich drei bis maximal fünf Gefangene in der JVA Diez aufgenommen wurden, war es mir anders als in den Einrichtungen für kürzere Freiheitsstrafen zeitlich möglich, die Zugangsgespräche zu führen, die eine wichtige Informationsquelle für mich waren. So kannte ich viele Diezer Gefangene.