365 - Wenn die Masken fallen - Isabel Kritzer - E-Book

365 - Wenn die Masken fallen E-Book

Isabel Kritzer

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Beschreibung

**Herzklopfen an 365 Tagen**Charlotte will unbedingt etwas Außergewöhnliches erleben, vorzugsweise mit dem geheimnisvollen Traumtyp aus der Cafeteria ihrer Universität. Als sie in einem Zusatzkurs den letzten Platz ergattert - neben ihm -, stellt sie schnell fest, dass André auch zum Verlieben charmant ist. Und reich. Da kommt das überraschende Angebot ihres Vaters, sie endlich in sein Firmenimperium und die glamouröse Welt der High Society einzuführen, gerade recht. Sie ahnt dabei nicht, was für düstere Geheimnisse ihr Vater verbirgt - oder, dass André keineswegs ist, wer er zu sein vorgibt Rasch entwickelt sich ein Sog aus Luxus, Leidenschaft und Lügen, der Charlottes ganze Clique erfasst.

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365

Wenn die Masken fallen

Roman

Isabel Kritzer

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet - herzsprung-verlag.de

© 2021 – Herszprung-Verlag

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten.

2. Auflage 2021

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Erstauflage erschienen 2016 in Papierfresserchens MTM-Verlag

Lektorat: Melanie Wittmann

Herstellung: CAT creativ - www.cat-creativ.at

Illustration: © Isabel Kritzer

Umschlagdesign: © Bianca Wagner

ISBN: 978-3-98627-004-9 – Taschenbuch

ISBN: 978-3-98627-005-6 – E-Book

Kapitel 2: © Disco Pogo - Die Atzen, Frauenarzt, Manny Marc / © Happy - Pharell Williams; Kapitel 3: © Entscheidungstheorie Teil 4, Prof. Dr. Antje Mahayni, Mercator School of Management, Department of Accounting and Finances; Kapitel 5: © 99 Luftballons - Nena; Kapitel 9: © Lovers on the sun - David Guetta; Kapitel 10: © Black and Yellow - Wiz Khalifa; Kapitel 12: © Black Widow - Iggy Azalea / © All of Me - John Legend; Kapitel 17: © Auf uns - Andreas Bourani; Kapitel 18: © Die Kunst glücklich zu leben - Josef Kirschner

*

Inhalt

Prolog

Ich

I - Das Angebot

2 - Disco Pogo

3 - Charity Gala

4 - Spanischkurs

5 - Die Überraschung

6 - Von Diamanten

7 - Oktober

8 - St. Moritz

9 - Silvester

10 - Vollgas

11 - Schwarzes Loch

12 - Betrugsfall

13 - Weißes Gold

14 - Das Geheimnis

15 - Willkommen

16 - Über Lügen

17 - Familie

18 - Wahrheiten

19 - Die Hamptons

20 - Rückkehr

Epilog - 365

Danksagung

Die Autorin

Buchtipp

*

Ich widme dieses Buch all den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die meine Liebe zur Literatur geweckt haben und deretwegen ich mir die ein oder andere Nacht um die Ohren geschlagen habe. Und ich widme dieses Buch all den wunderbaren Menschen, die mich Tag für Tag zum Lachen bringen.

Isabel Kritzer

September 2016

*

Life is like a box of

chocolates. You never know what you're gonna get.

Forrest Gump

*

Prolog

Ich

Mit sechs Monaten London, mit zwölf Monaten Moskau, im Verlauf der nächsten zweiundzwanzig Jahre folgte nach und nach die Bereisung der sieben bewohnten Kontinente dieser Welt. Ja, ich habe wirklich alle Arten von Hotelzimmern gesehen.

Englisch: fließend.

Französisch: nun, diese eine Liedzeile, die wir alle kennen.

Spanisch: un poco.

Naturwissenschaften: Ehrlich gesagt, ich habe viele andere Talente.

Kreativität: Gut, das ist keines davon.

Sportlichkeit: Jawohl ... zumindest habe ich Spaß daran und den nötigen Willen.

Anpassungs- und Kontaktfähigkeit: gut.

Organisationstalent: ausgeprägt.

Ordnungssinn: sehr ausgeprägt.

Zukunftsziel: ein Bachelor der Betriebswirtschaft in naher Zukunft. Etwas weiter gefasst: beruflicher Erfolg, durchaus in Verbindung mit Ring am Finger, weiß gestrichenem Lattenzaun und kleinen Quälgeistern. Demnach der ganz normale Reihenhaus(alb)traum.

So oder so ähnlich könnte ein Steckbrief von mir, Charlotte Clark, lauten. Der Thematik, wer ich bin, sind wir jetzt ein Stück näher gekommen. Doch was macht mich wirklich aus? Wie bin ich zu gerade ebenjener Person geworden?

Eine seltsame Frage mit zweiundzwanzig?

Nein!

Heutzutage wird Selbstreflexion sehr gerne als Glanzstück bei einem Vorstellungsgespräch verlangt, ist sozusagen ein MUSS. Stärken- und Schwächenanalyse, welches Verkehrsschild oder Tier wäre man am liebsten? Das Übliche eben.

Aus eigenem Antrieb wird diese Frage entweder im Zenit eines erfüllten Lebens interessant, also nach dem Sammeln einiger Lebenserfahrung, die man bei der ersten Midlife-Crisis, die aber hoffentlich erst bei mehr als vierzig Kerzen auf dem Kuchen mit dem Zaunpfahl winkt, reflektieren und zerlegen kann, oder eben bei vielen Erlebnissen in früheren Jahren.

Überlegungen, die abwägen, vergleichen, in gewisser Weise auch abrechnen, sind, so denke ich, von bestimmten Lebensmomenten oder Abschnitten geprägt. Manche suchen das eigene Ich in der spirituellen Erforschung der Seele, andere kommen mit Wissenschaft und Religion, Forschung und Psychoanalytikern wie Freud.

Ich hingegen möchte mir einfach ein möglichst realitätsnahes Bild von mir selbst verschaffen, sozusagen eine Ausgangslage. Und in einem Jahr bin ich auf den Vergleich gespannt: Hat sich viel verändert oder bin ich noch immer die alte Charly?

Das klingt ein bisschen wie ein skurriles Wissenschaftsprojekt, trotzdem verspreche ich mir tatsächlich etwas davon. Aber was vermag ich mit meinen zweiundzwanzig Jahren schon konkret über mich zu sagen?

Zumindest kann ich kurz die Geschichte meines bisherigen Lebens durchgehen, die Ereignisse, die mich geprägt haben.

Auf einem der frühesten Bilder meiner Kindheit, das mir spontan einfällt, stehe ich fröhlich am weißen Sandstrand. In einem blauen Badeanzug mit neongelben Sonnen. Wie habe ich ihn geliebt.

Ich lutsche ein Eis mit Vanillefüllung und harter Schokolade außen, die sich durch die Hitze schnell tropfend auf meinen Armen verteilt, und ich bin anscheinend glücklich, irgendwo weit weg von zu Hause.

So ist es schon immer gewesen. Heute würde mir vermutlich ohne regelmäßige Ortswechsel irgendwann die Decke auf den Kopf fallen. Einfach, weil ich es so gewohnt bin, immer interessiert an Neuem.

Ich war schon früh wissbegierig, wie meine ehemalige Nanny Anett, unsere jetzige Haushälterin, nicht müde wird, mir zu erzählen. Ich wäre manchmal sehr anstrengend gewesen. Aber im Vergleich zu meiner Schwester Sarah ein richtiger Engel. Sie war der Schreihals von uns beiden.

„Wie ein Wecker ohne Austaste“, pflegt meine Mutter Susann bei diesem Thema seufzend hinzuzufügen.

Daran kann selbst ich mich noch erinnern, und das soll etwas heißen.

Heute bin ich eine bodenständige, erwachsene und eher durchschnittliche junge Frau. Aber wer wünscht sich nicht ein bisschen mehr Pep, eine Prise Erfolg? Nun gut, es liegt an mir, die Zukunft zu etwas Besonderem zu machen.

Eigentlich liegt es meistens an einem selbst, und das bringt mich zur nächsten Momentaufnahme in meinem Kopf. Diese zeigt mich auf einem Baum vor meiner Grundschule, ich bin ungefähr in der zweiten Klasse. Nach Unterrichtsende kletterten wir immer in den Ästen herum. Es war eine Art Wettstreit: Wer zuerst oben ankam, hatte die Achtung der anderen gewonnen.

Meist saß ich mit frei baumelnden Füßen als Letzte noch da und wartete, bis ich endlich abgeholt wurde. Ziemlich langweilig. Und so vertrieb ich mir die Zeit mit Balancieren, Hangeln und Tritte-Finden. Das Ganze hatte einen gewaltigen Vorteil, ich musste zwar warten, konnte aber am besten klettern.

Worauf ich hinauswill: Ich lernte schon früh, dass Nachteile durchaus Vorteile bedingen können oder umgekehrt, dass Kompromisse für beide Parteien erstrebenswert sind, denn Selbstständigkeit kann der Schlüssel zum Erfolg sein. Allerdings verständigten sich meine Mutter und meine Nanny bald darauf, dass Letztere mich von da an abholte. Manche Probleme erledigen sich auch von allein.

Damals wurde mir bewusst, wie viel man mit Engagement, Aufpassen und Zuschauen, mit bloßem Lernen erreichen kann. Vielleicht gehe ich deshalb das Studium nicht so locker an wie meine beste Freundin Vanessa.

Das Lernen an sich fiel mir schon immer leicht und bedingt durch mein akademisches Umfeld beschloss ich ganz aktiv, etwas daraus zu machen, dem beruflichen Vorbild meiner erfolgreichen Eltern nachzueifern. Die zeitlichen Konsequenzen der Prioritätensetzung meiner Mutter wie meines Vaters waren übrigens eine ganz andere Frage, bezüglich derer sowohl meine Schwester Sarah als auch ich amüsante und weniger amüsante Geschichten erzählen können. Die Erinnerung an die unweigerlich folgende Scheidung am Ende meiner Grundschulzeit ist, wie sollte es anders sein, weniger schön.

Mein erster Schultag an der weiterführenden Schule haftet mir daher noch heute im Gedächtnis. Mit der Hälfte der Familie gerade umgezogen, war ich DIE Neue unter all den Neuen. Und in einem Schulhaus, in dem es Wegweiser geben sollte, war erneut Selbstständigkeit gefragt.

Doch weiter auf der Reise zu meiner Persönlichkeit: Sport treiben bedeutete schon immer eine Art Ausgleich für mich. Tanzen ist gleichzusetzen mit der Freiheit, einfach loszulassen, und eine Form der Bewegung, die ich schon in allen Facetten kennengelernt habe. Am liebsten war mir aber immer das Laufen, während dessen man so wunderbar seine Gedanken ordnen, sie fortführen, beiseiteschieben oder weiterspinnen kann. Das bedeutendste Sporterlebnis fand allerdings in einem der seltenen richtigen Urlaube statt.

Mein Vater Roger fährt schon immer gerne Ski, und sobald die Saison begonnen hat, tut er dies auch häufig. Als er es für mein Alter angebracht hielt, lud er mich ein, ihn zu begleiten, um es ebenfalls auszuprobieren. Meine Schwester war damals noch zu klein. Es kam, wie es kommen musste: Ich verhedderte meine Ski ineinander, fiel mehrmals auf mein Hinterteil und war schließlich den Tränen nahe. Mitten auf der Piste. Für meinen Vater musste es wahrlich komisch ausgesehen haben. Aber ich gab nicht auf, um keinen Preis.

In der folgenden Saison buchte er einen Skikurs für mich. Es war ein unglaubliches Gefühl, meinen Vater zumindest auf mich aufmerksam gemacht zu haben. Und er schien wirklich an einen noch nicht ersichtlichen Triumph über die zwei Bretter unter meinen Füßen zu glauben.

Mein Fazit: Gib nie auf, denn auf schwierige Situationen folgen häufig einfachere. So lautet meine Devise bis heute und bisher bin ich damit ganz gut gefahren.

Beim Trainieren muss man die Zähne zusammenbeißen und durchhalten. Im Grunde genommen ist nichts schöner, als am Ende erschöpft über die wachsenden Muskeln oder die hoffentlich reduzierten Kilos zu jubilieren.

Nun zu meiner zweiten Leidenschaft: Wenn mich Anett einmal suchte, gab es eigentlich nur einen Ort, an dem ich vorzufinden war, mit einem Buch in meinem Zimmer. Alles andere wäre unwahrscheinlich gewesen.

Ich war noch nie wirklich musikalischen Gemüts. Dieses Gen hat Sarah geerbt. Ihr Talent für das Instrument ihrer Wahl, die Gitarre, ist beachtlich! Bei mir hingegen wuchs, als ich älter wurde, geradezu über Nacht eine ganze Bibliothek aus dem Boden, die ich auch heute immer wieder erweitere. Wie die Zeit es eben zulässt.

Das ist meine Geschichte – bis jetzt. Diese Erinnerungen sind die wichtigsten Eckpfeiler meines Charakters, alles, was es sonst noch zu sagen gäbe, würde das Bild abrunden.

Aber wie Anett es manchmal ausdrückt: „Auch die kleinen Dinge zählen.“

Also los ...

Ich möchte von mir behaupten, witzig zu sein, zumindest interpretiere ich das manchmal anhand der Reaktionen meines Gegenübers. Gleichwohl, so meine ich, bin ich es eher auf eine ironische Art und Weise.

Außerdem bescheinigen mir Zeugnisse und andere geduldige Papiere eine gewisse Intelligenz. Jedoch sollte man auf diese nicht zu sehr vertrauen. Im Endeffekt, so ist meine Erfahrung, bringt einen gesunder Menschenverstand äußerst weit und hilft oft mehr. Zudem tappt jeder, vernunftbegabt hin oder her, in das eine oder andere Fettnäpfchen.

Daher finde ich Werte wie Fairness und Taktgefühl wichtig. Vielleicht auch aufgrund einer etwas ausgeprägteren offenen Weltsicht durch die Reisen, auf die unsere Familie meinen vielbeschäftigten Vater zu allen möglichen Geschäftsterminen seiner Firma, der Clark Group, begleitete, soweit diese mit dem Terminkalender meiner korrekten Mutter vereinbar waren. Nach der Scheidung ließ zur Freude meiner Schwester das Pensum nur noch eines Workaholics sogar ein paar Vergnügungsreisen zu.

Nun zur stichhaltigen Ausgangslage: Ich habe von blond zu braun nachgedunkelte, mittellange Haare, eine stolze Körpergröße von normalem Mittelmaß und grüne, ziemlich auffällige Augen. Eine schlanke Figur und eher kleine Hände. Das bin ICH. Je nach Stimmung sind meine Nägel in der passenden Farbe lackiert oder auch nicht. Mein Kleidungsstil ist modern und richtet sich häufig nach der Zeit, die mir zwischen Aufstehen und einem ausführlichen Frühstück bleibt, bevor ich aus dem Haus gehe.

Ich bin nicht vergeben, aber momentan durchaus interessiert. Nämlich an einem gewissen auffällig gekleideten Er mit dunklem Kurzhaarschnitt, der zufällig seit einiger Zeit ähnliche Kaffeepausen einlegt wie meine beste Freundin und ich. Die Unicafeteria ist, was dergleichen betrifft, sehr übersichtlich.

Der Drang, etwas zu erreichen, wurde mir vermutlich bei der Geburt überantwortet und ich brenne darauf, Außergewöhnliches zu erleben. Woran sicher meine beste Freundin Vanessa nicht unschuldig ist, die mir ständig mit ihrem Credo „Wir müssen jetzt leben!“ im Nacken sitzt. Oder die Tatsache, dass ich die ruhigere, vernünftige Schwester bin und mich nicht wie Sarah auf Weltreise befinde.

Es durchzuckt mich freudige Erregung bei dem Gedanken an all die unbeschriebenen Tage, die vor mir liegen. Natürlich sind es genau genommen etliche Jahre! Ein jedes voller Möglichkeiten und hoffentlich voller Abwechslung und Aufregung. Aber wer wird denn gleich mit dem Blick in die Ferne schweifen, wenn es noch so viel in unmittelbarer Nähe zu entdecken gibt?

Objektiv gesehen: Wie viel kann in den nächsten dreihundertfünfundsechzig Tagen passieren? Ich werde es herausfinden!

*

*

I - Das Angebot

Schwungvoll fuhr der puderblaue Fiat 500 die breite Auffahrt hoch. Hin zu einem Herrenhaus, das seinesgleichen in den glorreichen, längst vergangenen Tagen der Südstaaten zu suchen schien. Was damals an Dekadenz erinnert hatte, wurde hier durch moderne Elemente wettgemacht. Schlichtes Weiß bildete einen Kontrast zu dunklen Holzschnitzereien, großen Fenstern und kleinen Giebeln. Die Luft war von spätsommerlicher Wärme erfüllt. Erst vor ein paar Tagen hatte der August Einzug gehalten.

Kies spritzte auf, als der Wagen am Fuß der Vortreppe zum Stehen kam. Aus dem Inneren des Autos drangen Musik und vergnügtes Pfeifen. Obgleich Charly wie immer ein seltsames Gefühl beschlich, wenn sie ihr altes Zuhause besuchte, wollte sie doch die seltenen Treffen mit ihrem Vater nicht missen.

Manchmal mischten sich Wehmut oder Bedauern in ihre Vorfreude. Heute jedoch war Freitag. Eine lange Woche voller nicht enden wollender Vorlesungen lag hinter ihr und eine hoffentlich feuchtfröhliche Nacht würde sie erwarten.

„Wir werden alt und langweilig“, hatte ihre beste Freundin Vanessa in der Unicafeteria zwischen zwei Schlucken ihres mittäglichen Bechers Automatenkaffee gebrummt.

„Ach was, wir sind nur beschäftigt“, war Charlys Versuch gewesen, den gleichförmigen Alltag der letzten Wochen und Monate zu erklären.

„Wir sind Studenten. Wenn wir jetzt schon spießig um elf ins Bett gehen, wie wird das dann erst, wenn wir arbeiten?“ Das Grauen vor diesem Szenario war Vanessa wahrlich anzusehen gewesen. Ihre hellen Augen hatten sich erregt geweitet. „Mal ehrlich, die Leute erwarten geradezu, dass man tanzt, bis einem die Sohlen glühen, und lebt, als gäbe es kein Morgen. Hat dich das nie gereizt? Die Vorstellung deines wilden Studentenlebens? Die viele Freizeit, die Freiheit, die Ungebundenheit?“

Charly hatte gelacht. „Mensch, du tust so, als würden wir nicht leben. Als wären wir schon morgen alt und grau.“ Belustigt hatte sie die Stirn gerunzelt. „Ich glaube, die Epoche der Romantik wäre Euch durchaus dienlicher gewesen, edle Mistress.“

„Haha“, hatte ihre Freundin gemurmelt und die schwarzen Locken geschüttelt.

„Dir war doch klar, dass sich das Studium nicht von alleine regeln würde. Zuerst die Quälerei bis zum Schulabschluss, warum sollten sie dir jetzt etwas schenken?“, war Charlys Frage gewesen.

„Du hast recht, Vanessa Steier befindet sich hiermit wieder in der Realität. Satellit erfolgreich geerdet.“ Nachdenklich hatte sie vor sich hin gestiert. „Wie lange waren wir schon nicht mehr aus, Charly? Ich meine so richtig.“

„Mhm, also ... ehrlich gesagt ...“ Charly war nachdenklich geworden.

„Genau, viel zu lange!“ Triumphierend hatte die Freundin mit den Armen eine weit ausholende Geste vollführt und binnen der nächsten fünf Minuten war die abendliche Verabredung ausgemacht.

Mit einem Grinsen im Gesicht und einem Seufzer auf den Lippen öffnete Charly die Tür ihres geliebten Kleinen, wie sie ihr Auto im Geiste getauft hatte. Ihre Gedanken hingen noch immer der Erinnerung nach.

Pläne über Pläne hatte Vanessa in den nächsten zwei Vorlesungsstunden geschmiedet. Betreffend vor allem Location, Uhrzeit, Kleidung, Frisur und Make-up. Charly hatte sich währenddessen bemüßigt gefühlt, den Ausführungen des werten Herrn Professor für Steuerrecht zu folgen. Kein leichtes Unterfangen, da diese ihren Ursprung gefühlt einmal mehr bei den Römern gehabt hatten. Sie wähnte sich allerdings recht sicher, war sie doch bereits in der Schule mit Bilanzen und Steuervorschriften in Berührung gekommen.

Lächelnd ging Charly um den Fiat herum und holte ihre braune Umhängetasche mit den dekorativen Fransen aus dem Fußraum des Beifahrersitzes. Ein ungewollt hartes Bremsmanöver an der vorletzten Ampel hatte diese von ihrem gewohnten Platz auf dem Sitz herunterrutschen lassen.

Mit langsamen Schritten ging sie die letzten paar Meter, bis sie die erste breite Stufe der Vortreppe erreichte. Genau acht Stufen waren es, als Kind hatte sie diese oft gezählt.

Oben angekommen ließ sie ihren Blick neugierig schweifen. Wie mit dem Lineal gezeichnet, erstreckten sich Rosenbeete und akkurat gemähte Rasenflächen entlang der Auffahrt. Nirgendwo war Personal zu sehen. Allerdings standen die Garagen am rechten Rand des Anwesens offen.

Bereits auf halbem Weg, den ihre Hand gerade zum silbernen, löwenkopfförmigen Türklopfer nahm, öffnete sich das breite, hölzerne Eingangsportal ein Stück.

„Charlotte? Wir haben Sie schon erwartet“, vernahm sie eine wohlbekannte Stimme.

Die Tür schwang nun ganz auf und Charly sah die lieb gewonnenen geröteten Backen, gütigen Augen und den immer weiter zurückweichenden Haaransatz des kräftigen Wirtschafters ihres Vaters. Tom war für alles zuständig und schien, so war es ihr immer vorgekommen, über sämtliche Vorkommnisse im Haus unterrichtet zu sein. Das Wort Butler konnte er nicht ausstehen, weshalb er gern betonte, er habe Pflichten, aber gleichwohl eine eigene Meinung. Woran dank seiner direkten Natur auch niemand zweifelte.

„Hallo Tom. Freut mich sehr, dich zu sehen. Das letzte Mal ist nun schon ... wie lange her? Einen Monat?“

„Drei Wochen auf den Tag“, entgegnete der Angestellte beflissen. „Ihr Vater lässt Sie ins Speisezimmer bitten. Er ist heute etwas ungeduldig“, fügte er hinzu.

Charly rollte innerlich mit den Augen, während sie Tom ins Hausinnere folgte. Gab es je einen Tag im Leben ihres Vaters, an dem nicht jede Minute von einer seiner fleißigen Sekretärinnen verplant war? Dennoch freute sie sich auf das bevorstehende Wiedersehen.

„Was steht denn auf dem Speiseplan?“, fragte Charly neugierig.

„Ihr Vater ist derzeit auf Diät. Der Arzt meint, bei so wenig Zeit für Sport sollte zumindest die Ernährung ausgewogen sein.“

Sie hatten die elegante, aber schlicht gehaltene weiße Eingangshalle durchquert und steuerten nun auf den Gang zum linken Flügel des Hauses zu.

„Das heißt, statt Bertas Schweinshaxe gibt es jetzt Obst, Gemüse und Salat“, fasste Charly trocken zusammen. „Oder gar Tofu?“ Der Gedanke bereitete ihr Unbehagen. So richtig konnte sie sich das bei ihrem fleischliebenden Vater nicht vorstellen.

„Ausgewogen bedeutet nicht einseitig.“ Sie meinte, bei diesen Worten ein Zucken um Toms Mundwinkel wahrgenommen zu haben.

Zwischenzeitlich waren sie an ihrem Ziel angekommen und ihr Begleiter klopfte. Ohne abzuwarten, öffnete er mit einem eleganten Schwung die Tür, während seine andere Hand Charly ins Zimmer schob.

„Das Essen wird in Kürze serviert.“ Und weg war er.

Charlys Vater sah von der Zeitschrift auf, in die er bis eben vertieft gewesen war. Roger Clark und sein Imperium, las sich die Überschrift des aufgeschlagenen Artikels.

„Hallo Charlotte. Schön, dass du da bist.“ Er erhob sich und kam ihr mit ausgestreckten Armen entgegen.

„Dad, schön, dich zu sehen. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an.“

Sie umarmten sich.

„Ich hatte viel zu tun“, gab Roger widerwillig zu und führte seine Tochter zum Tisch, auf dem gefüllte Wassergläser standen. Wie alles im Raum war auch dieses Möbelstück aus Massivholz und von ausgesuchter Qualität. Eckig, nicht rund. Davon hielt ihr Vater nichts.

„Es kann nur einen geben, der am Kopfende sitzt“, hatte er in ihrer Kindheit einmal gesagt. Charlys Mutter war von dem Satz nicht allzu angetan gewesen.

Neugierig lugte sie in Richtung des Magazins. Sie hatte ihren Vater noch nie ein Interview geben sehen. Bisher war er immer der Ansicht gewesen, dass wahre Macht nicht durch Publicity gepusht werden müsste. Durch und durch alte Schule eben.

„Ah!“, machte er, ihrem Blick folgend. „Meine neue Assistentin hat mich davon überzeugt, dass es nicht mehr zeitgemäß ist, sich vor den Medien zu verstecken.“ Irritation ließ seine Stirn Falten schlagen. „Selbstverständlich habe ich mich nicht versteckt. Dennoch kann ich mich wohl nicht länger den neuen Kommunikationskanälen entziehen. Transparenz und Sympathien scheinen durch die fortschreitende Globalisierung eine immer größere Rolle einzunehmen und jetzt spiele ich eben notgedrungen mit. Meine Marketingabteilung rät mir seit Jahren dazu.“ Er reichte ihr den Artikel. „Wenn du möchtest, kannst du ihn mitnehmen.“

Charly steckte das Heft in ihre Tasche und dachte bei sich, dass seine neue Assistentin die Instinkte eines Piranhas haben musste, um die festzementierte Meinung ihres Vaters zu ändern. Scheinbar hatte er jemanden gefunden, der es mit ihm aufnehmen konnte.

„Wie geht es deiner Mutter und deiner Schwester?“, riss er sie aus ihren Gedanken.

„Gut so weit. Mum arbeitet viel und Sarah ist noch für die nächsten zwei Monate in den Staaten. Das letzte Mal, als ich mit ihr telefoniert habe, hatten sie gerade einen Platten und versuchten, das Auto wieder fahrtüchtig zu bekommen. Bis nach San Francisco soll es noch gehen, von dort nimmt sie den Rückflug.“

Roger nickte. „Sehr gut. Sie hat mir kürzlich eine Karte geschickt, trotzdem mache ich mir Sorgen. Du weißt doch aus erster Hand, wie viele Aussteiger den Anschluss ans Studium nicht schaffen.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

„Sie schien glücklich, aber ihre Begeisterung für das Essen dort hielt sich stark in Grenzen.“ Charly grinste. „Und wir wissen beide, wie gerne Sarah isst.“ Trotzdem war ihre Schwester eine gertenschlanke Schönheit.

Die aufgehende Tür unterbrach das Gespräch. Berta, Rogers Köchin, kam herein. Sie trug ein beladenes Tablett vor sich her und hatte eine ihrer unzähligen weißen Schürzen an.

„Die Biokost wird geliefert“, amüsierte sich Charly stillschweigend, als Salat und Gemüseschälchen vor ihnen aufgebaut wurden.

„Guten Appetit, die Herrschaften“, wünschte ihnen Berta, bevor sie unauffällig wieder verschwand.

Eine klare Brühe als Vorspeise und Putenstreifen ergänzten das gesunde Mahl. So ganz konnte ihr Vater wohl doch nicht ohne Fleisch. Wie vermutet.

„Tom hat mir von deiner Ernährungsumstellung erzählt“, nahm Charly die Unterhaltung wieder auf.

„Ja, die liebe Gesundheit. Allerdings kann ich mich nicht recht mit dem geschmacklosen Grün anfreunden“, gestand ihr Vater. Verschmitzt zwinkerte er ihr zu. „Als neu erkorene Medienikone muss ich ab jetzt auf mein Äußeres achten. Deshalb ist Schluss mit saftigen Steaks, ein Jammer.“

Charly schmunzelte. Mit seinen dunklen Haaren, der drahtigen Figur und dem allgegenwärtigen schwarzen Anzug hatte er das eigentlich gar nicht nötig. Das einzige Zugeständnis an sein Alter stellte eine rahmenlose Brille dar, die sogar seine vitale Ausstrahlung noch hervorhob. Ihr Vater konnte durchaus als attraktiv gelten. Bisher hatte sie keine Freundin kennengelernt, aber Roger lebte wohl kaum zölibatär.

Schnell verbot sich Charly, die Überlegung weiterzuführen. Überrascht stellte sie daraufhin fest, dass das Essen ihr sehr gut schmeckte. Alles war frisch zubereitet, anders als die Kleinigkeiten in der Unicafeteria, nach deren Genuss sie eher abnahm. Und Berta hatte wirklich ein Händchen dafür, allem eine besondere Note zu verleihen.

Sie aßen in einvernehmlichem Schweigen, bis Roger seine Serviette beiseitelegte. Tadelloses Benehmen war zweifellos eine seiner Tugenden.

„Ich habe nachgedacht, Charlotte“, begann er.

Charly hob die linke Augenbraue und sah ihn fragend an. Roger war bekannt dafür, Entscheidungen schnell zu fällen, ohne großes Zögern. Was würde nun kommen?

„Ich denke, es ist an der Zeit, dass du und die Firma auf eine Art Kennenlerndate zusammentrefft“, verkündete er und zwinkerte.

Das musste erst mal sacken. In Charlys Leben hatte es seit der Scheidung ihrer Eltern eine klare Trennung gegeben. Ihr Vater und sein Unternehmen existierten zwar, waren aber nicht Teil ihres Alltags und damit weit entfernt. Ein Essen wie dieses führte die zwei Welten in der Realität zusammen. Das kam allerdings selten vor.

Roger fuhr fort: „Dein Ururgroßvater gründete die Firma 1890 als klassischen Einmannbetrieb. Ein freischaffender Handwerker, der später Mitarbeiter anstellte. Dein Urgroßvater vergrößerte die nun ins Handelsregister eingetragene Clark GmbH. Damals war diese Gesellschaftsform sehr fortschrittlich und verbreitete sich von Deutschland aus schnell in andere Länder. Er setzte auf talentiertes Personal und den technischen Fortschritt. Zu der Zeit, als ich das Unternehmen von meinem Vater übernahm, war es ein mittelständischer Betrieb, ausgelegt auf das Programmieren von Software. Wir hatten rund zweihundert Angestellte an einem Standort. Die Lage am Arbeitsmarkt war eine ganz andere als heute. Händeringend suchte man qualifiziertes Fachpersonal, vor allem in der Elektrotechnik. Das Vertriebsgebiet war weniger umkämpft und zugleich in überschaubarer Entfernung.“

Charly hörte interessiert zu, sie hatte ihren Vater noch nie von den Anfängen der Firma erzählen hören.

„Eine der besten Entscheidungen, die wir getroffen haben, war, frühzeitig der Globalisierungsbewegung zu folgen. Den ersten Schritt dafür stellte die Umwandlung des Unternehmens in eine zeitgemäße Aktiengesellschaft mit Wachstumspotenzial dar.“

Roger trank einen Schluck Wasser. „Das frische Kapital verschaffte uns die Möglichkeit, in andere Branchen zu investieren. Diversifikation würdet ihr Betriebswirtschaftsstudenten das heute nennen. Damals war es einfach kluge Voraussicht. Natürlich spielte auch das Risiko des Börsengangs eine Rolle, doch diese Hürde nahm die Clark AG mit Bravour.“ Charly lächelte ob der Begeisterung, die ihr Vater bei seinem Bericht an den Tag legte.

„Wir wuchsen beständig und fächerten unsere Ressourcen auf. Mehrere Standbeine sind immer vorteilhaft. Das Ergebnis ist das breite Portfolio, das die Clark Group heute vorzuweisen hat.“ Er nickte stolz. „Wie du weißt, halte ich bis heute die Mehrheit der Aktien, die es einmal zu erben gilt.“ Roger sah sie vielsagend an. Ihre Mutter erwähnte er nicht. Das war aussagekräftig genug.

Charly seufzte tonlos. Es war nicht immer einfach, mit der völligen Ignoranz umzugehen, die beide Elternteile dem jeweils anderen entgegenzubringen schienen. Vielleicht war es besser als hässliche Streitereien, in jedem Fall war es stiller. Manchmal fragte sie sich, wo die einstige Liebe geblieben war.

Ihr Vater schien nichts von ihren Gedanken zu ahnen, denn er näherte sich langsam, aber bestimmt seinem Anliegen.

„Im Gegensatz zu anderen vielbeschäftigten Männern kann ich mich rühmen, dass meine Töchter auf einem guten Weg sind, ihr Leben nicht auf Kosten ihrer Familie zu führen. Deshalb möchte ich dir ein Angebot machen.“

Er sah seine älteste Tochter direkt an. „Du kannst dir sicher denken, dass es mich mit Freude erfüllen würde, solltest du einmal meine Position einnehmen. Ein jeder Unternehmer hofft, dass sein Lebenswerk fortgeführt wird, ich bilde darin keine Ausnahme. Wenn ich mich eines Tages zurückziehe, möchte ich die Führung der Firma in guten Händen wissen. Die Clark Group hat zwei Weltkriege überdauert, sie sollte nicht in friedlichen Zeiten zerfallen. Ich habe zu viel erreicht, um alles dahinschwinden zu sehen.“ Ihr Vater verstummte kurz, bevor er fortfuhr.

„Dieser Zeitpunkt liegt noch in weiter Ferne, denn ich bin ein ziemlich zäher Bursche“, witzelte er. „Und ich will dich zu nichts zwingen, aber es wäre mir ein Anliegen, dass du dich meiner Welt, der Welt der Clark Group, annäherst.“

Charly blickte ihn unverwandt an und ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. Ihr Verstand suchte nach Hintertürchen oder Untertönen, fand jedoch für den Moment keine.

Spürte ihr alter Herr seine Sterblichkeit so dringlich, dass er Pläne für seinen Rücktritt schmiedete? Steckte mehr hinter dem Salat, als es den Anschein hatte? Sie konnte es nicht sagen.

„Geht es dir gut, Dad?“, platzte es sodann aus ihr heraus.

Amüsiert schaute er sie an, stand auf, streckte die Arme zur Seite und drehte sich theatralisch einmal im Kreis, bevor er sich wieder setzte.

„Hervorragend, seit die fleischlose Ernährung in Bertas Küche eingezogen ist, wenn ich Doktor Schuberts Interpretation meiner Blutwerte Glauben schenken darf.“ Er zwinkerte ihr erneut zu.

Charly stieg verlegene Röte in die Wangen.

Doktor Schubert betreute die ganze Familie Clark schon, seit sie denken konnte. Der breite, ältere Herr mit brauner Kordhose und weißem Kittel war ihr genauso vertraut wie jeder andere Angestellte. Er war eines der Bindeglieder, die auch nach der Scheidung von Susann und Roger erhalten geblieben waren. Und ein hervorragender Allgemeinmediziner war er obendrein.

„Warum ich?“, fragte Charly, als sie sich wieder gefasst hatte.

„Nun, zum einen, weil du meine Tochter bist.“

Sie sah ihn kopfschüttelnd an. Mit verbalen Streicheleinheiten für ihr Ego kam er bei ihr nicht weit.

„Und zum anderen, weil du scheinbar einige meiner Talente geerbt hast. Einfühlungsvermögen, Beherrschtheit gepaart mit Sachverstand und gesellschaftliche Reife. Das alles bringt dich voran. Rückschläge dürfen keine Schwäche hinterlassen.“ Er blickte ihr ernst in die Augen.

Damit schied die lebenslustige, hüftschwingende, aber wankelmütige Sarah mit ihrer aufsehenerregenden blonden Mähne klar als Nachfolgerin aus.

Bisher hatte Charly sich selbst immer als normal, vielleicht sogar als einen Hauch langweilig angesehen. Sie versuchte, ihren Vater einzuschätzen. Es konnte kein Zufall sein, dass er gerade heute, relativ kurze Zeit nach ihrem letzten Treffen, dieses Angebot aufs Tapet brachte. Was wollte er? Oder besser: Auf was ließ sie sich ein, wenn sie ihm die Bitte erfüllte? Roger war schon immer nur nebenberuflich Vater gewesen. Das durfte sie nicht vergessen. Hauptberuflich war er Vorstand und in erster Linie mit seiner Firma verheiratet.

Am Anfang hatten ihr die Reisen, die ihre Familie gemeinsam unternommen hatte, Spaß gemacht. Oft hatte sie ausgelassen mit der Nanny an irgendwelchen Stränden herumgetollt. Später, als sie ständig aus der Schule gerissen wurde, war die Begeisterung schnell geschwunden. Von ihren Klassenkameraden getrennt und häufig alleine in immer gleichen Hotelsuiten untergebracht, hatte sie nur ihre kleine Schwester als Spielkameradin gehabt. Sarah, die nun erwachsen und ungezähmt durch die USA tourte.

Aber hatte Charly sich nicht insgeheim eine einzigartige Chance gewünscht? Diese bot sich ihr nun, und was für eine!

„Gut, ich sehe mich schon fast als eingestellt an“, hörte sie plötzlich ihre eigene Stimme sagen.

„Sehr schön!“ Ihr Vater rieb sich freudig die Hände. „Allerdings dachte ich, wir fangen ganz unverfänglich an, indem du mich auf ein paar Veranstaltungen begleitest. Nichts allzu Steifes. Dabei hast du die Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen, und die Leute können dich kennenlernen, sich an dich gewöhnen. Ich würde vorschlagen, dass du parallel in die einzelnen Sparten und Abteilungen der Clark Group Einblick gewinnst. So wie du es eben mit deinem Studium zeitlich vereinbaren kannst. Wenn du den Bachelor abgeschlossen hast, können wir über eine kontinuierliche Einbindung neben dem Master sprechen.“ Er sah mit sich zufrieden aus.

Charly hingegen kam es vor, als läge der Fünfjahresplan auf dem Tisch. Wozu hatte sie da bloß Ja gesagt? Sie würde es sehen.

Veranstaltungen besuchen also. Sollte es dort wenigstens Champagner und ein paar leckere Horsd’œuvre geben, war sie nicht abgeneigt. Irgendeine dritte Gattin, einen netten Assistenten oder zur Not die Partyplanerin würde sie in ein anregendes Gespräch verwickeln können.

„Ich lasse dir die jeweilige Einladung zukommen“, sagte Roger und erhob sich. „Wenn du mich jetzt entschuldigst, es freut mich sehr, dass wir uns in nächster Zeit öfter sehen werden, aber nun habe ich leider einen Termin.“

Charly konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen. Es hatte mehrere Jahre gedauert, bis sie diesen Standardsatz und die dazugehörigen Meetings nicht mehr persönlich genommen hatte. Irgendwann war ihr klar geworden, dass er der Gejagte seines eigenen Kalenders blieb.

„Kein Problem, Dad, ich habe auch eine Verabredung.“ Sie umarmte ihn zum Abschied und machte sich mit einem Luftküsschen auf den Weg zur Tür. Selten war eine Einladung zum Essen derart interessant gewesen.

In der Eingangshalle traf sie auf Tom. „Richtest du Berta bitte meine Ehrerbietung aus?“ Charly zwinkerte. „Egal, was sie serviert, es schmeckt immer großartig!“

„Natürlich, sie wird sich freuen, dass es gemundet hat.“ Er nickte, um seine Worte zu unterstreichen.

„Bis bald, Tom. Es war schön, wieder hier zu sein.“

„Gute Heimfahrt, Charlotte“, wünschte ihr der Wirtschafter. „Fahren Sie vorsichtig.“

Als sie wenig später in ihrem Fiat saß, nahm sie sich die Zeit, einen Moment innezuhalten. Was für eine unvorhersehbare, undurchsichtige Wendung, die sich soeben ergeben hatte. Dass gerade sie ihrem Vater ins Auge gefallen war, schmeichelte ihrem Stolz. Es war eine Ehre. Und das Privileg, ihn in Zukunft öfter zu sehen, war ebenfalls nicht zu verachten. Sicher hatte er an jeder Hand beliebig viele Begleiterinnen zur Auswahl, wenn er es darauf anlegte. Nicht, dass sie sonst hinter verschlossenen Türen miteinander interagierten, aber es hatte sich nie ergeben, öffentlich zu dinieren oder Ähnliches.

Ihre Mutter würde sich allerdings vehement gegen das neuerwachte Interesse ihres Exmannes an ihrer Tochter aussprechen. Seit der Scheidung kommunizierten die beiden zwar zivilisiert, aber nur noch über ihre Anwälte miteinander, soweit Charly wusste. Thematisiert wurde das nicht. Die Clarks hatten sich damals friedlich und schnell außergerichtlich geeinigt. Die Mädchen waren bei ihrer Mutter aufgewachsen, Roger hatte sich herausgehalten. Finanziell waren nie Unstimmigkeiten aufgetreten.

Gleichgültig, was passieren würde, Charly freute sich auf die neue Perspektive. Auf die Zeit mit ihrem Vater. Sie war mehr als gewillt, etwas anderes als die Universität zu sehen und ihre berufliche Karriere bereits jetzt voranzutreiben. Schließlich hatte sie den Traum, etwas Außergewöhnliches im Leben zu erreichen. Charly brannte darauf, sich zu beweisen. Gleichzeitig hoffte sie, ihr Vater würde sie nicht wie schon so häufig enttäuschen.

Die tiefschürfenden Gedanken beiseiteschiebend, drehte sie die Lautstärke des Radios hoch und trommelte im Takt der dröhnenden Beats aufs Lenkrad. Schnell hatte sie den ersten Gang eingelegt und brauste die Auffahrt hinunter.

Beschwingt malte Charly sich dabei den kommenden Abend aus. Jetzt gab es tatsächlich einen Anlass zu feiern!

*

2 - Disco Pogo

Pünktlich um neun hielt die silberne A-Klasse, der Baby-Benz ihrer besten Freundin, vor der weißen Doppelgarage von Charlys Haus, einem modernen, geradlinigen Bau mit grauem Spitzdach. Statt zu klingeln, drückte Vanessa einmal energisch auf die Hupe, bevor sie ausstieg. Ruckartig öffnete sich ein Fenster im ersten Stock des großen Stadthauses und Charlys Kopf erschien. Unangenehm schwül ließ die warme Augustluft den Sommer auf der Haut greifbar werden und die Kleidung klebte ihr am Leib.

„Du könntest es wenigstens ein Mal auf die herkömmliche Art versuchen“, rief sie hinunter.

„Warum kompliziert, wenn’s auch einfach geht?“, feixte Vanessa zufrieden. „Außerdem hört man in eurem riesigen Haus die Klingel doch maximal im Eingangsbereich.“ Ein Lachen zwang sie zum Luftholen. „Einfach göttlich, wenn ich daran denke, wie deine Mutter letztes Mal völlig irritiert gefragt hat, was denn das Taxi hier wolle. Es hätte doch keiner eines bestellt. Zum Glück hat sie mich dann erkannt.“

Nun zuckte es auch um Charlys Mundwinkel. „Sie war eben überarbeitet. Einen Moment, ich lasse dich rein. Anett hat heute ihren freien Tag und Mum ist kurzfristig zu einem Wochenendtrip mit Christine aufgebrochen, sie hat eine Notiz hinterlassen. Scheint, als hätten sie sich wieder vertragen.“ Charly schloss das Fenster und stieg die Treppe hinunter.

Die elegante, hochgewachsene Christine van Gablen und Charlys Mutter waren schon sehr lange befreundet. Beide legten Wert auf eine allzeit gepflegte Erscheinung und strahlten gleichermaßen die verhaltene Manierlichkeit von übermäßigem Vermögen aus. Immer wieder durchlebte ihre Beziehung Phasen des eisernen Schweigens. Was im Einzelnen zu den Differenzen führte, hatte Charly bis heute nicht herausgefunden. Ihre Mutter Susann hielt ihr Privatleben streng unter Verschluss, sogar vor ihren Töchtern. Meist versöhnte sie sich allerdings recht schnell wieder mit Christine. Vermutlich langweilte sich die eine ohne die andere. Dann flogen sie zum Shoppen nach New York oder ließen sich, wie jetzt, bei einem Wellnesswochenende verjüngen.

„Soll mir recht sein“, dachte Charly, während sie die Eingangstür öffnete. So hatte sie eine Schonfrist, bevor sie ihrer konventionellen Mutter die neue Entwicklung in Bezug auf ihren Vater mitteilte. Sie war erwachsen, trotzdem verursachte ihr Susanns mögliche Missbilligung ein ungutes Kribbeln im Bauch.

„Das heißt“, schloss Charly, als sie ihrer Freundin die Tür geöffnet hatte, „wir haben sturmfreie Bude!“

„Na, gegen ein paar Häppchen von Anett hätte ich auch nichts einzuwenden gehabt.“ Vanessa zog einen Flunsch.

Anett war ein wenig älter als Susann, trug ihr braunes Haar meist mit mehreren Nadeln zu einem Dutt festgesteckt und hatte ein paar Pfund zu viel auf den Rippen. In der Küche zauberte sie exquisite Gaumenschmeichler und wurde von den Clark-Schwestern innig geliebt. Nachdem die Erziehungsarbeit an ihnen getan gewesen war, hatte die Nanny zwinkernd verkündet, aus Gründen des Nachjustierens bleiben zu müssen. Selbstverständlich bildete Anett schon damals einen wichtigen Teil der Familie und übernahm fortan die Rolle der Wirtschafterin, Köchin und Putzfrau in einer Person. Ihr gefiel es und Charly vermochte sie sich nicht mehr wegzudenken. Sie war die gute Seele des Hauses.

„Aber die Bude durch lauten Sound zum Vibrieren zu bringen, hat auch was“, riss Vanessa Charly aus ihren Gedanken und lächelte teuflisch. Sie schob sich mit ihrer allgegenwärtigen Umhängetasche über der Schulter an der Freundin vorbei. Das Teil bestand aus Sackleinen und hatte definitiv schon bessere Tage gesehen.

Charly unterdrückte ein Grinsen. Vanessas Direktheit stellte schon immer eines ihrer herausstechendsten Charaktermerkmale dar. Sie kannten sich bereits seit der Schulzeit. An manchen Tagen liebte sie die Freundin dafür, an anderen war diese Eigenschaft eher ein Grund, ihr den Hals umdrehen zu wollen. Sie folgte Vanessa durch den gläsernen Eingangsbereich und die geschnitzte Holztreppe hinauf in ihren Teil des Hauses.

„Eigentlich würde ich jetzt sagen: Cool, durchkämmen wir mal den Schrank deiner Mutter. Aber ich befürchte, da finden wir nur Kostüme und Bürokleidung. Besitzt sie eigentlich irgendetwas, das nicht korrekt ist?“, seufzte Vanessa. „Irgendwas Hippes?“ Sie verdrehte die Augen. „Und in die Sachen deiner Schwester passe ich nicht hinein. Bedrückend. Ich sollte abnehmen“, philosophierte sie weiter.

„Dringend“, pflichtete ihr Charly mit ernster Miene bei. Dann fing sie an zu lachen. „Nein, im Ernst, was ist los? Hast du im Chaos deines riesigen Kleiderschranks wieder nichts gefunden? Vielleicht solltest du deine Klamotten mal sortieren!“

Vanessa lief rot an. „Es kann nicht jeder so eine Ordnungsfanatikerin sein wie du. Also, na ja ... ach, ich weiß nicht“, druckste sie herum. „Ist doch immer das Gleiche. Du überlegst dir als Frau ewig lang, was du anziehen sollst, um genau das auszustrahlen, was du zeigen möchtest. Nicht mehr und nicht weniger. Und wofür? Der Typ versucht sowieso nur das, was du darunter trägst, zu erahnen.“ Sie fummelte an ihren Haaren herum.

So lief also der Hase, dachte Charly. Laut fragte sie: „Was möchtest du denn ausstrahlen?“

Indes Vanessa sich im weiß gefliesten Bad auf dem Rand der großen hellblauen Badewanne niederließ, ging sie in ihr Arbeitszimmer und nahm die vorher kaltgestellte Flasche Sekt aus dem Kühler. Eine angenehme Brise wehte durch das gekippte Fenster in den Raum. Sie schnappte sich zwei langstielige Gläser vom Holzregal.

„Nun?“, fragte sie, als sie ins Bad zurückgekehrt war und ihrer Freundin forsch in die Augen schaute.

„Erst ein Gläschen Blubberwasser!“, verlangte diese fahrig und stand auf. Todesmutig drehte Charly den Metallverschluss am Flaschenhals auf und ließ den Korken mit einem Zischen springen. Dieser landete, einen weiten Bogen beschreibend, in der Wanne. Samt einem großen Spritzer Alkohol.

„Vielleicht sollten wir ihn nicht trinken, sondern darin baden“, gab Vanessa, die die Aktion aus sicherer Entfernung beobachtet hatte, zu bedenken. „Kleopatra hat auf Milch geschworen. Warum sollte Sekt nicht auch für die äußere Anwendung gut sein?“

Charly kicherte. „Vermutlich bräuchten wir da ein paar mehr Flaschen. Besser noch, eine eigene Kellerei.“

„Mit Freisekt für alle!“, begeisterte sich die Freundin.

Sie prusteten los.

Als sie sich beruhigt hatten, nahmen beide einen Schluck.

„Ich will einfach einen netten, ansehnlichen Typ finden. Vielleicht mit Humor und am besten noch treu“, konstatierte Vanessa schließlich.

„Mögen sollte er dich vielleicht auch ein bisschen“, fügte Charly trocken hinzu.

„Ja, schon ...“ Nachdenklich begutachtete die Freundin den aufgetragenen Nagellack ihrer rechten Finger. „Trend steht nicht immer für toll“, murmelte sie mit Blick auf die abblätternden, nude kolorierten Fingernägel. „Kann ich mir deinen roten Yves ausleihen?“ Anerkennend musterte Vanessa Charlys leuchtend rote Krallen.

„Klar!“ Das Fläschchen von Yves Saint Laurent wechselte seinen Standort vom Spiegelschrank, an dem Charly gelehnt hatte, in die Hand ihrer Freundin. Diese begann fröhlich pfeifend loszupinseln und schien ihre vorherigen Überlegungen schon wieder vergessen zu haben.

„Hast du Torschlusspanik?“, hakte Charly nach. So schnell war sie nicht vom Thema abzubringen.

Vanessa schaute auf. „Wir sind immerhin schon zweiundzwanzig. Ich sage ja nicht, dass ich gleich heiraten will oder das Ticken meiner biologischen Uhr höre. Aber langsam wird es Zeit für eine feste Beziehung, oder?“

„Und die hoffst du in einer Disco zu finden?“ Charly hob ungläubig ihre Augenbrauen. „Heute Abend?“ Amüsiert zuckten ihre Lippen.

„Irgendwo muss frau mit dem Suchen beginnen. Es ist nicht so, als würden sie in der Uni bei mir Schlange stehen“, lautete die Antwort.

Dabei war Vanessa hübsch. Mit ihren dunklen Haaren, den hellen Augen, einem etwas dunkleren Teint, der sie immer wie von der Sonne gebräunt erscheinen ließ, und ihrem unverwechselbar legeren Style wirkte sie immer im Reinen mit sich.

„Was ist mit dir? Hast du keine feuchten Träume von Mister X?“, fragte sie nun ihre beste Freundin im Gegenzug.

„Wenn sich etwas ergibt, okay. Wenn nicht, bin ich auch so glücklich“, erwiderte Charly.

„Du denkst an den stylischen Typ aus der Cafeteria“, unterbrach Vanessa sie wissend.

Charly seufzte. Ihr reichte das Thema jetzt doch. „Mein Dad hat heute vorgeschlagen, dass ich ihn in nächster Zeit zu ein paar Veranstaltungen begleiten könnte“, platzte sie heraus.

„Oh, wow! Siehst du, dann hast du die einzigartige Chance, dir einen dahinsterbenden Millionär zu angeln, der dir seinen Reichtum vermacht. Ach nein ... du beerbst ja schon einen Millionär. Oder Milliardär?“, witzelte Vanessa und musterte ihre Freundin. „Nein, ehrlich. Freut mich, dass du mehr Zeit mit deinem Vater verbringen kannst. Genieß es.“ Sie lächelte und begutachtete sich im Spiegelschrank. „Ich vermute, dank ihrer plötzlichen Abreise ist deine Mutter noch außen vor?“

„Jupp“, bestätigte Charly nickend.

„Gut. Und jetzt stürmen wir deinen Kleiderschrank, brezeln uns so richtig auf und haben Spaß! Und zwar jede Menge davon! Tiefschürfende Unterhaltungen sind frühestens morgen Mittag wieder zugelassen. Nachdem meine eventuellen Kopfschmerzen abgeklungen sind.“

„Amen“, stimmte Charly ein.

Dreißig Minuten und eine zweite Sektflasche später hatten sie sich durch die Hälfte von Charlys Einbauschrank gewühlt. Klamotten waren ausgesucht, angezogen und wieder verworfen worden. Doch endlich schienen beide zufrieden. Charly trug eine schwarze, hautenge Lederhose zu dunklen, geschlossenen Pfennigstiefeletten und einem weißen, über und über mit Nieten besetzten Hemd. Vanessa, die tatsächlich etwas kräftiger war, hatte ihre dunkle Jeans anbehalten und sich eine von Charlys ausgefallenen Fellwesten geschnappt, die äußerst eng über ihrem hellen, hochgeknoteten Top saß. Bei der Schuhwahl tendierte sie ebenfalls zu hohen Hacken.

Nach einer weiteren Viertelstunde, in der eine wilde Schlacht mit Make-up, Puder, Mascara, Kajal, Eyeliner, Lidschatten und Rouge stattfand, hatten beide eine ausgehfertig bemalte Visage und der Spiegelschrank besaß einen unfreiwilligen neuen Anstrich.

„Flichst du mir noch die Haare?“, bat Vanessa mit einem Augenaufschlag.

Ergeben dirigierte Charly sie ins inzwischen dunkle Schlafzimmer und bedeutete ihr, sich auf den breiten Bettrand zu setzen. Das Licht der Nachttischlampe flammte, von Vanessa betätigt, auf und Charly fing leise summend an den Schläfen mit ihrer Arbeit an. Sie flocht mehrere kleine Zöpfe bis zur Mitte des Kopfes, die sie mit schwarzen, dünnen Haargummis fixierte. Die offenen Enden ließ sie lose nach unten hängen. Sie selbst bevorzugte offene Haare wie heute oder einen hohen Zopf.

„Das macht dann 29,95 bitte“, intonierte sie den Tonfall ihres Friseurs, als ihr Werk vollbracht war.

Vanessa lachte. „Auf geht’s. Ich lade dich dafür im Club zu einer Cola mit Schuss ein.“ Und schon schnappte sie wie Charly ihr Täschchen und schlüpfte ungeduldig in das nächstgelegene Paar Schuhe.

Und los ging es: auf in Richtung Nachtleben.

„Hat schon was, eine Villa direkt am Rand der Innenstadt als Zuhause zu haben“, stellte Vanessa fest, als sie nach circa fünfzehn Minuten Laufzeit in die Luxuseinkaufsmeile im Zentrum der Stadt einbogen.

Diese verlief sowohl zur Haupteinkaufsstraße wie auch zur Feiermeile parallel. Trotz Geschäftsschluss hatten die Schaufenster etwas Magisches in der Dunkelheit. Goldenes Licht umschmeichelte Pelze, Ledertaschen und ausgefallene Kleidung. Hier konnte man schnell ins Schwärmen geraten, doch nur mit dem ausreichenden Kleingeld in der Tasche war die Erfüllung der Begehren möglich.

„Aber das gehört sich ja so für eine Clark“, stichelte Vanessa.

„He, du bist auch nicht von schlechten Eltern!“ Charly pikste sie leicht am Ellenbogen.

Vanessas Vater gehörten mehrere Autohäuser in der Stadt und der weitläufigeren Umgebung. Dementsprechend war ihre Freundin autobegeistert. Sie schwärmte für alles mit viel PS unter der Haube und großem Hubraum. Und für den Neunhundertelfer. Allerdings fuhren die beiden Freundinnen genau gleich viele Dellen und Kratzer in ihre Autos, sodass Vanessas Vater ein Porsche momentan noch zu schade war, um ihn von seiner Tochter derart misshandeln zu lassen. Verständlich, fand Charly.

Inzwischen hatten sie das verdammte historische Kopfsteinpflaster, wie Vanessa es häufig zu nennen pflegte, hinter sich gelassen und steuerten auf den In-Club des Monats zu. Laute Bässe dröhnten schon von Weitem und fluoreszierendes buntes Licht tanzte über die Verspiegelung am Eingang. Nach der Stille der Einkaufsstraße tummelten sich hier die Menschen. Club an Shishabar an Kneipe an Brauerei an Cocktailbar; eine Lokalität reihte sich an die nächste und versprach nächtliches Vergnügen. Die Leute saßen, standen, rauchten, tranken und tanzten. Vor dem anvisierten Etablissement hatte sich vermutlich über die letzte Stunde hinweg auf einem ausgerollten roten Teppich eine längere Warteschlange gebildet.

Charly seufzte. „Und du willst da unbedingt rein?“ Zweifelnd schaute sie der Freundin ins Gesicht.

„Klar, schau dir die Massen an! Der Club muss gut sein.“

Solange die Playlist des DJs und die Klientel, wie ihre Mutter sagen würde, stimmten, war Charly die Location eigentlich egal. Sie bezweifelte, dass eine geschätzte halbe Stunde Wartezeit durch irgendein Ambiente je gerechtfertigt war.

„Lass mich machen. Lauf mir einfach nach.“ Vanessa packte sie nachdrücklich am Arm und steuerte schnurstracks auf den Eingang zu. Vorbei an der Schlange, aus der ein paar Wartende interessiert die Entwicklung beobachteten. Direkt vor einem der finster blickenden, schwarz gekleideten Türsteher blieb sie stehen.

Charly versuchte sich kleinzumachen. So ganz hatte sie den Plan ihrer Freundin noch nicht durchschaut. Der Turm vor ihnen war keinesfalls mit ein bisschen Wimperngeklimper zu bezwingen. Außerdem blickte er sie sehr ungnädig unter schweren Lidern an. Wobei sich der Ausdruck in seinen Augen plötzlich änderte. Interesse war aufgeblitzt und Charly folgte seinem Blick zur Hand ihrer Freundin. Diese drückte ihrem Gegenüber etwas Gefaltetes in die Pranke. Flugs trat der Security Guard beiseite und schon drängte Vanessa Charly ins Halbdunkel. Von hinten ertönten fragende Proteste aus der Schlange.

„Also, deine Nummer hast du ihm definitiv nicht gegeben“, stellte Charly fest. „Raus mit der Sprache, was war das eben?“

Ihre Freundin lachte und führte sie Richtung Bar in den hinteren Teil der Disco. „Mein Dad hat mir heute Mittag zweihundert gegeben. Kauf dir was Schönes, hat er gesagt. Na, die ersten hundert habe ich gerade eben gut investiert. Jetzt schauen wir mal, wie weit wir mit dem Rest kommen.“ Sie winkte aufgekratzt der Barfrau zu, die auch prompt herbeieilte.

Während ihre Freundin gestikulierend bestellte, hatte Charly Zeit sich anzuschauen, was Vanessa ihnen erkauft hatte. Belustigt schüttelte sie den Kopf. Sie hatten beide genug Geld, aber zum Fenster rausschmeißen musste man es nicht unbedingt.

Der Club blieb seiner Linie treu. Gläserne Lüster über der Bar und an den Wänden sandten regenbogenartige Reflexe durch den Raum. Es funkelte wundersam, wenn sich in den vielen Prismengläsern das Licht brach. Überall hingen Spiegel und so erschien die Fläche viel größer, als sie wirklich war. Alles hatte einen leichten Lilastich. Abgesehen von den schwarzen Ledersofas der Sitzgruppen und dem tiefschwarzen Boden.

Als sie sich, auf einen Hocker setzend, wieder zur Theke drehte, stellte sie fest, dass selbst die Tresenplatte von unten beleuchtet glitzerte. Bei einer solchen Reizüberflutung konnte man seinen Sinnen schon ohne Alkohol nicht mehr trauen.

Vanessa hatte unterdessen die zahlreichen Gäste in den Nischen, an der Bar und auf der noch relativ leeren Tanzfläche gemustert.

„Bist du zufrieden?“, konnte sich Charly nicht verkneifen zu fragen.

„Es gibt schon ein paar Leckerbissen.“ Verschwörerisch senkte die Freundin die Stimme. „Siehst du den mit den etwas längeren dunklen Haaren neben der Couch da?“

„Ah, Typ Landgraf soll es heute sein“, flüsterte Charly zurück.

„Sehr lustig.“ Vanessa schaute ein bisschen beleidigt drein.

„Hey, ich wollte dich nicht kränken. Außerdem hat er glücklicherweise keinen Zopf. Wenn er dir gefällt, dann schnapp ihn dir. Auf jeden Fall steht er alleine da.“

Die Barkeeperin stellte in diesem Moment zwei Cola, eine Flasche Single Malt und zwei Whiskygläser mit klirrenden Eiswürfeln vor ihnen ab. Sie schnappte sich den Schein, den Vanessa ihr hinhielt, und wandte sich mit einem „Prost!“ dem nächsten Kunden zu.

„Wolltest du mich nicht auf einen, also, einen einzelnen Drink einladen?“ Charlys Augen fixierten die Schnapsflasche.

„Ach, komm, zu viel schadet nie ... bei Alkohol vielleicht in bestimmten Fällen, aber wir müssen doch feiern, dass wir es endlich einmal wieder aus dem Trott rausgeschafft haben!“ Vanessa setzte sich nun ebenfalls auf einen Hocker, schnappte sich die gekühlte Flasche, knackte den Verschluss mit einer schnellen Drehung und ließ die karamellbraune Flüssigkeit in die leeren Gläser laufen.

Sie stießen an. Und setzten sofort danach die Gläser ab, nicht ohne Vanessas heiteren Kommentar: „Auf viele schöne Kerle, die uns zu Füßen liegen!“ Erst dann nahmen beide einen Schluck.

Als der Schnaps feurig ihre Kehle hinuntergeronnen war, leckte sich Charly genießerisch die Lippen. „Nicht zu verachten.“

„Siehst du, nicht immer erst meckern.“ Vanessa konnte es sich einfach nicht versagen, das letzte Wort zu haben.

Die beiden Freundinnen lachten.

„Die tanzen wie eine ganze Wagenladung Körperkläuse. Was soll das werden? Theatralische Epilepsie?“ Vanessa deutete mit ihrem Glas auf die sich füllende Tanzfläche. „Ich wette fünfzig Mäuse, dass sich keiner mehr aufs Parkett traut, wenn du loslegst“, verkündete sie.

Charly reagierte sichtlich amüsiert. „Heute bist du aber freigiebig. Hast du noch eine Erbschaft gemacht, von der ich nichts weiß?“

Vanessa winkte unwirsch ab. „Ich bin einfach gut drauf. Also: fünfzig Kröten. Ihre einmalige Chance, Miss Clark!“, drängte sie sie scherzhaft.

„Ich stehe aber nicht so auf Schleim und Glibber“, versuchte Charly sich vergeblich herauszuwinden. Wenn ihre beste Freundin sich allerdings etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es äußerst schwierig, sie wieder davon abzubringen.

Und tatsächlich zog Vanessa bereits einen gespielten Schmollmund.„Also gut, wenn du so lange nicht die Flasche alleine leer trinkst“, gab Charly schließlich nach. Sie liebte das Tanzen, die Bewegung. Es war sowieso schwer, der Versuchung zu widerstehen. „Und nur um das mal festzuhalten: Fünfzig Mäuse sind ein Freundschaftspreis für meine hochwertige künstlerische Darbietung“, rief sie nach einem letzten Schluck schon auf halbem Weg zur Tanzfläche.

Ihre Freundin schüttelte nur die dunklen Locken und lachte.

Am angepeilten Fleck angekommen, stellte Charly sich relaxt hin und schloss, ihr Täschchen in einer Hand haltend, die Augen. Sie nahm die Atmosphäre mit all ihren Sinnen in sich auf. Spürte das Beben der tiefen Bässe, die Hitze, welche die sich bewegenden Körper um sie herum ausstrahlten, und die eisigen Ströme der sich drehenden Ventilatoren. Die Musik, eine Mischung aus Hip-Hop, Pop, R&B und Rap, hauptsächlich den aktuellen Charts folgend, umschmeichelte sie. Formen und Figuren nahmen in ihrem Kopf Gestalt an und Charly begann sich wie von alleine im Takt zu wiegen.

„Because I’m happy“, sang Pharrell Williams und sie konnte ihm nur zustimmen.

Mit nun wieder geöffneten Augen beobachtete sie sich in den unzähligen Spiegeln: eine dynamische Gestalt, die in ihre eigene Welt versunken zu sein schien. Ihre Hüften wiegten sich im Takt, geschmeidig bog und drehte sich ihr Körper. Die Musik durchströmte sie, steuerte all ihre Bewegungen. Ihr Haar flog. Sie lachte und begann, von innen heraus zu strahlen. Glückseligkeit troff aus jeder ihrer Poren. Tanzen bedeutete für Charly frei zu sein, es bedeutete, ungehemmt ihre Gefühle auszuleben.

Als Kind hatte sie lange Jahre Ballettunterricht genommen. Später waren daraus Paartanz- und Hip-Hop-Stunden geworden. Doch seit dem Studium reichte die Zeit für diese Leidenschaft nicht mehr.

Charlys Bewegungen wurden immer schneller und ungezähmter. Wildheit legte einen zufriedenen Glanz über ihr Gesicht. Ihre Augen blitzten zwischen den braunen, wirbelnden Haaren hervor. Stunden, Minuten, sie tanzte, ohne die Zeit wahrzunehmen, und änderte nur mit den Liedern den Rhythmus. Völlig losgelöst, bis sie merkte, dass ihr jemand auf den Leib gerückt war.

Interessiert begutachtete sie den Mutigen: blondes Haar, groß, mit kräftigen Oberarmen. Er lächelte ihr zu und fing ihre Hand mit seiner in der Bewegung ab. Bevor Charly wusste, wie ihr geschah, hatte er sie einmal gedreht und mit dem Rücken an sich gezogen. Zwei weitere Tänzer waren inzwischen mit abgehackten Bewegungen näher gekommen. Seine Kumpels, schloss Charly aus der Körpersprache der drei.

„Gibt’s euch gleich als Familienpack?“, schrie sie während der nächsten Verrenkung in die vermutete Richtung des Ohrs ihres Verehrers. Tanzen konnte der Gute absolut nicht. Sie linste zur Bar, entdeckte ihre Freundin aber nirgends. Vanessa war sicher auf Beutefang gegangen, als sie gemerkt hatte, dass Charly nicht so schnell zurückkam.

„Was?“, kam es von hinten zurück.

„Sind das ...“ Charly brach ab. Zum einen, weil sie keine Lust auf eine geschriene Unterhaltung hatte, bei der sowieso zwei Drittel verschüttgingen. Und zum anderen, weil sie wenig Spaß am mühsamen Koordinieren seiner und ihrer Glieder verspürte.

Sie kämpfte sich frei, strich mit der Hand über ihre Kehle und versuchte, eine möglichst eindeutige Trinkbewegung zu vollführen. Indes sie auf die Bar zeigte, verstand der Blonde endlich und nickte. Seine zwei Anhängsel schickten sich an, ihnen zu folgen.

Charly steuerte ohne Umwege ihren freien vorherigen Platz samt leerem Whiskyglas und abgestandener Cola an. Die aufmerksame Barkeeperin schob vorausschauend den restlichen gekühlten Single Malt von vorhin und drei weitere Gläser mit Eis über die Theke und Charly goss ohne Nachfrage ein. Ihr Täschchen legte sie dafür kurz ab. Währenddessen hatten die Tanzkünstler einen stehenden Halbkreis um sie gebildet.

„Gibt’s euch nur als Familienpack oder auch einzeln?“, wiederholte sie amüsiert ihre Frage und verteilte den Alkohol.

Gekleidet waren die Jungs ziemlich gleich: verschiedenfarbige T-Shirts mit V-Ausschnitt, helle Jeans und schwarze Sneakers.

Der Blonde schmunzelte ob des Begriffs. Er war der größte der drei. „Sieht man uns direkt an, dass wir Brüder sind?“, fragte er verblüfft.

„Ernsthaft?“ Jetzt schaute Charly ungläubig. „Ich wollte eigentlich darauf hinaus, dass ihr zusammenzuhängen scheint.“

„Mehrere tolle Typen auf einen Streich sind doch besser als ein einzelner“, meldete sich einer der beiden anderen mit hellbraunen, abstehenden Locken zu Wort.

Bei so viel Selbstsicherheit zuckte Charlys linke Augenbraue nach oben.

„Was hast du uns denn da spendiert?“ Blondie schaute misstrauisch in sein Glas.

„’nem geschenkten Gaul guckt man nicht ins Maul“, meinte Nummer drei und unterstrich sein Statement, indem er den Drink in seiner Hand mit einem Zug leerte.

„Na ja, eigentlich gibt der Mann der Frau einen aus“, brummte sein braunhaariger Bruder.

„Eine lustige Sippe habe ich da aufgelesen“, dachte Charly. Wobei die Jungs, wenn man es genau nahm, eigentlich sie aufgelesen hatten. „Trinkt es oder lasst es“, sagte sie und nahm selbst einen angemessenen Schluck. Aus dem Augenwinkel entdeckte sie Vanessas Mähne.

Ihre Freundin war mit ihren Getränken zu dem Typ mit den längeren Haaren vorgedrungen und unterhielt sich angeregt mit ihm auf einem der Sofas. Bisher mit einem halben Meter Abstand zueinander.

„Wie ist eigentlich dein Name, schöne Frau?“, ließ sich Braunlocke vernehmen.

Charly lachte. Er hatte nur ein vorsichtiges Schlückchen aus seinem Glas gewagt. So viel zu Männern. Wohl eher: Bübchen.

„Ist Malt nichts für euch harte Kerle?“ Die vorangegangene Frage ignorierte sie.

„Also, ehrlich gesagt, muss ich sowieso noch fahren.“ Der Große tauschte sein unberührtes Glas mit dem leeren seines schweigsamen Bruders.

„Außerdem sind wir die Attraktiven, Einfühlsamen“, fügte der gesprächige Lockenkopf mit ernster Miene hinzu.

„Natürlich.“ Charly prustete los.

Bis sie sich wieder gefangen hatte, waren die Brüder in eine Diskussion verstrickt, die mit einem „So kannst du das nicht sagen“ des Blonden begonnen hatte.

Charly trank amüsiert ihre inzwischen warm gewordene Cola sowie den Rest Whisky und schenkte sich nach. Nummer drei schob sein leeres Glas daneben.

„Und, hast du auch was über eure Männlichkeit zu sagen?“, fragte sie ihn im Spaß, rechnete aber nicht wirklich mit einer Antwort.

„Wir haben sehr ausgeprägte Bauchmuskeln. Falls du mal fühlen möchtest?“ Er wedelte mit dem unteren Ende seines blauen Shirts.

Charly fiel fast die Kinnlade herunter. „Äh, danke ... nein ...“, stotterte sie.

Er zuckte die Achseln nach dem Motto: dein Verlust.

Unauffällig spähte sie zur Sitzecke auf der anderen Raumseite. Vanessa hatte sich derweil näher an das Objekt ihrer Begierde herangearbeitet. Wild herumfuchtelnd erzählte sie etwas, das von einem enthusiastischen Nicken ihres dunkelhaarigen Zuhörers unterstrichen wurde. Die zwei schienen sich gut zu verstehen.

Die Stunden vergingen und Charly amüsierte sich prächtig mit den drei Spaßvögeln, die sich gerne gegenseitig widersprachen. Sie tändelten herum, debattierten über Gott und die Welt und natürlich über Sport. Der Große spielte Handball, während der Braunhaarige ein nachdrückliches Plädoyer für den Fußball hielt. Der Malt wurde von Jack mit Cola abgelöst und die Stimmung wurde immer ausgelassener.

Als Charly sich das nächste Mal umschaute, waren Vanessa und ihr Verehrer nicht mehr in der Nische. Auf der Tanzfläche konnte sie sie auch nicht ausmachen, aber sie gönnte ihrer besten Freundin von Herzen ein bisschen Vergnügen.

Langsam wurde es spät und der Alkohol machte sich bemerkbar. Sowie Charly mit ihrem Täschchen in der Hand von ihrem Barstuhl hopste, um sich zu den Waschräumen vorzukämpfen, strauchelte sie. Halt suchend rutschte ihre Hand am blauen T-Shirt ihres Gegenübers ab.

„Uff, da spürt man tatsächlich so was wie Muskeln“, stellte sie halblaut und nicht mehr ganz nüchtern fest.

Der durchweg stille Bruder fing daraufhin schallend an zu lachen. Wie peinlich! Charly floh.

Auf dem Rückweg vom WC hielt sie intensiv Ausschau nach Vanessa. Zigarettenrauch schwängerte die Luft und brannte ihr in den Augen. Weit und breit keine Spur von ihrer Freundin oder dem Typ mit den längeren Haaren.

Charly kramte ihr iPhone aus der kleinen schwarzen Tasche und checkte die Nachrichten. Nichts.

Sie atmete durch und versuchte nachzudenken. Weiter hierbleiben oder gehen? Sie hatte genug getrunken. Eher schon zu viel. Es war bis jetzt ein netter Abend gewesen, sie wollte ihn sich nicht durch etwas Unbedachtes verderben, das sie morgen bereuen würde.

„Wie sieht’s aus?“, schrieb sie Vanessa und schlängelte sich das letzte Stück zur Bar zurück. Gerade wieder auf ihrem Hocker zum Sitzen gekommen, vibrierte ihre Tasche.

„Gut gebaut“, kam zurück.

Charly grinste, ihre Freundin war wohl rappelvoll. „Ich würde gerne gehen“, schickte sie ab.

„Alles klar. Bist du mir böse, wenn ich noch bleibe?“

„Bringt dein neuer Lover dich heim?“, erkundigte Charly sich.

„Dem mach ich schon Beine.“

Das konnte sie sich bei ihrer bevormundenden Freundin sehr gut vorstellen. Es machte den Anschein, als hätte Vanessa wirklich jemanden gefunden. Charly schüttelte lächelnd den Kopf.

„Okay. Ich nehme jetzt ein Taxi. xxx“, antwortete sie.

In der Dunkelheit alleine nach Hause zu gehen, hielt sie trotz der geringen Distanz für unklug.

„Pass auf dich auf. xxx“, sandte Vanessa.

Charly steckte ihr Handy wieder ein.

„Du hast uns immer noch nicht deinen Namen verraten“, beklagte sich just der Lockenkopf, das Gespräch mit seinem Bruder abbrechend.

„Manches sollte ein Geheimnis bleiben“, entgegnete Charly mystisch. Langsam kroch die Erschöpfung ihre Beine empor. Sie hatte einen langen Tag hinter sich.

„Wie zum Beispiel die Frage, ob du Single bist?“, knüpfte der Blonde an die Unterhaltung an.

„Genau.“ Charly stieg vom Hocker. Definitiv Zeit zu gehen! „Jungs, es war schön, euch kennengelernt zu haben. Ich werde mir jetzt ein Taxi nehmen.“ Sie gähnte.

„Na, an deinem Durchhaltevermögen musst du noch arbeiten“, ließ sich der Dritte im Bunde dazu herab, zu klagen.

„Nett, dich getroffen zu haben. Bist ’ne begabte Tänzerin“, fügte ihr anfänglicher Tanzpartner hinzu.

„Besteht die Aussicht auf deine Nummer oder einen Abschiedskuss?“, wollte der Braunhaarige vorlaut wissen.

Charly musste unwillkürlich schmunzeln. Schüchternheit war in dieser Familie wohl ein Fremdwort. Aber irgendwie gaben die Kerle ein lustiges Gespann ab.

Sie beugte sich aus einer Anwandlung heraus vor und gab dem Fragenden einen dicken Knutscher auf ... den Mund, da dieser selbstzufrieden im letzten Moment den Kopf gedreht hatte. Unterdessen Charly völlig überrumpelt zurückzucken wollte, drückte er leicht ihren Arm und vertiefte den Kuss. Warm und weich schmiegten sich seine Lippen an ihre und öffneten sich.

Eine Gänsehaut rief letztlich ihr Gehirn auf den Plan. Sie realisierte blitzartig ihre Umgebung, ihr Gegenüber und wich zurück. Zum Glück hatten sich wenigstens seine Brüder einander zugewandt.

„Nicht schlecht für einen Gutenachtkuss“, stieß sie hervor, drehte sich um und winkte noch einmal im Gehen. Sie war erschüttert, dass ein simpler Kuss sie derart einnehmen konnte. Nur nicht überreagieren. Es war schließlich nicht ihr erster gewesen. Sie hatte durchaus schon feste Freunde gehabt und ein paar Eskapaden. Allerdings war in letzter Zeit wenig Raum für derlei gewesen. Vielleicht hatte Vanessa recht und eine neue Beziehung wäre das Richtige, überlegte Charly, indes sie aus dem Club zur Taxischlange stöckelte. Je nachdem, wie viel Zeit ihr Vater für sie eingeplant hatte ... Sie würde sehen.

Beruhigt, ihre Gedanken ins Lot gebracht zu haben, stieg sie in das erste freie Auto, eine beige Limousine, und ratterte für den ältlichen Fahrer ihre Adresse herunter. Heute sehnte sie sich nur noch nach ihrem Bett.

*

3 - Charity Gala

Etwas mehr als zwei Wochen später ...

Charly saß breitbeinig und verkehrt herum auf einem der weißen, quietschenden Plastikstühle in der Unicafeteria. Ihr Kinn lag entspannt auf der oberen Kante der Rückenlehne. Mit abgeschnittenen Shorts, Espadrilles und einer weiten bunten Bluse war sie luftig gekleidet. Zusammen mit Vanessa hatte sie wie jeden Mittag ihren Stammplatz an der linken Seite des Raumes eingenommen. Von dort aus war die Sicht auf jeglichen Neuankömmling am besten.

Vor einer Woche hatte die Klausurenphase begonnen und nach einer recht gut verlaufenen Prüfung in externer Rechnungslegung stand nun Entscheidungstheorie auf dem Lernplan der beiden. Der kleine, runde Plastiktisch vor ihnen bog sich mitleiderregend unter der Last von Ordnern, Papierstapeln und Formelsammlungen.