3D-Schock - Corinna John - E-Book

3D-Schock E-Book

Corinna John

4,9

Beschreibung

Ein Computer-Spezialist wird aus seiner Kellerwerkstatt entführt. Am selben Tag taucht ein Fremder dort auf und sucht einen verschlüsselten Speicherchip ... Eine Geschichte mit so vielen Wirklichkeiten wie Personen. Wohin kannst du noch fliehen, wenn dein Teil aus dem Puzzle der subjektiven Welten verloren geht?

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Mit Dank an

alle Linux- und LibreOffice-Entwickler,

weil ihr das Werkzeug zum Schreiben liefert.

meinen Arbeitgeber,

für schön viele ICE-Fahrten im Abteil mit Klapptisch.

Nirgendwo schreibt es sich besser, als in Schnellzügen!

alle hier Fehlenden,

weil ihr die Wichtigsten seid.

So, das war's. Der Reiseplan für die nächste Woche stand fest, eine verwinkelte Route, die über acht Zwischenstopps immer tiefer ins Sonnensystem führen sollte. Juliette übergab das Schiff wieder dem Autopiloten und lehnte sich zurück.

Um sie herum strahlten die Sterne auf schwarzem Nichts. Zufrieden wandte sie sich nach links. Die räumlichen Schichten verschoben sich vor ihren Augen gegeneinander, als die Projektion des Sternenhimmels hinter ihr sich andersherum drehte als die Vorderansicht.

Was stimmte nicht mehr? Rhythmus. Die schlichten, ruhigen Melodien, mit denen die sich überlagernden Sterne ihre tatsächliche Position bekannt gaben, passten so verschoben nicht mehr zueinander.

Um das lästige Gedudel abzuschalten, verschob sie jede Projektion in einen anderen Parallelraum, so dass in ihrem primären Blickfeld nur noch die stille Aussicht leuchtete. Den Rest der 360°-Ansicht spürte sie irgendwo im Hinterkopf, wie Erinnerungen an die Gegenwart, denen sie momentan keine Beachtung schenken musste.

Ruhe. Ruhe für mehr als einen Erdentag, bis sie an die Station Neptun-2 andocken würden.

Aus weiter Ferne fühlte sie etwas an ihrer linken Schulter, jemand versuchte sie anzusprechen. Widerwillig dachte sie raus hier und öffnete die Augen.

Vor ihr stand wieder die Konsole. Ein fast lebendig wirkender Schwarm von bunten Lichtern leuchtete, blinkte und formte gelegentlich ein paar Buchstaben. Der Schirm darüber war gerade durchsichtig und zeigte die Aussicht nach vorn, ohne Metadaten so informationell flach wie bemaltes Papier, räumlich ohne echte Tiefe.

Mit einem gezwungenen Lächeln drehte sie ihren Sitz um und schaute den Matrosen fragend an. „Was ist los, Martin?“

„Nichts“, er zuckte mit den Schultern, „ich wollte dich nur daran erinnern, dass du dich nicht zu sehr an den tieferen Raum gewöhnen solltest. Weißt schon, die Außenwelt wird immer flach bleiben und du könntest verlernen, darin zurecht zu kommen. Mutierst zum Techie, so langsam, echt.“

„Hast ja Recht“, sagte die junge Pilotin, nahm das mit golden schimmernden Elektroden besetzte Stirnband ab und strich sich das schwarze Haar aus dem Gesicht.

Der mehrdimensionale Raum war ein idealer Zufluchtsort, in den man stundenlang abtauchen konnte. Aber die Umstellung hinterher schlug jedesmal härter zu. Juliette schaute an ihrem Mitarbeiter vorbei zur offen stehenden Tür, in den Gang hinaus, dann wieder den Türrahmen entlang und über den grauen Fußboden zurück zur Konsole. Dabei versuchte sie, das Ganze räumlich zu finden, dreidimensional und trotzdem vollständig.

„Irgendwie passt es doch“, meinte sie schließlich.

Seit Zhan nicht mehr an Bord war, hatte sich das ganze Schiff verändert. Als wäre das nicht genug, war sie sicher, dass es an ihr lag. Aber verdammt nochmal, was konnte sie denn dafür? Niemals hatte sie vor gehabt, den Piloten-Job zu übernehmen und Zhan zu ersetzen.

Aber Zhan hatte es so gewollt. Juliette war erst seine Lieblingsschülerin gewesen, dann hatte sie gleich nach der Ausbildung den Maschinenraum bekommen. Nun hatte sie das ganze Raumschiff mit fünf viel älteren Kollegen am Hals und war täglich neu erstaunt, dass sie nicht hilflos überfordert war.

Mit dem neuen alten Raumschiff ging eine neue Art von Raumzeit einher, Rihm hatte sie beim letzten Stopp auf Terra eingebaut. Das wäre das Modernste, hatte der Informatiker erklärt, unbedingt empfehlenswert. Seltsam blass war er gewesen, aber das fiel bei ihm nicht weiter auf.

Von außen hatte sie nur ein normales Datenstirnband mit ein paar zusätzlichen Sensoren gesehen. Aber was es aus dem Puzzle von Ersatzteilen, die ihren Bordcomputer darstellten, heraus holte, schlug alles bisher dagewesene. Der auf sieben Dimensionen ausgedehnte Cyberraum sog das Chaos ihrer Gedanken in sich auf und verteilte es auf so viele Achsen, dass sie es überblicken konnte. Mehr Tiefe, endlich Ordnung, und das alles in einer viel intensiveren Form von Realität – ja, Realität, es musste mehr sein als nur Simulation.

Bisher hing nur ein einziges Stirnband in der Kuppel. Am selten genutzten rechten Platz, der für einen so gut wie nie anwesenden Assistenten gedacht war, fehlte eine Neural-Verbindung. Rihm hatte versprochen, den zweiten Anschluss einzubauen, sobald sie wieder in Erdnähe waren, was in wenigen Tagen der Fall sein sollte. Welch eine Gelegenheit, wieder einzutauchen!

Noch vor zwei Jahren hätte sie umständlich eine Nachricht aufzeichnen und an die nächste Transceiver-Station schicken müssen, von wo sie mehrere Stunden bis zum Turm Neuseeland-2 gebraucht hätte, dem nördlichen der beiden Neuseeland-Türme, in dem ihr Experte Rihm wohnte.

Seit das Hyperraum-Netz vollständig in Betrieb war, funktionierte endlich die Echtzeit-Verbindung, so dass sie ihn einfach anrufen konnte. Tausende kleiner Geräte in den tieferen Dimensionen der Raumzeit sorgten für einen nahezu verzögerungsfreien Datenfluss quer durchs heimische Sonnensystem und dehnten so das Netz bis zur Pluto-Station aus.

Kaum war Martin gegangen, schloss sich das Datenstirnband wieder um ihren Kopf, locker und kühl, gerade fest genug für eine klare Simulation. Als das Rauschen um sie herum verstummte, ließ sie ihre schweren Augenlider zufallen und wartete auf die weite Ebene der Eingangshalle.

Meter für Meter breitete sich der virtuelle Raum um ihre Füße herum aus, Achteck für Achteck in unendliche Ferne verschwindend. Als sich der grell gemusterte Himmel über ihr schloss, suchte sie den Katalog, fand ihn als unscheinbare Kiste auf dem Boden aus schwarzem Glas, und öffnete ihn.

Sie dachte an ihr Adressbuch, es sprang als silberner Streifen heraus, dehnte sich zu einer fast transparenten Folie und baute sich als ein Muster aus Zeichen und Symbolen senkrecht vor ihr auf. Rihms Profil leuchtete heraus, trat in den Vordergrund und überdeckte die letzte Ansicht.

Juliette ließ eine Direktverbindung aufbauen und wartete auf Antwort. Nach zwei Sekunden färbte sich die hellblau duftende Verbindungsanfrage plötzlich violett, sie wurde in ein anderes Profil umgeleitet.

Irgendwo in den Tiefen des Netzes blinkte ein Nachrichtenfenster dezent neben Cles rechtem Ohr. Verärgert über die unerwartete Ablenkung, ließ der Hacker das Symbol fallen, an dem er gerade arbeitete. Mit zwei Fingern griff er nach dem Fenster und zog es in sein primäres Blickfeld, das aus reiner Gewohnheit vor seinem Gesicht lag.

„Was ist?“ fragte er hektisch, ohne vorher zu lesen, mit wem er überhaupt sprach. Dann erst fokussierte er das Bild und erkannte einen weiß-grünen Pilotenanzug, über den schlampig gekämmte, schwarze Locken fielen. „Hallo Julie, bist du falsch verbunden?“

„Nein, kommentarlos umgeleitet worden“, sagte die Frau im Nachrichtenfenster, „Rihms Profil hat mich zu dir geschickt. Kannst du mir sagen, wo der kleine Schatten steckt?“

Bei dieser Bezeichnung musste Cles grau flimmernde Maske unwillkürlich grinsen. Er war schon mit Rihm zusammen zur Schule gegangen; auch an dem Interface, mit dem er jetzt hier war, hatten sie beide gearbeitet. In den ganzen sechs Jahren, die sie sich nun kannten, hatte man Rihm immer an seiner Farbe erkennen können. Beziehungsweise an deren Fehlen. Schwarz war sein Markenzeichen.

„Keine Ahnung“, antwortete er, „der Schatten meldet sich immer sauber ab, er muss doch eine Notiz hinterlassen haben.“ Noch während er den Satz aussprach, formte seine silberne Hand eine kurze Geste, die das Netzprofil öffnete. Blau glitzernd hing es neben dem anderen Fenster in der simulierten Luft.

„Da steht nichts“, sagte Juliette, „sonst hätte ich gar nicht erst angerufen.“

„Offline soll er angeblich sein“, überrascht schaute Cle zwischen Profil und Julie hin und her, „das war er in letzter Zeit immer seltener. Und dann auch noch ohne Grund… soll ich mal nachschauen?“

Für einen Moment wusste die Pilotin nicht, was Cle mit nachschauen meinte. Dann kroch ein unsicheres Lachen auf ihr Gesicht, nach einer kurzen Pause stimmte sie zu.

„Auf deine eigene Verantwortung“, lächelte sie durch die verschlüsselte Direktverbindung. „Sag hinterher aber niemandem, dass ich dich dazu aufgefordert hätte.“

Das Mädchen, das mit dreiundzwanzig Jahren eigentlich noch viel zu jung für ein eigenes Raumschiff war, zwinkerte kurz und schloss die Verbindung. Cle schubste das leere Fenster zur Seite und ließ es verschwinden. Was auf der Welt konnte dieser labile Bastler angestellt haben, dass er sich auf einmal kommentarlos zurück zog?

Vielleicht sollte er einen Blick in seine Werkstatt werfen. Um sich dafür nicht ausklinken zu müssen, schaute er sich das Sicherungssystem des Turms an. Rihm hatte eine einzige Kamera in seiner Wohnung, das wusste Cle, es war die vom Telefon. Um sie fernzusteuern, musste er ein paar Sperren umgehen.

Nichts ist unmöglich, dachte er, während eine komplizierte Handgeste sein persönliches Archiv öffnete.

Es war nicht das erste Mal, dass der einem Bekannten in die Wohnung guckte. Der Trick hatte schon einmal funktioniert; vor knapp fünf Jahren hatte er Tinas Zimmer so beobachtet. Am nächsten Tag hatte sie es bereits herausgefunden und ihm ganz real in der Außenwelt eine gescheuert. Seitdem hatte er aber dazugelernt, Rihm würde nicht das Geringste davon bemerken, dass jemand seinen Datenstrom anzapfte.

Es ist schon irgendwie komisch, dachte er beim Hochfahren des frisch angepassten Hintertür-Programms, was aus Tinchen und mir geworden ist. Lange hatte er die Kollegin mit dem roten Kopftuch nur als kleine Rivalin im Clan gesehen, eine Anführerin von gestern, die er bald ersetzen wollte.

Und heute, nur ein paar Jahre später? Sie wohnten zusammen in einer geräumigen Dachkammer hoch über S51-Süd, in der mittleren Stadt-Etage ihres Turms, mit Blick auf die blühend begrünte Kristallfassade des Botanischen Instituts. Und doch sahen sie sich fast nie dort.

Das Netz hielt sie beide gefangen. Cle hatte keine Ahnung, wann sie zuletzt gleichzeitig offline gewesen waren. Wann war er überhaupt das letzte Mal draußen gewesen, auf der geisterhaften Oberfläche, die sich Außenwelt nannte? Seit eine kleine Nadel im linken Unterarm seinen Körper versorgte, klinkte er sich immer seltener aus.

Na also! Der Raum um ihn herum löste sich auf und machte Platz für eine staubig verschleierte Aussicht durch Rihms Kamera. Der fensterlose Kellerraum sah aus, als wäre er von einem Moment zum anderen zurück gelassen worden.

Am unteren Rand des Blickfelds stand Rihms breiter Arbeitstisch, Teile verschiedener Geräte waren darauf verstreut. Etwas zu chaotisch, um absichtlich liegen gelassen zu werden, fand Cle den Arbeitsplatz. Fast alle Bauteile lagen hinten rechts in einer schiefen Kurve angeordnet, als hätte jemand achtlos über den Tisch gefegt.

Vor dem schlampigen Tisch stand sein Sessel zum Raum hin gedreht, das Datenstirnband hing schief über die Lehne. Anscheinend hatte Rihm sich zur Tür umgedreht, schnell das Interface abgestreift, und dann war irgendwas passiert, wodurch die sonst sorgfältig sortierten Bauteile und Speicherchips seiner aktuellen Aufträge quer über den Boden verstreut worden waren. Die schwarz lackierte Blechtür hatte einen großen Kratzer, war davon abgesehen aber intakt und, soweit Cle es vom Tisch aus erkennen konnte, von außen verriegelt.

„Scheißdreck“, fluchte Cle leise vor sich hin. Nichts deutete an, dass der Bastler diesmal freiwillig verschwunden war. Das hätte die Angelegenheit herrlich einfach gemacht.

Er hatte eine eindeutige Meinung über Rihm. Und zwar hielt er ihn für eine seelisch labile Konstruktion, die ausschließlich für sich selbst eine ernsthafte Gefahr war. Was er hasste, zog ihn magisch an; dieser Schatten stürzte sich selbst in eine Krise nach der anderen.

So zum Beispiel die Hardware: Jeder wusste, dass Rihm die flache Außenwelt noch mehr verabscheute als jeder per Schlauch ernährte Techie, und doch reparierte und installierte er Schaltungen im Auftrag verschiedenster Kunden, bevor er sich abends wieder ins Netz einklinkte.

Zurück auf dem dunklen Glasboden in der heimischen Eingangshalle, wechselte er in den surrealistischen Garten, den er einst für Tina gezeichnet hatte, stellte den Sonnenstand auf frühen Abend ein und öffnete ein Nachrichtenfenster zu seiner Freundin.

Tina programmierte gerade ein ziemlich komplexes Symbol, von dem Cle noch nicht zu raten wagte, was es einmal tun sollte. Da sie beide seit ein paar Monaten einen kleinen Wettstreit um das bessere Optimierungskonzept ausfochten, hätte sie es ihm wahrscheinlich sowieso nicht erklärt.

Nachdem sie die Störung einen rhetorischen Moment lang ignoriert hatte, schaute sie auf und lächelte ihn an. „Ist es schon so spät?“ fragte sie überrascht.

„Gibt Ärger“, antwortete Cle und ließ ein Standbild von Rihms Kellerraum aufleuchten. „Der Schatten hat sich eine größere Krise eingefangen als üblich.“

Ein unscheinbarer, grau in der Sonne glitzernder Luftgleiter überquerte den Pazifik, blau und friedlich zog der Ozean einen Kilometer unter ihm dahin. In der Passagierkapsel war es still, strukturierte Kunststoffwände schirmten den Motorenlärm restlos ab.

Auf dem grau gestreiften Fußboden standen zwei Männer in unauffälliger Freizeitkleidung neben einer schmalen Liege, auf der ein dritter langsam aus tiefer Bewusstlosigkeit erwachte. Der Größere von ihnen trug einen schulterlangen, hellbraunen Zopf im Nacken, der sich dunkel vom naturfarbenen Baumwollmantel abhob.

Ungeduldig schaute er den anderen Mann an, dessen dunkelgrüner Anzug von einem weißen Kittel bedeckt wurde. Die weiten Ärmel endeten knapp über zwei Händen in weißem Latex, die gerade eine Nadel aus dem Oberarm des Bewusstlosen zogen und die rote Stelle mit Kunsthaut-Spray verschlossen.

„Wann wacht er auf?“ fragte der Langhaarige den Weißkittel, der noch einmal die kleine Narbe am Kopf seines Patienten prüfte.

„Beweis mal etwas Geduld, Charly“, antwortete er, „es kann sich nur noch um Sekunden handeln.“ Der Patient war vierundzwanzig Jahre alt, sah mit seinem schmalen, weißen Gesicht und den langen Fingern aber etwas jünger aus. Sein schwarzes Haar war an einer Seite streng nach hinten gekämmt, um so chaotischer fiel es über die andere Gesichtshälfte und die schwarz gekleideten Schultern. Schattenhafte Augenringe unterstrichen seine Hilflosigkeit, als seine Wimpern zu zucken begannen.

Nahezu bewegungslos kämpfte Rihm um Kontrolle über seine Gliedmaßen. Grelles Neonlicht blendete die halb geöffneten Augen. Eine zitternde Hand hob sich und wurde langsam ruhiger, bis sie starr über seinem ausdruckslosen Gesicht stehen blieb.

„Guten Morgen“, sagte Charly höflich, dann half er ihm in eine aufrechte Position. Auf die Hände gestützt saß Rihm auf der harten Liege und starrte durch die transparente Wand auf Wolken und tief unten schimmerndes Meer. Verloren, dachte er, das ist das Ende.

„Man nennt dich auch den Schatten, stimmt's?“ redete der Mann im Baumwollmantel weiter. „Weißt du was, mein Schatten, ich möchte dir gleich mal etwas zeigen.“

Er beobachtete eine Weile, wie der entführte Informatiker wieder stärker zitterte und weiter aus dem Fenster starrte, dann tippte er sich mit dem Zeigefinger ans linke Ohr. „Ich hab dahinter einen hübschen Chip, der auf jeden Gedanken hört. Und du hast das Gegenstück. Was siehst du jetzt?“

Er zwinkerte kurz, und vor Rihms Augen wurde es schlagartig dunkel. Als der erste Schock vorüber war, sah er eine hügelige Ebene aus blaugrün kariertem Schaumgummi, über die ein warmer Wind leise, fröhliche Melodien trug. Alles duftete nach Blumen und feuchtem Holz. Nach zehn Sekunden war das Wunderland verschwunden und er saß wieder auf der Liege im Luftgleiter.

„Nun, wie findest du das?“ fragte Charly mit einem aufgesetzten Strahlen, das kaum künstlicher hätte wirken können. „Das ist perfekte Kommunikation. Wir können dich alles sehen lassen, jederzeit, überall. Du kannst sogar antworten, das üben wir später.“

Der Schatten fuhr sich mit der Hand durchs Haar und tastete dabei nach einer Narbe. Sie war tatsächlich da, nur einen Zentimeter neben der Kontaktstelle seines Datenstirnbands, das jetzt meilenweit weg in seinem Keller lag. Diese Fremden hatten es geschafft, es war vorbei. Er hatte verloren, bevor er herausfinden konnte, worum es genau ging.

„Was wollt ihr überhaupt von mir?“ formulierte er unsicher. Er hatte keine Ahnung, warum er hier war. Nur eines war sicher: Ab heute konnte er keinem seiner Sinne mehr vertrauen.

Cles virtueller Garten war so sorgfältig gezeichnet, dass der Unterschied zu einem Echten kaum auffiel. Eine Weile betrachtete Tina, die unter einem etwas überzeichnet blühenden Busch saß, das Bild vom verlassenen Arbeitszimmer. Dann verschob sie es in ihr Archiv und zupfte dem Zweig über ihrem Kopf eine weiße Blüte aus, um ihre ratlosen Finger zu beschäftigen.

„Wie lange ist er überhaupt schon weg? Sein schwarzes Loch kann schon seit letzter Woche so aussehen.“

„Hab seine letzte Netz-Aktivität noch nicht rausgesucht“, sagte Cle, „lange kann er aber noch nicht weg sein. Auf jedes der Bauteile wartet jemand, der sich bemerkbar gemacht hätte.“

„Dann sehen wir doch mal nach“, seufzte Tina, bevor sie eine Liste ihrer meist besuchten Räume vor sich erscheinen ließ und fünf Verknüpfungen nach oben schob. „Diese Foren hier besucht Rihm ebenfalls regelmäßig, hab ihn dort öfters gesehen.“

Mit feinen, schnellen Bewegungen formulierten die Finger ihrer linken Hand schon eine Suchanfrage. „Was meinst du, wie viele Tage wir zurück gehen müssen?“

„Vor vier Tagen hab ich noch mit ihm geredet“, antwortete Cle, „da kam er mir noch völlig normal vor – normal für seine Verhältnisse.“

Auch als er sich an das kurze Gespräch im Nachrichtenfenster erinnerte, kam ihm auf den ersten Blick nichts ungewöhnlich vor.

„Hatte so einen Speicherchip, ein neuer Auftrag, aus dem sollte er etwas entschlüsseln und hat's nicht alleine hin bekommen. Dafür wollte er ein Programm von mir“, fasste Cle sein letztes Gespräch mit dem Schatten zusammen, „aber ich bin noch nicht dazu gekommen, mir den Code genauer anzuschauen. Eine Kopie vom Speicherchip liegt in meinem Archiv. Hab versprochen, dass ich es spätestens nächste Woche einmal versuche.“

Daran war nichts Besonderes, der Schlüsseldienst war ein Hobby von Rihm. Immer wieder vergaßen manche Leute ihre Kennwörter oder sicherten ihre Schlüssel nicht richtig. Für solche Fälle bot Rihm seine Dienste an.

Manchmal beschaffte er verlorene Kennwörter wieder. Oft machte er sich auch nicht die Mühe und rekonstruierte die verpfuschte Daten seiner Kunden, ohne einen Zweitschlüssel mitzuliefern. Alltägliche Sicherungen verwendeten absichtlich knackbare Algorithmen, weil die Hersteller die Fahrlässigkeit ihre Anwender kannten.

„Mal ehrlich, Cle“, grinste Tina über den letzten Satz, „du willst mir doch nicht einreden, dass dort ein verschlüsseltes Datenpaket in deinem Terminal liegt und du es vier Tage lang nicht angefasst hast? Soviel Beherrschung traue ich dir nicht zu, Süßer.“

Erwischt! Jetzt musste er doch zugeben, womit er die vorletzte Nacht totgeschlagen hatte. „Kann es sein, dass du mich zu gut kennst? Als ich vorgestern nicht mit im Club war, da hatte ich mich an der Datei festgebissen. Hab die halbe Nacht lang alles versucht, der Besitzer muss wohl ein One Time Pad verwendet haben.“

„Und wer hat es zum Schatten gebracht? Der Besitzer bestimmt nicht.“ Tina lehnte sich vor und stützte sich mit einer Hand im Moos ab. An manchen Tagen ärgerte sie sich über Cles Eitelkeit. Heute war so ein Tag. Warum konnte er nicht gleich zugeben, dass er das Datenpaket nicht entziffern konnte?

„Lass mal den Code beiseite“, sagte sie ganz ruhig, „nehmen wir einfach mal an, dahinter steht tatsächlich ein One Time Pad, nachgewiesen unknackbar. Warum sollte der Besitzer sich die Mühe machen, einen kleinen Bastler damit zu beauftragen? Das ergibt keinen Sinn. Von wem auch immer Rihm den Chip hat, der wusste nichts vom verwendeten Algorithmus.“

„Vielleicht ein kleiner Scherz“, vermutete ihr Freund spontan. „Mit gestohlenen Daten würde er sich nicht abgeben, da hatte er schon immer so seine Hemmungen. Oder meinst du, er hat sich ein illegales Stück unterschieben lassen, ohne etwas zu bemerken?“

Zwei oder drei Minuten saßen sie stumm nebeneinander, bis Tina sich an die Suchanfrage erinnerte und sie endlich abschickte. Seit neunundvierzig Stunden hatte Rihm keine öffentlichen Spuren mehr hinterlassen. So lange konnte die Verwüstung seines Arbeitszimmers also schon her sein. Für zwei Tage in Neuseeland-2 unterzutauchen, gehörte leider zum Einfachsten der Welt.

Noch einmal griff Tina ins Archivfenster und fischte aus den vielen Dateisymbolen das Foto von Rihms Arbeitsplatz heraus. „Man sieht kaum etwas“, beschwerte sie sich, „an der hinteren Wand erkenne ich gar keine Details und Spuren draußen im Flur sind sowieso nicht sichtbar.“

Eine unangenehme Vorahnung schien nach Cle zu greifen. „Du meinst doch nicht etwa“, fragte er vorsichtig, „dass wir raus gehen und das Gebäude erkunden sollen?“

Der 3D-Schock traf ihn jedesmal hart. An den Übergang vom tiefen, virtuellen zum flachen, realen Raum würde er sich niemals gewöhnen. Länger als fünfzehn Minuten war Cle schon seit Monaten nicht mehr offline gewesen, Tina und er lebten praktisch nur noch hier im Netz mit seinen unzähligen virtuellen Räumen.

„Fällt dir etwas anderes ein?“ fragte Tina hoffnungsvoll. Auch sie scheute das Licht der Außenwelt, in der Naturgesetze sich gnadenlos durchsetzten und Wege sich nicht durch direkte Verweise abkürzen ließen.

Angesichts der wenigen Informationen, die sie über Rihms letzte Stunden hatten, fiel auch Cle nichts mehr ein. Es half nichts, sie mussten das Netz verlassen.

„Jetzt sofort?“ fragte er nur noch.

Tina schloss die Augen, um sich seelisch auf den Schock vorzubereiten. Anscheinend wartete sie darauf, dass er sich zuerst ausklinkte.

„Jetzt!“ flüsterte Cle schließlich. Irgendwie konnte er sich jedesmal dazu überwinden, fest genug an sein reales Zimmer zu denken, um vom Interface verstanden und losgelassen zu werden. Das Universum fiel um ihn herum zusammen, in einem einzigen Augenblick verlor die Raumzeit ihre Tiefe und ließ nur eine dünne Schicht aus drei Dimensionen zurück.

In der Eindruckslosigkeit einer um fast alle Richtungen reduzierten Umgebung kam Cle sich unheimlich verloren vor. Er öffnete die Augen, tastete nach der Armlehne seines Stuhls, betrachtete seine Hand dabei und stellte fest, dass gefühlte und gesehene Form übereinstimmten. Erzwungene Redundanz einer belanglosen Information. Das unzumutbare Design eines realen Raumes.

Nach ein paar tiefen Atemzügen zog er sich die Nadel aus dem Arm und legte sie in ihre Halterung am Kanister mit der Nährlösung. Diese Apparatur war seine Rettung, nur durch sie konnte er ganze Tage ohne Unterbrechung online bleiben.

Sein fünfeckiges Zimmer war ziemlich staubig, davon abgesehen aber unverändert. Wände und Decke trugen das gleiche, verwaschene Orange, der Schmutz abweisende Teppich strahlte ihm sein unvergängliches Weiß entgegen. Vor vier Wänden standen Schränke und Regale, vollgestopft mit Geräten, Speicher und altem Plunder; die fünfte Wand war verglast, ein einziges, großes Fenster mit Aussicht auf einen grün überwucherten Monumentalbau, das Botanische Institut.

Helles Tageslicht fiel durch die Scheibe auf eine offen stehende Tür an einer der zwei schräg gegenüber liegenden Wände. Im angrenzenden Raum musste auch Tina gerade abgeschaltet haben. Automatisch formte er die Handgeste für Raumwechsel, aber natürlich hörte die Außenwelt nicht darauf. Ein wenig über sich selbst kichernd streifte er das Datenstirnband ab, stand auf und lief auf dünn gewordenen Beinen zum Durchgang.

Vom Türrahmen aus sah er seine ganz schön blass gewordene Freundin, wie sie gerade ihre Nadel zurück in die desinfizierende Halterung hängte. Dann drehte sie sich um und stand ebenfalls auf. In der Tür zwischen ihren Arbeitszimmern standen sie sich zum ersten Mal seit Monaten offline gegenüber.

Der Fremde, der sich Charly nannte, setzte sich neben Rihm auf die Liege, schaute dessen Spiegelbild in der Fensterscheibe ins Gesicht. „Was wir von dir wollen? Nichts“, lächelte seine weiche Stimme, „wir wollen nichts von dir, sondern dich als ganze Person.“

Er zog es vor, bis auf weiteres gar nichts zu sagen, jedes falsche Wort könnte die Lage noch verschlimmern. Unter dem Luftgleiter zog eine gelbe Küstenlinie vorbei, das schmale Goldband eines unberührten Strands. Dahinter wurde das Land lückenlos grün, bis auf einen silbergrauen Turm, der hoch über dem Urwald thronte – die äußere Hülle eines anderen Staats, den sie direkt anflogen.

„Gleich docken wir an“, erklärte Charly weiter. „Ich gehe davon aus, dass du schlau genug bist, um keinen Quatsch zu machen.“

Die matt schimmernde Fassade des Turms füllte inzwischen das ganze Fenster aus. Am vorderen Ende der Kapsel öffnete sich eine Tür. Zwei unauffällig in Pastellgrün gekleidete Frauen bezogen links und rechts davon Stellung, während Charly noch mehr Warnungen auf Rihm einprasseln ließ, obwohl sich in seinem Kopf längst alles drehte.

„Ein paar Details werde ich ausblenden müssen. Wunder dich also nicht, wenn Dinge fehlen, die du draußen erwartet hättest. Du schaust gleich wieder durch den Chip. Diesmal siehst du, was ich sehe, nur ein wenig… gefiltert, damit du nicht auf dumme Gedanken kommst.“

Lautlos hinter den abschirmenden Wänden glitt die Luftschleuse auf, weiß verkleidete Rahmen zogen am Fenster vorbei, dann bremste das Flugzeug und blieb stehen. Durch die Tür hörte man das Zischen einer sich öffnenden Ausstiegsluke.

„Marylin führt dich zum Fahrstuhl“, beschloss Charly und deutete auf eine der Frauen in Pastell-Kostümen. Ihre leeren, orange gefärbten Augen blieben ausdruckslos, als sie Rihm die Hand entgegen streckte. „Willkommen in Kalifornien“, sagte sie, „wir werden sicher beste Freunde, bleib einfach immer in meiner Nähe.“

Die Hafenhalle sah seltsam leer aus. Rihm konnte keinen anderen Menschen sehen, als er dicht neben Marylin, Charly nur zwei Schritte hinter sich, den langen Gang zum westlichen Fahrstuhl hinunter gehen musste.

Natürlich mussten ständig alle möglichen Passagiere, Arbeiter und Roboter seinen Weg kreuzen, kein Flughafen stand zu irgendeiner Zeit leer. Lange genug hatte er fremde Bordcomputer gewartet und kleine Reparaturen für viele verschiedene Piloten ausgeführt, um sich in den Hafen-Stockwerken auszukennen. Der Unterschied zwischen Tag und Nacht war hier oben unbekannt.

Doch heute hörte er kein Rauschen ineinander verlaufender Stimmen, keine Tore öffneten und schlossen sich, alle Luftgleiter standen verlassen vor ihren Schleusen. Ohne die vorherige Erklärung hätte nichts darauf hingedeutet, dass die Leere nicht real war.

Der Chip in seinem Kopf blendete alles aus, alle Menschen, alle Bewegungen, alle durch sie verursachten Geräusche. Sogar die Bildschirme und Terminals an den Wänden waren tot, selbst daran hatte Charly gedacht.

Keine einzige Person konnte sich auf dem Weg bemerkbar machen und Rihm vermutete nach einer Weile, dass auch unübersichtliche Querstraßen und Parks für ihn unsichtbar blieben. Die Stadt, durch die er geführt wurde, schien zu sicher für eine reale Umgebung; an keinem Versteck und keiner Fluchtmöglichkeit kamen sie vorbei.

Verwirrt und durcheinander folgte er Marylin durch zwei Hinterhöfe und einen kleinen Garten in eine Holzhütte, die von außen wie eine Abstellkammer oder selbst gebaute Garage aussah. Kaum war die klapperige Tür quietschend ins Schloss gefallen, schaltete sich weiße Beleuchtung ein, so dass vier glatte Betonwände aus der Dunkelheit hervor traten. In einer Ecke stand ein aufgeschraubtes Terminal, zwei nicht wieder verschlossene Seitenplatten waren daneben an die Wand gelehnt.

„Könnte dein neuer Arbeitsplatz werden“, sagte Charly zu den offen liegenden Platinen und rückte Marylin einen gelben Klappstuhl zurecht. Dann ging er zum Terminal hinüber, griff sich ein Stirnband mit fünfzehn Sensoren vom darüber befestigten Regalbrett und hielt es Rihm hin. „Was meinst du, kleiner Schatten, wollen wir es noch heute ausprobieren?“

Der Spiegel im Flur zeigte ein seltsames Bild. Seltsam erwartungsgemäß, und doch etwas ungewohnt. Vor der verspiegelten Wand freundete Cle sich langsam wieder mit seiner äußeren Erscheinung an, während er auf Tina wartete, die noch unter der Dusche stand.

War er immer so dünn gewesen? Seine blonde Mähne war jedenfalls noch kürzer gewesen, als er das letzte Mal darauf geachtet hatte. Endlich öffnete sich das Badezimmer und auch Tina kam frisch geduscht und wieder ansehnlich heraus, warf einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel und zog ihre Schuhe an.

„So können wir uns in der Öffentlichkeit sehen lassen“, bestätigte sie seinen Eindruck.

Die abgenutzte Rolltreppe quietschte ab und zu, als sie hinunter auf die Straße fuhren. Zwischen der alten Allee, deren hohe Bäume sich wie ein Dach über dem vierspurigen Weg schlossen, und der unscheinbaren Seitengasse, an der Rihms Werkstatt wartete, lag nur ein kurzer Fußweg von zwanzig Minuten.

Auf den inneren zwei Spuren der Allee fuhren mechanische Fahrzeuge, Fahrräder und ähnliches Spielzeug. Durch zwei Baumreihen davon getrennt, waren die äußeren zwei Spuren für Fußgänger reserviert; sie bestanden jeweils zur Hälfte aus einem Laufband und einem gepflasterten Steg.

Das Laufen fiel ihnen keineswegs schwer. Es war ein weit verbreitetes Vorurteil, dass man durch zu viel Simulation seine körperlichen Fähigkeiten abbauen würde. Die steuernden Nerven blieben bestens trainiert, da man sich in der Simulation ganz natürlich verhielt, nur dass die Bewegungen kurz vorm Rückenmark abgefangen und ins Terminal umgeleitet wurden. Immer mehr Sportler, von denen außerordentliche Geschicklichkeit gefordert wurde, stiegen bereits auf virtuelle Trainingshallen um.

Als sie die schmale Querstraße gefunden und drei Hinterhöfe durchquert hatten, standen sie schließlich vor der zerbeulten Schiebetür eines demolierten Fahrstuhls. Die Tür stand offen, doch der helle Kies davor war so gleichmäßig platt getreten, dass keine Fußspuren erkennbar waren. Mit einem ungewohnt schrägen Summen versuchte der Fahrstuhl sich zu schließen.

„Offen fährt das Ding nicht“, stellte Cle fest und schaute sich im Erdgeschoss nach einem Treppenhaus um. Einen Moment später griff er in den ausgebeulten Spalt, in dem die Schiebetür zur Hälfte fest steckte, und zog eine handvoll loser Kabel heraus. „Dann überbrücken wir den Kontakt eben.“

Herauszufinden, welches Kabel zum Magnetschloss gehörte, war nicht ganz einfach, aber schließlich schafften sie es doch noch, die Tür kurz zu schließen. Sanft rauschte die vorn offene Kabine auf die zweite Kellerebene hinab. Viereck an Viereck reihten sich fast identische, beige lackierte Türen aneinander, nichtssagende Abstellkammern oder Partykeller fremder Leute. Nur an einer davon hing ein Schild aus stumpf gewordenem Messing.

Wiederbeschaffung verlorener Passwörter Kryptoanalyse Hardware-Installation und Reparaturen Öffnungszeiten nach Absprache, bitte anklopfen

Kein Zeichen einer Beschädigung fand sich auf dem hellen Lack, kühl und abweisend hing das Tor zu Rihms Schattenreich im Rahmen, daneben schimmerten die zehn Tasten eines Nummernschlosses an der Wand.

„Den Zugangscode wird wohl niemand geändert haben, oder?“ Fragend schaute Cle auf die Ziffern und dann zu Tina.

„Probier's doch aus“, sagte sie schulterzuckend. „Ich glaube kaum, dass sich jemand die Zeit genommen hat.“

Daraufhin tippte er den alten Zugangscode ein, den sie alle zusammen vergeben hatten, als der Raum noch geheimer Treffpunkt ihrer Schulklasse gewesen war. „Typisch unser Schatten“, flüsterte er grinsend, vom klickenden Riegel übertönt, „jegliche Daten dreifach sichern, aber das Türschloss nur alle sieben Jahre mal wechseln.“

„Sind wir denn anders?“ hörte er Tinas leise Stimme dicht hinter seinem Ohr, als ihr Arm an ihm vorbei gegen das kalte Metall stupste und den Blick aufs Chaos eröffnete.

Die alte Holzkiste, in der sonst immer die frisch reparierten oder erweiterten Bauteile auf ihre Besitzer warteten, lag umgekippt in einer Ecke. Der Inhalt war quer über den Boden verstreut: Info-Armbänder, Taschenkalender und lose Speicherchips, alle mit weißen Namensschildern, manche achtlos zertreten.

Vorsichtig balancierten sie um die verstreuten Gegenstände herum zum Tisch, wo noch immer das angeschlossene Interface-Stirnband schief auf Rihms Drehstuhl hing. Ein schwarzer Kabelstrang aus zehn dünnen Drähten verband es mit dem Terminal, dessen oranges Glimmen den Wartemodus anzeigte. Es war ohne Abmeldung stehen gelassen worden.

Tina starrte ein paar Sekunden lang auf die ausgekippte Kiste. „Was können die nur gesucht haben?“ dachte sie laut nach. Kurz darauf fiel ihr die Antwort selbst ein. „Garantiert hat jemand den verschlüsselten Chip mitgenommen, von dem du eine Kopie hast.“

Noch bevor Cle etwas dazu sagen konnte, klopfte jemand an. Da es hier sowieso nichts mehr zu holen gab, ging er zurück zur Tür, schob dabei mit dem Fuß ein paar Chips beiseite und ließ den unerwarteten Besucher hinein.

Eine ältere Dame schob sich durch den gerade ausreichenden Türspalt. Sie erschrak so sehr über den Zustand des Kellers, dass sie gar nicht hörte, wie die halb geöffnete Tür zurück ins Schloss fiel.

„Was ist denn hier passiert“, rief sie, „ist denn der Meister gar nicht da?“

„Ein Meisterbetrieb? Ich hab's für einen Hobbykeller gehalten“, kommentierte Cle abfällig, bevor er sich wieder zu Ernsthaftigkeit zwang. „Wo er hin ist, wüssten wir auch gerne. Haben sie einen Termin?“

Die alte Dame schaute sich traurig um, zog dann ein Stückchen Folie aus der Hosentasche. „Ja, mein Notizbuch, immer wieder vergesse ich das Kennwort. Ich habe es schon viermal hier zurücksetzen lassen, der Junge kriegt das immer so schnell und zuverlässig hin. Auf dem Abholschein steht, dass es heute fertig sein sollte.“

„Ich befürchte, der Junge hat einen Code zu viel geknackt“, seufzte Cle, nahm ihr den Abholschein aus der Hand und suchte den Namen. „Dann werden wir mal suchen, Frau Yang. Wie sah ihr Notizblock denn aus?“

Insgeheim verfluchte er die Alte, nervende Kunden hatten ihm gerade noch gefehlt. Doch um sie schnell wieder loszuwerden, fischte er eine Minute später die silbern glänzende Scheibe mit Schmetterlingsmuster aus einer Ecke, fegte den Staub vom rot eingefassten Bildschirm und reichte ihr den elektronischen Notizblock. Erst als die von innen schwarz lackierte Tür hinter ihr zu fiel, atmete Cle auf und wandte sich wieder dem Terminal zu.

Lange währte die Ruhe jedoch nicht. Kaum waren sie wieder zu zweit in Rihms verwüsteter Werkstatt, polterte etwas im Flur. Schnelle Bewegung vermischte sich mit den langsamen Schritten der Kundin. Gedämpfte Stimmen drangen unverständlich durch die Wand, dann klopfte schon wieder jemand an.

„Tinchen, wollen wir wirklich aufmachen?“ fragte Cle, der gerade das Stirnband neu einstellte, um einen Blick ins Auftragsbuch zu werfen.

„Wer harmlos ist, verschwindet doch schnell wieder“, meinte Tina gleichgültig, „und wer nicht harmlos ist, wird sonst warten, bis wir raus kommen und dabei erst richtig sauer werden.“

Achtlos wischte sie mit dem linken Zeigefinger über den Türöffner. Sofort wurde die Tür aufgestoßen, ein dunkelhäutiger Mann von ungefähr dreißig Jahren, mit kurz geschorenem Haar und dunkelgrauem Anzug, kam aufgeregt herein und stolperte über einen vergoldeten Taschenkalender.

Er sah sich in der Werkstatt um und wirkte auf traurige Art enttäuscht, als hätten sich gerade seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

„Sie waren schon hier“, sagte er leise, ließ die Schultern hängen und sah die zwei schmalen Gestalten an, die überrascht zurück schauten.

Tina, die Hand noch am Türöffner, fand zuerst wieder Worte. „Wer war hier?“

„Die Kalifornier“, antwortete der Fremde. „Sie müssen mich beobachtet haben, wie ich den Chip mit dem Datenpaket hier abgegeben habe. Ich wollte es nur bis heute hier lagern. Niemand hätte es entziffern können und ein Stück Code mehr oder weniger fällt in dieser Kammer nicht auf. Wo steckt der Schatten, habt ihr ihn gesehen?“

„Klärt uns mal jemand darüber auf, was hier überhaupt abgeht?“ fragte Cle, bevor er sich rückwärts auf den Drehstuhl fallen ließ. Tina lehnte sich bequem an die Wand und wartete auf eine Antwort.

„Darf ich nicht einfach so verraten“, erwiderte der Mann in Grau. „Wisst ihr irgendetwas über diesen Typen, dem ich den Code anvertraut habe? Er muss doch etwas gesehen haben. Ich muss ihn unbedingt sprechen.“

Tina lehnte sich noch demonstrativer gegen die Wand, spielte mit ihren dunkelbraunen Locken und blickte in die Luft. „Ach, du auch? Was meinst du eigentlich, warum wir hier sind? Rihm ist seit drei Tagen abgetaucht.“

Ungläubig studierte der Fremde ihr Gesicht. „Seit drei Tagen?“ Er wartete kurz auf eine Reaktion, bevor er weiter redete. „Das kann nicht sein, vorgestern hab ich noch ein Memo von ihm bekommen. Hab so getan, als wollte ich mich nach seinem Fortschritt mit dem Code erkundigen, nur um festzustellen, ob der Speicherchip noch da ist. Er war noch da… beide da… Bastler und Chip.“

„Na gut“, unterbrach Cle ihn ungeduldig, „dann ist er eben erst seit zwei Tagen verschwunden, oder seit gestern, oder seit heute Morgen. Und wenn ich mir dieses Band mal so anschaue“, er ließ das Datenstirnband zwischen zwei Fingern schaukeln, „und den Rest seines Arbeitszimmers, dann liegt es verdammt nahe, dass deine Kalifornier ihn mitgenommen haben – inklusive dem Code.“

Drei Atemzüge lang starrte der Fremde auf den noch immer orange leuchtenden Ring um die Stelle, an der das Kabel im Terminal verschwand. Schließlich lehnte er sich neben Tina an die Wand und legte den Kopf in den Nacken, als sähe er etwas im Strahlen der Deckenlampe.

„Natürlich“, sagte er gezwungen ruhig, „sie kommen nur an ihm vorbei an den Chip, also werden sie gesehen, also müssen sie ihn mitnehmen. So viel Leichtsinn hätte ich denen nicht zugetraut. Ich dachte, der Chip wäre hier sicher, wo ein völlig Unbeteiligter darauf aufpasst.“

„Unbeteiligt an was?“ fragten Tina und Cle gleichzeitig.

„Kann ich nicht jedem sagen“, war die einzige Antwort, „aber mit einem Einheimischen im Gepäck werden sie bestimmt nicht länger als nötig im Land bleiben. Wenn wir sie noch erwischen, dann im Flughafen.“

Die kalten Betonwände der Kammer hatten keine sichtbare Tür, dennoch gingen Leute hinein und hinaus. Vor einigen Stunden – war es morgens gewesen? – hatte sich links vom Terminal eine Schiebetür manifestiert, durch die Charlie den Raum betreten hatte, um Rihm ein paar Programme zu zeigen. Doch er empfand nicht das geringste Interesse daran, sich mit dem fremden Code auseinander zu setzen.

Jetzt erschien eine schmale Tür an der Wand links davon. Sie war aus hellem Holz und hing in einem weißen Rahmen. Die Holztür schwang auf, diesmal besuchte ihn die Frau, die ihm als Marylin vorgestellt worden war. Hinter ihr verschwand die Tür aus Rihms gefilterter Wahrnehmung.

„Bist du wirklich hier?“ fragte er die stark geschminkte Kalifornierin, ohne lange hoch zu schauen. Er saß an eine Wand gelehnt auf dem mit roten und braunen Teppichfliesen gekachelten Boden und grübelte seit Stunden darüber nach, wie er erkennen konnte, ob etwas real oder Halluzination war.

„Du musst nicht an mich glauben“, antwortete sie beleidigt, „ich werde trotzdem nicht verschwinden.“

„Das weiße Hemd steht dir nicht“, bemerkte Rihm gelangweilt, „aber wahrscheinlich ist es sowieso nur Täuschung. Stehst du nebenan, malt der Chip dich in meine Welt?“

„Gib's auf, so wirst du mich nicht los!“ Das aufgesetzte Lachen wirkte wie eingeübt. Ihre Freundlichkeit war künstlich wie billigstes Plastik, als sie sich zu ihrem Gefangenen auf den Boden hockte und eine gelbe Tüte abstellte. „Du hast noch nichts gegessen, seit du bei uns bist. Magst 'ne Orange?“ Marylin griff in die Papiertüte und zog eine Apfelsine heraus. „Es ist wirklich eine, versprochen.“

„Nein danke“, war seine einzige Antwort. Dieses Ding konnte alles mögliche sein, wenn nicht nur eine weitere Simulation.

„Magst du lieber eine Kiwi?“ Die Orange verwandelte sich in ihrer Hand in eine grünbraune Kiwi.

„Lass es doch mal ein Apfel sein.“

„Wenn du unbedingt willst“, die Kiwi wurde zum Apfel, „kannst du auch so ein Trugbild haben. Aber wolltest du nicht etwas Reales sehen?“

„Im Prinzip ja, aber ich bin mir noch nicht sicher, woran ich etwas Echtes erkenne, wenn ich es sehe. Der Fussel dort auf dem roten Karo, ist der wirklich?“

„Hier ist alles real, mit Ausnahme der Betonblöcke wo die Ausgänge wären. Warum sollten wir dir mehr vorenthalten, als nötig ist? Später können wir den Chip vielleicht sogar ganz abschalten.“

Rihm zupfte ein paar Fusseln aus dem Teppich, die sich genauso echt anfühlten, wie Marilyns billiges Parfüm. Dann nahm er ihr den Kiwi-Apfel aus der Hand, der jetzt wieder eine Apfelsine war, und zeigte damit auf die gelbe Tüte. „Ist da auch etwas drin, das mir als Wasser erscheinen könnte?“

„Schau selber nach“, sagte sie und schob ihm die Papiertüte mit ihrer Schuhspitze vor die Füße. „Dir wäre es bestimmt lieber, wenn ich verschwinden würde, stimmt's?“

„Gut geraten“, bestätigte er, dann schaute er erleichtert zu, wie sie die Tür sichtbar werden ließ und verschwand.

Letzten Endes geht es im Leben doch nur darum, fiel ihm plötzlich ein, sich einen Wahn heraus zu picken und für real zu halten.

So und nicht anders entstand Wirklichkeit aus einem Netz von Sinnen, denen es piepegal war, woher sie ihren Input nahmen. Mit diesem Gedanken griff er nach der lecker duftenden Tüte und kippte sie aus.

Im rund um die Uhr belebten Flughafen-Stockwerk flackerte alle dreißig Sekunden die Projektion an der Decke, um die ankommenden und abreisenden Luftschiffe der letzten und nächsten zehn Minuten aufzulisten.

Gerade tanzten die holografischen Buchstaben wieder durcheinander und formten neue Zeilen. Der Mann im grauen Anzug schaute kurz hoch, schüttelte den Kopf und lief weiter. Vor einer Info-Säule am linken Rand der Halle blieb er stehen.

„Registrierte Flüge zum nordamerikanischen Kontinent?“ fragte er das Gerät so leise, dass Tina und Cle hinter ihm es gerade noch verstehen konnten. „Zeitraum von vorgestern bis jetzt.“

„Keine entsprechenden Flüge sind bekannt“, antwortete die weiche Automatenstimme der Säule.

„Abreisende Schiffe ohne bekanntes Ziel?“

„547 nicht registrierungspflichtige Flüge in den letzten zwei Tagen.“

Der Herr verlor langsam die Geduld. „Wo landen die Mittelklasse-Jets?“ fragte er hektisch, wartete auf den Fersen wippend die Antwort ab und lief dann noch zweihundert Meter weiter die Halle hinunter, die zwei Techies dicht hinter ihm.

Auf seinem Weg entlang der Luftschleusen fragte er den einen oder anderen Hafenarbeiter, ob er jemand Bestimmtes gesehen hätte, zeigte Fotos und beschrieb Personen. Niemand wollte etwas gesehen haben.

Die Ankunft- und Abflugzeiten der einzelnen Flugzeuge leuchteten rot auf weiß über den Schleusen, doch nur bei wenigen lagen die zwei Zeiten mehr als einen halben Tag auseinander. Doch schließlich fanden sie ein weiß lackiertes Luftschiff das schon drei Tage im Hafen stand und erst morgen abreisen sollte. Ein Pilot in weißem Fluganzug und buntem Freizeitumhang saß auf dem Dach und blätterte in einer Zeitschrift.

„Guten Abend“, rief der Mann in Grau, „haben sie vielleicht kurz Zeit?“

„Worum geht's denn“, rief der Pilot vom Dach herab. Dann sprang er hinunter zu den drei Besuchern, schaute neugierig auf die Fotos.

„Haben sie eventuell etwas Ungewöhnliches beobachtet, ist ein Typ mit schwarzer Mähne vorbei gekommen?“

„Der Schatten? Der kommt öfter vorbei. Repariert dies und das.“

„Und in Begleitung dieser Personen?“

Der Pilot sah noch einmal die Fotos an, zuckte dann mit den Schultern und lehnte sich gegen sein Luftschiff.

„Vor zwei Netz-Junkies muss ich gar nichts erzählen“, sagte er zu Cle und seiner Freundin. „Was habt ihr gegen den Schatten, der ist total in Ordnung. Hat mir neulich eine neue Software eingespielt, die mein Flugzeug voll automatisch in die Schleuse navigiert.“

„Im Gegenteil, wir müssen ihm helfen“, versuchte der Besucher zu erklären. „Kurz nachdem er dieses Programm installiert hat, ist etwas passiert, von dem sie eventuell als Letzter etwas gesehen haben.“

„Ich soll einem farblosen Fremden, der mit zwei Junkies durch die Gegend zieht, Bericht erstatten? Ich mag diese Typen nicht, sind irgendwie seltsam. Nur soviel: Gestern hab ich ihn noch da drüben gesehen, wo jetzt der Jet von Kollege Sergej parkt.“