Halbsichtigkeit - Corinna John - E-Book

Halbsichtigkeit E-Book

Corinna John

4,9

Beschreibung

Ein Programm mit sieben-dimensionaler Benutzeroberfläche ist gar nicht schwer zu schreiben, wenn man das neueste Neural-Interface verwenden kann. Verstörend sind nur diese unberechenbaren Zugriffsfehler beim Schreiben in die Gedanken des Benutzers. Diese Story nimmt Dich an die Hand, führt Dich in x-dimensionale Simulationen, an den Rand der farbenfrohen Welt alltäglicher Synästhesie, und eventuell (kommt ganz auf Dich an) nebenbei noch an die Grenzen Deiner Vorstellungskraft.

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Mit Dank an

alle Linux- und LibreOffice-Entwickler,

weil ihr das Werkzeug zum Schreiben liefert.

meinen nachsichtigen Mathe-Lehrer,

weil ein Teil- dieses Textes vielleicht nie entstanden wäre,wenn ich nicht in seinem Unterricht über x hoch 7 geträumthätte.

alle hier Fehlenden,

weil ihr bestimmt die Wichtigsten seid.

Vonek saß vor seiner vierten Schalttafel und steckte bunte Netzwerkkabel um. Fünfhundertzweiunddreißig Bewohner waren in dieser Woche umgezogen. Die meisten persönlichen Netzanschlüsse hatten sich automatisch neu zuordnen lassen und mit den anderen zwanzig Kabeln würde er auch gleich fertig sein.

Dass die Leute sich nicht einfach für ein Stockwerk entscheiden konnten, störte Vonek wenig. Dafür waren so leichte, kleine Aufgaben zu entspannend. Nervige Angelegenheiten wie verseuchte Wasserwerke verschonten sein Haus glücklicherweise die meiste Zeit über.

Den letzten Stecker noch einsortiert, dann kurz die Verbindungen in die Wohnungen prüfen. Er drehte den Kopf nach oben, wo keine zwei Meter über ihm ein Bildschirm an der weißen Zimmerdecke den Status der gerade veränderten Switchports anzeigte. Zwanzig orange Lichter färbten sich langsam gelb, während Dienstprogramme neue Verbindungen aufbauten, zu grün beim letzten Qualitätstest, und schließlich zu hellblau für alles okay.

Über der Decke lasteten fünf Kilometer Haus. Menschen trampelten auf fünfhundert Etagen über seinem Kopf herum, langweilten sich in den Büros und Lagerhallen der ersten vierzig Ebenen, verabredeten sich in den schrill-bunten Städten darüber, vielleicht blinzelten sie am Rand der niedlichen Dörfer zwischen Stockwerk 160 und 300 durch dicke Fenster in die Wolken.

Darüber, in den Gärten und Parks, wo Pflanzen in indirektem Sonnenlicht grün strahlten, wurde bestimmt auch heute die eine oder andere Schulklasse durch blühende Sträucher geführt.

Die letzten fünfzig Etagen gehörten dem Flughafen, und das Dach den Antennen.

Zweihundertzwanzig Häuser wuchsen aus der Erde in den Himmel, fünfundzwanzig davon in Europa – jedes eine kleine Welt für sich und dennoch alle ähnlich.

Auch wenn nicht alle Türme exakt baugleich waren, so waren sie doch gleich genug, dass er genauso gut den Turm Frankreich oder Italien hätte versorgen können. Voneks Turm war Deutschland. Welcher war der nächste auf der Landkarte? Dänemark oder Holland?

War das von Bedeutung? Luftschiffe konnten jedes Haus der Welt in wenigen Minuten erreichen. Was dazwischen lag, ging nur die Tiere etwas an, denen die naturbelassene Wildnis gehörte.

Obwohl die Menschen, Tiere und Pflanzen dort oben der Sinn seiner Arbeit waren, kamen sie ihm unendlich weit weg vor, fast nicht mehr real, ausgeblendet hinter friedlich summenden Kabelsträngen, abgeschirmt jenseits des rauschenden Kraftwerks hinter der gelben Tür neben ihm.

Sein Reich war das der Technik im Keller, hundert Meter unter der Erde. Hier lief alles zusammen, was das Haus beisammen hielt. Datenströme flimmerten herunter, durch Verteiler und Router und wieder hinauf. Wasser floss von den Gärten durch die Wohnetagen in die Aufbereitungsanlage, und trieb dabei Turbinen an, die es am nächsten Tag wieder hoch pumpen würden.

Voneks Welt war ein Meer der Ruhe; und doch vibrierte seine Struktur von einer Überdosis geheimer Schönheit.

Ein Haus mit mehreren Millionen Bewohnern zu warten, war kein besonders schwerer, aber dennoch manchmal ein zeitraubender Job. Vor ein paar Wochen hatte Vonek die Verwaltung um eine Aushilfe gebeten, einen Techniker der an ausgelasteten Nachmittagen mit anpacken konnte. Und der abends nach hause ging. Für sich selbst hatte er die Ecke zwischen zentralem Netzwerkknoten und Datenterminal als das eingerichtet, was man freundlicherweise als Wohnung bezeichnen konnte.

Mit dem Neural-Interface des Terminals konnte er sowieso nicht richtig umgehen. Daten abrufen, mit seinen wenigen Freunden reden, Aufträge protokollieren, das ging alles noch. Von den Netz-Funktionen ließ er aber lieber die Finger, dafür benutzte er das zweidimensionale Display in der Arbeitsplatte.

Den Schreibtisch mit dem 2D-Bildschirm in der Tischplatte hatte er neben das Interface geschoben. Zusammen ergab das eine ideale Kommunikationsecke, von der er sich die meiste Zeit über fernhalten konnte. Aber die sich täglich von Neuem ansammelnde Post wollte gelesen werden, was soll's.

Vonek stand auf. Regale wie Wände voller Anschlüsse schienen ihm ein „bis morgen“ hinterher zu summen, als er am Wohnzimmer vorbei zum Terminal ging. Die Elektroden des Neural-Interfaces passten sich automatisch seinem Kopf an, und nach einem vernebelten Augenblick sah er die hinterlegten Informationspakete vor sich liegen.

Um vier der sechs Pakete konnte er sich genauso gut morgen kümmern. Das Vierte kam von der Verwaltung, und das Letzte enthielt irgendetwas Eiliges.

Na gut, dachte Vonek, wenn es denn so eilig ist, schaue ich es heute noch an. Das Interface überspielte die Informationen des Pakets in sein Gedächtnis, wo sie sich Stück für Stück niederließen, bis sie ein klares Bild ergaben.

Im Westteil des zweiundvierzigsten Stockwerkes würde morgen eine Fabrik ans Netz gehen. Er sollte vorher noch die Stromversorgung der Region prüfen, damit keine Überlastungen auftreten konnten.

Wäre natürlich zu viel verlangt gewesen, dass ihnen so was früher einfällt, dachte er und öffnete das Informationspaket der Verwaltung.

Die gelbe Tür zum oberen Teil- des Kraftwerks fiel mit einem leisen Klicken ins Schloss. Ich werde das Wohnzimmer halbieren müssen, dachte Vonek, während er über die Treppe sprang, die zum unteren Teil- und der Fusionskammer führte. Wo war nochmal der Kabelkanal zu den Stadtetagen?

Schon übermorgen stecken die tatsächlich einen zweiten Alleskönner in meinen Server-Keller. Ich hätte, wenn überhaupt, erst nächsten Monat damit gerechnet ...

Eine Projektion der Verbindungsstellen bis zu Region West-42 glitzerte in der Luft. Zwei davon müssten erneuert werden, damit dem neuen Teil- da draußen nichts im Wege stand.

Vonek hatte längst nicht mehr vor, gegen die zukünftige Mitbewohnerin Einspruch einzulegen. Schließlich wollte ihm niemand seinen Server-Keller streitig machen, und das moderne Terminal würde endlich vernünftig ausgenutzt werden.

Die Verwaltung schickte eine Programmiererin, die bei Bedarf auch in der Zentraltechnik aushelfen konnte. Software-Forschung war von jedem Ort aus möglich, aber kaum ein guter Programmierer wollte auch von jedem Ort aus arbeiten.

Es hieß, die größten Bitsortierer der letzten Jahre hätten sich alle in der Einsamkeit der unterirdischen Stockwerke einquartiert. Was andere als das Leben oder schlicht als Außenwelt bezeichneten, empfanden sie als nervige Ablenkung.

Die Verwaltung hatte geschrieben, dass Alexa extra den Umgang mit großformatiger Hardware gelernt hatte, um einen Posten im Rechenzentrum zu bekommen. Alexa, so hieß die Programmiererin. Seit zwei Wochen stand mehr oder weniger fest, dass sie den zweiten Platz im Rechenzentrum bekommen würde.

Die paar Arbeitsstunden, die in Voneks gut organisiertem Reich anfallen würden, ließen „einem neuen Talent von der terranischen SoftwareUniversität“ genug Zeit für „möglicherweise einmal wichtige“ Projekte. Soweit die Ansicht der Verwaltung.

Wenn sie extra jemanden aus einem anderen Haus holen, vermutete Vonek und zeigte einem Roboterschwarm den Netzplan, dann muss es schon jemand Besonderes sein.

Es war alles andere als üblich, seinen Turm jemals zu verlassen. Die kleinen, silbernen Roboter-Fliegen schwirrten davon, um einen Satz verstärkter Stromnetz-Adapter aus dem Lager zu holen.

Das nächste Haus war mehr als hundert Kilometer entfernt. Riesige naturbelassene Flächen erstreckten sich zwischen den einzelnen Türmen, und jeder Turm vereinte alles was seine Bewohner brauchten. Außer der reinen Neugier gab es keinen Grund, sich in der Natur herum zu treiben und die Erde durcheinander zu bringen. Nur selten zog jemand in einen anderen Turm um.

Die Roboter-Fliegen flogen wieder herein. Er schaute kurz nach, ob auch alle das richtige Bauteil geholt hatten, schickte eine Fliege wieder zurück und öffnete für die anderen die Klappe vor einem Tunnel. Die Roboter schwirrten durch die Öffnung und aufwärts zu den veralteten Verbindungsstellen.

In den vergangenen zwei Wochen hatte er sich ab und zu im Netz mit Alexa getroffen. Sie war ein Jahr älter als er, hatte vor kurzem ihr Studium hinter sich gebracht, von dem sie gerade mal fünf Monate auf der Erde absolviert hatte.

Fast alle Hochschulen für Daten verarbeitende Fächer befanden sich auf verschiedenen Raumstationen. Kreisten um ferne Monde, die ihre Architekten einst für besonders faszinierend gehalten hatten.

Im Netz hat Alexa gar nicht verrückt gewirkt. Vonek stellte sich das Foto der jungen Frau noch einmal vor. Nur irgendwie geheimnisvoll.

Alexa hatte über alles mögliche mit ihm geredet, aber kein einziges Wort darüber heraus gerückt, was sie denn gerade so Spannendes erforschte. Siehst Du nächste Woche selber, war ihr einziger Kommentar gewesen und dabei war es geblieben.

An der Software, die das Haus mehr oder weniger automatisch steuerte, gab es noch einiges zu Verbessern. Bestimmt ließ sie sich soweit anpassen, dass man nicht mehr so oft von Hand in die Routine-Abläufe eingreifen musste. Ob das die Zeit der neuen Programmiererin wert war?

Noch zwei Tage Gnadenfrist, dachte Vonek. Wie lange lebte er schon alleine in seinem Keller? Zwei Jahre? Nein, zweieinhalb. Wie oft hatte er den Keller in diesen zweieinhalb Jahren verlassen? Nun ja, eigentlich war er beim Einzug froh gewesen, das aufregende Haus nach neunzehn Jahren hinter bzw. über sich zu lassen.

Man musste eine totale Meise haben, um Haustechniker in Vollzeit zu werden. Gerade das qualifizierte ihn für seinen Beruf. Mehr verträumte Verrücktheit erwartete man höchstens von Netzwerk-Journalisten und Programmierern – den Gruppen, die den Großteil ihrer Zeit am Datenstirnband verbrachten.

Für den Posten hier unten hatte die Turmverwaltung ihn damals direkt von der Schule weg angeworben. Man hatte jemanden gesucht, den noch niemand auf dumme Gedanken gebracht hatte. Der die Generalschlüssel für genau eine Aufgabe zu nutzen wusste, ohne sie für irgendwelche durchgeknallten Ideale zu missbrauchen. Kurz gesagt: Einen ungebundenen Niemand.

Er wanderte zwischen Bett und Küche hin und her – seiner Wohnung, die vorne vom zentralen Datennetz-Knoten begrenzt wurde und hinten von der Kommunikationsecke.

Die Fläche musste geteilt werden, eine blickdichte Trennwand wäre auch nicht schlecht. Wenn er das Sofa und den Schrank quer stellte, und eine Trennwand dahinter, dann wären das zwei Räume. Ein brauchbarer Anfang.

Das Terminal gehörte ganz klar ins neue Zimmer, die letzte Regalzeile des Datennetz-Knotens berührte dagegen nur sein Zimmer. Wohin mit der Küche? Die würden beide brauchen. Er schob sie quer zum Schrank, so dass sie zu jeweils einer Hälfte in beiden Zimmern stand. Dadurch bekam der nach vorne immer noch offene Wohnbereich zwei getrennte Eingänge.

Das Ergebnis sah zu ideal aus. Wo war der Haken? Der fiel Vonek nicht ein, also warf er sich auf sein nun verdreht stehendes Sofa und schlief ein.

Am nächsten Tag summte die Türklingel schon gegen Mittag. Vonek saß am Bildschirmtisch, in der Ecke die er wohl bald abgeben musste, und überflog die Nachrichten der letzten Woche. Ganz wie von hinterm Mond wollte er nicht wirken, falls ihm jemand über den Weg laufen und irgendein aktuelles Ereignis erwähnen sollte.

Mit einem Winken holte er das Bild der Außenkamera auf die Tischplatte. Ein paar Möbelpacker in roten Anzügen hatten drei Kisten vor den Eingang geschoben und wollten sie nun weiter schieben.

Er stand auf, ging hinüber zur Tür, blieb stehen und schaute sich um. Ging zurück, schaltete das Kamerabild ab und eine Zeitungsseite von heute in den Vordergrund. Dann ging er wieder zu der breiten Schiebetür und ließ die Möbelpacker herein.

„Guten Tag Herr ... ähm ... Hallo Admin. Wir sollen hier das Bisschen Gepäck aufbauen. Für die kleine Hackerin, die morgen einzieht,“ sagte einer der Männer.

Vollidiot, hätte Vonek beinahe erwidert. Bei so einem Umgangston weiß ich gleich, warum ich lieber alleine bin.

„Hab schon mit euch gerechnet, hier geht es lang.“

Mit möglichst großem Abstand zum Netzwerkknoten zeigte er den Fremden den Weg durch den Keller und ließ sie die drei Kisten vor dem – nun vom Küchenblock begrenzten – Wohnbereich abstellen. Viel Kram brachte Alexa wirklich nicht mit.

Die üblichen Möbel wurde aufgebaut; ein kleiner oranger Schrank, ein blaues Bett, ein holzfarbener Tisch mit passendem Stuhl. Die letzte Kiste blieb halb leer im Zimmer stehen, wahrscheinlich enthielt sie persönlichen Kleinkram.

Wozu brauchte ein Programmierer schon reale Dinge? Eine weiße Folie wackelte am Rand seines Blickfelds. Der Chef der Möbelpacker wedelte mit seiner Checkliste.

„Diesem Raum fehlt etwas. Sag mal, hast du denn gar keine Wände?“

Könntest du sie sehen, wenn du davor stehen würdest?

„Nein, ich hab nie welche gebraucht, hier kommt ja doch fast nie jemand herunter. Habt ihr zufällig eine dabei?“

Die Arbeiter freuten sich anscheinend auf einen Grund, nochmal wieder zu kommen. „Aber klar doch, die liegen seit zwei Jahren eine Etage höher im Lager. Du hättest deine Wände jederzeit abholen können. Wir fahren gleich hoch und holen sie.“

Der Chef rief seine Arbeiter zusammen, die neugierig das Terminal begafften, oder diskutierten, wohin welches Kabel am Netzwerkknoten führen könnte.

„Nicht nötig,“ entgegnete Vonek, „schickt einfach einen Roboter damit herunter, aufbauen kann ich sie auch selber.“

Mit einem freundlichen Lächeln kommentierte er die neugierige Gruppe auf den Flur hinaus.

Luftschleusen zischten sanft, die Türen der Flugkapsel glitten geräuschlos auseinander, doch weder Licht noch Schatten fiel in die Kabine. Die Beleuchtung in der Halle hatte sich stufenlos an die Helligkeit in der Kapsel angepasst.

Lissa wollte aufspringen und ihr neues Haus erkunden, aber sie mochte auch nicht zu aufgeregt wirken. Von der reinen Architektur her war das Haus Deutschland genauso gebaut wie ihr altes, das Haus Norwegen.

Sie hatte die wichtigsten Fakten gesammelt, über die Einwohner, deren beliebteste Haustiere und vorrangig angebauten Pflanzen. Im Netz hatte sie Kontakt zu Bewohnern gesucht und deren eventuelle Eigenarten erkundet. Und jetzt war sie hier. Landefläche 33, Stockwerk 485, fünf Uhr früh.

Sollte nicht jemand hier sein, um sie den ersten Tag lang durch den Turm zu führen? Im Ausstieg stieß sie beinahe mit diesem jemand zusammen.

„Guten Morgen, sind sie Alexa? Dann bin ich ja im richtigen Luftschiff. Ich soll dir das Haus zeigen.“

Ein Mädchen von etwa fünfzehn Jahren stand in der Tür, irgendjemand hatte sie in einen zu großen silberblauen Anzug gesteckt.

„Danke, du kannst mich einfach Lissa nennen“, antwortete sie. „Wer hat dich hier herauf geschickt?“

„Meine Eltern arbeiten in der Verwaltung. Ich soll auch mal etwas Vernünftiges machen, finden sie. Weil ich mich sowieso immer überall und nirgends herumtreiben würde, wäre ich ein guter Fremdenführer.“

Das Mädchen kicherte kurz, sprang dann grinsend die Rampe hinunter. Lissa folgte ihr in die schneeweiß beleuchtete Hafenhalle.

Die Eisschicht am Luftschiff schmolz hier drinnen, so dass die ganze Außenhülle glitzerte. Unzählige Wassertropfen brachen das weiße Licht, das als Regenbögen an der Decke stumme Melodien tanzte. Bei diesem Anblick musste Lissa lachen. „Schau mal, da oben!“

„Wie Kristalle“, fand das fremde Mädchen. „Ist das Wolkenwasser?“ Sie fuhr mit dem Finger über den gelben Lack, und malte ein Muster in die Tropfen. „Die Regenbögen kann man fast schon riechen. Warum nennst du dich eigentlich Lissa?“

„Gefällt mir einfach besser als Alexa. Ich kann dir einen Namen abgeben, falls du keinen hast ...“

„Oh, hab ich mich noch gar nicht vorgestellt? Tut mir leid. Taral.“ Verlegen wischte sie den nassen Finger an ihrer Hose ab, und zeigte dann zum Ausgang. „Gehen wir zuerst in die Gärten, da zeige ich dir den großen Wasserfall!“

Sie gingen um das Luftschiff herum, vorbei an zwei kleinen, weißen Robotern, die ihr weniges Gepäck aus dem Laderaum hoben.

„Danach kommen wir an den Dörfern vorbei, da wohne ich. So gegen zehn Uhr sind wir beim Zentrum, da könnten wir uns eigentlich drei Tage lang aufhalten, und darunter liegt die Verwaltung. Die ist nicht so spannend. Und von der Basis darunter hab ich kaum Ahnung, die zeigt dir jemand anderes.“

„Die Basis zeigt mir der Haustechniker persönlich. Das wird mein Arbeitsplatz.“

Bevor sie beide im Fahrstuhl verschwanden, sah Lissa sich noch kurz zu den Robotern um. Die trugen ihren Koffer vorsichtig zum Transport-Tunnel, einem über fünf Kilometer tiefen Schacht, durch den Fluggeräte jeden Ort im Haus schnell erreichen konnten.

Seid bloß vorsichtig mit dem grünen Koffer, dachte sie, als der Fahrstuhl sich weich und lautlos in Bewegung setzte. Erst jetzt bemerkte sie, dass Taral sie von der Seite anstarrte.

„Ist irgendwas?“ fragte sie besorgt nach.

„Du ziehst in die Basis? Ist ja unglaublich. Wenn Papa mir vorher gesagt hätte, wen ich heute abhole, hätte ich meine Freundinnen mitgebracht. Unseren Admin Vonek sieht man nie, aber aus der Schule weiß ich ...“

„Keine falsche Heldenanbetung, klar?“ unterbrach Lissa die Kleine, die nun aufgeregter war als sie selbst. „Warst du denn schon einmal im Keller?“

„Vor ein paar Jahren haben wir mit der Schulklasse die Klimaanlage besichtigt. In die anderen Räume durften wir aber nicht rein. Es muss doch unglaublich spannend sein, jeden Winkel im ganzen Turm steuern zu können!“

Ein kleines Grinsen wollte sich auf Lissas Gesicht breit machen. Das große Mysterium Basis-Stockwerk. Typisch.

„Hör mal, selbst im größten Keller der Welt arbeiten auch nur Menschen. Und wenn die theoretisch alle Hebel in der Hand hätten, haben sie nichts zu sagen. Sie halten nur die Maschinen und Computer am Laufen.“

Als der Fahrstuhl seine Türen im obersten Garten aufschob, schlug ihnen sofort frische, feuchte Luft entgegen. Warmes Licht durchflutete die Ebene. Kräuterfelder in allen Grüntönen erstreckten sich mindestens zwei Kilometer weit, bis in der Ferne ein Hügel den Horizont markierte.

Taral packte sie an der Hand und rannte los, einen schmalen, braunen Pfad entlang, mitten durch das Muster aus hell- und dunkelgrünen Karos, in denen verschiedene Kräuter in rosa und blau blühten.

Plötzlich blieb Taral vor einem Karo stehen. Lissa stolperte beinahe.

„Riech mal! An welche Pflanze erinnert das hier?“

Die Kräuter, auf die Taral zeigte, wuchsen keine zehn Zentimeter hoch. Dafür wucherten sie lückenlos dicht über den Boden, und verströmten einen eigenartig süßen, blauen Duft. Der Geruch schien sich auf dem Weg nach oben zu kräuseln und zu verdrehen, er schlug Wellen wie ein Teich.

„Riecht nach blauen Wellen“, bemerkte Lissa. „erinnert mich aber an keine andere Pflanze. Was ist das?“

Das kleine Mädchen strahlte. Schon nach zehn Minuten konnte sie etwas zeigen das es nur hier gab.

„Ja, ich finde es riecht nach gelben Schleifen. Wie keine andere bekannte Pflanze. Ein Gärtner aus dem Nordviertel hat es gezüchtet. Er nennt es Uhrenkraut, weil es zu jeder Tageszeit anders riecht. Gegen Mittag wird es immer würziger, abends wir es sauer und körnig und Nachts riecht es nach Maiglöckchen. Man kann die Blättchen essen, aber man muss sie zur richtigen Uhrzeit ernten, damit das Aroma stimmt. Da vorne ist eine Abkürzung zum Wasserfall.“

Ein paar Schritte weiter lag ein grauer Felsen am Wegesrand. Die Vorderseite sah aus wie rauer Stein mit Moos und Flechten. In der Rückseite ließ sich eine Tür öffnen.

Solche Querverbindungen kannte Lissa aus ihrem früheren Haus. Viele kleine Tunnel und Treppen verbanden die Stockwerke. Ihre Eingänge waren immer angemessen dekoriert, so dass sie sich nahtlos in die Umgebung einfügten.

Sie trat mit dem linken Fuß auf eine Steinplatte vor dem Eingang. Etwas Sand rieselte aus den Rillen, als die getarnte Tür auf schwang. Drinnen roch es nach Moos. Eine glatt polierte Holztreppe summte langsam abwärts, eine dunklere Holztreppe daneben fuhr aufwärts.

Zwei Ebenen tiefer endete die Treppe in einer ziemlich engen Höhle. Von links fiel ein verschwommenes Licht hinein, in dem die nassen Wände geheimnisvoll glänzten. Kühler Nebel lag in der Luft, fast schon ein feiner Nieselregen aus tausenden silbrigen Punkten.

„Der Boden ist hier etwas rutschig,“ bemerkte Taral überflüssigerweise.

„Wir sind jetzt hinter diesem Wasserfall, stimmt's? Erzähl mir bitte nicht, dass wir durch das Wasser müssen.“

„Keine Panik, wir gehen nur dran vorbei. Siehst du die Felsensäule da vorne, wo ein Gang nach rechts führt?“

Lissa ließ sich auf die rauschende Wand aus weiß schäumendem Wasser zu führen, kurz davor dann nach rechts, an der Säule vorbei und hinaus auf eine grasgrüne Hügelkette. Ein breiter Bach plätscherte auf dem Hügel entlang, fiel über die Klippe vor der Höhle und füllte unten im Tal einen Teich, aus dem heraus sich sieben schmale Gräben durch die Felder zogen.

Rote Schmetterlinge flatterten zwischen den Gänseblümchen hin und her. Wenn Insekten singen könnten, hätten sie die Melodie zu ihrem wilden Tanz gesungen. Der ganze Hügel schien in einer harmonischen Symphonie zu schwingen.

„Fast schon kitschig,“ fand Lissa. „Was wächst da unten auf den Feldern?“

„Die hellgrünen Spitzen werden gemischtes Getreide. Letztes Jahr haben sie es im Ost-Viertel angebaut, jetzt ist einmal wieder der Süden dran. Das mit den runden Blättern ist irgendein Salat.“

Auf der anderen Seite des Hügels versuchte Jette, es sich unter dem Felsvorsprung halbwegs bequem zu machen. Wer trieb sich in aller Frühe hier draußen herum? Egal, hier unten konnte niemand sie sehen.

Still lehnte sie sich an eine weniger glitschige Stelle und hörte zu. Eine der Stimmen könnte Taral sein, die alte Angeberin von ihrer Schule, die sie normalerweise nur in Mathe und Kunst in ihrem Kurs ertragen musste. Die andere Stimme kannte sie nicht. Jette hoffte nur, dass die beiden schnell wieder verschwinden würden.

Beim ersten Tageslicht hatte sie sich davon geschlichen, hatte alle denkbaren Umwege bis in den Garten genommen, und jetzt wollte sie auf noch unmöglicheren Umwegen wieder nach unten, in die sechsundsechzigste Stadt. Süd-Viertel, Distelstraße, elftes Haus, zweiter Stock, dritte Wohnung, Lara abholen.

Ihre kleine Schwester Lara war vierzehn, anderthalb Jahre jünger als Jette. Und sie war durch den Zugangstest für die Oberschule Raumdesign gefallen.

Anstatt einfach weiter auf der normalen Schule zu bleiben, hatte sich die kleine Zicke bei Freunden in der Stadt einquartiert, in einer Großraumwohnung über einer Zoohandlung im Erdgeschoss und einem Friseur im ersten Stock.

Ihre Eltern hatten noch keinen blassen Schimmer, sie ließen Lara von der Polizei suchen. Aber Jette hatte sie eine Direktnachricht geschickt, in der sie alles genau zu erklären versucht hatte.

In S66-Süd gab es eine unabhängige Raumdesign-Förderschule die nur besondere Talente aufnahm. Lara hielt sich für begabt und die Eignungsprüfungen der öffentlichen Schulen für ungenau.

Geduldig ließ Lissa sich durch ein paar Dörfer führen. Normale Leute konnten hier sicher wunderschön wohnen, aber für sich selbst fand sie das alles eher gruselig. Wie sollte man seinen Nachbarn hier aus dem Weg gehen, ohne dass jemand bemerkte, das man ihm aus dem Weg ging? In so einem Dorf kannte jeder jeden.

Viele Menschen liebten eine solche Gemeinschaft. Lissa schätzte sich glücklich dafür, dass sie immer in den Städten gelebt hatte. Je mehr Leute an einem Ort wohnten, desto weniger fiel der Einzelne auf und desto besser konnte sie sich zurückziehen. Zu viele Menschen gingen Lissa auf die Nerven, Bekannte erst recht.

Später führte Taral sie durch ein paar Straßen der Städte, die meisten davon waren bunt und flimmerten von grellen Neonschriften. Jede Stadt musste Besseres zu bieten haben, aber das fand ihre kleine Führerin wohl nicht so spannend.

Endlich kamen sie auf Ebene 39 an, der ersten Region der Hausverwaltung. Beladene und leere Fahrzeuge sammelten sich vor Transport-Tunneln, Fahrer steuerten ihre Fähren über den Köpfen der Fußgänger entlang, überall herrschte Alltag.

Auf den Laufbändern standen oder liefen Menschen an Wegweisern entlang, manche drängelten sich hektisch an anderen vorbei, welche am rechten Geländer standen und wichtig taten. Lissa und Taral sprangen auch auf ein Laufband auf. Sie drängten sich ans Geländer, um ein paar eilige Gestalten vorbei zu lassen, während der Fußweg sie zu den Bürgerbüros fuhr.

Das Laufband endete vor einem Tor, dessen linke und rechte Seite aus zwei Baumstämmen bestanden. Dazwischen leuchtete ein Text- in der Luft. Nur für Beschäftigte der Hausverwaltung, oder bei besonderen Anliegen.

„Hier unten bin ich nur, wenn es sein muss“, bemerkte Taral und hakte ein Gedächtnis-Upgrade aus dem Ständer aus, der vor dem Eingang der Personalabteilung stand. „Ohne Lageplan ist man hier verloren. Gut, dass sie am Eingang ausliegen.“ Sie band sich das Gedächtnis-Upgrade um die Stirn und klemmte den Sensor hinter dem linken Ohr fest. „So, komm mit, jetzt weiß ich den kürzesten Weg!“

Fertig! Die letzte Wand war aufgebaut. Eine richtige kleine Hütte mit zwei Zimmern stand jetzt mitten im Rechenzentrum. Aus glattem, dunkelblauem Kunststoffgewebe, und mit durchsichtigem Dach, damit es drinnen hell genug war.

Ein freier Rest vom Abend war genau was Vonek jetzt brauchte, damit ihm alles wieder einfiel, was er noch aufräumen musste. Nur vorsichtshalber, damit morgen niemand behaupten könnte, er ließe den Keller verkommen.

Das Rechenzentrum war sein Leben, seit mehr als zwei Jahren. Und so sollte sein Rechenzentrum auch aussehen. Vorher hatte es nichts gegeben, außer normaler Schule und technischer Fachschule.

Bevor die Ruhe auch nur daran denken konnte wieder einzukehren, zirpte der freundliche Signalton der Sprechanlage.

Wer will denn jetzt noch etwas von mir? Genervt schwang er sich auf den Stuhl vor dem Terminal und nahm das Gespräch an. „Guten Abend, was ist denn jetzt schon wieder los?“

„Alexa, die Software-Forscherin von der globalen Universität, ist schon etwas früher angekommen. Rudis Jüngste hat sie den ganzen Tag durch die Etagen geführt. Du kannst dir vorstellen, wie müde man dabei wird. Spricht etwas dagegen, dass sie heute Abend schon einzieht?“

Der Kollege aus dem Büro setzte ein Lächeln der Marke Extrafreundlich auf. Sprach etwas dagegen? Vonek schaute sich noch einmal gründlich um. Nein, außer dass er nicht damit gerechnet hatte, fiel im nichts Stichhaltiges ein.

„Von mir aus nicht, hier ist aufgeräumt. Alexas Gepäck ist heute Mittag schon angekommen.“

„Perfekt wie alles, was sie anfangen!“ lächelte der Manager. „Wir kommen dann in ungefähr fünf Minuten runter.“

Mitten in der Nacht beschloss Lissa, dass sie sowieso nicht mehr einschlafen konnte, und drückte den Lichtschalter. Warmes Licht füllte das Zimmer gerade so hell aus, dass sie alles sehen konnte. Sie setzte sich wieder aufs Bett. Irgendwie kam ihr die ganze Umgebung noch seltsam vor, aber das würde sicher schnell vergehen.

Es war halb vier in der Nacht. Damit war sie schon fast einen ganzen Tag in diesem Turm – und fast zehn Stunden in der Sicherheit des Rechenzentrums. Nicht, dass der Rest des Hauses weniger sicher gewesen wäre. Aber wirklich zu Hause fühlte sie sich immer nur dort, wo selten fremde Menschen hin kamen.

Mitten im Raum lag ihre Reisetasche herum, daneben der grüne Metallkoffer. Sollte sie ihn endlich auspacken? Der Anfang ihres Experiments schrie regelrecht danach, am Terminal aufgebaut zu werden. Aber eigentlich ... konnte das auch bis nach dem Frühstück warten.

Sie schaute auf ihre Fingernägel herunter. Eine kleine Naturkatastrophe. Der weiße Perlmutt-Lack klebte seit der Abschlussfeier letzte Woche in der Universität daran, blätterte hier und da ab.

Ihr Experiment, das jetzt zusammen gefaltet im grünen Koffer lag, hatte sie dermaßen in Atem gehalten, dass sie ihr Äußeres gnadenlos vernachlässigt hatte. Dass sie dabei ständig an den elektronischen Bauteilen herum gebogen hatte, zeichnete sich an den Rändern deutlich ab. Es könnte wirklich nicht schaden, sich mal wieder die Fingernägel zu feilen. Und was vom alten Lack übrig war, hatte dort eigentlich auch nichts mehr zu suchen.

Keine drei Schritte entfernt lagen die fast schon funktionsfähigen Adapter die ihr die Nägel ruiniert hatten. Sie waren lückenlos kompatibel mit dem Neural-Interface da drüben, hinter der Wand die sowieso nur dunkelblauer Zierrat war. Also doch Koffer auspacken.

Und schon strichen Lissas verunstaltete Fingerspitzen über die silbern glänzenden Verschlüsse eines mit grünem Kunststoff überzogenen Koffers. Die Scanner erkannten den Fingerabdruck wiedermal nicht sofort. Wie immer brauchte sie zwei Anläufe, bis der Koffer sich öffnete. Lissa schaufelte Krümel und Folien beiseite, die sie gestern massenweise als Polsterung über den Inhalt geschüttet hatte. Einerseits kam ihr das total übertrieben vor, andererseits konnte zu viel Absicherung auch nicht schaden.

Darunter zeigten sich endlich ihre Adapter für das Sensorset. Die kupferfarbenen Kanten glitzerten wie Sterne im rot-gelben Licht, in strahlendem Kontrast zu den verkleideten Bauteilen, deren Haut aus weißem und dunkelgrauem Modelliergel matt und gleichmäßig gefärbt da lag. Lissa hob die Geräte eines nach dem anderen heraus und verteilte sie um sich herum auf dem Boden.

Jeder Fremde hätte nur ein paar Stückchen unbekannter Hardware gesehen. Doch Lissa hatte sie bis ins Detail entworfen, den Assistenten an der Prototypen-Fräse viel zu lange Reden über Machbarkeit und fehlende Sorgfalt erzählt, die acht winzigen Steuerungsplatinen programmiert und aufeinander abgestimmt.

Was fehlte, war etwas Entgegenkommen des Terminals. Ihre Adapter mussten zwischen den Benutzer und das vorhandene Interface geschaltet werden. Solange nur ihre Test-Anwendungen liefen, wurden die Signale, die das Interface ausgab, richtig übersetzt.

Leider hatte ein durchschnittliches Terminal wer weiß wie viele andere Anwendungen und mit den wichtigsten davon produzierten die Adapter größtenteils Chaos. Die Daten kamen verdreht und verknotet im Kopf des Benutzers an oder das Terminal-Programm verstand dessen übersetzte Eingaben nicht. Oft funktionierte die Übertragung minutenlang einwandfrei, dann gerieten die Informationen plötzlich durcheinander.

Alles halb so wild, dachte Lissa. Das Beste an diesem Projekt war doch gerade, dass niemand ihr ein Zeitlimit setzte. Termine und Zeitpläne gab es bloß für Projekte die tatsächlich jemand in Auftrag gegeben hatte.

Dass sie die Selbststeuerung des Hausversorgung optimierte, darauf warteten die Leute. Oder dass sie die virtuelle Austauschplattform der Fachschulen erweiterte, darauf warteten auch Leute. Nur auf dieses Spielzeug wartete niemand. Grundsätzlich war das schade, besonders für die Austausch-Plattform. Aber die Vorteile davon, dass man ohne nervende Fragen von nervtötenden Menschen basteln konnte, überwogen ganz klar.

Achtundsechzig Stockwerke höher sprang Jette vom Laufband ab. Distelstraße 11, hier war die Zoohandlung, im zweiten Stockwerk des Gebäudes waren die Fenster bunt beklebt. Wo ging es hinein? Weder links noch rechts des Ladens war eine Tür, von einer Außentreppe erst recht keine Spur. Sie musste in den Zooladen gehen und fragen.

Natürlich war der mitten in der Nacht nicht geöffnet. Na toll! Sollte sie einfach in dem Café abwarten, das zehn Meter weiter rund um die Uhr geöffnet hatte? Das wäre Aufgeben.

Mit halb geschlossenen Augen suchte sie in ihrem Gedächtnis-Upgrade nach einem genaueren Stadtplan. Bevor sie irgendetwas finden konnte, schreckte sie auf und drehte sich reflexartig um, so dass ihre glatten, schwarzen Haare nur so flogen. Jemand hatte sie von hinten angetippt. Wieder so eine harmlose Sache. Warum musste sie immer so verdammt schreckhaft reagieren?

Vor Jette stand ein fremder Mann, sie schätzte ihn auf ungefähr zwanzig Jahre, mit halblangem rotem Haar. Er hob die Hände und grinste, als sie sich so unsinnig erschrak.

„Tut mir echt leid, ich wollte dich nicht wecken. Du siehst nur aus, als wenn du dich hier nicht auskennst.“ Mit einem Zwinkern fügte er hinzu: „Bissige Leute wohnen hier nicht, die haben wir in den Zoo gesteckt.“

Jetzt musste Jette doch noch lachen. Ein Einheimischer war genau das, was sie suchte. „Ähm, nun ja, direkt verlaufen hab ich mich nicht. Ich hab nur gerade nachgelesen, wo dieser Block seinen Eingang hat.“

„Handelsetagen oder bewohnte Etagen?“

„Bewohnte. In den zweiten Stock muss ich.“

„Dann bist du hier fast richtig, bist nur fünf Schritte zu weit gelaufen. Der Zoohändler hat sich letztes Jahr mit den Bewohnern darauf geeinigt, den Eingang in den Kiosk zu verlegen, damit er abends abschließen kann.“

Er zeigte hinter sich zu einem Kiosk, dessen Tür weit offen stand. Jette bedanke sich und erkundete den Laden. Auf dem Tresen stand eine Klingel mit einem Schild:

Bin gleich wieder da, klingeln sie nach meinem Hund!

Weiter hinten, neben einem Regal mit Chips und Schokolade, schraubte sich eine Wendeltreppe abwärts. Sie hielt die Hand vor den Aufwärts-Pfeil am Regal, die Treppe hielt kurz an und drehte sich dann aufwärts. Als sie einstieg, sah sie noch kurz, wie der Rothaarige ihr durch die Fensterscheibe zu winkte und verschwand.

Nachdem alle Prototypen ausgepackt und für unbeschädigt befunden worden waren, trug Lissa sie zum Terminal hinüber und legte sie alle auf dem Tisch ab.

Den in die Arbeitsplatte eingearbeiteten Bildschirm benutzt bestimmt niemand mehr, vermutete sie und sortierte die Anschlüsse des ersten neuralen Adapters.

Unter schlichten Bürgern waren flache Bildschirme aus transparenter oder schwarzer Folie noch recht verbreitet. Für den Heimgebrauch waren sie einfach und praktisch, der ganze Haushalt konnte gleichzeitig sehen und man hatte den Kopf frei für ein Gedächtnis-Upgrade. Letztere konnten nicht gleichzeitig mit einem Interface verwendet werden. Sie benutzten zwar andere Stellen für ihre interaktiven Sensoren, blockierten sich aber gegenseitig.

Vielleicht lag es einfach am menschlichen Gehirn, das nicht mit zwei Maschinen gleichzeitig kommunizieren wollte. Aber Lissa mochte nicht so recht an einen Fehler der Natur glauben. Ein kompatibles Gedächtnis-Upgrade sollte ihre nächste große Entwicklung werden, wenn der Anwesenheits-Simulator fertig war.

Nach einem überzeugenderen Namen suchte sie noch. Ihre neuen Geräte würden den Umgang mit Computern um ein Vielfaches vereinfachen und endlich so real erscheinen lassen, wie es die Werbung schon heute versprach.

Das Problem herkömmlicher Datenstirnbänder war, dass man den virtuellen Raum nur aus einem bestimmten Blickwinkel betrachten konnte und sich dabei immer halb in der Wirklichkeit anwesend fühlte. Egal wie man den Raum drehte und wie natürlich die Simulationen gestaltet waren – der Stuhl unter dem Hintern blieb realer und sämtliche Bewegungen im virtuellen Raum waren unabhängig von dem, was man mit seinen echten Füßen anstellen wollte.

Diese abgeschwächte Wirklichkeit ging ihr nicht nur auf den Keks, sie schränkte auch die Möglichkeiten des Raum-Designs stark ein.

Die weißgrauen Dinger mit den glitzernden Rändern, welche jetzt sorgfältig aufgereiht neben dem Terminal lagen, konnten die simulierte Wahrnehmung gründlich erweitern. Wer sich damit einklinkte, leitete jeden Bewegungsimpuls ans Interface weiter. Jedenfalls so lange, wie er das wollte. Ein winziger Gedanke am Rande des Bewusstseins genügte, um die Verbindung wieder zu trennen. Dabei bekam man auch noch 360° Raumdaten übermittelt, was bedeutete, dass man sich tatsächlich im virtuellen Raum bewegen konnte.

Diese Vorstellung würde bestimmt auch Vonek gefallen. Lissa hatte gestern leider nur kurz mit ihm reden können; nach dem langen Tag wären ihr fast die Augen zu gefallen. Aber das war auch nicht unbedingt nötig, schließlich hatte sie schon vor zwei Wochen, als ihr der Arbeitsplatz garantiert worden war, eine Kopie seiner ganzen Personalakte bekommen.

Dann hatten sie sich auch schon für ein paar Stunden online getroffen, und sich gegenseitig alles Mögliche erzählt. Sie hatte das Gefühl, Vonek zu kennen, auch wenn sie ihm erst gestern direkt begegnet war.

Was war schon das, was die Leute als Wirklichkeit bezeichneten – war das etwa weniger wirklich als das Netz? In Lissas Weltbild verschwammen die Grenzen langsam aber sicher.

Inzwischen war es wieder fünf Uhr morgens. Lissa dachte darüber nach, ob sie vielleicht doch noch ihre Fingernägel in Ordnung bringen sollte. Der kaputte Lack war nicht so wichtig, aber die zerrissenen Ränder könnten etwas zerkratzen. Na gut. Wo war die Nagelfeile? Irgendwo in der Reisetasche. Auspacken? Nee, nur nach der Feile graben.

Sirrrrr zirpte der Wecker. Ein leises, angenehmes Summen. Doch perfekt darauf konditioniert, war Vonek sofort wach. Sieben Uhr, schon wieder ein neuer Tag. Ob Alexa wohl schon aufgestanden war? Nein, Lissa – sie wollte ja lieber Lissa genannt werden. Er stand auf, schielte zur Küche hinüber und fand diese vollkommen unberührt. Lissa hätte sich bestimmt wenigstens etwas zu essen geholt, wenn sie schon wach wäre.

Erst anziehen oder erst Tee kochen? Sich erst anzuziehen war garantiert vorteilhafter, aber kein fertiger Tee in der Küche war keine echte Alternative. Da drüben hinter der Klappe in der Wand lagern die Roboter-Fliegen ...

Die mit dem roten Aufkleber markierte Fliege hatte er einmal aufs Tee kochen programmiert, um zu sehen ob es funktionierte. Sieht ja keiner, dachte er sich, suchte den Roboter mit dem roten Aufkleber aus dem Schwarm heraus und schaltete ihn ein. Das kleine Silberding reagierte tatsächlich noch auf die geheime „Tee kochen“-Handgeste, schwirrte zum Küchenblock und machte sich am Wasserhahn zu schaffen. Sieht ja keiner.

Die meisten Menschen schummelten, wenn sie ihre Online-Abbilder zusammen stellten. Fast jeder wollte irgendeinem Schönheitsideal entsprechen – wenn schon nicht in Wirklichkeit, dann wenigstens auf 3D-Grafiken. Alexa gehörte entweder nicht zu den meisten Menschen oder sie hatte für ihn eine Ausnahme gemacht, weil sich sich sowieso sehen würden.

Gestern hatte sie genauso ausgesehen, wie bei ihrer letzten Verabredung im Netz. Unter den gleichen dunkelbraunen Haaren, die – typisch Techniker – mindestens zwei Jahre Friseur-Boykott lang waren, schauten die gleichen blaugrünen Augen hervor – und beim Sprechen haarscharf an ihm vorbei. Wieder typisch Techniker. Als er noch zur Fachschule ging, hatten ein paar Mitschüler auch immer Probleme damit gehabt, beim Reden andere Leute direkt anzusehen.

Nun ja ... was gab es da überhaupt grafisch zu verbessern? Lissa war einfach sie selbst – und so weiß im Gesicht, als hätte sie ihre Studienjahre in ewiger Finsternis verbracht. Aber sogar das passte irgendwie zu ihr.

Vonek kam aus der Dusche zurück, warf sich schnell den gelb-weißen Arbeitsanzug über und schaute nach der Roboter-Fliege, die gerade die vierte Teekanne zur Seite stellte. Mit einem Sprung landete er vor der Küche und fing den Roboter in der rechten Hand ein.

Ist das eine Endlos-Schleife? Mit der freien Hand schüttete er die drei überschüssigen Kannen in eine Thermosflasche. Nun ja, es war mein allererstes eigenes Programm.

Aus der Kommunikations-Ecke hörte er Schritte, eine schneeweiße Hand legte ein hellgraues Ding beiseite und schon sprang auch Lissa in die Küche.

„Guten Morgen, du hast ja schon Tee gemacht! Ist das so was wie Kamille?“

Fröhlich schaute sie in die Kanne, dabei steckte sie fast ihre Nase hinein. Vonek hielt noch immer den jetzt abgeschalteten Roboter in der rechten Hand.

„Ja, Blaue Kamille. Das ist eine Kreuzung aus normaler Kamille und einer asiatischen Variante. Die Sorte soll leuchtend blau blühen.“

„Manchmal frag ich mich, ob man als Gärtner überhaupt noch dazu kommt, ganz normale Pflanzen anzubauen. Ständig kommen die mit neuen Kreuzungen an. Aber die hier scheint gut zu sein, hat eine tolles Muster.“

Vonek schaute in Kanne und sah ganz normalen, gelblichen Tee. Sie meint natürlich das Aroma, dachte er. Alle anderen Menschen hatten Farben für einfach alles. Guter Punkt, um das Thema zu wechseln. Falls er auch Farben hatte, konnte er sie jedenfalls nicht sehen.

„Du hast schon mit dem Terminal Freundschaft geschlossen, was?“ fragte er beiläufig, während er Tassen aus dem Regal holte.

„Natürlich, ich hab mein Projekt aufgebaut. Wenn du Zeit hast, führe ich dir den Versuchsaufbau vor. Der alte Bildschirm ist eine tolle Arbeitsplatte. War eine gute Idee, den stehen zu lassen.“

Den Bildschirm würde er bei Gelegenheit unauffällig frei räumen. „Ab und zu brauche ich den 2D-Schirm noch. Er ist ganz praktisch, wenn man mehrere Sachen gleichzeitig macht. Grundsätzlich kannst du ihn aber haben.“

Irgendwann musste er ja lernen, mit dem Neural-Interface umzugehen. Heute war die Chance dazu.

„Was hast du da eigentlich in der anderen Hand?“ Lissa bog sich zur Seite, um hinter seinem Rücken vorbei auf die versteckte Hand zu schauen. „Ist das ein Küchen-Roboter? Wie niedlich. Darf ich mal sehen?“

Erwischt! Vonek gab ihr die Silberfliege, die an der Unterseite von einem roten, aufgeklebten Punkt verunziert wurde. Auf ihren zusammengefalteten Flügeln glitzerten winzige Regenbögen zwischen den Drähten, die im Flug die Folie spannten.

„Eigentlich gehört er zum Wartungsschwarm. Dass er auch Tee kocht, kommt von einem kleinen Anfänger-Versuch. Mein erstes eigenes Programm für multifunktionale Roboter.“

Lissa schaltete den Roboter ein und ließ ihn vor ihrer Nasenspitze in der Luft flattern. „Hört er auf Worte oder auf Gesten?“

„Inzwischen kann er beides. Für seine richtigen Aufgaben versteht er Worte, aber für verspielte Extras hab ich nur Gesten konfiguriert. Das hier ist aber mein einziges Versuchsobjekt, alle anderen Fliegen hören nur auf Sprache – und kochen mir nie 'nen Tee.“

Im zweiten Stockwerk des Stadthauses angekommen, stand Jette nun vor der Wohnungstür. Einfach klingeln? Was sonst, aber was sollte sie sagen? Egal, das würde sich schon irgendwie von selbst ergeben. Also trat sie einen Schritt vor, in den Erfassungsbereich der Lichtschranke, die die Klingel auslöste.

Eine Minute lang geschah gar nichts. Wahrscheinlich schlafen alle, nahm sie an und begann schon wieder zu überlegen, wo man am besten bis zum Morgen abwarten konnte. Dann summte die Tür und öffnete sich gerade so weit, dass ein Gesicht mit zerzausten schwarzen Haaren in der Stirn halb durch den Spalt blinzeln konnte.

„Guten Tag, ist ...“ sie hatte einfach direkt nach Lara fragen wollen, aber das Gesicht war schon wieder verschwunden. Dafür hörte sie jetzt Stimmen von drinnen, durch die offen stehende Tür.

„Lara, für dich!“

„Ach Mensch, ich schlafe noch halb!“

„Trotzdem jemand für dich.“ Der Junge schaute noch einmal durch den Türspalt, und rief dann wieder in den Flur. „Weder Eltern noch Polizei.“

Endlich öffnete er die Tür ganz. „Lass mich raten: Du bist Jette und suchst deine Schwester. Ob es stimmt oder nicht, komm doch erst mal rein!“