Das Loch im Nichts - Corinna John - E-Book

Das Loch im Nichts E-Book

Corinna John

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Beschreibung

Die Weltraum-Spediteure staunen nicht schlecht, als sie beim Test eines neuartigen Antriebs über eine versteckte Station stolpern. In den Tiefen des Hyperraums warten entlaufene Haustiere auf ihre Chance, sich als drittes Volk im Sol-System zu etablieren. Weit weg auf der Erde bekommt Neurohacker Lara einen Suchauftrag. Als sie ahnt, hinter wem sie wirklich her ist, wechselt sie sofort die Seiten. In einer siebendimensionalen Wildwasserfahrt durch die Datenbanken lässt sie sich immer tiefer in den Konflikt fremder Völker hinein ziehen. Nachdem Corinna John in "Halbsichtigkeit" die Wahrnehmung neu definierte und in "3D-Schock" ohne Realität nach Identität suchte, startet sie mit "Das Loch im Nichts" den nächsten Angriff aufs menschliche Bewusstsein. Emotion wird zum Medium, Tastsinn zur Waffe. Eigener Wille und Fremdkontrolle verschwimmen wie Absender und Empfänger.

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Mit Dank an

alle Linux- und LibreOffice-Entwickler,

weil ihr das Werkzeug zum Schreiben liefert.

die Fern-Universität in Hagen,

für inspirierende Mathe-Aufgaben.

alle hier Fehlenden,

weil ihr die Wichtigsten seid.

Wenn dir jemand Steine in den Weg legt, bau eine Treppe daraus, lautete ein altes Sprichwort. Galt das auch, wenn die Steine silbriger Stahl waren?

Halb blind tastete Julie sich in der jämmerlich beleuchteten Röhre voran. Der verdammte Hebel musste ganz in ihrer Nähe sein. Durch Luftlöcher in der rechten Wand fielen dünne Lichtstrahlen auf eine endlose Reihe von Sicherungen, Kabeln und Schaltern.

Die Erbauer dieser verkommenen Raumstation orientierten sich per Sonarsinn und benötigten keinerlei Beleuchtung. Daher war sie auf flackerndes Streulicht aus der Hafenhalle angewiesen; dem lang gestreckten, eintönigen Flur da draußen, wo Augentiere wie Namariden und Menschen zu ihren nummerierten, magnetisch gesicherten Portalen hetzten oder schwebende Container zum schwerelosen Marktplatz in der Radnabe der Station manövrierten.

Noch einmal verfluchte Julie den Tag, an dem sie beschlossen hatte hierher zu fliegen.

„Nishu, bist du überhaupt noch da?“, flüsterte sie über die Schulter, „Hier, ich hab unseren Hebel gefunden.“

Mit beiden Händen packte sie den kühlen, glatten Metallriegel und drückte. Nichts bewegte sich. Sie stemmte ihr ganzes Gewicht darauf, doch außer, dass ihre Handgelenke protestierten, tat sich wenig.

„Sie brauchen kein Licht, sind schwer wie Blei, wie kann man so etwas eine interstellare Handelsstation konstruieren lassen?“

Normalerweise lief hier alles ferngesteuert. Blitzschnelle Gedankenbefehle ließen den Bordcomputer Tore öffnen und Atemluft anpassen, er interpolierte sie aus den Gehirnwellen der drei dominierenden Rassen. Doch genau diese Automatik hatte jemand ausgetrickst, hatte ihren Parkplatz entriegelt und ihren Hyperraum-Frachter besetzt.

Natürlich gab es weder Polizei noch Aufseher, denn die allgegenwärtige künstliche Intelligenz regelte den Betrieb automatisch. Natürlich wollte diese nichts von einem Alarm wissen, denn laut ihren Daten war ja alles in bester Ordnung. Also blieb ihnen nur, mit dem Backup-Schalter die Steuerung für ihre Parkzelle zu überbrücken.

„Mach mal Platz“, flüsterte Nishu und kroch neben sie, „zu zweit geht es vielleicht.“

Unter vier Armen gab der Hebel schließlich nach und rastete in Aus-Position ein. Erst jetzt, als das Stahlrohr still in ihrer Faust lag, fiel Julie auf, dass es vorher leise vibriert hatte. Wie alles in dem gespenstisch surrenden Gang. Während sie sich mit einer Hand die klebrigen, schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht wischte, zog sie mit der anderen ihr Funkgerät aus der Tasche und klemmte es ans Ohr.

„Julie an Rihm, wir haben ihnen die Leitung gekappt. Wie ist dein Status?“

„Voll im Zeitplan“, antwortete ihr eigener Hacker, der drei Tunnel weiter an einer Datenleitung hing. „Da drinnen wurde noch keine Abreiseprozedur gestartet, das heißt, sie sitzen jetzt fest.“

Fast glaubte Julie, ein zufriedenes Grinsen zu hören. „Wenigstens das hat geklappt. Und wie weit bist du?“

Ein paar Sekunden blieb die Leitung still, Rihm prüfte seine Anzeigen. „Gib mir noch fünf Minuten und deren Parkplatz steht offen wie ein Scheunentor.“

„Perfekt“, antwortete Julie, „wir sehen uns also nachher zu Hause.“

Kurz darauf sendete Rihms Lebenszeichen-Emulator einen neuen Satz gefälschter Messwerte an die zentrale Zugangskontrolle. Diesmal wurde der bunte Mix von an Überwachungsmikrofonen abgezapften Stimmen, aus Personenprofilen näherungsweise berechneten Bewegungsmustern und blind geratenem Füllmaterial anstandslos akzeptiert.

Rihm stand der Triumph ins Gesicht geschrieben, als sich in der Miniatur der Hafenhalle eine Parkzelle öffnete. Das System war nun überzeugt, der Besitzer des dort geparkten Schiffs stünde vor dem Tor.

Neben der Miniatur, die einen Meter über dem Fußboden in seinem virtuellen Raum schwebte, öffnete sich ein Fenster ins Betriebssystem. Mit einer routinierten Handgeste winkte er es heran, hielt dann aber inne und starrte in den Boden.

Die Unterseite seiner Werkstatt bestand aus unzähligen, halb transparenten Schichten, die verschiedene Informationen abbilden konnten. Ziemlich weit unten lief unter anderem ein Video des Marktplatzes.

„Rihm an Julie“, sagte er in lautloser Zeichensprache zum Telefonfenster hinter sich, „wenn ihr gleich raus kommt, geht doch mal einen Umweg über den Markt. Zis ist gerade dort aufgetaucht.“

„Na, wunderbar! Die lebt also auch noch?“, zischte Matrose Nishu ins Funkgerät seiner Kommandantin. „Julie ist gerade damit beschäftigt, das Schloss zum Wartungstunnel von innen noch mal neu zu knacken.“ Eine kurze Pause, wahrscheinlich wartete er auf Julies Meinung. „Wir sehen uns nachher an der Frittenbude!“

Also ging es nicht gleich nach Hause zum Frachter, um die Piraten raus zu werfen und dieses interstellare Irrenhaus zu verlassen. Erst würden sie dem kleinen Tintenfisch Hallo sagen, ohne den beziehungsweise die es sie kaum jemals hierher verschlagen hätte.

Nun, wieso nicht? Ein Wenig Vorfreude auf warme Pommes im Hinterkopf, griff Rihm ins Systemfenster, stupste ein Speichersymbol an und klinkte sich aus. Die Welt schien sich zusammen zu ziehen, bevor sie verblasste und die flache Wirklichkeit wieder voll sichtbar wurde. Auch nach Jahren kam ihm diese Illusion noch seltsam vor.

Zis war Namaride, ein blauer, achtbeiniger, etwa dreißig Zentimeter hoher Kopffüßer. Julie hatte sie oder ihn einst auf Terra Nova getroffen und für den Rückflug ins heimische Sonnensystem als Aushilfe eingestellt, um die Laderäume gründlich aufzuräumen. In Uranus-3 war die Krake wieder von Bord gegangen, hatte bis dahin aber genug vom Experiment Austausch-1 erzählt, dass die ganze Besatzung es einmal selbst sehen wollte.

Überall sonst hatten die Völker kaum direkt miteinander zu tun, da dies von Architektur und Umweltbedingungen her schwierig war. Von brauchbarer Kommunikation ganz abgesehen. Austausch-1 war eine Idee von Spinnern, Hippies und Sprachforschern, die auf unerklärliche Weise sogar umgesetzt wurde, genau hier, genau jetzt.

Die Flure konnten alle Atmosphären nachstellen, teilten sich bei Bedarf mit hauchdünnen Folien. Auf dem Marktplatz herrschte ein Mischklima, eng anliegende Druckanzüge und Konservenluft sorgten für den nötigsten Ausgleich. Was die Schwerkraft anging, hatte man sich an den Schwächsten orientiert. So hüpften alle Menschen und Ortalyen herrlich leicht durch die Gegend.

Vor der Luke zum Flur angekommen, fiel Rihm ein, dass er sein Datenstirnband noch auf hatte.

Man muss sich ja nicht sofort als Software-Bastler zu erkennen geben, überlegte er und steckte die kupfern blitzenden Elektroden in die Tasche.

Vor der Frittenbude hatte er wiedermal Schwierigkeiten, Personal und Haustiere auseinander zu halten. Seit man für einfache Tätigkeiten dressiertes Vieh einsetzte, war nicht mehr sofort erkennbar, ob beispielsweise der Papagei, der Holzgabeln verteilte und „Auf Wiedersehen“ sagte, vom Koch bezahlt oder gefüttert wurde.

Julie und die übrigen Besatzungsmitglieder hatten sich bereits einen weiß mattierten, verwinkelt geschlängelten Stehtisch reserviert. Auf der Erde hätte man so einen Tisch langweilig rechteckig gebaut, aber hier würde die Mehrheit das schlicht hässlich finden. Als Rihm sich vorsichtig an einer namaridischen Gruppe vorbei schob, rückten die Menschen schon zusammen und machten einen Platz neben der Pilotin frei.

Vielleicht war der Weltraum doch nicht so langweilig wie anfangs befürchtet. Die meisten an diesem Tisch waren freiwillige Nomaden, sogar den heutigen Zwischenfall schienen sie im Nachhinein lustig zu finden. Verrückte, fand Rihm, aber auch irre Vorbilder!

Ursprünglich hatte er sich eine Karriere daheim auf der Erde ausgemalt. Die jedoch war innerhalb weniger Wochen zersplittert wie Eiszapfen, als er kurz nach dem Schulabschluss – Anfang Zwanzig musste er da gewesen sein – ein Mal den falschen Leuten vertraut hatte.

Aber das war nun fast sechs Jahre her und er war froh, überlebt zu haben. Dank Juliette, die zur perfekten Zeit den richtigen Ort angesteuert hatte.

Die Kauffrau und Pilotin war zwar genauso achtundzwanzig Jahre alt wie er, aber sie schien einen angeborenen Blick dafür zu haben, mit wem man Geschäfte machte und von wem man lieber die Finger ließ. Nicht umsonst leitete sie in so jungen Jahren schon ihre eigene kleine Spedition.

Zugegeben, der Frachter war fast historisch, von ihrem alten Lehrmeister geerbt. Aber dennoch ein Stück Autarkie.

„Super Arbeit hast du gerade geleistet“, meinte sie strahlend in der hier üblichen Fingersprache. „Unser Zuhause dürfte bis auf Weiteres bewegungslos verriegelt sein, eventuell Geklautes holen wir uns nachher zurück. Wir können uns diesen Moment also leisten.“

Dann schlang Julie einen Arm um seine Schultern und deutete mit dem anderen auf Zis, die vor ihr auf dem Tisch stand. „Seit ihr letzter Kapitän sie rausgeworfen hat, lebt sie hier von Gelegenheitsjobs. Nun ja, du hast doch sicher nichts dagegen …“

Rihm duckte sich unter einem Servietten schleppenden Sittich und nickte Zis ergeben zu. „Klar, von mir aus kannst du mit uns fliegen.“

Jemand schob ihm einen Pappteller mit heißen Kartoffelstäbchen zu und fragte dabei Julie, wann sie denn vorhabe, wieder startklar zu sein.

„Sobald wir mit den Pommes fertig sind, gehen wir aufräumen“, antwortete sie, drückte eine der Knöpfe an ihrem Ärmel und beobachtete die Statusanzeigen, die daraufhin auf dem weißen Stoff erschienen.

„Der Kohlendioxid-Anteil in der Bordluft ist stabil bei sechs Prozent, so eine Mischung mag keine bekannte Rasse. Wer in unser Schiff eingebrochen ist, wird also kaum in der Lage sein, dort etwas kaputt zu machen.“

„Und falls etwas fehlt“, fügte Rihm hinzu, „finden wir es in ihren Laderäumen. Die biometrischen Daten von einem Berechtigten hab ich vorhin gespeichert.“

Zwei Stunden später saß Julie endlich wieder auf dem Pilotensitz, den Navigationssensor auf der Stirn und vier Übersichten auf dem Bildschirm. Ilsina, ihre älteste Schülerin, saß daneben und startete gerade die Abreiseprozedur. Draußen mussten die Luftschleusen bereits ohrenbetäubend zischen.

Still lächelnd fragte die Pilotin sich, ob die vier Bewusstlosen, die sie vorhin einfach in die Halle geworfen hatten, bereits aufgewacht waren.

Ein großer Frühjahrsputz war sowieso längst fällig, fand sie. Wie gut, dass wir gerade eine Aushilfe haben die das Chaos im vorderen Maschinenraum wieder aufräumt.

Der grün aufleuchtende Rand der Luftschleuse riss sie aus ihren Gedanken. Noch fünf Sekunden bis zum Abflug. Durch die Karten und Zahlen auf der Frontscheibe hindurch sah man das äußere Portal: zwei schwere Halbkreise, die sich langsam auseinander schoben, um den Blick auf das Sternenmeer freizugeben.

„Tschüss, Pirateninsel!“, formten Ilsinas Finger.

„So schlimm ist es nun wirklich nicht“, zwinkerte Julie ihr zu, „vielleicht hätten wir einfach nicht so angeben sollen. Je mehr wir gestern Abend von unserem neuen Antrieb erzählt haben, desto schärfer wurden die Typen darauf.“

„Dabei konnten sie ihn gar nicht finden …“

„… weil er noch nicht existiert!“

Die beiden Frauen schauten sich an und brachen plötzlich in unkontrolliertes Kichern aus. „In der Datenbank hätten sie suchen müssen, nicht im Maschinenraum! Über den schicken Entwurf ist hier doch noch gar nichts hinaus.“

Das Licht war mies, wunderschön mies. So grell streifig und tief schattiert wie sie es heute brauchte. Ein Zittern durchlief die Wand, als draußen die Bahn vorbei raste. Es raschelte im Regal, das rote Plastikherz fiel zu Boden. Durch die Schattenstreifen der Gardine sah es so schwarzweiß aus wie der Rest des Raums.

„Du Schlampe“, flüsterte Lara zu sich selbst, als sie aufstand und das Regalbrett notdürftig aufräumte.

Eigentlich musste hier nichts herunter fallen. Die Wand sollte nicht mal vibrieren. Aber sie war seit Tagen zu träge, um das Problem zu melden.

Schon saß sie wieder an ihrem Arbeitsplatz. Einem Drehstuhl vor einem schwarzen Hohlraum, ihrem Blickfeld füllenden 3D-Bildschirm. Alle Büros auf dem Flur waren so eingerichtet, weil die Vorgesetzten es für praktisch hielten, wenn ihre Leute offline arbeiteten. Sie sollten jederzeit ansprechbar sein. Wer ständig in die Simulation abtauchte, galt als schwer greifbar. Dass sie offline weniger Arbeit schafften, war im öffentlichen Dienst anscheinend egal.

Für die Transportbehörde entwarf sie die Innenausstattung einer neuen Tunnelbahn. Dinge zu zeichnen, die sich als reale Gegenstände bauen ließen, fiel ihr schwerer als gedacht. Immerhin hatte ihre Skizze „Blaues Glas“ den Design-Wettbewerb gewonnen. Aber für die konkrete Umsetzung fiel so viel weg! Besonders die unscharfen Oberflächen, welche die Vorstellung in ihrem Kopf erst schön machten, ließen sich mit keinem existierenden Werkstoff herstellen.

Mit Handgesten navigierte sie durch das Modell ihres Waggons. Die feine Naht zwischen Sitzen und Polstern war nicht mehr zu erkennen, die blauen Schlieren der Teile flossen ineinander über. Blaues Glas, überall. Immerhin wurde mehrfarbiges Gel für die Polster zugelassen. Die Muster in allen erdenklichen Blautönen sollten ständig in Bewegung sein. Ein Anblick im Fluss, so sanft beweglich wie die Bahn selbst.

Die nächste echte Bahn fuhr hinter der Wand vorbei. Diesmal hielt ihre Unordnung das Zittern aus. Da sie die Wirklichkeit hinter ihrem Rücken nun wirklich nicht mehr bewachen musste, holte sie das Neural-Interface aus der Schublade, setzte das Stirnband auf und tauchte in die vollständige Simulation ab.

Schillernd glitt Hochglanzboden unter ihr hinweg, während sie zwischen Sitzreihen entlang schlenderte. Schmutzabweisend, selbstreinigend, rutschfest. Sie legte nur die Eigenschaften fest. Einen passenden Rohstoff wählte das Programm dann aus.

Stimmte das Geräusch, wenn man sich setzte, wenn man aufstand? Wie klangen die Türen? Die Haltegriffe an den Stehplätzen dufteten rosig, die Polster eher wie Metall. Die Flächen vor den Türen rochen dezent nach Essigreiniger.

Das war wichtig, damit Fahrgäste von sich aus die Türen frei hielten. Wer seinen Sitzplatz für Senioren her gab, sollte im Stehen das unterschwellige Gefühl bekommen, dass dies sowieso besser sei.

Noch blöder als Materie waren die altmodischen Kollegen. Natürlich würde es in den Waggons öffentlichen Netzzugang geben. Lara hatte deshalb vorgeschlagen, den Passagieren die gerade online waren die aufdringlichen Durchsagen zu ersparen.

Welche Station nahte, was der Leitstand durchsagen wollte, das sollte die Bahn ihnen direkt in die Gedanken schreiben. Sie würden alles Wichtige einfach im richtigen Moment wissen, ohne das Gefühl zu haben, von oben herab belehrt zu werden.

Aber die Chefplaner hatten es geschlossen abgelehnt. Das sei angeblich inakzeptabel, ein dreister Eingriff in die Persönlichkeit. Selbst wenn es technisch möglich sei, dürfe man Menschen nicht einfach so beschreiben.

Dass so gut wie jeder hin und wieder ein Gedächtnis-Upgrade aufsetzte, ließen die Bürokraten nicht gelten. Denn deren ordnungsgemäß deklarierter Inhalt war sorgfältig geprüft. Nur Gebäudepläne, Öffnungszeiten, eben statischer Kleinkram stand darin. Ein Benutzer wählte sein Upgrade bewusst aus, das Wissen darin konnte nur an der Ladestation verändert werden. Das sei etwas völlig anderes, als Gedanken irgendwie bei Bedarf zu versenden.

Nun, es war technisch möglich. Lara kannte gute Freunde, die seit Jahren auf eben dieser Software saßen. Dass bisher nur unbekannte Künstler sie nutzten, lag ausschließlich an den ewig gestrigen Ethikkommissionen, die jede Veröffentlichung des so genannten Emotionsexportformats blockierten.

Also wurde es nur heimlich unter Bekannten weitergereicht. Wer die wunderbare Möglichkeit nutzen wollte, sich direkt in gespeicherten Gefühlen oder Gedankeneinheiten auszutauschen, musste jemanden kennen, der die Schnittstelle bereits besaß.

Langsam fragte sie sich, warum sie diese Stelle überhaupt angenommen hatte. Falls sie tatsächlich Geld gebraucht hatte, fiel ihr gar nicht mehr ein, wofür überhaupt.

Zurück zur Arbeit – da endete der Waggon, mit einer Art von Führerhaus an der Front. „Träum nicht so viel, prüf den Entwurf, du Schlampe.“

Irgendwie wollte sie vor sich selbst nicht zugeben, dass sie es nur geschafft haben wollte, aus eigener Kraft Geld zu verdienen. Mit einem Job den kein älterer Freund ihr vermittelt hatte. Mit einem Auftrag den sie sich ganz allein organisiert hatte.

Egal, immerhin war es Zeichnen. Weder Benutzer-Oberflächen noch Programmierung, aber zumindest etwas mit Grafik.

„Träum nicht so viel, prüf den Entwurf, du Schlampe.“ Sorgfältig prüfte sie das Geräusch der Tür zum Aufenthaltsraum der Zugaufsicht. Einen Fahrer benötigte die Tunnelbahn nicht. Die Aufsicht passte normalerweise mehr auf die Passagiere auf, als auf den ohnehin reibungslosen Verkehr.

Wände und Tür schimmerten im gleichen, glasigen Dunkelblau, zarte Schlieren leuchteten darin, die hellsten umrissen den Türrahmen. Das Schloss würde rein physikalisch nach klickendem Klappern klingen. Zu billig. Deshalb ließ sie die Bewegung von einem Ton begleiten, der das echte Geräusch genau so überlagerte, dass ein sanftes Zischen daraus wurde.

Von hier aus konnte die Zugaufsicht alle Waggons überblicken, sowie Meldungen vom Leitstand empfangen. Es wäre ein perfekter Anwendungsfall gewesen, vielleicht der Durchbruch für das Gedankenexportformat:

Der Leitstand schickte einen Gedanken und der Aufseher kannte sofort die komplette Lage, ohne erst etwas anhören und begreifen zu müssen. Bei einem Vorfall im Tunnel müsste er nur in den Waggon schauen und seinen Gesamteindruck an den Leitstand schicken, ohne zeitraubende Gespräche.

Aber nein, stattdessen sollte dieselbe Technik wie vor zwanzig Jahren verbaut werden. Das Sicherheitsrisiko bei direktem Zugriff auf den menschlichen Geist sei zu hoch. Ja, klar, das Risiko durch langes Gelaber und unvollständige Information bei einem Unfall war wohl kleiner.

Wurde wenigstens niemand vom Motorgeräusch belästigt? Mit einer schnellen Handgeste ließ sie die Bahn anfahren, beschleunigen – was sollte das denn jetzt? Sie hatte die Klangüberlagerung gestern erst justiert, das Fahrgeräusch war ein samtiges Summen gewesen. Jetzt kratzte es wieder von den Rädern her.

Sofort unterbrach sie die simulierte Fahrt. Eine weitere Handgeste öffnete die Skript-Konsole, als Textfenster mitten in der Luft.

Wieder so eine Sache, die sie am Konstruieren realer Gegenstände nervte. Kaum bereinigte man ein Detail, hatte es Seiteneffekte auf ein anderes. Wahrscheinlich war es die winzige Korrektur an der Form der Fenster, die nun den Zug minimal anders vibrieren ließ, was ihr das ganze Motorsummen zerkratzte.

Sie wollte dringend wieder virtuelle Dinge basteln, die ließen sich braver programmieren – egal, diesen Job würde sie durchziehen. Immerhin hatte Sound-Design etwas von Programmierung.

Im Skript für die Tonüberlagerung suchte sie den Code für die Überlagerungsfrequenzen. Das Schleifen musste gemessen und mit einem Gegenschall überlagert werden. Schließlich schleifte kein echtes Teil; und wenn schon, abgenutzte Stellen würden immer wieder vorkommen, das durfte man nicht unschön hören.

So betrachtet reichte es gar nicht, das Geräusch für einen brandneuen Waggon abzurunden. Ein Programm musste her, das Störgeräusche automatisch erkannte und ausglich. Lara vertiefte sich in den Code, zog das Fenster immer näher heran. Schließlich wurde ihr die Textansicht zu dumm. Ohne darüber nachzudenken, stellte sie sich die sieben Hebel vor. Die ersten beiden waren herunter geklappt, Stufe zwei der Simulation. Routiniert stupste sie drei weitere herunter.

Ideen setzte sie immer in Stufe fünf um. Denn drei Raumdimensionen waren erbärmlich flach.

Das Universum mit der Innenausstattung dämmerte jetzt am Rande ihres Bewusstseins. Das Fahrgeräusch visualisierte sie auf zwei neuen Dimensionen, das Volumen darüber wurde von der Struktur ihres Programms ausgefüllt. In diesem sechsdimensionalen Arbeitsraum konnte sie endlich vernünftig schreiben.

Mit der Geschicklichkeit eines alten Hackers zog sie Verbindungen; Sensoren hier, Tongeneratoren dort, Dämpfer und ein wenig Dekorationsduft. Warum sollte der Zug nicht umso frischer riechen, je älter die Räder klangen?

Nach zwei Minuten war das Skript fertig. Lara schaltete die drei Extra-Dimensionen wieder ab und ließ den Zug weiter rollen. Endlich hörte er sich an wie Samt.

Das hieß, sie konnte den Entwurf rechtzeitig abgeben. Mit einem Gedanken an ihre Eingangshalle beendete sie die Simulation. Der blaue Waggon verschwand um sie herum. Dafür stand sie in ihrem gewohnten Übersichtsraum, zwischen neuen Nachrichten und abgelegten Memos.

Das frisch aktualisierte Tunnelbahn-Objekt lag als kleiner Würfel in der Ecke für aktuelle Aufgaben. Sie sammelte ihn auf, warf ihn in ein neues Memo und schickte es ab. Damit war die Aufgaben-Ecke leer, das bedeutete Feierabend.

Sie nahm das Stirnband ab und schaute sich vorsichtig um. Hoffentlich hatte in der Zwischenzeit kein Rückständiger versucht, persönlich in ihr Büro zu kommen, um hier mir ihr zu reden.

Nach dem Ausflug in den tieferen Raum fühlte sich ihr Büro so flach wie farblos an. Länge, Breite, Höhe, so konnte sie nicht arbeiten. Um etwas zu konstruieren, brauchte sie einfach mehr Richtungen.

Für heute hatte sie jedenfalls frei. Plötzlich spürte sie, wie dieser Bürokomplex sie einengte; überhaupt waren die ganzen Verwaltungsetagen grau, viel zu viele Wände – nichts wie raus in die Waldetagen!

Laras Lieblingswald wuchs auf Etage 307, nur sieben Ebenen über den höchsten Dörfern. Dort hatte sie schon als Kind gespielt, bevor sie zum ersten Mal ein Neural-Interface in die Finger bekommen hatte. Denn 307 war über einen Treppen-Baum mit ihrem Heimatdorf verbunden.

Wenn man direkt darunter stand, sah ihr Treppen-Baum aus wie eine besonders hohe Linde an der Hauptstraße, mit völlig undurchsichtiger Krone. Man öffnete eine unsichtbare Tür im Stamm, stellte sich auf die rotierende Wendeltreppe und ließ sich mehrere Etagen weit nach oben tragen. Ein Spaß für Spaziergänger, die nicht immer den überfüllten Aufzug nehmen wollten.

Während sie über ihre Kindheit und den Wald sinnierte, verließ Lara die Transportbehörde und sprang auf das Laufband in Richtung Außenwand. Deutschland hatte, wie fast jedes Land, vier Hauptaufzüge. Der Nord-Lift lag am nächsten und war nicht zu verfehlen, wenn man stumpf im Strom des Berufsverkehrs schwamm.

Sie hasste Berufsverkehr. Zum Glück war sie früh fertig geworden, noch war es nicht allzu voll. Am Endpunkt hüpfte sie vom Laufband und wartete mit den anderen Büromenschen auf den nördlichen Aufzug. Eine graue Null unter vielen. Nach einem weiteren sinnlosen Arbeitstag.

Wer brauchte eigentlich eine überholte Tunnelbahn? Die Alte fuhr genauso gut und Mode war ohnehin vergänglich. Bevor sie sich fragen konnte, weshalb sie aus eigener Kraft nur überflüssige Arbeit fand, folgte sie schon der Masse in die Fahrstuhlkabine.

Mit Etage 41 begannen die Städte. Nach und nach leerte der Fahrstuhl sich. Bei 66 überlegte Lara, ob sie lieber nach Hause gehen sollte. Sie bewohnte dort eine Kammer in einer Künstler-Wohngemeinschaft. Künstler … immerhin machte sie etwas mit Grafik. Und heute fühlte sie sich nur nach Wald.

Jugendliche mit peinlich modernen Frisuren, ältere Leute mit Einkaufstaschen, Haustiere mit ihren Besitzern. Im Aufzug wurde es immer bunter, bis bei Etage 160 die ländliche Gegend begann. Die letzten Dorfbewohner stiegen aus. Ab 300 gab es nur noch Gärten, Parks und anderes Grünzeug. Wer hier nicht ausstieg, wollte weg; denn darüber kam nur noch der Flughafen.

Fünfhundert Etagen, fünf Kilometer Haus, das Ganze 220 Mal auf der Erde. Wie lang und breit war ein Land noch mal? Etage 307, nichts wie raus ins Grüne!

Die Luft duftete blau-grün, frisches Laub, feuchter Boden. Lara atmete tief ein und wartete, bis die drei anderen Ausgestiegenen einen Weg eingeschlagen hatten. Zwei Hundebesitzer verschwanden nach links, der Jogger im rosa Trikot trabte nach rechts davon. Also nahm sie den Waldweg geradeaus, um ihre Ruhe zu haben.

Alte Laubbäume warfen Schatten aufs Unterholz. Dazwischen entdeckte sie Buschwindröschen. Das musste diese neue Sorte sein, die ohne Licht auskam und den ganzen Sommer lang blühen konnte. Weit darüber zwitscherte ein Buchfink seine gelb geringelte Melodie. Sie riss ein Buchenblatt von einem tief hängenden Zweig und kaute darauf herum, bis sich vor ihr eine kleine Lichtung öffnete.

Warmes Licht flutete die Wiese, doch der gleichmäßig bewässerte Boden blieb schön feucht. Am Rand der Lichtung hatte sich ein Moosteppich gebildet. Das nahm Lara als Einladung, sich weich in die Sonne zu legen.

Übers Jahr nahm die Beleuchtung die Farben des natürlichen Sonnenlichts an. Jetzt im Sommer fühlte sich der hohe Ultraviolett-Anteil richtig lebendig an. Wie tausend Goldtropfen auf der Haut, die einsickerten und die Trägheit vertrieben.

Moos und frische Erde mischten sich zu einem Duft, dem sie stundenlang hätte zusehen können. Dieses Dunkelblau, durchzogen von hellen Schlieren bis hin zu Weiß, bei jedem Windhauch in Bewegung – in diesem Muster hatte sie schon einige virtuelle Kunstwerke eingefärbt. Natürlich war auch ihr Tunnelbahn-Waggon ganz an Moos und Erde entlang entworfen. Doch Letzterer hätte gerade nicht weiter weg sein können.

Ein Schleier glitt über ihre geschlossenen Augen. War schon Zeit für die Abenddämmerung? Nein, jemand stand in ihrer Sonne. Träge öffnete Lara ein Auge, dann langsam das zweite.

Sie brauchte ein paar Sekunden, um die Person zu erkennen, die aufrecht neben ihr stand. In lautlosem Interstellar redete Ilsina daher, auf der Schulter trug sie ihren namaridischen Kollegen. Die beiden waren Arbeiter auf einem Weltraum-Frachtschiff, auf dem sie jemanden kannte. Was zum Blackout hatten sie hier zu suchen?

„Ich kann immer noch keine Fingersprache … aber toll, euch persönlich zu treffen!“

Die beiden Matrosen warfen sich nichtssagende Blicke zu. Ilsina trug ausnahmsweise keinen weißen Anzug, sondern ortsübliche Frauenkleider. Der achtarmige Winzling auf ihrer Schulter steckte wie immer in seiner Uniform.

„Was führt euch her?“, Lara stand ungeschickt auf. Von der Überraschung war ihr fast schwindlig.

Automatisch begann Ilsina erst mit den Fingern zu reden, dann riss sie sich zusammen und wechselte zu Lautsprache.

„Das Raumschiff wird gerade repariert“, erklärte sie mit dem Akzent von jemandem der sonst nie sprach.

„Rihm arbeitet mit den Handwerkern, der Rest von uns macht Urlaub.“ Rihm war der alte Bekannte, über den sie Kontakt zu dieser Mannschaft pflegte. Ihm so unvorbereitet über den Weg zu laufen, wäre sicher unbequem gewesen.

Glück gehabt, dachte Lara, dass sie stattdessen nur den beiden wortkargen Plaudertaschen begegnete. Auch wenn es sie nervös machte, dass sie kein Wort von dem verstand, was dort in Interstellar mit Fingern oder blauen Ärmchen gequasselt wurde.

Zu dritt gingen sie weiter durch den Wald. Nun bekam Lara mit, dass die Besitzerin des Frachters die Tage nutzte, um Geschäftspartner zu treffen. Juliette war die Freundin von Rihm und Chefin der sechs Mitarbeiter. Und nein, niemand hatte Lara gezielt gesucht, alles reiner Zufall.

„Das ist übrigens Zis“, stellte Ilsina ihre Begleitung vor. Der blaue Kopffüßer winkte höflich. „Sie lässt fragen, was du so machst.“

Gemeine Falle! War sie nicht für eine Pause hierher gekommen? Tiefer und tiefer sinken, das tat sie in letzter Zeit. Angefangen hatte sie vor fünf Jahren, im Wettstreit mit einer neuseeländischen Hackergruppe um die breiteste Massenverarbeitung.

Damals hatte sie noch studiert, so dass sie Zugang zum Bio-Assembler ihrer Hochschule hatte. Immer gewagtere Drogen hatte sie heimlich synthetisiert, um ihr Bewusstsein auf das nötige Niveau zu erweitern.

Nach ein paar Unfällen war sie aufgeflogen, ihr Hausverbot galt noch bis nächstes Jahr. Die Neuseeländer hatten daraufhin Angst bekommen und ihre Aufzeichnungen vorauseilend veröffentlicht. Deren Universität war aufgeschlossener und stellte daraufhin sogar Forschungsmittel bereit. Denn der Ansatz sei faszinierend, nur vernünftige Rahmenbedingungen müssten geschaffen werden.

„Eigentlich nichts“, meinte sie schließlich, „also, ich arbeite gerade an nichts Konkretem.“

Das traf es am besten. Seit drei Jahren lebte sie von der Grundversorgung und redete sich ein, ihr Studium sei nicht ab- sondern nur unterbrochen. Ab und zu wollte sie ein neues Projekt beginnen, brauchte Startkapital und ließ sich von ihren alten Kontakten einen tollen, aber kurzfristigen Job vermitteln.

Das wurde langsam peinlich, doch ohne Hilfe ihrer Beziehungen bekam sie nur minderwertige Arbeit. Ihr Lebenslauf sah einfach zu ungehobelt aus. Also, nicht objektiv minderwertig, jedoch gefühlt unter ihrer Würde.

Die uninteressante Arbeit stumpfte sie stets dermaßen ab, dass sie keine Lust mehr auf das Projekt hatte das sie damit finanzieren wollte. Also tat sie wieder nichts, bis der Kreis von vorn begann. Doch davon musste weder Zis noch der Rest der Vereinigung interplanetarischer Gütertransport erfahren.

„Da vorne ist ein Geheimgang, den müsst ihr sehen“, versuchte sie das Thema zu wechseln, als der Treppen-Baum in Sichtweite kam.

„Glauben wir nicht.“

„Klar ist das ein Geheimgang …“

„Nein, dass du nichts tust.“

Konnte Ilsina nicht endlich Ruhe geben? Lara blieb vor dem Baumstamm stehen und tastete nach der getarnten Tür.

„Eine Abkürzung in die nächsten Dörfer. Los, fahren wir runter!“

Sie ließ dem Frachter-Team den Vortritt, so dass sie eine Stufe über ihnen auf der Fahrtreppe stand. Zis kletterte von Ilsinas Schulter über die Hand und fuhr auf dem Geländer. Die beiden führten einen pausenlosen Dialog, ihre Finger respektive Ärmchen hielten niemals ganz still.

Lara wusste nicht ganz, ob sie sich dumm oder ausgeschlossen fühlen sollte, weil sie immer zu faul gewesen war Interstellar zu lernen. Diese angeblich ganz leichte Sprache, die lautlos funktionierte und von allen raumfahrenden Wesen artikuliert werden konnte.

„Mal ehrlich“, hakte Ilsina nach, „ihr habt die Medikamente mit entwickelt, mit denen Kollege Rihm wieder hören gelernt hat. Und wie nebenbei diese Software, die einen ganzen Lagerbestand in ein Gedankenpaket komprimiert, so dass wir da draußen viel geordneter arbeiten können.“

Sie drehte den Kopf, um Lara direkt anzuschauen. „Die Neuseeländer führen den Kram mit staatlicher Förderung weiter. An der Hochschule. Und du bist raus?“

Weil ich am falschen Ende der Erde wohne, flüsterte es in Laras Kopf. Konnte man das so sagen? Besser ließ sich die Sache jedenfalls kaum zusammenfassen.

„Ja, weil ich am verdammten falschen Ende der Erde wohne.“

In einem Land, durch das bald blaue Züge fahren würden, während anderswo die nächste Generation von Neural-Interfaces entwickelt wurde.

Zis gestikulierte, Ilsina übersetzte. „Wie alt bist du, dreiundzwanzig?“

„Vierundzwanzig. Was hat Alter mit Nichtstun zu tun?“ Lara spielte nervös an ihren dunkelroten Locken und war froh, dass sie nicht nach Details gefragt wurde.

„Nun, es wäre schade, so jung zu verblöden. Du könntest uns nach Aufträgen herum horchen lassen. Wir sind zwar auch alte Kontakte, aber uns hast du noch nicht peinlich oft gebeten.“

Das Team schaute sich an und kicherte. Dann übersetzte die Menschenfrau den nächsten Spruch.

„Du könntest auch alles hinschmeißen und eine völlig neue Ausbildung anfangen. Wir kommen gleich in einem Dorf raus, ja? Dann fragen wir den erstbesten Bauern …“

„… danke, aber dort stamme ich her. Ich könnte die Gärtnerei meiner Eltern übernehmen, aber danke, dann hocke ich lieber weiter in unserer Künstler-Kommune und lebe von Grundversorgung.“

„Erdlinge!“, seufzte Ilsina. „Woher diese Aversion gegen den Beruf der Eltern? Meine Mutter war Raumschiffpilotin, mein Vater war Maschinist, meine Großeltern waren …“

„Ist ja schon gut!“ Endlich sah Lara die nächste Tür. „Hier können wir wieder raus. Und nein, ich habe nichts gegen Pflanzen. Die ganze Außenwelt liegt mir einfach nicht, ich kann nur online vernünftig arbeiten.“

„Tristan, noch zwei mit Schokolade!“, schallte es aus Richtung der Ladentheke.

Der Küchenhelfer hob zwei Eistörtchen auf schneeweiße Teller und griff zur Schoko-Soße. „Schon fertig!“ Die Arbeit gefiel ihm jeden Tag besser. Sie war so friedlich. Erstmals erlebte Tristan den Luxus von Routine.

Freilich änderte das nichts daran, dass er hier fest saß. Das Restaurant war sein Versteck, die Rolle des netten Küchenhelfers die schnellste Tarnung die er sich hatte zulegen können. Er würde sie nur ein paar Tage oder Wochen spielen. Dann würden seine Leute ihn garantiert abholen. Oder ihm irgendwie mitteilen, wo er sie zu finden hatte.

„Tristan, der Nachschub ist da. Kontrollierst du bitte die Lieferscheine?“ Diesmal rief der Chef.

Brav ging er in den Kühlraum, prüfte Vorräte und Lieferscheine gegeneinander. Dann kam wieder einer dieser kritischen Momente, in denen er hoffte, nichts unterschreiben zu müssen. Seine Identität war zwar von Profis gefälscht. Aber die hatten so schnell geliefert, dass Tristan sich nicht vorstellen konnte, dass sie auch sorgfältig gearbeitet hatten.

Zum Glück brauchte der Roboter des Kühlprodukte-Zentrallagers keinen Fingerabdruck. Das Siegel des Restaurants genügte, damit er grün blinkend zum nächsten Laden weiterzog. Erleichtert schloss Tristan den Kühlraum ab, lehnte sich gegen die Tür und atmete tief durch. Erst als sein Spiegelbild in den Kachelwänden keine Unsicherheit mehr verriet, ging er zurück in die Küche.

Was würde passieren, wenn sie sich nie meldeten? Dann könnte er hier bleiben, solange es gut ging. Er ertappte sich selbst dabei, wie ihm diese Vorstellung gefiel. Ein ruhiges Leben mit geregeltem Einkommen. Wenn er lange genug unauffällig blieb, könnte er vielleicht einen Härtefallantrag stellen und seine neue Identität offiziell anerkennen lassen. Wie viele Jahre guter Führung man dafür wohl brauchte?

Schnell wischte er den Gedanken beiseite, während seine Hände das nächste Eistörtchen mit Zuckerschrift überzogen. Wenn seine Leute noch lebten, würden sie ihn überall finden.

Im Hafen ging ein Arbeitstag seinem Ende zu. Die Handwerker verabschiedeten sich. Rihm lobte ihr Werk, damit sie morgen pünktlich wieder erschienen. Anschließend prüfte er jede Schraube persönlich. Schließlich gehörte das Schiff seiner Julie und sie hatte ihm die Reparatur übertragen. Das war kein Auftrag, sondern ein Vertrauensbeweis.

Wann tauchte sie endlich wieder auf? Das blauweiße Duett, ihre beiden Mädel für alles, hatte vorhin vorbei geschaut. Laut ihnen verhandelte Julie mit einem Bauunternehmen über eine Serie von Transportflügen.

Seine Kontrollrunde führte durch den Laderaum, welcher sich endlich wieder versiegeln ließ. Neulich hatten Einbrecher das Schloss demoliert. Vorher hatte er nicht mal gewusst, dass es Raumschiff-Diebe überhaupt gab. Aber in dieser letzten Ecke des Alls, die Julie mal ausprobieren wollte, war offenbar alles möglich.

Was hatten die Schiffsmädchen noch erwähnt? Ach ja, hier im Turm wohnte auch die kleine Lara. Sie war noch nicht endgültig durch die Maschen gefallen, darum würde Ilsina herum plaudern und Leute mit eventuellen Projekten für sie hier herauf schicken.

Vielleicht war es gut, wenn die eventuell suchenden Leute jemanden zum Ansprechen vorfanden. Also kletterte er an die Decke des Laderaums, dort durch einen Notausstieg nach draußen. Vom Dach des Mittelklasse-Transporters konnte er die Hafenhalle gut überblicken. Hier oben machte er es sich bequem und packte sein Abendessen aus.

Der frisch polierte Lack strahlte genauso weiß wie sein Reiseanzug. Die Wand dahinter war ebenfalls weiß verkleidet. Ob man so unsichtbar werden konnte? Von Weitem sah man bestimmt nur seine schulterlangen, schwarzen Haare. Und eine rote Brotdose.

Die Ruhe hielt genau ein Brötchen lang. Als Rihm aufschaute, stand ein dürrer Typ mit grauem Kurzhaarschnitt vor dem Landeplatz, als suchte er die üblichen Tafeln mit Stellenangeboten. Hier gab es keine, denn Julie hatte genug Personal.

Wenn der Typ etwas anderes wollte, sollte er es gefälligst sagen. Rihm hatte absolut keine Lust, ihn von sich aus anzusprechen. Denn bei geheimnisvollen Fremden schrillten in seinem Kopf sämtliche Alarmglocken.

Fünf Jahre war der prägende Überfall durch geheimnisvolle Fremde inzwischen her. Gerade hatte er alle Medikamente abgesetzt, konnte sogar wieder ausreichend gut hören. Das Misstrauen blieb. Anders ausgedrückt, er hatte aus der Erfahrung gelernt.

Mit gemischten Gefühlen beobachtete er den Besucher. Der schleppte eine Aura aus Unsicherheit durch die Halle, durch die hindurch er dreimal zu Rihm aufschauen musste, bis er endlich den Mund aufmachte.

„Ich komme wegen der Software-Sache“, begann der Typ zögerlich. „Jemand sagte, ich solle mich an Leute von deinem Frachter wenden, mit unlösbaren Problemen und so.“

„Jemand ist gerade nicht hier“, antwortete Rihm von oben herab, „aber ich helfe gern weiter. Was genau ist denn unlösbar?“

Ja, es war eine gute Idee, die Auftraggeber zu filtern. Lara allein konnte bestimmt nicht abschätzen, ob sie es mit einem Spinner zu tun hatte.

Er kletterte am Schiff herunter und sprang den letzten Meter zu Boden. So konnten sie sich leiser unterhalten. Als er sich gezielt an den Torbogen der Luftschleuse lehnte, achtete er sehr darauf, dass dies beiläufig aussah.

Falls der Fremde es überhaupt bemerkte, sollte er denken, dass er rein zufällig auf der anderen Seite davon stand. Bei einer falschen Bewegung konnte er die Schleuse blitzschnell schließen lassen. Irgendwie hielt er sich selbst für paranoid, aber schlechte Erfahrungen ließen sich eben nicht ausradieren.

„Ich muss jemanden im Italien-Turm kontaktieren“, deutete der Besucher an, „und zwar anonym.“

„Du brauchst also ein gefälschtes Profil?“ Beinahe hätte Rihm hinzugefügt, dass er das an einem halben Tag erledigen könne. Aber erstens ging es um anständige Jobs, zweitens um welche für Lara.

„Leider nein“, meinte der Typ, „einem anonymen Gegenüber würde er nicht vertrauen. Da könnte ja jeder kommen und sich als jeder ausgeben.“

„Dann hättet ihr bei Zeiten eine Parole ausmachen müssen … gibt es keine persönlichen Details die nur du kennst?“ Es konnte nicht schaden, ihn etwas auf die Probe zu stellen.

„Bitte nimm mich ernst“, plötzlich zitterte dem Fremden auch noch die Stimme, „wenn möglicherweise jemand mithört, kann ich nicht auch noch persönliche Details in Klartext erzählen. Die werden sonst mitgeschrieben, danach kann sie jeder nachplappern, sie taugen also nicht mehr als Nachweis. Und weil das schon passiert sein kann, taugen sie überhaupt nicht.“

„So so, jemand hört mit.“ War wirklich nur er paranoid? „Dann öffne dafür doch einen verschlüsselten Raum. Das sollte man sowieso tun, bevor man im Netz etwas Privates ausspricht. Warum kannst du eigentlich nicht dein echtes Bürgerprofil benutzen?“

Der grauhaarige Typ seufzte, blieb aber ernst. Wenn er nicht blöd war, musste er merkten, dass er gerade auf Ernsthaftigkeit überprüft wurde.

„Ich habe Grund zu der Annahme, dass eine Behörde mich auf dem Schirm hat. Weil die vermutet, dass ich jemanden kenne, der gesucht wird. Alles klar?“

Eine Atempause verging. „Ja, klar. Und?“

„Und sobald ich im Netz mit jemandem rede, hinterlasse ich Spuren in einem Log. Egal ob der Raum verschlüsselt ist oder nicht.“

Noch eine Atempause. „Ist klar. Und mit einem gehackten Profil?“

„Dann vertraut die Person mir nicht. Weil dahinter jeder stehen kann und man sich persönliches Wissen auch … anders beschaffen kann. Außerdem will ich nichts Illegales an einem Netzzugang machen, an dem nachweisbar ist, dass ich ihn benutzt habe.“

Nichts Illegales? Optimal! Dann war es ein Job für Lara. „Für illegalen Scheiß wären wir auch nicht zu haben“, erwiderte Rihm, wobei ihm unwillkürlich ein Lächeln ins Gesicht kroch.