5 Dinge, die wir von unserer Krankheit lernen können - Bronnie Ware - E-Book

5 Dinge, die wir von unserer Krankheit lernen können E-Book

Bronnie Ware

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  • Herausgeber: Arkana
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Heilung durch Hingabe.

Bronnie Ware war eine unabhängige Frau mit vielfältigen Leidenschaften. »5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen« machte sie zur Bestsellerautorin. Außerdem erfüllte sich mit über 40 ihr größter Traum: Sie wurde Mutter. Doch dann begegnete ihr die größte Herausforderung ihres Lebens: Rheumatoide Arthritis – eine sehr schmerzhafte Autoimmunkrankheit, die weitreichende körperliche Einschränkungen mit sich bringt. Mit großem Mut und bewundernswerter Hingabe nimmt sie ihr Schicksal an. Und sie zeigt jedem von chronischer Krankheit Betroffenen, wie das Hier und Jetzt zum Lehrmeister werden kann. Zahlreiche Belohnungen warten: wachsende Selbstliebe und Vertrauen ins Leben, Prozesse der Vergebung, der Heilung und des inneren Wachstums. Am Ende ist das Leben lebenswerter als je zuvor.

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Seitenzahl: 428

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Die Autorin

Bronnie Ware ist die Autorin des internationalen Bestsellers Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen, das weltweit in neunundzwanzig Sprachen erschienen ist. Im Dezember 2015 erwarb die Enigma Films die Rechte für einen Spielfilm zu diesem Thema. Ihr zweites Buch Leben ohne Reue: 52 Impulse, die uns daran erinnern, was wirklich wichtig ist wurde ebenfalls in mehrere Sprachen übersetzt.

Bronnies Wunsch ist es, anderen durch ihren Mut ein Beispiel zu sein. Da Bronnie jahrelang Sterbende begleitet hat, kennt sie den tiefen Schmerz, den Menschen empfinden, wenn sie voller Reue sterben. Aber auch Authentizität und Humor sind ihr nicht fremd. Beides würdigt sie, indem sie Tag für Tag mutig, bewusst und frei ihre Entscheidungen trifft.

Bronnie tritt vielfach auf Konferenzen auf, wobei sie ihre Begabung als Songwriterin einfließen lässt. So unterhält sie gerne ihr Publikum und ermutigt die Menschen, weniger Zeit am Computer zu verbringen und sich mehr auf das Wagnis echter Beziehungen einzulassen.

Gleichwohl ist ihre Lieblingsrolle die der Mutter, ihre liebste Lehrerin ist die Natur.

Bronnie lebt in New South Wales in Australien.

Bronnie Ware

5 Dinge, die wir von unserer Krankheit lernen können

Mein Weg zum inneren Erblühen

Aus dem Englischen vonElisabeth Liebl

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel » Bloom « bei Hay House Australien Inc.
© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe Arkana, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München © 2017 der Originalausgabe Bronnie Ware Lektorat: Antje Korsmeier Umschlaggestaltung: ki 36 Editorial Design, München Umschlagmotiv: Blüte © Mandrixta/fotolia; Papier und Hintergrund © amanaimagesRF/plainpicture Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling ISBN 978-3-641-21635-1V002
www.arkana-verlag.de

Für meine Tochter ElenaSo frei, so rein, so weise

Vorwort

Dies ist ein Buch über das wirkliche Leben mit all seinen Sonnen- und Schattenseiten, Frustrationen und Freuden, mit Ebbe und Flut. Es ist auch ein Buch über die Großartigkeit des Lebens, die in alldem verborgen liegt. Schönheit gibt es überall. Doch wollen wir sie erkennen, wenn uns das Leben mit Herausforderungen konfrontiert, die manchmal unser ganzes Leben verändern, dann müssen wir unseren Blickwinkel ändern, unsere Sicht dessen, was gut und vollkommen ist.

Ich möchte Ihnen hier von meinem Weg während der letzten Jahre erzählen, in denen mir durch Krankheit und andere Gegebenheiten harte Lektionen zuteilwurden. Diese haben mir geholfen, meine Perspektive zu ändern, zu erkennen, wie sehr das Leben mich und uns alle liebt. Die Lektionen wurden mir nicht unbedingt auf angenehme Weise erteilt, und doch waren sie vollkommen, weil sie wie der Schlüssel im Schloss zu der Bereitschaft passten, die ich bis zum entsprechenden Zeitpunkt entwickelt hatte.

Dabei kamen fünf Themenbereiche ans Licht, die mich (und mein Leben) grundlegend verändert haben. Je mehr ich diese fünf Punkte meisterte, desto mehr Freude und Frieden kehrten in mein Leben zurück.

Vor welchen Herausforderungen wir auch stehen mögen – seien es Krankheiten, traumatische Erfahrungen oder unerwartete Umbrüche –, diese fünf Dinge können unser Leben verändern, wenn wir lernen, sie umzusetzen. Durch bewusste Offenheit für Wachstum oder auch ein stilles, banges Gebet um Einsicht in den Sinn des Erlebten laden wir das Leben ein, uns mit dem Verständnis für diese Werkzeuge des Wandels zu segnen.

Wir haben keinen Einfluss darauf, auf welchem Weg uns das Lernen erreicht. Doch sobald wir uns öffnen, sorgt das Leben voller Liebe dafür, dass wir unsere Lektion lernen, indem es uns auch in anderen Lebensbereichen Aufgaben stellt, an denen wir wachsen können. Gewöhnlich machen sich die Lektionen nämlich nicht nur in dem Lebensbereich bemerkbar, in dem wir am meisten Hilfe benötigen, zum Beispiel beim Umgang mit einer Krankheit. Daher habe ich in meine Geschichte auch andere Themen eingewoben. Und während sich so Ihr Gewahrsein für diese Dinge schärft, werden Sie erkennen, dass das Leben uns stets sanft mit der Nase darauf stößt, wie wichtig das Gelernte auch für andere Facetten unseres Daseins ist.

Die fünf Dinge, die Krankheiten oder andere schwierige Erlebnisse uns lehren können, sind:

Loslassen – und aufhören, alles kontrollieren zu wollenMut – und die Kraft zur Veränderung, die diesem Mut innewohntSelbstfürsorge – und die Bedeutung von Einfachheit und Raum für uns selbstDas Durchbrechen von Begrenzungen – und die Erkenntnis, dass es in Ordnung ist, alles Gute anzunehmenEchte Beziehungen – und die Notwendigkeit, sie über unsere Kontakte mit der virtuellen Welt zu stellen

Ohne den Glauben können wir uns keines dieser Werkzeuge wirklich zu eigen machen. Doch der stellt sich ganz von selbst ein, je stärker sich die Lektionen unserem Denken und unserem Sein einprägen. Der Glaube ist wichtig, wenn wir auf Kontrolle verzichten wollen. Wir brauchen ihn, um unsere Angst vor dem Loslassen zu mindern und auf das zu vertrauen, was sich im jeweiligen Augenblick entfaltet. Dieser Prozess vollzieht sich schrittweise. Sie müssen nicht in jedem Augenblick Ihres Lebens Unmengen von Glauben und Vertrauen in sich spüren.

Mein Leben soll hier nur als Beispiel dienen, um zu zeigen, dass diese Lektionen universell sind, auch wenn sie in individueller Gestalt daherkommen.

Ich teile diese Geschichte mit Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, in aller Freundschaft. Es ist meine Hoffnung, dass Sie, wenn Sie meine Geschichte lesen, die Kraft und den Mut finden mögen, sich voller Hingabe dem Leben zu überlassen. In jedem Hindernis, das sich uns entgegenstellt, liegt auch ein Segen. Meine Geschichte ist ein Werkzeug, das Ihnen die Augen für diese Segnungen öffnen soll.

Auch dieses Buch niederzuschreiben war eine Frage von Mut und Kontrollverzicht. Es gab bestimmte Themen, bestimmte Sehnsüchte, die ich mitteilen wollte, auch wenn ich nicht genau wusste, wohin das alles führen sollte. Doch ich schrieb immer weiter in der Hoffnung, dass, selbst wenn sich das ideale Ende, das ich mir erhofft hatte, nicht einstellte, das reale Ende doch das vollkommene Ende für dieses Werk der Hingabe sein würde und damit auch für meinen eigenen Weg. In diesem Glauben war ich Ihnen, liebe Leser, immer nur einen kleinen Schritt voraus im Wissen darum, wie die Geschichte sich entwickeln würde. (Die einzige willkürliche Änderung, die ich an dieser Geschichte vorgenommen habe, war die, den Namen eines lieben Freundes zu ändern. Um seine Privatsphäre zu schützen, habe ich ihn Jeff getauft.)

Nun empfinde ich Frieden und große Dankbarkeit dafür, wohin mich diese Reise geführt hat. Vor allem hat sie mir den Mut gegeben, die Rolle anzunehmen, die das Leben mir zugedacht hat. Sie hat mir geholfen, mich meinen Ängsten zu stellen, mein Licht leuchten zu lassen und mein Leben ohne inneren Zwiespalt, schlechtes Gewissen oder Selbstverurteilung in aller Fülle zu genießen. Sie hat mich nach Hause zu mir selbst geführt.

Mit all meiner Liebe hoffe ich von Herzen, dass das Leben Ihnen das gleiche Geschenk macht.

1

Unser Leben gestaltet sich gemäß den Entscheidungen, die wir treffen.

Es gibt große, gründlich durchdachte Entscheidungen: Ziehe ich in diese oder jene Stadt? Gehe ich diese oder jene Beziehung ein bzw. beende sie? Sage ich, was ich wirklich denke, auch wenn ich das Gefühl habe, dass mir daraus Schwierigkeiten erwachsen werden? Entscheide ich mich für die eine oder die andere Therapie im Kampf gegen eine Krankheit?

Und es gibt Ad-hoc-Entscheidungen, die wir aus unserer momentanen Stimmung heraus treffen: Trinke ich eine Tasse Chai oder lieber einen frisch gepressten Saft? Soll ich den violetten Pullover anziehen oder lieber den gelben? Rufe ich meine Freundin sofort an, oder verschiebe ich das auf später?

Daneben gibt es aber auch unbewusste Entscheidungen, die beides sein können: Ich nehme eine bestimmte Stelle an, weil ich zu viel Angst habe, etwas Neues zu versuchen. Ich kaufe diese Schuhe, weil ich weiß, dass sie meinem Partner nicht gefallen werden, und ich so das Gefühl habe, ich könne machen, was ich will. Ich reagiere auf eine Situation in einer bestimmten Weise, weil die Leute das von mir erwarten. Ich rede nicht über das, was ich geschafft habe, weil ich mich nicht in den Vordergrund spielen möchte.

Manche Entscheidungen sind eher das Resultat eines unbewussten Wunsches als einer bewussten Wahl. Dennoch ist jeder Wunsch eine Entscheidung.

Wie die Angst.

Wie der Mut.

2

Irgendwann mit Ende zwanzig traf ich die erstaunlich weise Entscheidung, meine Steuerrückerstattung künftig nur noch in mich selbst zu investieren. Ich sage »erstaunlich«, weil mein ganzes sonstiges Verhalten damals eher selbstzerstörerisch war; mein Selbstwertgefühl war so unterentwickelt, dass es wirklich verwunderlich ist, dass ich überhaupt auf die Idee kam, mir in irgendeiner Weise etwas Gutes zu tun.

Eine Rückzahlung vom Finanzamt floss in eine Kamera, weil ich auf Märkten eigene Fotos verkaufen wollte. Ein andermal stattete ich einer wunderbaren Buchhandlung einen Besuch ab und brachte Stunden damit zu, meinen Einkaufskorb mit inspirierender Literatur zu füllen. In einem Jahr schritt ich bei einem Feuerlauf-Seminar über glühende Kohlen, in einem anderen besuchte ich ein Meditationsretreat, bei dem ich zum ersten Mal jenen Deckel lockerte, der bislang meinen Schmerz in Schach gehalten hatte. Damit begann mein bewusster Weg zur Heilung: eine Reise, auf der ich mutig der Stimme meines Herzens folgte.

Die Sprache des Herzens ist sanft, aufrichtig, klug und voller Liebe. Es ist traurig, dass so viele Menschen aufgehört haben, auf ihr innerstes Sehnen zu hören. Und so hat ihr mürb gewordenes Herz gelernt zu schweigen, um ganz allmählich zu zerbrechen. Ein schwacher Hoffnungsschimmer mag da oder dort noch glimmen, bereit wieder aufzuflackern, wenn sich die Gelegenheit bietet. Am Ende erstirbt die Stimme des Herzens mit einem resignierten Seufzen, und der Mensch erinnert sich erst wieder an sie, wenn er auf dem Sterbebett liegt und voller Bedauern über das nachdenkt, was er versäumt hat.

Doch die wenigsten können ihr Herz ganz zum Verstummen bringen. Es sitzt ja in unserer Brust, voller Weisheit und liebevoller Führung. Es ruft uns vorwärts, lässt uns irgendwie erahnen, wie schön das Leben tatsächlich sein könnte, hätten wir nur den Mut, ihm zuzuhören und zu handeln. Wenn wir uns unverzagt entschließen, diese Ahnung, diese Vision zu würdigen, dann werden die Worte des Herzens unser zuverlässigster und treuester Begleiter sein.

3

Ich habe einige Zeit gebraucht, bis ich die Sprache meines Herzens verstand. Eine Unterhaltung mit meinem Vater hat mir schließlich gezeigt, dass sich diese innere Stimme niemals zum Verstummen bringen ließ.

Ich arbeitete damals bei einer Bank, es war der x-te Bankjob in einer langen Reihe ähnlicher Tätigkeiten. Quer durch Australien hatte ich mittlerweile für so gut wie jede Bank gearbeitet. Mein Aufgabenbereich änderte sich. Die Transportmittel, mit denen ich zur Arbeit fuhr, änderten sich. Die Dresscodes änderten sich. Sonst aber änderte sich nicht viel. Die Atmosphäre der neonbeleuchteten Büros, das von Montag bis Freitag sich wiederholende öde Einerlei, die Beschwerden der Kunden und Kollegen, der Druck, Umsatz zu machen – das war überall gleich. Doch das Gefühl der Unzufriedenheit und der Stich ins Herz, den ich bei dem Gedanken, wieder ins Büro zu müssen, verspürte – diese Dinge änderten sich. Sie wurden von Mal zu Mal stärker.

Also kündigte ich wieder einmal meinen Job. Diesmal entledigte ich mich des gesamten Mobiliars, das ich angesammelt hatte, und fuhr nach Süden, um meine Eltern zu besuchen. »Destination Unknown« klang aus den Lautsprechern, der Song aus dem Film Top Gun. »Ziel unbekannt«, das war nun mein Leitmotiv, das mir half, der Ungewissheit eine romantische Seite abzugewinnen.

Ein paar Tage später fuhren mein Vater und ich eine staubige, von Eukalyptusbäumen gesäumte Landstraße entlang. Zwischen Schlaglöchern und Buckeln wollte er wissen, warum ich meine gute Stelle bei der Bank gekündigt hätte und was ich mir davon verspräche, einfach so ins Ungewisse loszuziehen.

Ich sagte ihm, ich hätte keine Ahnung. Ich wüsste nicht, was ich erwartete. Nur dass dieses Dasein von Montag bis Freitag, von neun bis fünf, für mich nicht stimmte. Also hätte ich es hinter mir gelassen in der Hoffnung, endlich herauszufinden, was für mich richtig wäre.

Es machte mir Angst, solche Dinge ausgerechnet mit dem Mann zu besprechen, der mit seiner Kritik und seiner rigorosen Disziplin mein ganzes bisheriges Leben bestimmt hatte. Dass ich mich zu einer selbstständig denkenden, erwachsenen Frau entwickelt hatte, die einem neuen Teil ihrer selbst Ausdruck verlieh, ließ die Schmetterlinge in meinem Bauch tanzen. Seine alten Kontrollmechanismen verloren ihre Macht über mich. Meine Angst vor seiner meist aggressiven Reaktion, seinem Zorn begann zu weichen. Dieses Gespräch war das erste Anzeichen dafür. Ich war nervös und tapfer zugleich, denn mein Herz sprach lauter als meine Angst.

Ich spürte, dass meine Worte tatsächlich seine Neugierde weckten, und das gab mir den Mut zu sagen, was ich sagte. Woraufhin er mich nur süffisant ansah und im Tonfall desjenigen, der den Misserfolg vorausahnt, erwiderte: »Du wirst schon noch dahinterkommen.« Sollte heißen: Die Flausen werden dir schon noch vergehen. Bald nimmst du wieder einen sicheren Job an.

Trotzdem hatte er das erste Mal das Bedürfnis erkennen lassen, mich zu verstehen. Auch wenn seine Reaktion, so wie ich es von ihm kannte, keinerlei Optimismus und Zuversicht signalisierte, nahm doch meine Sehnsucht an diesem Tag erste Konturen an. Ich wusste wirklich nicht, was ich wollte. Aber mir war vollkommen klar, was ich nicht wollte.

Einen Monat später arbeitete ich als Küchenhilfe auf einer tropischen Insel im Great Barrier Reef, buchstäblich froh wie der Mops im Paletot. Diese Insel wurde für zwei märchenhafte Jahre mein Zuhause, bevor eine größere Welt mich rief, um das Leben in anderen Ländern zu erkunden.

Meine Suche begann mit einem Gefühl, das viele Menschen kennen. Ich wusste nur, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte, auch wenn ich nicht hätte sagen können, was ich mir stattdessen wünschte. Das schmerzvolle Bewusstsein, in einer mir nicht gemäßen Weise zu leben, brachte einen Misston in die Melodie meines Herzens und gab mir den Mut, nach dem zu suchen, was für mich richtig war.

4

Eines der größten Geschenke, das ich mir selbst je gemacht habe, war der Entschluss, künftig für mich selbst einzutreten und Grobheiten von anderen nicht länger hinzunehmen.

Wie so viele Menschen hatte ich solche Dinge jahrzehntelang stillschweigend geschluckt und darunter emotional stark gelitten. Dieses Verhalten war teils bewusst, teils unbewusst gewählt.

Auf der bewussten Ebene malte ich mir aus, zu welchen Problemen es wohl käme, würde ich angemessen auf solche Übergriffe reagieren und die eingespielten Muster künftig ablegen. Der Rückzug ins Schneckenhaus schien mir die sicherste Option zu sein. Bis der Schmerz darüber, immer alles unterdrücken zu müssen, zu groß wurde und ich nicht länger willens oder besser gesagt imstande war, das Spiel noch weiter mitzumachen.

Unbewusst aber hatte ich bereits als Kind gelernt, den Kopf einzuziehen und keinen Ärger zu machen. Dieser Teil meiner selbst glaubte fest, dass ich es verdient hätte, wenn mich einige Mitglieder meiner Familie als Zielscheibe ihres Zorns und ihrer Grausamkeit missbrauchten. Dass es in Ordnung war, all das über mich ergehen zu lassen. Dieser Teil hatte entschieden, dass ein Leben auf Zehenspitzen immer noch besser war, als sich den Schmerzen und Stürmen der Freiheit auszusetzen.

Während dieser Phase meiner Verwandlung kam es unvermeidlich zu Verwerfungen, die mir große Angst machten und mich stark verunsicherten. Die Menschen um mich herum mussten lernen, anders mit mir umzugehen. Ich war nicht mehr dieselbe wie einst. Die alten Spielchen wurden immer bedeutungsloser, bis ich sie schließlich nur noch als eine Gelegenheit begriff, mich in Mitgefühl zu üben, wenn ich sah, wie jemand den alten Mustern verhaftet blieb.

Doch meine eigene Angst saß tief, genauso wie meine Widerstände, mir selbst mit Güte zu begegnen. Und so versank ich zunächst ins leidvolle Dunkel einer Depression. Jahrzehnte des Schmerzes, des Missbrauchs, des Selbsthasses und des Kummers traten an die Oberfläche. Sie mussten ans Licht kommen, sollte ich wirklich Heilung finden. Und sie kamen – als ein Strom von Tränen, der Monat um Monat floss.

Das Leben hatte mich mit dem idealen Ort für diesen Befreiungsschlag gesegnet. Umgeben von ungezähmter Natur lebte ich in einer kleinen Hütte, an der ein Bach vorbeilief. Die Rhythmen der Natur und der Tierwelt nährten meine Seele, während meine Gedanken mir selbst und anderen gegenüber allmählich eine liebevollere Richtung einschlugen.

In der Einsamkeit entfaltete sich sukzessive ein neues Potenzial. Ich durchbrach die Schale der Anpassung und der Prägung durch meine Vergangenheit. Ein neuer Mensch war im Werden, voller Hoffnung und endlich auch voller Zuversicht.

Ich lernte, wie ich mich selbst lieben und mir im Denken und im Handeln mit unendlicher Güte begegnen konnte. Endlich machten mir die Lektionen, die das Leben mir schickte, Freude. Sie stellten sich ganz sachte ein. Nach und nach hörte ich auf, in ihnen etwas zu sehen, vor dem ich Angst haben musste. Jede bewusste Entscheidung, liebevoll mit mir selbst umzugehen, half mir, neue Gewohnheiten zu entwickeln, ob es nun darum ging, am Dienstagabend genüsslich ein Bad zu nehmen oder Gespräche zu meiden, die mir bloß die Stimmung verderben würden. Diese Lernprozesse hatten nun ein offensichtliches Ziel: den seelischen Schmerz hinter mir zu lassen. Je mutiger ich meine eigenen Wünsche und Bedürfnisse annahm, desto schwächer wurden Scham und Schuldgefühle. Es war jetzt absolut in Ordnung, ein glückliches Leben anzusteuern.

Die Depression setzte all die Tränen frei, die in meinem Leben hätten fließen müssen und nie geflossen waren. Träne um Träne wurden die Mauern, die mein Herz umschlossen hatten, weggespült, und ich gewann an Kraft. All diese Veränderungen gingen in kleinen Schritten vor sich, vorangetragen von Moment zu Moment dadurch, dass ich losließ, liebevoller mit mir selbst umging und mir die Erlaubnis gab, ganz im gegenwärtigen Moment zu sein.

Trafen meine Gefühle auf Widerstand, etwa wenn gewisse Teile in mir noch Angst hatten, sich der Liebe und Güte zu öffnen, dann wartete das Herz geduldig und sanftmütig, wie die Liebe es tut. Öffnete sich wieder ein kleiner Spalt zu meinem Herzen, so sickerte die Liebe hinein und heilte eine weitere Wunde.

Meine Entscheidung, künftig für mich einzutreten, brachte mit sich, dass ich viele alte Gewohnheiten ablegen musste. Je mehr ich mich in Selbstliebe übte, desto geschickter wurde ich darin. Ich zog nicht länger Situationen an, die mir einst so viel Leid verursacht hatten. Meine Beziehungen zu anderen Menschen verbesserten sich und waren von mehr Respekt getragen, oder aber sie lösten sich auf.

Meine Last wurde leichter. Die Vorstellung, wieder in die Welt zurückzukehren, hatte nun nichts Schreckliches mehr. Sie war sogar aufregend: Neue Hoffnung keimte in mir auf. Ganz allmählich begann ein neues Kapitel. Ein neuer Mensch kam zum Vorschein. Mut geleitete mich, als ich mich in diese veränderte Welt hinauswagte. Es war ein Ort, den ich bewusst noch nicht erlebt hatte, den aber die geheimsten Winkel meines Herzens immer schon gekannt und ersehnt hatten.

Ich hatte Stürmen und Wolkenbrüchen getrotzt, hatte mich hindurchgekämpft zur wärmenden Liebe der Sonne und fühlte mich nun in aller Stille stark. Als neue Lektionen in Sachen Selbstliebe auf mich zukamen, setzte ich meinen Weg behutsam fort, manchmal unsicher tastend, aber stets im Vertrauen darauf, dass am Ende alles gut sein würde.

Es war Zeit für mich zu lernen, meine Stimme zu erheben und meinen Platz auf dieser Welt zu behaupten. Das Leben lockte mich herauszufinden, wer dieser außergewöhnliche Mensch in mir wirklich war. (Jeder von uns ist außergewöhnlich.)

Mein Potenzial wurde tatsächlich nur durch das, was ich über mich selbst dachte, begrenzt. Natürlich waren diese Gedanken von vielerlei Faktoren beeinflusst worden. Doch jede noch so kleine Entscheidung, jede Geste mir selbst gegenüber, die ich aus Güte unternahm, war ein liebevoller Schritt hin zur Entfaltung dieses Potenzials. Dabei ging es nicht um gesellschaftlichen Erfolg, obwohl dieser häufig damit verbunden ist. Es ging einzig darum, mit mir selbst in Frieden zu leben – und so erfuhr mein Leben eine ganz wunderbare Wandlung.

5

Als sich die düsteren Wolken der Depression verzogen, wurde mein Leben von Tag zu Tag etwas besser. Es boten sich immer neue Gelegenheiten zu schreiben, und meine Arbeit machte auf allen Ebenen Fortschritte. Auch emotional war ich jetzt stark genug, um an meinem Wohnort einen Songwriting-Kurs für Frauen aus benachteiligten Schichten anzubieten.

Bald aber regte sich ein noch mächtigerer Drang in mir, nämlich der Wunsch, Mutter zu werden. Ich war mittlerweile über vierzig und hatte den Kinderwunsch eigentlich aufgegeben. Durch all meine früheren Beziehungen zogen sich die Suchtprobleme meiner jeweiligen Partner wie ein roter Faden, und ich selbst hatte früher ja auch Gras geraucht, auch wenn diese Zeiten längst vorbei waren.

Mit den Suchtproblemen meiner Partner hatte ich stets den unbefriedigenden Charakter dieser Beziehungen mir selbst gegenüber entschuldigt. Zugegeben war der eine Alkoholiker, aber wenigstens schrie er nicht herum oder schlug mich gar. Der andere rauchte täglich Marihuana, aber immerhin rührte er keinen Alkohol an, und so weiter und so fort. Jahrelang erkannte ich das Potenzial, das in meinen Partnern steckte, ehe ich begriff, dass sie selbst es nicht sahen. Ich wiederum wusste jahrelang nicht, dass es mein geringes Selbstwertgefühl war, das mich solche Beziehungen eingehen ließ. Aber es tat sich etwas in mir, und diese alten Muster veränderten sich allmählich.

Ich war zu jener Zeit Single, brauchte das auch irgendwie. Diese Zeit der Einsamkeit, in der ich innerlich frei wurde, war das Beste, was mir je passiert war. Ich genoss mein Singledasein und die damit verbundene Unabhängigkeit. Doch völlig aus dem Nichts heraus kam der Kinderwunsch auf und wurde immer stärker.

Ich hatte schon an Adoption gedacht, allerdings stand diese Option nie so im Vordergrund, dass ich einen entsprechenden Antrag gestellt hätte, und so verschwand die Idee wieder aus meinen Gedanken. Das Leben signalisierte mir, dass es andere Pläne für mich hatte. Unterdessen gab mir mein Körper in aller Deutlichkeit zu verstehen, dass es höchste Zeit war. Das Gefühl, dass irgendwo ein kleines Mädchen auf mich wartete, wurde immer stärker. Ebenso die Hoffnung, den richtigen Partner für eine Beziehung zu finden.

Während sich die Tore des Wandels und der Chancen immer weiter öffneten und mich in meinem neuen, postdepressiven Leben willkommen hießen, lernte ich einen Mann kennen. Unsere Bekanntschaft verwandelte sich in Freundschaft, und von Freunden wurden wir zu Liebenden. Zwei Monate danach war ich schwanger, was wir beide gewollt hatten. Ich war damals 44 Jahre alt. Der Wunsch nach einem Kind war so stark gewesen, dass ich keinen Moment daran gezweifelt hatte, dass es klappen würde. Zum Glück lebte ich in einer Welt, in der die Stimme der inneren Führung lauter sprach als alle Statistiken zur Empfängniswahrscheinlichkeit.

Eines Abends saß ich plaudernd mit einer Freundin am Lagerfeuer. Mein Freund und ich hatten an diesem Nachmittag miteinander geschlafen. Während ich relaxt in meinem Campingstuhl saß und die Wärme des Feuers und den unbeschreiblichen Anblick der Sternendecke über mir genoss, überfiel mich einen Augenblick lang ein Gefühl der Schwäche. Dann aber durchspülte eine Woge der Liebe jede Zelle meines Körpers. Ein Sternenfunken strahlte hell auf in meinem Geist. Es war schlicht unglaublich, wie mein Körper sich willentlich löste und lockerte und ganz diesem Hochgefühl überließ. Und im nächsten Augenblick war das Gefühl wieder weg, einfach so.

Die Flammen des Feuers prasselten weiter, und auch die Sterne funkelten unverändert, ich aber lächelte innerlich. Die Empfängnis hatte stattgefunden, in eben diesem Moment. Ich wusste es einfach. Meine Freundin und ich plauderten weiter wie zuvor, doch mein Herz vollführte Freudensprünge, sodass ich mit meinen Gedanken nicht mehr bei der Sache war. Ich werde Mutter! Und um das Maß meines Glücks vollzumachen, hatten mein Kind, meine Tochter, und ich bereits eine innige Verbindung hergestellt, durch die sie mir zu verstehen gab, dass sie nun da war. Willkommen, meine Kleine. Mögest du sicher sein da drinnen. Ich liebe dich schon jetzt.

Von da an erhielt alles in meinem Leben eine neue Bedeutung. Mehr als ein Vierteljahrhundert war ich nun erwachsen und hatte so manches erlebt. Die Freiheit, die ich erfahren durfte, hatte ich wirklich genossen. Doch nun ging es nicht mehr um mich allein. Jetzt war da dieses kostbare, göttliche kleine Wesen, auf das es achtzugeben galt.

Sechs Wochen später bestätigte mir der Arzt, dass ich schwanger war. Da sah ich das Leben bereits mit den Augen einer Mutter und mit deutlich klarerem Blick. Es war, als hätte sich der Nebel verzogen – ein Nebel, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass es ihn gab. Aus Mitgefühl hatte ich bislang alle möglichen Rechtfertigungen für bestimmte Dynamiken in der Beziehung zu meinem Partner gefunden. Doch jetzt, als meine Schwangerschaft voranschritt, sah ich die Dinge so klar wie nie zuvor in meinem Leben. Und was ich da sah, waren riesige Warnschilder; ich sah Wegweiser, die mir eine ganz andere Richtung aufzeigten.

Ich begriff, dass ich, um der Sicherheit und des Wohlergehens meines Kindes und meiner selbst willen, die Beziehung zu meinem Partner beenden musste. In der Beziehung zu bleiben würde für mein Kind und mich bedeuten, fortwährend unter unsicheren Umständen zu leben. Das konnte ich nicht riskieren.

Diese Entscheidung verlangte mir zwar einigen Mut ab und brachte auch viel Trauer mit sich, doch es war meine Aufgabe, eine sichere und gesunde Umgebung für mein Kind zu schaffen. Die weiteren Ereignisse bestätigten mich darin, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Und dieser Entscheidung sollte eine zweite folgen: Es war an der Zeit, nach Hause zurückzukehren.

Siebenundzwanzig Jahre waren mittlerweile vergangen, seit ich von zu Hause ausgezogen war. Zwar hatte es während meiner Wanderjahre immer wieder Phasen gegeben, in denen ich für kurze Zeit wieder unter dem Dach meiner Eltern gelebt hatte, doch nie mit dem Gefühl oder der Absicht, dort zu bleiben. Aber nun war der Ruf, nach Hause zurückzukehren, so stark, dass ich ihn nicht ignorieren konnte, selbst wenn ich es versucht hätte.

Natürlich hatte die Vorstellung, dass meine Mutter sich um mein Baby kümmern würde, etwas Verlockendes an sich. Außerdem wollte ich, dass mein Kind seine Großeltern kennenlernte, und das ging nun mal am besten, wenn ich wieder in meiner Heimatstadt wohnte.

Die Beziehung zu meiner Großmutter hat mich auf positive Weise tief geprägt. Daher war es mir wichtig, dass mein Kind ebenfalls die Möglichkeit bekam, ein solches Band zu seiner Großmutter zu knüpfen. Es erfüllte mich mit Dankbarkeit, dass ich ihm die Gelegenheit geben konnte, dies zu tun.

Außerdem war da noch meine finanzielle Situation. Für mich ist Geld etwas, das einen in die Lage versetzt, etwas zu tun. Mit dem Besitz von Geld habe ich weniger im Sinn. Wenn ich in der Vergangenheit etwas gespart hatte, dann war mein Gedanke stets gewesen: Wohin kann ich jetzt reisen? Ich habe immer lieber Erfahrungen gesammelt als Besitztümer. Eine Erwerbsbiografie als Pflegekraft mit vielen Unterbrechungen und ein nomadischer Lebensstil haben ebenfalls nicht zu meiner finanziellen Absicherung beigetragen. Und als ich dann etwa ein Jahr zuvor diese schweren Depressionen hatte und nicht arbeitsfähig war, wurde es, gelinde gesagt, allmählich brenzlig.

De facto war ich so weit unten angelangt, dass ich zum Überleben auf die Essensgutscheine wohltätiger Einrichtungen angewiesen war. Das Ganze war eine harte Lektion in Sachen Annehmenlernen. Nicht gerade eine leichte Lektion, doch wenn ich mich ihr nicht stellte, wie sollte ich je fähig werden, wahre Güte in mein Leben zu lassen? Ich lernte auch, ein bisschen netter zu mir selbst zu sein, und tat mein Bestes, um nicht allzu streng mit mir ins Gericht zu gehen, weil ich mich (unbeabsichtigt) in diese Lage gebracht hatte.

Mittlerweile hatten sich meine Lebensumstände zum Glück deutlich gebessert. Ich hielt nämlich nicht nur meinen ersten Songwriting-Kurs, sondern hatte auch mein erstes richtiges Buch fertiggestellt. Außerdem gab ich Konzerte für kleine Kinder. Was die Arbeit betraf, ging es also wieder aufwärts, und dieser Trend setzte sich fort. Doch bis ich mir eine eigene Bleibe leisten konnte, war es das Vernünftigste, zu meinen Eltern zu ziehen und sozusagen eine kleine Großfamilie zu bilden.

Meine Eltern und ich stellten uns aufeinander ein, so gut wir konnten, und entwickelten unsere eigenen Gewohnheiten. Es gab ganz besondere Momente zwischen uns, während das Kind in mir heranwuchs. Meine Mutter und ich waren nicht länger nur Mutter und Tochter: Unser Verhältnis wurde mit jedem Tag mehr zu einer Freundschaft zwischen zwei erwachsenen Frauen. Während wir durch die Straßen des kleinen Dorfes schlenderten, das nur wenige Meilen vor einer prachtvollen Bergkette liegt, führten wir stundenlange Gespräche, die ich nie vergessen werde. Natürlich wurde mein Gang mit den Wochen immer watschelnder, und unsere Gespräche, genau wie unsere Spaziergänge, wurden immer kürzer, doch sie büßten nichts von ihrer Tiefe und ihrem Facettenreichtum ein.

Ich war aufrichtig dankbar für das Zimmer und das komfortable Zuhause, in dem ich lebte. Dennoch hatte ich gewisse Anpassungsschwierigkeiten, da ich seit vielen Jahren ans Alleinleben gewöhnt war. Das Verhältnis zwischen mir und meinem Vater war bis vor wenigen Jahren recht konfliktbeladen gewesen. Seine unkontrollierten Wutausbrüche hatten mir als Kind stets eine Höllenangst eingejagt, später, als Teenager, wurde ich zu deren bevorzugter Zielscheibe. Jahrzehntelang hatte er mich nur niedergemacht und mir damit extrem geschadet. Allerdings konnte er mir mit seiner groben, einschüchternden Art keinen Respekt abnötigen – den musste er sich schon verdienen.

In den letzten Jahren jedoch hatte sich unser Verhältnis gebessert, was letztlich daran lag, dass ich akzeptiert hatte, dass meine Heilung aus mir selbst kommen musste. Ich hatte gelernt, meinen eigenen Standpunkt zu vertreten, wodurch mich mein Vater mit mehr Respekt behandelte. Die Zeit, Krankheiten und Erfahrung hatten das Ihre getan, sein cholerisches Naturell zu besänftigen. Dadurch, dass ich insgesamt mehr Mitgefühl entwickelte, begegnete ich ihm verständnisvoller und sah, dass er sich durchaus Mühe gab, sich zu ändern. Und so tat ich wiederum mein Bestes, ihm mit Güte zu begegnen, statt ihm aus dem Weg zu gehen. Wir gaben uns beide Mühe und machten unsere Sache nicht schlecht, wenn man den immensen Schmerz bedenkt, den ich durch meine Sicht auf unser Vater-Tochter-Verhältnis erfahren hatte. Als ich dann schwanger war, hätte er mir kein gütigerer Vater sein können.

Meine Mutter und ich hatten uns immer sehr nahegestanden, auch wenn ich innerliche Kämpfe auszufechten hatte, weil ich nicht mehr unabhängig war. Ich lebte nun im Haus einer anderen Frau und musste ihre Art respektieren und auch die Tatsache, dass sie darauf bestand, mir möglichst viel abzunehmen, wo ich doch alles selbst machen wollte. Natürlich war mir klar, dass dies nur ein vorübergehender Zustand war. Daher konzentrierte ich mich auf das Geschenk dieser Zeit, die wir gemeinsam verbrachten, in der Gewissheit, dass ich sie später als einen Segen betrachten würde.

Unterdessen änderten sich meine Körperformen beinahe täglich. Meine Kleidung wurde mir zu eng. Ich war fast 45 Jahre alt und würde zum ersten Mal Mutter werden. Die letzten Schwangerschaftsmonate verbrachte ich unbeweglich in der Kühle meines komfortablen Elternhauses, während draußen die Sommersonne herunterbrannte.

Ich war mit mir und meinen Entscheidungen im Reinen, bedauerte auch nicht, mich vom Vater meines Kindes getrennt zu haben. Die Zeichen, die mir das Leben gesandt hatte, waren zu eindeutig gewesen. Es gibt einfach Momente im Leben, in denen diese Zeichen so überdeutlich sind, dass man sie nicht ungestraft ignorieren darf. Die Trennung war einer dieser bittersüßen Momente gewesen.

Auf seelischer Ebene war ich dem Vater des Kindes nach wie vor dankbar für die Rolle, die er in meinem Leben gespielt hatte, und für die damit verbundenen Erfahrungen. Er würde immer der biologische Vater des Kindes sein. Diese Rolle wollte ich ihm nicht verwehren, sondern dafür sorgen, dass es dem Kind damit gut ging.

Doch jetzt sollte zunächst einmal mein Leben als alleinerziehende Mutter seinen Anfang nehmen. Der Entbindungstermin rückte näher – und verstrich. Schleppend verging über eine Woche. Dann war ihre Zeit gekommen. Meine Tochter kam. Und mit ihr, exakt zur selben Zeit, mein bisher größter beruflicher Erfolg. Wie das Leben so spielt …

6

Solange man nicht Mutter ist, stellt man sich das Mutterwerden ganz leicht vor. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Ganz bestimmt hatte ich mir nicht ausgemalt, mich spätnachts in meinem Krankenhausbett unter brutalen Schmerzen zu wälzen, während ich Journalisten aus dem Ausland Interviews gab. Doch genauso war es.

All die harte Arbeit trug endlich Früchte. Vierzehn Jahre hatte es gedauert, bis sich sozusagen über Nacht der Erfolg einstellte. Die Verkaufszahlen meines Buches schossen in die Höhe, was das Interesse von Medien jeder Couleur auf mich lenkte. Anfragen wegen Übersetzungsrechten trudelten ein. Es hatte mich viel Schweiß und Mut gekostet, meine Botschaft unbeirrt ans Publikum zu bringen, und nun zeigte sich der verdiente Erfolg. Aber statt auf einer Welle der Euphorie zu reiten, wie ich mir das vorgestellt hatte, war ich kreuzunglücklich.

Meine Tochter stand kurz davor, auf die Welt zu kommen. Ihr Wille, sich mir in der Außenwelt zuzugesellen, wurde stündlich spürbarer. Mehr als alles andere wollte ich diesen Moment bewusst erfahren, denn er würde sich nie wiederholen. Es würde keine zweite Geburt, kein zweites Kind geben. Mein Körper hatte mich mit dieser einen, durch und durch komplikationslosen Schwangerschaft gesegnet. Es war nicht nötig, das Schicksal herauszufordern und es ein zweites Mal zu versuchen, zumal ich die Elternrolle ja als spätgebärende und alleinerziehende Mutter antrat.

Als ich gegen Mitternacht Handy und Computer ausschaltete, war das Stoßgebet, das ich aussandte, knapp und unmissverständlich: Ich brauche Hilfe bei meinem Buch, und ich brauche sie jetzt. Bitte!

Am nächsten Morgen wurde mir mitgeteilt, dass der Kopf meines Babys nicht richtig lag, was einen Notfallkaiserschnitt erforderlich machte. Auch wenn ein Teil von mir wirklich traurig war, dass ich nicht auf natürlichem Weg entbinden konnte, wollte ich natürlich nicht das Leben meiner Kleinen aufs Spiel setzen. Wenige Stunden später befand ich mich im Operationssaal.

Ein paar Medizinstudenten und Praktikanten waren dabei, ich hatte zugestimmt, dass sie zusahen. Auch meine Mutter war da. Während man mich für die OP vorbereitete, unterhielten sich einige der Anwesenden über die schlechten Parkmöglichkeiten beim Krankenhaus. Die lebhafte Debatte wurde der Situation und ihrer Bedeutung so gar nicht gerecht.

Das ist doch wohl ein Witz, oder?, dachte ich. Ich wünschte mir Stille und Schönheit für diesen Ehrfurcht gebietenden Augenblick. Das war mit einem Dutzend Anwesenden und gleißenden OP-Leuchten über mir schon schwierig genug. Aber lautstarke Klagen über Parkplätze?! Wieder einmal war es an der Zeit für ein klares Stoßgebet: Mach, dass sie den Mund halten.Sofort.Bitte!

Unverzüglich erstarb das Geplauder, und die allgemeine Aufmerksamkeit konzentrierte sich nun ganz auf das ziemlich große Kind in meinem Bauch. »Danke«, flüsterte ich Gott und meinen spirituellen Helfern zu. Erleichtert sank ich in die ehrfurchtsvolle Stille, die nun herrschte.

Den Eingriff selbst empfand ich als scheußlich. Man holte mein Kind einfach so aus mir heraus, durchtrennte gleich darauf die Nabelschnur und wog und wickelte meine Kleine, noch ehe wir Hautkontakt hatten. Nichtsdestotrotz hatte ich ein gesundes, prächtiges Mädchen zur Welt gebracht.

Als man mir Elena auf die Brust legte, sahen wir uns einfach nur an. Die Weisheit in ihren Augen hat mich auf Anhieb überwältigt. Während ich mich in diesen Augen verlor, konnte ich nur leise »Hallo« flüstern. Dann lächelte ich sie sanft an und küsste sie auf den Kopf. »Hallo«, flüsterte ich noch einmal. Ich war diesem kleinen Wesen für immer verbunden, das so viele Jahre geduldig gewartet hatte, um Teil meines Lebens zu werden.

Am nächsten Morgen, in der Betriebsamkeit des Krankenzimmers, wurde auch mein erstes Gebet beantwortet. Der Geschäftsführer des von mir favorisierten Verlags rief mich an und machte mir das Angebot, mein Buch international herauszubringen. Es war, als würde ich im Traum Rollschuh laufen, und jemand böte mir an, mit mir gemeinsam zu laufen. Alles ohne großes Tamtam, nur ein paar Tränen der Dankbarkeit und der Erleichterung, ein ganz sanfter Übergang zum nächsten Kapitel meines Lebens. Und so verließ ich fünf Tage später das Krankenhaus mit einem kostbaren Kind und einem Buchvertrag. Wenn das kein Timing ist.

Das Leben kann sich so schnell ändern. Nun wurde ich wirklich mit den Früchten meiner Arbeit gesegnet. Gleichzeitig lernte ich, mich noch weiter zu öffnen und die immer reicheren Gaben anzunehmen, die das Leben mir bot.

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Mit dem Buchvertrag waren ausreichend finanzielle Mittel verbunden, sodass meine Tochter und ich davon leben konnten, wenn wir unseren einfachen Lebensstil beibehielten. Da ich mich damit ohnehin immer am wohlsten gefühlt hatte, bedeutete das keinerlei Einschränkung. Ich brauchte für mich nicht viel, zugleich verkaufte sich mein Buch recht gut, sodass ich bald die Anzahlung für ein eigenes Haus zusammenhatte.

Bis es aber so weit war, lebten meine Tochter und ich noch unter dem Dach meiner Eltern. Sie hatten bereits Enkelkinder und gingen in ihrer Großelternrolle vollkommen auf. In ihre jüngste Enkeltochter, meine Elena, waren sie ganz vernarrt und benahmen sich buchstäblich wie die Glucken. Meiner Mutter war wie von Sinnen. Sie herzte Elena ohne Übertreibung gut zweihundert Mal am Tag. Mein Vater wiederum holte mich unzählige Male ans Kinderbett, weil er Angst hatte, dass sie vielleicht nicht mehr atmen könnte. Manchmal, wenn ich an der Tür ihres Zimmers vorbeiging, stand er einfach im Türrahmen und sah seine Enkeltochter an. Diese Zeit hat uns einander unglaublich nahegebracht.

Doch es gab auch Phasen, in denen ich mich nach größerer Unabhängigkeit sehnte und ein bisschen mehr Kontrolle über die Erziehung meines Kindes haben wollte, und diese Phasen häuften sich allmählich. Nichtsdestotrotz übte ich mich im Loslassen und versuchte, das Gute in der Situation zu erkennen. Ich hatte ja schon begonnen, mich nach einem Haus umzusehen, das zum Verkauf stand. Mein Darlehensantrag war bereits genehmigt, was angesichts meiner finanziellen Situation noch wenige Jahre zuvor ein kleines Wunder war. Doch das Leben schickte mir immer weiter Hilfen wie diese.

Eines allerdings ließ sich nicht mehr ignorieren: die anhaltenden Schmerzen in Händen und Füßen, unter denen ich seit Elenas Geburt besonders in den Morgenstunden litt. Anfangs schien es sich dabei nur um eine leichte Unpässlichkeit zu handeln, wie eine Erkältung – sie bringt einen zwar ein bisschen aus dem Tritt, aber man weiß, dass sie bald wieder vergeht. Und so wartete ich auch bei diesen Schmerzen darauf, dass sie wieder verschwinden würden. Irgendwann jedoch musste ich mir eingestehen, dass sie schlimmer wurden.

Unser Hausarzt, der unsere Familie schon seit Jahren behandelte, war ein Schatz – mit einem wunderbaren Sinn für Humor und sehr erfahren in seinem Beruf. Als ich ihm meine Beschwerden schilderte, stellte er mir ahnungsvoll einige Fragen und ordnete dann Bluttests an.

Einige Tage später, ich saß gerade zu Hause auf dem Sofa und stillte die Kleine, läutete das Telefon. Ich nahm ab. Der Arzt sagte mir, dass die Bluttests seinen Verdacht bestätigt hätten. Ernst teilte er mir mit, dass ich an rheumatoider Arthritis litte. Er bestand darauf, dass ich am folgenden Tag in seine Praxis käme, es sei dringend.

Obwohl eine meiner Freundinnen in England unter derselben Erkrankung litt und schon mehrere künstliche Gelenke hatte, war mir der Ernst meiner Lage nicht wirklich bewusst. Ich glaubte, mit gesunder Ernährung und einer positiven Einstellung würde sich diese Geschichte in null Komma nix erledigt haben. Wenn es denn so einfach gewesen wäre! Als ich unter Depressionen gelitten und mir fast das Leben genommen hätte, glaubte ich, dass mir nichts Schlimmeres mehr passieren könnte. Ich dachte, dass das meine größte Herausforderung gewesen wäre und ich sie gemeistert hätte. Ich hatte keine Ahnung, dass die Stärke, die ich dabei gewonnen hatte, nur eine Vorbereitung war für all das, was noch kommen sollte.

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Ich ging also zu meinem Hausarzt. Er erläuterte mir die verschiedenen Möglichkeiten einer medikamentösen Behandlung – zu welcher er mir dringend riet. Sein Nachdruck diesbezüglich war nicht zu überhören. Höchst anschaulich beschrieb er mir, wie mein Leben ohne diese Medikamente verlaufen würde.

Ich dagegen hatte von meiner Führung keine Weisung, mich auf diesen Weg zu begeben. Die fraglichen Medikamente hatten eine kilometerlange Liste möglicher Nebenwirkungen, außerdem hätte ich sofort mit dem Stillen aufhören müssen. Elena war erst ein paar Monate alt, somit kam das für mich überhaupt nicht infrage. Außerdem vermied ich generell jegliche Gifte – gesunde Ernährung, kein Alkohol, keine Drogen. Die Vorstellung, meinem Körper jetzt eine Chemotherapie – denn darum handelte es sich, wenn auch in sanfterer Dosierung – zuzumuten, kam mir schrecklich vor. Das Zeug war so giftig, ich konnte mir das einfach nicht vorstellen.

Also versuchte ich, auf eigene Faust so viel wie möglich herauszufinden. Doch als ich in verschiedenen Internetforen die Beiträge von Leuten las, die an rheumatoider Arthritis litten, war ich niedergeschmettert. Ich beschloss, von diesen Foren künftig die Finger zu lassen. Die Leute, die dort schrieben, schienen auf ihre Krankheit geradezu fixiert zu sein. Nein, darauf hatte ich keine Lust.

Stattdessen suchte ich nach Berichten über Heilungserfolge. Diese waren zwar dünn gesät, aber sie gaben mir die Kraft, nicht zu resignieren – sie und meine unerschütterliche Entschlossenheit, auch diese Lektion als Geschenk zu sehen. Ich zweifelte nicht im Geringsten daran, dass – dem immer stärker werdenden Schmerz zum Trotz – auch mir die Chance einer Heilung offenstünde. Ich würde diese Erfahrung annehmen, so gut ich es vermochte.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon einige Vipassana-Kurse besucht und gelernt, auch starke Schmerzen auszuhalten. Wenn Sie bei einem solchen Kurs zehn Tage lang von 4 Uhr 30 morgens bis 21 Uhr abends – bis auf einige wenige Pausen – schweigend dasitzen, stellen sich nicht nur beseligende Erfahrungen ein, sondern es gelangt auch viel körperlicher und seelischer Schmerz an die Oberfläche.

Mit jedem Kurs, den ich besuchte, lernte ich etwas besser, den Schmerz nur zu beobachten, statt darauf zu reagieren. Ebenso verhielt es sich mit Glücksgefühlen. Die Theorie hinter der Vipassana-Meditation gründet auf den Lehren des Buddha: Alles Leid ist verursacht durch Begehren und Abneigung. Mithilfe dieser Methode erfuhr ich dies sozusagen aus erster Hand. Wollte ich angenehme Gefühle festhalten, so lösten sie sich auf. Hatte ich Angst vor Schmerz, so wurde er dadurch noch stärker. Also lernte ich, die Emotionen als das zu sehen, was sie sind, nämlich vergängliche Erfahrungen – wie alles im Leben. Somit hatten weder Schmerz noch Glück Macht über mich. Ich wurde zu einer gleichmütigeren Beobachterin und wünschte mir nicht mehr nur das Angenehme, um dem Lernen (das oft als negativ betrachtet wird) aus dem Weg zu gehen. Ich beobachtete, was ist, und öffnete mich für den Fluss des Lebens. Je weniger Widerstand oder Anhaftung ich empfand, desto natürlicher und sanfter verlief das Leben für mich. Und vor allem: desto präsenter wurde ich.

Im Laufe der Zeit gelang es mir, das Annehmen der Schmerzen, das ich während meiner Meditationssitzungen geübt hatte, auch im Alltag zu praktizieren. So wurde diese Herangehensweise an den Schmerz zum natürlichen Teil meiner Sicht auf die Dinge. Klar lernt man auf diesem Weg nie aus. Es gab immer wieder Rückfälle ins allzu Menschliche, in alte Muster der Angst oder des Begehrens. Doch im Großen und Ganzen war diese Herangehensweise an das Leben im Alltag sehr nützlich. Ich orientierte mich bei allem, was ich tat, nicht mehr so sehr am Ergebnis, sondern achtete darauf, in meinem Tun sanfter und liebevoller zu werden.

Mithilfe dieser Methode – beobachten und versuchen, dabei möglichst unbeteiligt zu bleiben und keine starken Widerstände zu entwickeln – gelang es mir zunächst, mit dem immer stärker werdenden Schmerz umzugehen. Hin und wieder nahm ich ein leichtes Schmerzmittel, auch wenn mir das Bauchgrimmen verursachte, weil ich ja gegen jede Art von Medikament war. Meistens versuchte ich einfach, die Schmerzen zu beobachten im Vertrauen darauf, dass sie wieder abklingen würden. Tatsächlich kam und ging der Schmerz in Wellen. In den schmerzfreien Phasen versuchte ich, mir so gut ich konnte, dieses Gefühl des Wohlseins einzuprägen.

Neben dem Schreiben war das Musikmachen mein zweites kreatives Ventil, das mir viel Freude bereitete. Mit dem Vorschuss auf mein Buch war ich in der Lage, mein zweites Album anzupacken. Seit meinem ersten Album waren fast fünf Jahre vergangen. Damals hatten das Singen und Songwriting in meinem Leben viel mehr Raum eingenommen. Da ich aber bis vor Kurzem einfach nicht das Geld gehabt hatte, um ein neues Album aufzunehmen, hatte ich in der Zwischenzeit einen Haufen Songs geschrieben, die nur darauf warteten, veröffentlicht zu werden.

Ich war glücklich, dass das Leben mich mittlerweile zum Schreiben geführt hatte. Ein Dasein als Schriftstellerin passte besser zu meinem ruhigen Naturell, doch gab es da in meinen Liedern noch Botschaften, die es meiner Ansicht nach verdienten, gehört zu werden.

Und so gelang es mir zwischen Stillen, Windelnwechseln und Erschöpfungsphasen, mein Album Songs for the Soul aufzunehmen. Die Erfüllung, die sich im Anschluss einstellte, war wunderbar. Da nun das Muttersein oberste Priorität für mich hatte, fand ich es absolut in Ordnung, dafür etwas von meiner Musikerzeit herzugeben, zumal das Album ja fertig war. All die Jahre hatte ich fast jeden Tag Gitarre gespielt, selbst noch zwei Tage vor Elenas Geburt.

Drei Tage nachdem die Aufnahmearbeiten abgeschlossen waren, bekam ich infernalische Schmerzen in den Händen, die plötzlich so gut wie gelähmt waren. Ich hätte beim besten Willen nicht sagen können, ob ich meine Finger bewegen konnte oder nicht, weil ich außer Reißen und Brennen nichts mehr fühlte. Hätte mir jemand erzählt, dass man mir im Schlaf die Haut von den Händen gezogen, sie mit glühenden Kohlen gefüllt und wieder angenäht hatte, ich hätte ihm geglaubt.

Obwohl diese starken Schmerzen immer wieder in Wellen über mich hereinbrachen, brauchte es ein paar Wochen, ehe ich akzeptieren konnte, dass ich meine geliebte Gitarre wohl an den Nagel hängen musste. Der brennende Schmerz sagte mir unmissverständlich, dass ich jede nicht unbedingt nötige Bewegung unterlassen sollte. Und so stand meine Gitarre auf ihrem Ständer und wartete darauf, dass ich sie streichelte und an mich drückte. In den Nächten, wenn das klare Mondlicht in mein Zimmer fiel, sah ich ihren Schatten, wie sie da stand und wartete. Irgendwann, als mein kleines Mädchen tief und fest schlummerte, blickte ich den Tatsachen ins Gesicht und machte mir bewusst, wie es in Wirklichkeit um mich stand. Ich starrte eine halbe Ewigkeit an die Decke, empfand schmerzlich die Tragweite dieser Einsicht, drehte mich zur Seite und weinte mich in den Schlaf.

Am nächsten Morgen packte ich, mit Tränen in den Augen und wehem Herzen, meine Gitarre in ihren Koffer und entfernte sie aus meinem Blickfeld. Durchs Fenster beobachtete ich die singenden Spatzen und betete: »Bitte gib, dass es das wert ist.«

In diesem Moment war in meiner Trauer kein Raum für Hoffnung. Ich ließ ihn sein, was er war: ein Augenblick der Zerbrechlichkeit eines zutiefst verwundeten Herzens.

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Wenige Monate später veränderte sich meine häusliche Situation. Ich hatte endlich das passende Haus gefunden. Obwohl ich Jahrzehnte lang allein und fern von zu Hause gelebt hatte, gab es immer einen nostalgischen Teil in mir, der sich nach der Wärme und Verbundenheit einer liebevollen Familie sehnte. Schon der Entschluss, in meine Heimatstadt zurückzukehren, war vom Wunsch motiviert gewesen, meiner Mutter, die ich in den Jahren des Fortseins stets vermisst hatte, wieder näher zu sein. Aus demselben Grund wollte ich auch dieses Haus kaufen, das nur fünf Minuten vom Haus meiner Eltern entfernt lag.

Während der Kaufvertrag vorbereitet wurde, schenkte mir das Leben eine Englandreise, auf der ich mein Buch vorstellen sollte und die sich als Beginn meiner Karriere als Vortragsrednerin erwies. Mit der kleinen Elena, kuschlig eingepackt in ein Babytuch vor meiner Brust, ging es unter Lachen und Winken auf große Fahrt. Es war ein wunderbares Gefühl, wieder einmal aus unserem Dorf herauszukommen und die Luft der weiten Welt zu atmen, war doch die meine im zurückliegenden Jahr ziemlich zusammengeschrumpft.

Diese kleine Dosis des In-die-Ferne-Schweifens sowie der menschliche Schmelztiegel, in den ich in London und an den Flughäfen eintauchte, waren Balsam für meine Seele. Ich fühlte mich wieder quicklebendig und mit einem Teil meiner selbst verbunden, der verschüttet gewesen war. Die Jahre als Pflegerin sterbender Menschen, mein selbst gewählter Rückzug aus der Gesellschaft während meiner Depression und danach das Leben bei meinen Eltern in einem winzigen Dorf auf dem Land hatten mich einen Teil von mir vergessen lassen, den ich über die Maßen liebte.

Die Reisende, die Abenteurerin, die nonkonformistische Frau, die ich so gut gekannt hatte, bestand nun darauf, erneut die Bühne zu betreten. Obwohl ich die kleine Elena immer bei mir hatte, machte sich dennoch ein lang vergessenes Gefühl bemerkbar: die Freiheit der Unabhängigkeit.

Gehen, nach Möglichkeit weite Wege, und Schwimmen waren seit jeher Dinge gewesen, die ich genossen hatte. Während meiner ersten Woche in London durchstreifte ich die Straßen, wann immer ich nur konnte. Elena lag währenddessen im Kinderwagen, doch meist trug ich sie in ein Tuch gehüllt an meinem Körper. Wir entwickelten unsere ganz eigenen Gewohnheiten. Das Band zwischen Mutter und Tochter festigte sich so, wie ich es ersehnt hatte. Sie war eine wunderbare kleine Reisegenossin, die Fremden stets zulächelte und Herzen zum Schmelzen brachte, wo immer wir hinkamen.

Eines Nachts, als Elena schon schlief, begannen meine Hände wieder vor Schmerz zu brennen, wie ich es noch nie erlebt hatte. Es war, als hätte jemand ein Fass Benzin in die flammende Pein geschüttet, die mich ohnehin jeden Tag quälte. Ein Sturm erhob sich, der dieses Feuer anfachte. Als er stärker wurde, ging ich ins Bad und fing an, unkontrolliert loszuheulen. Ich hob meine Hände, schaute sie an und weinte vor Kummer. Ich rutschte an der Tür hinab auf den Boden und lehnte mich gegen die Badewanne. Meine Hände, meine kostbaren, begabten, unverzichtbaren Hände, was geschah nur mit ihnen? In ihnen wütete ein Brennen, dass ich sie unter der unerträglichen Last des Schmerzes nicht einmal mehr heben konnte. »Lieber Gott«, betete ich, »bitte hilf mir. Ich bin nicht stark genug, um diesen Schmerz zu ertragen. Bitte hilf mir.«

Schließlich ließ der Schmerz ein wenig nach, und ich fiel, emotional und körperlich ausgewrungen, in einen unruhigen Schlaf. Am nächsten Morgen ging ich als Erstes in die Apotheke und besorgte mir das stärkste Schmerzmittel, das man als Stillende mit rheumatoider Arthritis nehmen durfte. Die restliche Zeit meiner Lesereise verbrachte ich damit, die Uhr im Auge zu behalten. Wann würden endlich vier Stunden verstrichen sein? Wann durfte ich die nächste Dosis nehmen? Das Schmerzmittel machte mich müde, was mich zusehends einschränkte. Selbst unsere Mutter-Kind-Spaziergänge litten darunter, weil ich nicht mehr so lange durch die Straßen schlendern konnte.

Zum Glück waren wir in Fußnähe von Kensington Gardens untergebracht. Dort saß ich gegen einen mächtigen Baum gelehnt und beobachtete die vielen, allem Anschein nach gesunden Spaziergänger, die an uns vorbeikamen. Elena aß munter ihren Brei und schlief dann an meiner Brust ein, der süße kleine Schatz. Hier im Park verspürte ich ein Gefühl des Friedens. Mutter Erde hat immer den Schmerz meines wunden Herzens zu lindern gewusst, und das tat sie auch in London.

Der Teufelskreis, in den man gerät, wenn man Schmerzmittel nimmt, war mir nur zu gut bekannt: Je mehr man einnimmt, desto mehr braucht man. Bei diesem Automatismus ist man zwangsläufig der Verlierer, wodurch man sich nur noch mehr Schmerz aufbürdet. Doch ich musste mit dieser Situation irgendwie zurande kommen. Meine Krankheit erteilte mir eine bis dato ungekannte Lektion in Sachen Präsentsein. Kümmere dich nur um den heutigen Tag, ermahnte ich mich.

Ich kam den Verpflichtungen nach, die mit dieser Reise verbunden waren, wozu auch ein Abstecher in die Niederlande gehörte. Es hätte so schön sein können. Wie die Mitarbeiter meines englischen Verlags waren auch deren niederländische Kollegen ausgesprochen nette Menschen, die alles dafür taten, dass ich mich wohlfühlte. Leider hatten meine rheumatischen Schmerzen beschlossen, eine Filiale in meinen Füßen zu eröffnen. Das Kopfsteinpflaster der Straßen von Amsterdam und die Stufen der engen Treppen in dem wunderschönen historischen Hotel bohrten sich wie Dornen in meine Fußsohlen. Ich sehnte mich zurück in mein Londoner Hotelzimmer. Dort wollte ich ruhen, und zwar für immer. Jede Bewegung, jede noch so kleine Anstrengung wurde mir zu viel. Gott sei Dank hatte ich London schon ausgiebig durchstreift, auch wenn das nur ein schwacher Trost war.