Burmester jagt ein
Phantom: Hamburg Krimi: Burmester ermittelt 1
von Alfred Bekker
Leon Raimer ist Mitarbeiter einer literarischen Agentur und
führt ein unauffälliges, zurückgezogenes Leben.
Bis er eines Tages verschwindet, nachdem er kurz zuvor von
zwei Unbekannten bedroht wurde. Einer der beiden Angreifer findet
sich dann wenige Tage später als Leiche in der Elbe wieder. Der
Privatdetektiv Aldo Burmester wird beauftragt, Raimer zu suchen und
schon nach kurzer Zeit stellt sich heraus, dass an diesem Mann
nichts stimmt - weder Name noch Lebenslauf. Raimer lebte unter
einer falschen Identität. Je weiter Aldo Burmester mit seinen
Ermittlungen vordringt, desto tiefer gerät er in den Strudel ebenso
mysteriöser wie lebensgefährlicher Ereignisse, die in irgendeinem
Zusammenhang mit Raimers Doppelleben stehen. Als Burmester Raimers
Schwester aufstöbert, lauern ihm Unbekannte auf und er entkommt
ihnen nur knapp. Plötzlich gerät der Privatdetektiv in das Visier
von Toni Casal, einer rachsüchtigen Unterweltgröße, mit der Leon
Raimer eine offene Rechnung zu haben scheint.
Die Ereignisse überschlagen sich, bevor Aldo Burmester die
richtige Spur findet …
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick,
Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
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von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
Burmester jagt ein Phantom
von Alfred Bekker
1
Hamburg im Jahr 1991...
"Er nennt sich Raimer", sagte der dunkelhaarige Mann im
braunen Kaschmir-Jackett, während sein Blick über die schlichte
Einrichtung des Hotelzimmers ging. "Leon Raimer. Er arbeitet in
einer literarischen Agentur, lebt allein, hat kaum Kontakte."
Der andere Mann im Raum beugte sich gerade über das
Waschbecken und schabte sich den letzten Rest Rasierschaum aus dem
kantigen Gesicht und griff zum Handtuch. Dann kämmte er sich noch
die schütteren hellblonden Haare nach hinten und wandte sich seinem
Partner zu.
"Sonst noch etwas?"
"Du könntest dir wenigstens mal die Bilder ansehen, die ich
gemacht habe."
"Bitte!"
Der Blonde sah sich die Bilder nur sehr flüchtig an und nickte
dann.
"Das scheint er zu sein", murmelte er.
"Ich bin dafür, die Sache bald durchzuziehen", erwiderte der
Mann im braunen Jackett.
Davon schien der Blonde nicht sonderlich begeistert zu
sein.
"Die Sache darf auf keinen Fall schiefgehen", meinte er. "Ich
bin dafür, Raimer noch ein bisschen zu beobachten."
"Es gibt nichts mehr über ihn herauszufinden", erwiderte der
andere gelassen. "Wir kennen seinen täglichen Lebensrhythmus, wir
wissen, wann er aufsteht, wann er zur Arbeit geht, mit wem er in
den letzten zwei Wochen telefoniert hat und in welchen Geschäften
er regelmäßig einkauft."
Der Blonde verengte die Augen wenig, während er zu seinem
offenen Koffer ging und sich ein frisches Hemd herausnahm. Nachdem
er es angezogen und zugeknöpft hatte, holte er noch etwas anderes:
eine Pistole samt dazugehörigem Schulterholster. Als er sich die
Waffe umgeschnallt hatte, fragte er: "Hast du schon einen
Plan?"
Der andere nickte.
"Bis ins Detail", behauptete er.
"Okay", murmelte der Blonde. "Dann schieß mal los!"
Währenddessen nahm er die Waffe in die rechte Hand, griff mit
der anderen noch einmal kurz in den Koffer und schob dann ein
volles Magazin in den Pistolengriff.
2
Leon Raimer war ein hochgewachsener, hagerer Mann, dessen
Alter schwer zu bestimmen war. Seine Haare waren noch so dicht,
dass man nicht die Kopfhaut hindurchschimmern sah, obwohl er sie
ziemlich kurz trug. Aber ein paar graue Strähnen waren nicht zu
übersehen.
Raimer stand am Fenster des Großraumbüros und blickte
nachdenklich hinab auf das Labyrinth der Straßenschluchten von
Hamburg. Es war ein klarer Tag mit hervorragender Fernsicht.
"Leon! Träumst du?"
Raimer schien einen Moment lang wie weggetreten zu sein, dann
drehte er sich herum und blickte in Carla Ahrens' meergrüne
Augen.
"Ein bisschen", erwiderte Raimer mit einem matten
Lächeln.
Carla war mindestens einen Kopf kleiner als Raimer. Eine gut
aussehende Mittdreißigerin mit genügend Sex-Appeal, um den
kältesten Eisklotz zum Schmelzen zu bringen.
Bei Raimer war sie allerdings bislang mehr oder weniger
erfolglos gewesen, obwohl sie nichts unversucht gelassen hatte.
Aber zu mehr als einer Verabredung zum Essen in der ohnehin viel zu
knappen Mittagspause sowie einem gemeinsamen Abend im Stage-Theater
war es nie gekommen.
Carla legte die Stirn ein wenig in Falten. Etwas stimmte heute
mit Raimer nicht, das war ihr sofort klar.
"Leon, welche Laus ist dir denn heute über die Leber
gelaufen?"
Raimer grinste. Aber das wirkte seltsam maskenhaft.
"Mir geht es hervorragend, Carla. Danke."
Damit war für ihn das Gespräch zu Ende. Für Carla jedoch noch
nicht.
"Du kannst es mir ruhig erzählen", meinte sie.
Aber auf dem Ohr war Leon Raimer so gut wie taub.
"Vielleicht werde ich ein paar Tage Urlaub machen", murmelte
Raimer dann abwesend.
"Wohin geht es? An die Küste vielleicht? Um diese Jahreszeit
vielleicht gar nicht schlecht! Aber der Chef wird nicht sehr
begeistert sein ..."
"Der Chef ist nie begeistert, wenn man Urlaub haben möchte",
erwiderte Raimer.
"Ich soll dir übrigens sagen, dass du zu ihm kommen sollst,
Leon."
Raimer zuckte die Achseln. Jetzt schien er auf einmal wieder
ganz der Alte zu sein. Selbstsicher, überlegen und eine Spur zu
unterkühlt, wie Carla fand.
Der Chef, das war ein etwas zum Übergewicht neigender Mann
namens Mark Falkenberg. Er war jemand, der sein Geschäft wie kein
Zweiter verstand und die Literarische Agentur Falkenberg die
Erfolgsleiter hinaufgeführt hatte.
Als Raimer Falkenbergs Büro betrat, aß dieser gerade ein
mitgebrachtes Sandwich. Solange Raimer schon hier beschäftigt war,
konnte er sich nicht daran erinnern, gesehen zu haben, wie
Falkenberg eine Mittagspause machte. Der Chef arbeitete für
gewöhnlich durch und aß nebenbei etwas. Das war sicher nicht sein
wahres Erfolgsgeheimnis, aber es zeigte die Einstellung, mit der er
sein Geschäft betrieb.
"Was gibt es?", fragte Raimer, während er seine Rechte aus der
weiten Hosentasche herausnahm.
Falkenberg machte eine wichtige Miene.
"Da war ein Anruf für Sie", berichtete er dann. "Vorhin, als
Sie zum Essen weg waren."
Raimer zog die Augenbrauen in die Höhe. Er konnte sich denken,
worum es ging.
"Die Japaner?", fragte er.
"Ja", nickte Falkenberg und beugte sich dabei etwas nach vorn.
"Carla hat das Gespräch zu mir hereingelegt, aber wir standen
ziemlich auf dem Schlauch. Schließlich sind Sie der einzige bei
uns, der Japanisch spricht - und das Englisch von Herrn Nakamura
ist nicht gerade einfach zu verstehen."
Raimer zuckte die Achseln. "Tut mir leid!"
"Sie können ja nichts dafür. Aber es wäre gut, wenn Sie
langsam die Verträge vorbereiten könnten."
Raimer legte jetzt die Mappe, die er unter dem Arm hielt,
Falkenberg auf den Tisch.
"Alles fertig", sagte er dazu und Falkenberg blickte erstaunt
auf.
"Alle Achtung! Wann haben Sie denn ...?"
"Ich möchte ab morgen ein paar Tage Urlaub nehmen."
"Nun, gerade jetzt, da wir mit Nakamura ins Geschäft kommen.
Japan hat 120 Millionen Einwohner. Das ist ein Buchmarkt, auf dem
sich ganz ansehnliche Auflagen erzielen lassen."
Mit anderen Worten: ein Riesengeschäft. Und Leon Raimer war
derjenige, der es ans Laufen gebracht hatte. Falkenberg war das
sehr wohl bewusst - und das war Raimers Trumpf.
"Wie gesagt, es ist jetzt alles unter Dach und Fach", meinte
Raimer ziemlich gelassen.
"Nakamura deutete an, dass man sich in seinem Haus überlegt,
uns auch noch den Kim-Basinger-Band abzukaufen", erwiderte
Falkenberg.
"Wie schön", murmelte Raimer. Aber er schien sich nicht
wirklich darüber zu freuen, obwohl das auch sein Erfolg war.
Falkenberg seufzte. Dann meinte er: "Na schön, Leon, Sie
bekommen Ihren Urlaub. Jetzt, wo Nakamura angebissen hat, wird es
vielleicht auch ohne Sie laufen."
"Das denke ich auch."
Falkenberg musterte seinen Angestellten stirnrunzelnd. Er
kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf und beugte sich dann etwas
nach vorn.
"Was ist los, Leon?", fragte er dann in vertraulichem
Tonfall.
"Ich brauche einfach ein paar Tage, das ist alles." Leon
Raimer lächelte. "Ich fühle mich ein bisschen ausgebrannt, wenn Sie
wissen, was ich meine."
Falkenberg nickte.
"An dem Punkt sind wir alle irgendwann einmal." Er lachte
heiser. "Meistens zu einem ungünstigen Zeitpunkt."
3
"Was ist das denn?"
"Das ist Kaffee, Aldo. Und zwar so stark, dass wenigstens eine
geringe Chance besteht, dass du nicht gleich wieder einschläfst,
wenn du deinem Klienten gegenübersitzt!"
Aldo Burmester, der bekannte Hamburger Privatdetektiv, verzog
den Mund, nachdem er den ersten Schluck genommen hatte. Der Kaffee
schmeckte bitter, aber im Moment bedeutete er wohl die einzige
Chance, auf die Schnelle ein paar Lebensgeister zurückzurufen. In
den letzten Nächten hatte der Privatdetektiv so gut wie überhaupt
keinen Schlaf bekommen. Aldo war im Auftrag eines Reeders
Hafen-Piraten auf die Spur gekommen, die ganze Containerladungen
verschwinden ließen. Nächtelanges Observieren hatte ihn schließlich
zum Erfolg geführt, und in der letzten Nacht war die Bande dann in
flagranti erwischt und verhaftet worden.
Kein angenehmer Job, aber ein sehr einträglicher.
"Ich hoffe nur, dass dieser Klient einen Auftrag hat, der sich
tagsüber erledigen lässt", murmelte Aldo an seine hübsche
Assistentin Jana gewandt, während er sich mit der flachen Hand über
das Gesicht fuhr.
Jana Marschmann strich sich das eng anliegende, dunkelblaue
Kleid glatt, das ihre wohlproportionierten Formen ziemlich exakt
nachzeichnete.
"Wer weiß", erwiderte sie und warf dabei ihre blonde Mähne in
den Nacken. "Vielleicht bekommst du den Auftrag gar nicht, wenn der
Mann drüben im Büro etwas von deiner Verfassung mitkriegt. Der
macht mir nämlich einen sehr dynamischen und energiegeladenen
Eindruck."
"Wer ist es denn?"
"Er heißt Mark Falkenberg und leitet eine literarische
Agentur, die sich auf das Vermitteln von Lizenzen sogenannter
'Bücher zum Film' spezialisiert hat. Mehr konnte ich ihm nicht aus
der Nase ziehen. Er will mit dir persönlich reden."
Burmester zuckte die Achseln, trank den Rest des Kaffees und
betrat dann sein Büro. Er versuchte dabei einen halbwegs frischen
Eindruck zu machen.
Mark Falkenberg unterzog Aldo einer eingehenden Musterung. Der
Privatdetektiv spürte deutlich, dass er in diesen drei Sekunden
gewogen und eingeschätzt wurde. Aldo reichte ihm die Hand und
stellte sich vor.
"Sie sollen sehr gut in Ihrem Geschäft sein, Herr Burmester",
begann Falkenberg. Er hob mit einer hilflosen Geste beide Hände und
setzte dann hinzu: "Um die Wahrheit zu sagen: Es ist das erste Mal,
dass ich jemanden wie Sie aufsuche. Man hat Sie mir
empfohlen."
"Wo brennt's denn?", fragte Aldo Burmester, während er sich
hinter seinen Schreibtisch setzte.
"Es geht um einen meiner Mitarbeiter. Leon Raimer. Er ist
verschwunden."
Aldo runzelte die Stirn und lehnte sich etwas zurück.
"Erzählen Sie!", murmelte er, während er sich eine Zigarette
zwischen die Lippen steckte.
Falkenberg hob die Schultern.
"Letzten Mittwoch bat Leon mich um ein paar Tage Urlaub.
Gestern war Montag, da hätte er eigentlich wieder in der Agentur
auftauchen müssen. Aber er ist nicht gekommen."
"Ist er während seines Urlaubs weggefahren?"
"Keine Ahnung, ich habe ihn nicht gefragt. Aber selbst wenn
ihm etwas dazwischengekommen wäre, so dass er am Montag nicht ins
Büro hätte kommen können, dann hätte Leon kurz durchgerufen und mir
Bescheid gesagt. Da bin ich mir absolut sicher. Leon ist ein
hundertprozentig korrekter Mitarbeiter ...", der Agent seufzte, "…
und dazu noch ein sehr wichtiger!"
Burmester rieb sich die Schläfen und versuchte krampfhaft, ein
Gähnen zu unterdrücken, was ihm schließlich gelang.
"Was macht Raimer bei Ihnen?"
"Er ist sehr sprachgewandt", erklärte Falkenberg.
"Französisch, Spanisch - und sogar Japanisch. Für das
Auslandsgeschäft ist das ein unschätzbarer Vorteil. Und unser
Geschäft ist längst international. Wenn ein Film ein wenigstens
mittelmäßiger Erfolg wird, dann besteht die Chance, dort als auch
hier die entsprechenden Buchprodukte zu vermarkten: Den Roman zum
Film, ein Buch mit Fotos zum Film, ein Buch über den Star des
Films, in dem einen oder anderen Fall sogar eine Comic-Adaption
oder ein Fotoroman." Man konnte Mark Falkenberg den Verdruss
deutlich ansehen, den er empfand. "Wie gesagt, die
Auslandsgeschäfte lagen zum großen Teil in Leons Händen und nun
stehen wir ziemlich dumm da, wie Sie sich denken können."
Aldo nickte. Er konnte sich denken, worauf das Ganze
hinauslief. Aber er war nicht sonderlich begeistert davon.
"Ich soll diesen Raimer für Sie auftreiben, stimmt's?"
"So ist es."
"Er ist erst seit gestern überfällig. Das ist eigentlich noch
kein Grund, einen Privatdetektiv zu beauftragen."
"Unter normalen Umständen hätten Sie vielleicht recht. Aber es
kommen noch ein paar Dinge hinzu, die das Ganze in einem
merkwürdigen Licht erscheinen lassen."
"Und was wäre das?"
"Ich gehe immer als Letzter aus dem Büro. So auch am Mittwoch.
Unten im Parkdeck beobachtete ich dann, wie Raimer sich mit zwei
Kerlen herumstritt. Ich konnte leider nicht verstehen, was gesagt
wurde, weil ein Wagen vorbeifuhr. Aber eine freundliche
Unterhaltung war das nicht. Einer der beiden Kerle hatte eine
Pistole. Es sah aus wie ein Straßenraub oder so etwas. In diesen
finsteren Parkdecks kann man sich seines Lebens heute ja nicht mehr
sicher sein."
Aldo horcht auf.
"Was geschah dann?", fragte er.
"Leon hat sie fertiggemacht, auch den mit der Waffe. Ein paar
geübte Schläge und die Kerle lagen im Dreck. Ich hatte bis dahin
keine Ahnung, dass er so etwas drauf hat. Leon ist dann ins Auto
gestiegen und davongebraust."
"Und die Kerle?"
"Keine Ahnung. Ich habe zugesehen, dass ich ebenfalls in
meinen Wagen kam. Wie gesagt, ich hielt die beiden für
Straßenräuber und ich hatte keine Lust, ihr nächstes Opfer zu
werden."
"Ich verstehe", nickte Aldo.
Falkenberg grinste.
"Ich bin nämlich nicht gerade sportlich, wenn Sie verstehen,
was ich meine."
"Haben Sie die Gesichter gesehen?"
"Nur von einem. Der zweite Mann stand im Schatten."
"Beschreiben Sie ihn!"
"Er hatte vielleicht Ihre Größe, Herr Burmester. Ein paar
Zentimeter weniger, aber nicht viel. Blondes Haar, hoher
Stirnansatz. Ich habe ihn aber auch nur ganz kurz von vorne
gesehen." Er machte eine kurze Pause, dann fiel ihm noch etwas ein.
"Ach ja, er trug eine Lederjacke mit der Aufschrift ,Eagle‘."
"Und was vermuten Sie nun?", fragte Aldo. "Eine Entführung?
Vielleicht waren es wirklich Straßenräuber."
Falkenberg zuckte die Achseln.
"Möglich. Aber ich bin gestern bei seiner Wohnung gewesen.
Seine Vermieterin behauptete, niemanden zu kennen, der Leon Raimer
heißt."
"Waren Sie in der Wohnung?"
"Nein. Aber es war ein Schild angebracht, dass sie zu
vermieten sei. Außerdem ist sein Wagen abgemeldet."
Aldos Augen wurden schmal.
"Woher wissen Sie das denn?"
"Ich habe einen Bekannten bei der Zulassungsstelle. Ich
dachte, dass die Adresse vielleicht nicht mehr aktuell ist, die in
Raimers Papieren steht und hoffte, so vielleicht an ihn
heranzukommen. Seine Wagennummer kenne ich ja, schließlich hat er
einen reservierten Platz auf dem Parkdeck."
Aldo nickte nachdenklich. Wenn man das alles zusammennahm,
dann war schon einiges merkwürdig an der Sache.
"Was glauben Sie, was passiert ist?", fragte Aldo.
Falkenberg zuckte mit den Schultern.
"Ich habe nicht die geringste Ahnung. Irgendwelche
Lösegeldforderungen hat es bis jetzt nicht gegeben, aber das kann
ja noch kommen. Ich weiß nur, dass Leon verschwunden ist."
"Haben Sie eine Vermisstenanzeige aufgegeben?"
"Ja, habe ich. Aber Sie wissen doch besser als ich, was bei so
etwas herauskommt, Herr Burmester. Und im Augenblick unternehmen
die noch gar nichts. Ein Mann, der den zweiten Tag nicht ins Büro
kommt! Die haben mich überhaupt nicht richtig ernst
genommen."
Das konnte Aldo sich lebhaft vorstellen.
"Okay", murmelte er. "Ich werde sehen, was sich machen
lässt."
"Am Geld soll es nicht liegen", meinte Falkenberg.
"Gleichgültig, wie unverschämt Ihre Tagessätze auch sein mögen -
ein Mitarbeiter wie Leon Raimer ist das auf jeden Fall wert!"
"Erwarten Sie trotzdem keine Wunderdinge von mir, Herr
Falkenberg!"
"Ich bin Realist." Und im nächsten Augenblick legte Falkenberg
dann eine Mappe auf den Tisch. "Das ist Raimers Personalakte. Ich
denke, die werden Sie brauchen."
4
"Ein ziemlich glatter Lebenslauf", stellte Jana fest, als sie
in Raimers Akte herumblätterte.
Aldo, der den Inhalt bereits überflogen hatte, stand am
Fenster und blickte hinaus auf den klaren Himmel über dem
Wilhelmsburger Inselpark.
Raimer war Mitte vierzig, geboren in Fulda als Sohn eines
Lastwagenfahrers und einer Verkäuferin. Seine Abschlussnoten in der
Schule lagen alle etwas über dem Durchschnitt, aber nicht so sehr,
dass es besonders aufgefallen wäre. Dann ein paar Jahre bei der
Bundeswehr und ein Studium an der Universität Frankfurt -
Betriebswirtschaft und Fremdsprachen. Ein paar Jobs bei
verschiedenen Firmen folgten, die er in Fernost und in Nordafrika
vertrat. Seit drei Jahren arbeitete er für die Literarische Agentur
Falkenberg.
Zu den Unterlagen hatte Falkenberg vernünftigerweise auch eine
Fotografie gelegt. Das Bild war offenbar auf einer Party oder einem
Betriebsfest entstanden. Falkenberg hatte Raimers Kopf mit
Filzstift eingekreist und auf der Rückseite des Fotos eine
entsprechende Anmerkung gemacht.
"Hast du vielleicht schon eine Idee, wo man da ansetzen
kann?", fragte Jana, die die Mappe zuklappte und zurück auf den
Schreibtisch legte.
Aldo drehte sich herum und zuckte die Achseln.
"Kein Mensch verschwindet einfach, ohne eine Spur zu
hinterlassen", meinte der Privatdetektiv zuversichtlich.
"Genau das scheint hier der Fall zu sein, Aldo."
"Ja, und wenn da nicht diese zwei Kerle wären, die diesem
Raimer zugesetzt hätten, dann könnte man auf die Idee kommen, dass
er von sich aus untergetaucht ist."
"Aber warum, Aldo?"
"Keine Ahnung. Wenn wir das wüssten, hätten wir ihn wohl auch
schon halb gefunden, schätze ich."
5
Aldo Burmester hätte sich am liebsten ein paar Stunden aufs
Ohr gelegt, aber in diesem Fall hielt er es für besser, die
Recherchen gleich zu beginnen. Es war schon genug Zeit vergangen,
seit Leon Raimer verschwunden war. Und die Spuren wurden bei einer
solchen Personensuche schneller kalt, als einem lieb sein
konnte.
Raimer hatte im dritten Stock eines Reihenhauses gewohnt.
Gepflegter Altbau, ruhige Lage. Die Besitzerin wohnte im
Erdgeschoss und hieß Martha Ragland. Sie war eine energisch
wirkende Dame in den Sechzigern, die Aldo ihre Tür nur einen Spalt
weit öffnete und nicht im Traum daran dachte, die Kette zu lösen.
Aldo konnte sie im Grunde verstehen. Sie hatte Angst vor Fremden,
die an ihrer Tür klingelten.
"Wer sind Sie?", fragte sie. "Ich kaufe nichts an der Tür und
versichert bin ich schon."
"Mein Name ist Aldo Burmester. Ich bin Privatdetektiv."
Ihre Augen verengten sich ein wenig. Aber es war ihr nicht
anzusehen, ob sie Aldo glaubte oder nicht.
"Was Sie nicht sagen ...", murmelte sie kaum hörbar.
Aldo verzichtete darauf, ihr seine Lizenz unter die Nase zu
halten. Er hatte es im Gespür, dass die Dame auf der anderen Seite
der Tür ihm vermutlich nur eine einzige Chance geben würde, ihr
überhaupt etwas zu zeigen. Und so zeigte Aldo ihr stattdessen das
Foto von Raimer.
"Kennen Sie den Mann?"
"Was ist mit ihm?", fragte sie. "Hat er ein Verbrechen
begangen?"
"Er ist einfach nur verschwunden", erwiderte Aldo. "Und es
gibt ein paar Leute, die sich Sorgen um ihn machen."
Sie schaute noch einmal hin. Aber Aldo konnte das Gefühl nicht
loswerden, dass sie das wie jemand tat, der eine unangenehme
Verpflichtung erfüllt.
"Der in dem Kreis?"
"Ja."
"Tut mir leid!" Sie reichte das Foto durch den Spalt und eine
Sekunde später hatte sie Aldo die Tür vor der Nase zugemacht. Der
Privatdetektiv hörte noch, wie sie den Schlüssel herumdrehte. Er
zuckte mit den Schultern. Es war ihm nicht anders ergangen, als
Mark Falkenberg, der offenbar am Tag zuvor ein ähnliches Erlebnis
gehabt hatte. Immerhin hatte Leon Raimer Telefon und stand auch mit
dieser Adresse im Telefonbuch. Selbst wenn er umgezogen war, ohne
jemandem in der Falkenberg-Agentur etwas davon zu sagen, so hatte
er doch ganz sicher einmal hier gewohnt.
Merkwürdig, dass seine Vermieterin sich nicht daran erinnern
konnte.
Als Aldo in Richtung seines Wagens ging, sah er in letzter
Sekunde etwas auf sich zufliegen. Reaktionsschnell hob er die Hand.
Ein Ball tropfte ab und sprang auf dem Asphalt auf. In ein paar
Metern Entfernung standen ein paar Jungen. Der Jüngste war noch
nicht in der Schule, der Älteste vielleicht zehn oder zwölf Jahre
alt. Sie warteten einen Augenblick lang ab und wirkten ziemlich
scheu. Aldo nahm den Ball auf und spielte ihn zurück. Einer der
Jungen fing ihn auf.
Sie wollten sich wieder ihrem Spiel zuwenden, aber Aldos
Stimme hielt sie davon ab.
"Wartet mal!", rief er und kam zu ihnen heran. Sie schauten
ihn mit einer Mischung aus Misstrauen und Interesse an. "Spielt ihr
hier öfter?"
Einige der Jungen nickten. "Ja."
Aldo hielt ihnen das Foto von Raimer hin.
"Kennt ihr diesen Mann?"
Sie sahen sich das Foto interessiert an und ließen es einmal
rundgehen.
"Der wohnt in dem Haus da vorne!", meinte schließlich einer
der Jungen und deutete dabei auf das Haus, das Martha Ragland
gehörte. "Ich weiß aber nicht, wie er heißt."
"Schon gut", erwiderte Aldo. "Das macht nichts."
"Meine Mutter sagt immer, dass das ein ziemlich komischer Mann
ist", meldete sich ein Kleiner mit rotblonden Haaren und einem
offenen Schnürsenkel zu Wort.
Aldo hob die Augenbrauen.
"Warum meint deine Mutter das denn?"
"Weil er nie grüßt. Und wenn man ihn was fragt, sagt er
nichts."
"Habt ihr gestern auch hier gespielt?"
"Ja", bestätigte ein anderer Junge.
"Habt ihr ihn gestern gesehen?"
"Nein."
"Und vorgestern?"
"Auch nicht."
Jetzt meldete sich wieder der Kleine zu Wort: "Sind Sie ein
Polizist?"
Aldo lächelte. "So etwas Ähnliches."
"Wollen Sie ihn verhaften?"
"Nein, nur etwas fragen."
"Er ist aber nicht zu Hause."
"Woher weißt du das?"
"Weil sein Wagen hier nicht herumsteht. Er fährt einen tollen
Mercedes. So wie der da vorne!" Er deutete auf Aldos 500 SL. "So
einen möchte ich auch mal haben."
"Wie lange ist das schon her, dass du seinen Wagen nicht mehr
gesehen hast?"
Der Junge zuckte die Achseln.
"Die ganzen letzten Tage schon. Ich weiß nicht mehr
genau."
Aldo nickte.
"Okay, Jungs. Ihr seid gute Beobachter."
Wenig später saß er wieder hinter dem Steuer seines
champagnerfarbenen Mercedes 500 SL. Noch einmal zu Martha Ragland
zu gehen, um sie zu fragen, warum sie behauptete, Raimer nicht zu
kennen, hielt er für wenig erfolgversprechend. Gegen eine solche
Festung einzurennen konnte kaum etwas einbringen.
So führte ihn sein Weg zunächst zu seinem Freund Sven
Dankwers, den recht korpulent geratenen Kriminalhauptkommissar der
Mordkommission Hamburg-Mitte. Die beiden Männer kannten sich seit
Jahren, und wenn es irgendwie ging, half der eine dem anderen aus
der Klemme, sofern es in seiner Macht stand. Beide Seiten hatten
ihren Vorteil von dieser Zusammenarbeit. Burmester hatte auf diese
Weise Zugang zu den Laboren und Archiven der Polizei, während
Dankwers umgekehrt auf die Hilfe des Privatdetektiv zählen konnte,
wenn es galt, auch dort noch nach Informationen zu grasen, wo sich
für die Polizei fast wie automatisch die Türen schlossen.
Als Aldo im Dienstgebäude ankam, bekam er von einem Polizisten
die Auskunft, dass Dankwers nicht an seinem Schreibtisch, sondern
in einem Coffee Shop in der Nähe sei.
"Soll ich den Kriminalhauptkommissar vielleicht über seinen
Pieper rufen?", grinste Kommissar Brandt. Er war ziemlich lang und
schlaksig und hatte auf dem Kopf ein Knäuel ungebändigter dunkler
Locken. Aldo kannte auch ihn ganz gut.
"Bloß nicht!", erwiderte Aldo. "Ich will ihn ja nicht schon
verärgern, bevor ich ihn um einen Gefallen gebeten habe!"
Darüber konnte Brandt herzhaft lachen.
Wenig später traf Burmester seinen Freund Dankwers dann in
einem Coffee Shop vor seinem zweiten Frühstück sitzen. Das meiste
davon hatte er allerdings bereits gegessen.
"Hallo, Sven."
Dankwers blickte auf.
"Sieht man dich auch mal wieder? Wenn du mich schon bis
hierher verfolgst, dann bist du sicher nicht nur wegen unserer
Freundschaft gekommen." Der Kriminalhauptkommissar deutete auf
einen freien Stuhl, während er sich den letzten Bissen hineinschob
und dann mit der Serviette den Mund abwischte.
"Setz dich!", knurrte er.
"Es geht um einen Mann, der verschwunden ist. Er heißt Leon
Raimer. Ich habe auch ein Bild von ihm."
Aldo erläuterte Dankwers den Fall und dieser zuckte
schließlich mit seinen breiten Schultern. "Aldo, ich bin
Kriminalhauptkommissar des Morddezernats, nicht der
Vermisstenabteilung."
"Ich weiß, Sven."
"Hast du schon mal seine Angehörigen durchgecheckt?"
"Er scheint keine zu haben. Jedenfalls keine, die noch leben.
Seine Eltern sind tot, Geschwister hatte er nicht und verheiratet
war er auch nie."
Sven hob die Augenbrauen. "Eine Entführung?"
"Ich habe keine Ahnung."
"Vielleicht hatte er auch einfach die Nase voll von seinem
Job. Was glaubst du, wie vielen Menschen plötzlich einfällt, ihren
Urlaub eigenmächtig zu verlängern, oder die auf einmal ihre Sachen
packen und auf Nimmerwiedersehen in eine andere Stadt ziehen? Und
nach so kurzer Zeit würde ich mir an deiner Stelle ohnehin noch
keine großen Sorgen machen."
"Mein Auftraggeber macht sich aber welche." Aldo zuckte die
Achseln. "Kann ja auch sein, dass das Ganze am Ende doch in dein
Ressort fällt, Sven."
"Mord?"
"Ich möchte, dass du dich ein bisschen umhörst, ob dieser
Raimer vielleicht aus der Elbe gefischt wurde oder in irgendeiner
Leichenhalle aufgebahrt liegt."
Aldo reichte Dankwers ein Foto. Der Kriminalhauptkommissar
warf einen kurzen Blick darauf und steckte es dann mit einem
hörbaren Seufzen ein.
"Okay", meinte er. "Ich werde sehen, ob ich etwas tun
kann."
"Und dann sind da noch diese Kerle, die Raimer im Parkhaus
fertiggemacht hat." Aldo reichte Dankwers einen Zettel. "Ich habe
hier eine kurze Beschreibung von einem der beiden."
"Und was ist mit dem anderen?"
"Den konnte mein Auftraggeber nicht genau erkennen. Wenn du
nichts dagegen hast, werde ich mit ihm in nächster Zeit mal bei dir
aufkreuzen, damit er sich die Fotosammlung im Datensystem SIS
ansehen kann. Wenn er aktenkundig ist, könnte das einen brauchbaren
Hinweis ergeben."
"Meinetwegen, Aldo."
In dieser Sekunde meldete sich Dankwers’ Pieper. Der
Kriminalhauptkommissar seufzte.
"Ich hoffe nicht, dass es Arbeit gibt", meinte er. Aber
insgeheim wusste er natürlich, dass es genau das bedeutete.
Entweder in einem der ungelösten Fälle, die sich als Akten auf
seinem Schreibtisch stapelten, gab es eine wichtige Spur - oder er
musste in Kürze eine neue Akte anlegen. Dankwers hoffte auf
Ersteres.
6
Burmesters nächste Station war das Büro der Literarische
Agentur Falkenberg. Er wollte sich bei den Mitarbeitern umhören und
geriet als Erstes an ein grazil gewachsenes Wesen mit Pagenkopf
namens Frau Seifert, das in dem lindgrünen, eng geschnittenen Kleid
sehr zerbrechlich wirkte.
"Sie sind sicher Burmester, der Privatdetektiv, den der Chef
engagiert hat", schloss Frau Seifert. Ihr Lächeln war
geschäftsmäßig.
"Richtig", nickte Aldo.
"Nun, um ehrlich zu sein, werde ich Ihnen kaum etwas über Leon
Raimer erzählen können."
"Aber Raimer ist seit drei Jahren hier beschäftigt", gab Aldo
zu bedenken.
Frau Seifert nickte und blies sich dann eine Strähne aus den
Augen.
"Und ich seit vier Jahren", säuselte sie. "Sein Schreibtisch
ist da drüben und trotzdem weiß ich so gut wie nichts über ihn -
außer, dass er verschiedene Sprachen beherrscht. Deshalb war er
auch wohl immer besonders erfolgreich."
Aldo nickte.
"Es macht was aus, wenn man einen Kunden in seiner
Muttersprache anspricht - meinen Sie das?"
"Ja, genau."
"Haben Sie mal gesehen, wo er wohnt?"
"Nein."
"Haben Sie sich irgendwann einmal mit ihm über Persönliches
unterhalten? Was es auch immer es ist, es kann wichtig sein."
Sie zuckte die Achseln und schüttelte dann auf eine Weise den
Kopf, der ihren Pagenkopf um eine halbe Sekunde zeitverzögert mit
herumschwenken ließ.
"Nein", sagte sie. "Wissen Sie, er war ziemlich kontaktscheu.
Wenn man ihn etwas gefragt hat, was mit ihm selbst zu tun hatte,
wich er immer schnell auf allgemeines Terrain aus. Wenn er zu
irgendwelchen Partys eingeladen wurde, kam er meistens nicht. Seine
Begründungen waren immer ein bisschen an den Haaren herbeigezogen,
aber warum sollte ich mich darum kümmern? Schließlich kann ja jeder
leben, wie er will, oder finden Sie nicht?"
"Natürlich", murmelte Burmester.
Nur machte Leon Raimers Lebensweise es nicht gerade einfach
für einen Privatdetektiv, seine Spur aufzunehmen oder sich
überhaupt nur ein Bild von ihm zu machen. Alles blieb seltsam
blass. Da war eine Fotografie auf einem Betriebsfest. Und das war's
schon. Ein Mann ohne Ecken und Kanten. Ohne Profil, ohne
Unverwechselbares. Das einzig Außergewöhnliche schienen seine
Sprachkenntnisse zu sein.
Frau Seifert atmete tief durch.
"Die einzige, die etwas mehr mit ihm zu tun hatte, war Carla
Ahrens", hörte Aldo ihre Stimme. "Sie sitzt da hinten am Fenster
und telefoniert gerade. Fragen Sie sie mal!"
"Danke."
Als Aldo an Carlas Schreibtisch trat, bot sie Aldo mit ihren
gestikulierenden Armen einen Platz an, während sie gleichzeitig den
Hörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt hatte und in einer Akte
herumblätterte. Zwei Minuten später war sie damit fertig und
reichte Aldo die Hand.
Aldo stellte sich vor und kam gleich zur Sache: "Man hat mir
gesagt, Sie hätten am meisten mit Leon Raimer zu tun gehabt.
Vielleicht wissen Sie ja etwas, das mir hilft, ihn zu
finden."
Carla Ahrens musterte Aldo einen Augenblick lang mit ihren
meergrünen Augen. Sie war eine hübsche Frau. Ein Typ, der Aldo
gefallen konnte. Aber im Augenblick hatte er sich auf anderes zu
konzentrieren. Carla beugte sich etwas vor und zuckte die
Achseln.
"Wir sind mal miteinander ausgegangen", berichtete sie dann.
"Aber über sich selbst hat er nie viel geredet."
"Ja, das sagte mir Ihre Kollegin Seifert schon. Gab es
vielleicht eine Frau in seinem Leben?"
Carla zögerte eine Sekunde und schüttelte dann den Kopf.
"Nein."
"Sie haben gezögert."
"Ja. In der ersten Zeit, als er hier war, hatte ich die
Vermutung, dass er in festen Händen wäre. Aber mir scheint, das war
ein Irrtum."
"Waren Sie mal in seiner Wohnung?"
"Ja, einmal. Und nur sehr kurz. Es war an dem Tag, als wir ins
Theater fuhren. Er hatte irgendetwas zu Hause vergessen, deshalb
sind wir bei ihm vorbeigefahren. Erst wollte er mich nicht mit
hinaufnehmen, aber ich habe ihn etwas gedrängt." Ein Lächeln ging
über ihre vollen Lippen. "Es interessierte mich einfach, wo Leon zu
Hause war."
"Wann war das?"
"Schon ein paar Wochen her."
"Aber es war dieselbe Adresse, die in seinen Unterlagen
steht?"
"Ja."
"Haben Sie eine Ahnung, weshalb seine Vermieterin jetzt
behauptet, Raimer nicht zu kennen?"
Auf Carlas Stirn bildeten sich ein paar Falten.
"Nein", meinte sie, "ich habe keine Ahnung. Diese Frau machte
zwar einen etwas schrulligen Eindruck, aber ..."
Aldo hob die Augenbrauen.
"Sie haben die Dame mal getroffen?"
"Ja. Sie begegnete uns auf der Treppe." Carla zuckte die
Achseln. "Ich glaube nicht, dass das Zufall war. Vermutlich sitzt
die Frau den ganzen Tag herum und hat nichts Besseres zu tun, als
andere Leute zu beobachten. Warum sie jetzt lügt, weiß ich
nicht."
"Tun Sie mir einen Gefallen?"
"Welchen?"
"Kommen Sie mit mir und stellen Sie Frau Ragland einmal diese
Frage! Sie kann Ihnen gegenüber unmöglich Ihre Behauptung Aufrecht
erhalten, Leon nicht zu kennen."
Sie überlegte kurz. Dann nickte sie.
"Nach Büroschluss?"
"Okay. Ich hole Sie ab!"
7
Als Aldo zurück in seinem Büro in seiner Residenz war, hatte
Jana eine interessante Neuigkeit für ihn auf Lager.
"Ich habe spaßeshalber mal ein bisschen in Raimers Lebenslauf
herumgestöbert und mich bei seinem ehemaligen Gymnasium in Fulda
erkundigt, ob man dort noch einen Leon Raimer kennt."
"Und?"
"Sie hatten dort einen Schüler mit diesem Namen. Auch in den
Jahrgängen, die Raimer in seinem Lebenslauf angegeben hat, den er
bei seiner Bewerbung für die Falkenberg-Agentur abgab."
Aldo hob die Augenbrauen.
"Na und? Dann scheint doch alles in Ordnung!"
"Ich habe noch etwas herumtelefoniert und die Spur dieses Leon
Raimer zu verfolgen versucht. Er verpflichtete sich bei der
Bundeswehr und starb mit zweiundzwanzig bei einem Verkehrsunfall."
Aldo pfiff durch die Zähne.
"Mit anderen Worten, an unserem Kandidaten ist etwas
faul."
"Ja. Der Mann, den Herr Falkenberg in seiner Agentur
angestellt hat, ist nicht Leon Raimer."
"Hast du mal seine Studienjahre unter die Lupe
genommen?"
"Das mache ich noch."
"Viel Glück dabei. Leute, die Japanisch belegt haben, dürften
ja nicht allzu häufig sein."
Jana stand auf und ging zur Kaffeemaschine, um sich eine
frische Tasse einzuschenken.
"Du auch?", fragte sie an Aldo gerichtet.
"Nichts dagegen", meinte er, obwohl er jetzt hellwach war. Die
Gefahr, plötzlich einzuschlafen, bestand nicht mehr. Diese Sache
begann immer mysteriöser zu werden, je weiter er und seine
Mitarbeiterin darin herumbohrten.
Leon Raimer - oder wie immer sein wirklicher Name auch sein
mochte - hatte begonnen, Aldo zu interessieren.
Jana reichte ihm eine Tasse.
"Eine falsche Identität", murmelte Aldo. "Wenn sich das
bestätigt, dann passt das zu einer anderen Vermutung."
"Und welcher?"
"Dass dieser Raimer offenbar nicht entführt wurde, sondern
untergetaucht ist."
Jana zuckte die schmalen Schultern.
"Fragt sich nur warum. Vielleicht war Raimer ein Zeuge oder so
etwas, dem man später eine einigermaßen plausible Legende
verpasst."
"Ja, wäre möglich."
"Oder er war Geheimdienstler."
"Dann fragt sich, für wen er gearbeitet hat."
"Und warum er so Hals über Kopf verschwunden ist."
Zehn Minuten später kam der Anruf von Sven Dankwers ...
8
Es war an einem der Kais, die in den Elbe hineinragten. Schon
aus einiger Entfernung konnte man sehen, dass hier etwas passiert
war. Streifenwagen der Polizei und einige Zivilfahrzeuge standen
herum. Als Aldo diesen Ort erreichte, kam gerade der Leichenwagen.
Ein paar Schaulustige standen auch herum. Aldo stellte seinen
champagnerfarbenen Mercedes irgendwo an der Seite ab und hörte dann
einen Augenblick lang den Gesprächen der Leute zu. Ein Angler hatte
danach einen nicht ganz alltäglichen Fang gemacht. Eine Leiche,
eingerollt in einen Perserteppich.
Aldo ließ den Blick ein wenig schweifen und hatte wenig später
Kriminalhauptkommissar Dankwers entdeckt.
Einer der Uniformierten versuchte, Aldo zurückzuhalten, aber
der Privatdetektiv zeigte seinen Ausweis.
"Der Kriminalhauptkommissar erwartet mich", erklärte er
dazu.
Der Uniformierte nickte.
"Gehen Sie nur, Herr Burmester! Tut mir leid, aber das konnte
ich Ihnen nicht ansehen."
"Macht ja nichts."
Und dann war Aldo wenige Sekunden später am Kai. Dankwers und
Kommissar Brandt standen rechts und links von der Leiche. Der Arzt
war gerade fertig und machte sich davon, während sich nun einer von
der Spurensicherung an dem Toten zu schaffen machte.
"Hallo, Aldo. Das ging ja schnell", meinte Dankwers. Er
deutete auf die Leiche. Es war ein Mann mit blonden Haaren und
hohem Stirnansatz. "Auf seinem Rücken steht ,Eagle‘!", meinte der
Kriminalhauptkommissar. "Ist das der Kerl, von dem du mir eine
Beschreibung mitgegeben hast?"
Aldo nickte.
"Könnte sein. Ich habe Falkenberg Bescheid gesagt. Er müsste
gleich hier sein und kann es dann genauer sagen."
Und Falkenberg kam tatsächlich. Einer der Uniformierten
begleitete ihn.
"Der Mann hier will unbedingt zu Ihnen, Herr Dankwers!"
"Schon gut!", rief Dankwers.
Mark Falkenbergs Blick wandte sich zunächst an Aldo. Erst dann
blickte er auf die Leiche. Er hatte so etwas offenbar noch nie
zuvor gesehen, deshalb schaute er nur ganz kurz hin und wandte
anschließend den Kopf zur Seite. Falkenberg schluckte.
Er war ein hartgesottener, mit allen Wasser gewaschener
Geschäftsmann, aber das ging offenbar doch ein bisschen über das
hinaus, was er vertragen konnte.
"Ist das der Mann, Herr Falkenberg?", fragte Aldo.
Falkenberg nickte. Er brauchte zwei Sekunden, ehe er ein
mattes "Ja" nachschieben konnte.
"Sind Sie sicher?"
"Absolut." Er blickte Aldo fragend an. "Was hat das zu
bedeuten, Herr Burmester?"
"Ich habe bis jetzt keine Ahnung. Aber ich werde es
herausfinden."
"Wenn Sie etwas wissen, sagen Sie mir bitte Bescheid, Herr
Burmester!"
"In Ordnung", nickte Aldo.
Falkenberg öffnete seinen Krawattenknoten und den ersten
Hemdenknopf und schnappte nach Luft. "Sie entschuldigen mich jetzt
sicher ..." Und damit ging er davon.
"Eine Leiche, die eine Weile im Schmuddelwasser der Elbe
gelegen hat, ist nichts für zarte Gemüter", brummte Dankwers.
Aldo hob die Augenbrauen.
"Wie heißt der Mann?"
Dankwers hob die Arme und nahm Aldo ein bisschen zur Seite.
"Er hat nichts bei sich, was auf seine Identität hinweisen
könnte. Keinen Pass, nicht einmal Etiketten in den Kleidern."
"Und wie ist er gestorben?"
"Genickbruch", murmelte der Kriminalhauptkommissar. "Wenn du
mich fragst: Da wusste jemand ziemlich gut, wie man tötet, ohne
Geräusche zu verursachen oder sich schmutzig zu machen."
"Ein Profi?"
"Kann ich nicht ausschließen", erwiderte der
Kriminalhauptkommissar und zuckte dabei die Schultern.
"Jedenfalls wirst du jetzt nicht umhin kommen, dich ebenfalls
um Leon Raimer zu kümmern, Sven", gab Aldo zurück.
"Ich fürchte, du könntest recht haben", nickte Dankwers.
Raimer war möglicherweise ein wichtiger Zeuge in dieser Sache.
Oder sogar der Mörder.
9
"Wenn ich so darüber nachdenke, war Leon ein ziemlich
komischer Kauz", meinte Carla Ahrens, später, als sie neben Aldo
auf dem Beifahrersitz des 500 SL saß. Sie zuckte mit den Schultern.
"Ich spreche schon in der Vergangenheit von ihm. Als ob er tot
wäre."
"Vielleicht ist er das auch", meinte Aldo.
"Ist das Ihr Ernst?"
"Ich kann keine Möglichkeit ausschließen."
Als Aldo den Mercedes an einer Kreuzung kurz anhalten musste,
fingerte er ein Foto aus seiner Jackentasche, das von der
Elbe-Leiche gemacht worden war. Carla nahm das Foto und betrachtete
es stirnrunzelnd.
"Wer ist das?"
"Haben Sie ihn irgendwann schon einmal gesehen?"
"Hat er etwas mit Leon zu tun?"
"Möglich."
"Ich glaube nicht, dass ich ihn kenne."
"Was heißt das: 'Ich glaube nicht'?"
Sie sah noch einmal auf das Bild. Anstatt Burmester zu
antworten, fragte sie: "Er ist tot, nicht wahr?"
"Ja."
Sie gab Aldo das Bild zurück.
"Und wie hängt das mit Leon zusammen?", fragte sie.
Darauf konnte Aldo ihr auch keine Antwort geben. Noch nicht.
Aber einen Zusammenhang zwischen den beiden musste es geben.
Wenig später parkte Aldo den 500 SL vor Martha Raglands Haus.
Sie stiegen aus und Aldo meinte an seine Begleiterin gewandt:
"Versuchen Sie mal Ihr Glück!"
Sie nickte.
Aber auch für sie öffnete sich die Haustür nur einen Spalt
weit.
"Erinnern Sie sich an mich?", fragte Carla. "Ich war mit Herr
Raimer hier. Wir sind zusammen oben in seine Wohnung
gegangen."
Martha Raglands Blick ging von Carla zu Aldo, der zwei
Schritte hinter ihr stand.
"Sie schon wieder? Ich werde die Polizei rufen!", zischte sie
dem Privatdetektiv zu.
Burmester blieb gelassen.
"Die wird ohnehin vielleicht bald zu Ihnen kommen", stellte er
fest. "Denn Herr Raimer könnte in einer Mordsache ein wichtiger
Zeuge sein." Aldo ließ das erst einmal ein paar Sekunden wirken.
Und tatsächlich tat sich in ihren Gesichtszügen etwas. Martha
Ragland wirkte jetzt nachdenklich. "Was ist nun? Wollen Sie auch
dieser Frau gegenüber noch behaupten, hier hätte nie ein Mann
namens Leon Raimer gewohnt? Frau Ahrens kann das Gegenteil
bezeugen. Und die Polizei wird das sehr merkwürdig finden."
Die Hausbesitzerin atmete tief durch. Es war ihr anzusehen,
dass sie sich in diesem Moment alles andere als wohl in ihrer Haut
fühlte. Schließlich öffnete sie die Tür ganz und meinte: "Kommen
Sie herein! Alle beide!"
Aldo und Carla folgten ihr. Dann blieb Martha Ragland
plötzlich stehen und sagte: "Also gut, hier hat tatsächlich ein
Herr Raimer gewohnt."
"Bis wann?", fragte Aldo. "Wann haben Sie ihn das letzte Mal
gesehen?"
"Das war ..." - sie überlegte einen Moment lang - "… am
Mittwochmorgen! Letzten Mittwoch, bevor er zur Arbeit fuhr.
Gewöhnlich fuhr er jedenfalls um diese Zeit zur Arbeit, wohin er an
jenem Tag gefahren ist, weiß ich nicht."
"Hat er irgendetwas gesagt?"
"Er hat gesagt, dass Leute nach ihm fragen würden und dass ich
sagen sollte, dass ich ihn nicht kennen würde. Aber ich konnte ja
nicht ahnen, dass er in eine Mordsache verwickelt ist."
Aldo nickte langsam. Vermutlich hatte Raimer der Dame ein paar
Scheine für ihre Dienste angeboten.
"Okay", murmelte er.
"Es war übrigens vor Ihnen schon einmal jemand da, der sich
nach Herr Raimer erkundigt hat."
Aldo horchte auf.
"War das gestern?" In dem Fall sprach sie von Mark
Falkenberg.
"Es waren zwei Männer. Einer war gestern hier, der andere kam
Donnerstag oder Freitag", meinte sie und machte ein angestrengt
nachdenkliches Gesicht. "Ich weiß es nicht mehr genau."
Aldo zog indessen das Foto von der Elbe-Leiche hervor.
"War dieser Mann vielleicht einer der beiden?"
Sie nahm das Foto und starrte angewidert darauf. Dann
schluckte sie und schüttelte energisch den Kopf, bevor sie das Bild
an Aldo zurückreichte.
"Nein", sagte sie. "Der war es bestimmt nicht. Er sah ganz
anders aus."
"Beschreiben Sie ihn!"
"Welchen?"
"Den, der zuerst kam. Donnerstag oder Freitag."
"Er trug ein braunes Jackett. Aber eins von der ganz edlen
Sorte, wie man ihn nur selten sieht ..."
"Und sonst noch?"
"Dunkle Haare hatte er. Und am Handgelenk trug ein Kettchen,
mit dem er dauernd herumspielte. Er hat mich ganz nervös damit
gemacht."
"Was haben Sie ihm gesagt?"
Sie zuckte die Achseln.
"Dasselbe wie Ihnen!"
"Und? Hat er es Ihnen geglaubt?"
"Jedenfalls ist er nicht wiedergekommen."
Das war ein Argument.
"Können Sie uns Raimers Wohnung zeigen?", fragte Aldo.
Martha Ragland musterte den Privatdetektiv kurz, bevor sie
schließlich nickte. Begeistert war sie nicht. Aber sie stimmte
trotzdem zu.
"Kommen Sie!", forderte sie und ging voran.
Viel gab es in Raimers Wohnung nicht zu sehen. Sie wirkte wie
geleckt. Und nirgends gab es etwas, dass auf Leon Raimer hinweisen
konnte. Alles war leergeräumt und sauber gewischt.
"Er war ein vorbildlicher Mieter", kommentierte Martha
Ragland. "Auch, als er ging. Er hat die Wohnung in hervorragendem
Zustand hinterlassen."
"Waren das seine Möbel?", fragte Aldo.
"Die Wohnung war möbliert."
"Verstehe. Wann hat Raimer seine Sachen aus der Wohnung
genommen?"
"Keine Ahnung. Das ist mir auch ein Rätsel. An dem Morgen, als
ich ihn zum letzten Mal sah, hatte er nur sein Diplomatenköfferchen
bei sich."
Der Zustand der Wohnung sah nicht danach aus, als wäre Raimer
in großer Eile auf und davongegangen. Er konnte unmöglich eines
Morgens ins Auto steigen und dabei seinen gesamten Hausrat
mitnehmen, ohne dass das auffiel. Vielleicht hatte er die Sachen in
der Nacht zuvor verschwinden lassen.
Aldo untersuchte den Boden. Überall in der Wohnung war
Teppichboden, außer in Bad und Küche.
"Wonach suchen Sie?", fragte Carla.
"Nach Spuren", erwiderte Aldo. "Spuren eines Teppichs. Wenn
ein Teppich länger auf derselben Stelle liegt, ist der Bodenbelag
darunter oft weniger verschossen."
Aber Aldo fand keine solche Stelle in Raimers Wohnung. Der
Privatdetektiv wandte sich noch einmal an Carla Ahrens.
"Wissen Sie, ob Raimer hier einen Perserteppich hatte?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Als ich hier war, lagen in der Wohnung keinerlei Teppiche",
sagte Carla. "Da bin ich mir ziemlich sicher. Ich dachte nämlich
noch, dass so etwas hier gut hinpassen würde."
"Erinnern Sie sich noch an irgendwelche persönlichen Dinge von
Raimer?"
Sie schien nachzudenken und zuckte dann nach kurzer Pause die
Schultern.
"Nein", meinte sie. "Eigentlich war da nichts Besonders. Alles
schien mir ziemlich unpersönlich zu sein." Sie machte eine Pause.
"Ein paar Zeitschriften lagen da herum."
"Welche Zeitschriften?"
"Eine von denen mit Riesenbrüsten auf dem Cover. Playboy,
glaube ich. Daneben eine Ausgabe der Militär & Geschichte. Das
hat mich etwas gewundert, denn er machte mir nie den Eindruck, sich
für derartiges zu interessieren."
Als Aldo und Carla eine Viertelstunde später wieder
nebeneinander in dem champagnerfarbenen 500 SL saßen, wirkte sie
ziemlich schweigsam. Aldo brachte sie in die Weidestraße, wo der
Büroturm stand, in dem auch Mark Falkenberg und seine Agentur ihre
Büros hatten. Carla hatte ihren Wagen noch auf dem Parkdeck stehen
und deshalb sollte Aldo sie hier absetzen. Bevor sie ausstieg,
fragte sie Aldo noch einmal nach dem Foto von dem Blonden, den
Dankwers’ Leute aus der Elbe geholt hatten. Aldo gab es ihr. Sie
nahm es, warf noch einen Blick darauf und nickte dann. "Ich kann
mich täuschen, aber vielleicht habe ich diesen Mann doch schon
einmal gesehen."
"Wo war das?", hakte Aldo nach.
"Auf dem Flur vor den Büros der Agentur Falkenberg, glaube
ich. Er fiel mir auf, weil er dort herumstand und in einer Zeitung
blätterte. Ich dachte gleich, dass der irgendwie nicht dorthin
passt."
"Wissen Sie noch, wann das war?"
"Letzte Woche. Ein oder zwei Tage, bevor Leon in Urlaub
ging."
"Ich danke Ihnen."
Sie zuckte die Achseln.
"Ich hoffe, Sie können damit etwas anfangen."
"Vorher weiß man das leider selten!"
Sie zögerte, bevor sie ausstieg. Irgendetwas lag ihr noch auf
der Seele. Sie wandte sich zu Aldo herum und fragte schließlich:
"Was glauben Sie, ist mit Leon passiert?"
"Ich werde bezahlt, um das herauszufinden", erwiderte
Aldo.
"Wissen Sie, ich mag ihn. Leider hat er das nie erwidert.
Jedenfalls nicht so, wie ich es gerne gehabt hätte. Trotzdem, er
ist ein feiner Kerl - auch wenn ihn viele wegen seiner etwas
verschlossenen Art nicht verstanden haben."
Aldo hob die Augenbrauen.
"Haben Sie ihn denn verstanden?", fragte er.
Carla schüttelte den Kopf.
"Ich fürchte nein. Aber was rede ich hier eigentlich! Das
interessiert Sie bestimmt nicht."
Aldo lächelte verbindlich.
"Mich interessiert alles, was mit Leon Raimer zu tun hat. Und
wenn es noch so beiläufig scheint. Ein Mann verschwindet nicht so
einfach und löst sich in Luft auf. Es muss etwas mit seinem Leben
zu tun haben." Oder mit seinem Doppelleben, setzte Aldo in Gedanken
hinzu.
Sie zuckte nachdenklich die Schultern.
"Ist doch merkwürdig, nicht? In dem Moment, in dem jemand
verschwindet, stellt man fest, dass man so gut wie nichts über ihn
weiß. Nichts Wesentliches jedenfalls. Ich könnte ihnen jetzt sagen,
dass er ein hervorragendes Gedächtnis hat und alle Telefonnummern
auswendig kennt, die für ihn wichtig sind."
"Er ist wohl ziemlich korrekt."
"Das ist er. Und sehr beherrscht. Das einzige Mal, dass ich
ihn unbeherrscht erlebt habe, das war, als uns auf der Autobahn so
ein Verrückter bei einem Überholmanöver fast in die Leitplanken
gedrängt hatte." Sie lächelte. "Aber er hatte sich immerhin noch so
gut in der Gewalt, dass er sich die Autonummer merken und den Kerl
nachher anzeigen konnte."
"Sind Sie doch öfter mit ihm unterwegs gewesen?"
"Das war dienstlich, Herr Burmester. Wir waren gemeinsam bei
einem Verlag, um über die Gestaltung eines Bildbandes zu sprechen."
Sie sah Aldo auf einmal fragend ab. "Glauben Sie, dass Leon noch
lebt?"
10
"Wir haben unsere Karteien auf den Kopf gestellt und überall
angefragt, wo es nur halbwegs erfolgversprechend sein könnte",
dröhnte Sven Dankwers, irgendwann gegen Mittag des nächsten Tages,
als Aldo Burmester den Kriminalhauptkommissar in seinem Büro
aufgesucht hatte. Burmester hatte auf einem Stuhl Platz genommen,
sich eine Zigarette zwischen die Lippen gesteckt und hörte gelassen
zu.
Viel war es nicht, was Dankwers vorzuweisen hatte. Das, was
der Kriminalhauptkommissar seinem Freund präsentierte, konnte
diesem nicht gefallen.
"Mit anderen Worten", schloss Aldo schließlich zwischen zwei
Zigarettenzügen, "über den Blonden mit der Eagle-Jacke wissen wir
nichts."
"So ist es", nickte Dankwers. "Und sein Mörder hat dafür
gesorgt, dass es uns so schwer wie möglich gemacht wird."
"Was ist mit der Jacke?", fragte Aldo. "Auch wenn die
Etiketten herausgeschnitten sind, müsste man doch herausfinden
können, wo sie gekauft wurde."
Dankwers nickte.
"Du hast recht. Diese Jacke ist nicht gerade alltäglich - und
vor allem wohl auch ziemlich teuer gewesen. Aber im Augenblick
setzen wir unsere Hoffnungen auf die Zähne dieses Mannes. Er muss
in letzter Zeit beim Zahnarzt gewesen sein. Und zwar in der letzten
Woche, allenfalls in der vorletzten."
"Woher willst du das so genau wissen?"
"Die Leiche hatte ein Zinkkäppchen im Mund. Das ist eine Art
provisorische Krone, die aufgesetzt wird, um abzuwarten, ob sich
der Nerv entzündet und gezogen werden muss. Stellt sich das nämlich
erst heraus, wenn das Gold bereits im Mund ist, wird es teuer.
Diese Käppchen halten im Höchstfall ein paar Monate und sind oft
schon nach kurzer Zeit ziemlich zerbissen. Aber dasjenige, das man
im Mund der Leiche gefunden hat, war noch in gutem Zustand."
Immerhin, dachte Aldo. Vielleicht führte das ja weiter.
Dankwers beugte sich etwas über den Tisch.
"Da ist noch eine andere Sache", murmelte Dankwers. "Dieser
Raimer ..."
"Hatte ich dir das noch nicht gesagt? Leon Raimer ist schon
seit Jahren nicht mehr am Leben. Der Mann auf dem Foto hat seine
Identität angenommen."
Dankwers blickte nachdenklich drein und nickte dann
entschieden.
"Das ergibt ein Bild", meinte er dann. "Ich habe das Foto
nämlich scannen und vervielfältigen lassen." Während er das sagte,
holte er es aus einer Schublade heraus und gab es Aldo zurück.
"Eine Rundum-Abfrage sozusagen. Krankenhäuser, Leichenhalle, etc.
..."
"Und?"
"Irgendjemand behindert die Ermittlungen, Aldo. Plötzlich
macht es Schwierigkeiten, an bestimmte Daten heranzukommen. Wir
bekommen keine vernünftigen Auskünfte über diesen Mann. Ich weiß
noch nicht, woher der Wind da weht."
Aldo lehnte sich zurück.
"Willst du damit sagen, dass jemand vom Bundeskriminalamt die
Hand über diesen Raimer hält?"
"Ja, so ist es."
"Was wirst du unternehmen, Sven?"
Dankwers zuckte die Achseln.
"Jedenfalls werde ich nicht versuchen, mir an einer Mauer den
Schädel einzurennen! Wenn sich mein Verdacht bestätigt, sind meine
Möglichkeiten am Ende."
"Klingt nicht gut!"
"Was soll ich machen, Aldo?"
11
"Ich hatte Ihnen gesagt, Sie sollten keine Wunderdinge
erwarten", sagte Aldo Burmester an Mark Falkenberg gewandt. Der
Agent saß hinter seinem Schreibtisch und machte ein ziemlich
missmutiges Gesicht. Er hob beschwichtigend die Hände.
"So war das auch nicht gemeint, Herr Burmester!"
"Ich wollte Ihnen einfach nur darstellen, was ich inzwischen
weiß. Und es liegt nun an Ihnen, ob ich weitermachen soll."
"Sie meinen, Raimer ist aus eigenem Antrieb
untergetaucht."
"Ja. Keine Entführung oder so etwas. Da bin ich mir fast
sicher."
"Und der falsche Lebenslauf?"
"Ich weiß es nicht. Zeugenschutzprogramm vielleicht oder etwas
anderes, was auch in die Richtung geht."
"Und woran denken Sie da?"
"Er war darauf getrimmt, sich Telefon- und Autonummern zu
merken. Er könnte ein Polizist gewesen sein. Oder ein Mann vom
Bundeskriminalamt."
"Ganz egal, wer oder was Raimer ist! Er scheint mir in
Schwierigkeiten zu sein und ich möchte, dass Sie ihn finden."
Aldo zuckte die Achseln. "Meinetwegen", brummte er.
12
Theo Vader arbeitete beim Bundeskriminalamt und besaß ein
hübsches Haus in
Hamburg-Volksdorf, wo er mit seiner Frau lebte.
Aldo stellte seinen Mercedes am Rand der breiten Allee ab. An
beiden Seiten waren schlanke, hochaufragende Bäume, durch deren
Kronen der Wind raschelte.
Eine schöne Gegend, dachte Aldo. Vader war eben ein Mann von
Geschmack.
Aldo ging zur Haustür und klingelte. Eine Frau öffnete, die
auf ihrem Arm ein Baby trug, das den Privatdetektiv mit großen
Augen ansah. Die Frau kannte Aldo nur von einem Foto, das Theo
Vader immer bei sich trug. Und das Kind war noch nicht auf der Welt
gewesen, als Aldo Vader zum letzten Mal begegnet war.
"Guten Tag. Mein Name ist Burmester. Sie werden mich nicht
kennen, aber ich muss dringend mit Ihrem Mann sprechen."
Ihr Blick war misstrauisch.
"Warten Sie einen Moment!", sagte sie dann und verschwand. Als
sie zurückkehrte, hatte sie das Kind nicht mehr auf dem Arm. Sie
bat Aldo herein und führte ihn in ein Wohnzimmer mit klobigen
Polstermöbeln und einem niedrigen Tisch aus Glas. "Setzen sie
sich!", sagte sie. "Mein Mann steht gerade unter der Dusche. Er
kommt aber gleich. Wollen Sie etwas trinken?"
"Danke, nein", erwiderte Aldo.
Es dauerte nicht lange, bis Vader den Raum betrat. Und bis
dahin herrschte mit wenigen Unterbrechungen ein verlegenes
Schweigen.
Theo Vader blieb in der Tür stehen. Er trug Jeans und T-Shirt.
Sein Haar war noch nicht ganz trocken. Vaders Gesichtsausdruck
blieb unbewegt. Nur seine Augen verengten sich ein wenig.
"Tag, Burmester! Lange her, dass wir uns zum letzten Mal
gesehen haben.“
Der Privatdetektiv nickte.
"Seit der Rinaldo-Geschichte nicht mehr."
Vader verzog das Gesicht zu einem etwas gezwungen wirkenden
Lächeln, trat an Aldo heran und gab ihm die Hand.
"Das müssen drei oder vier Jahre her sein."
"Könnte stimmen."
Die Blicke der beiden Männer trafen sich einen Augenblick
lang. Dann sagte Vader: "Wir hätten Frank Rinaldo damals ohne Ihre
Hilfe nicht bekommen, Burmester." Er lächelte.
"Wer ist dieser Rinaldo?", fragte Vaders Frau.
"Ein Profi-Killer", erklärte ihr Mann. "Sechs Morde konnte man
ihm vor Gericht nachweisen, aber es waren vermutlich mindestens
doppelt so viele." Vader atmete tief durch. "Ein paar von unseren
Leuten waren auch unter den Opfern."
"Oh ...", machte seine Frau, die von der Story offenbar zum
ersten Mal hörte. Jedenfalls machte sie ein recht überraschtes
Gesicht.
Vader wandte sich wieder an Aldo.
"Ich bin jetzt nicht mehr im Außendienst", sagte er. "Ich
hatte die Nase voll. Ziemlich bald nach der Sache damals habe ich
mich versetzen lassen."
"Und was machen Sie jetzt?"
"Jetzt schiebe ich an meinem Schreibtisch eine verhältnismäßig
ruhige Kugel und komme auf der Karriereleiter ganz gut
vorwärts."
Aldo verstand. Vader hatte inzwischen eine Familie gegründet
und da war es sicher das Beste für ihn, nicht mehr jeden Tag Kopf
und Kragen zu riskieren.
Vader beugte sich etwas vor.
"Ich nehme an, Sie sind nicht einfach nur zum Vergnügen hier,
Burmester."
Aldo hob die Schultern ein wenig.
"Nein, leider nicht", murmelte der Privatdetektiv, während
Vaders Augen ein wenig schmaler wurden.
"Was wollen Sie?", fragte er.
"Ein Gespräch unter vier Augen."
"Meinetwegen."
Frau Vader verstand diesen Wink mit dem Zaunpfahl. Als sie den
Raum verlassen hatte, sagte Aldo: "Es geht um einen Mann, von dem
ich vermute, dass er vielleicht mal beim Bundeskriminalamt war.
Sein Name ist Leon Raimer, aber dieser Name ist falsch. Es scheint,
als hätte er die Identität eines Toten angenommen."
Vader runzelte die Stirn.
"Was ist mit diesem Mann?"
"Er ist vermutlich in Gefahr. Vielleicht lebt er auch schon
nicht mehr. Jedenfalls ist er wie vom Erdboden verschwunden. Kurz
zuvor hatte er eine handgreifliche Begegnung mit zwei Männern, die
ihn vielleicht entführen oder umbringen wollten."
Vader hob die Augenbrauen.
"Und was kann ich jetzt dabei für Sie tun?"
"Ich brauche einen Tipp, wer hinter Raimer her sein
könnte."
Vader nickte.
"Und wie kommen Sie darauf, dass Raimer in unserem Laden
gearbeitet hat?"
"Erst dachte ich, dass er vielleicht mal in einer heiklen
Sache Zeuge gewesen ist."
"Und das denken Sie jetzt nicht mehr."
"Raimer konnte sich hervorragend Nummern merken. Von Telefonen
und Autos. Das riecht für mich nach Polizei."
"Ein ehemaliger Undercover-Agent, der eine neue Identität
bekommen hat?"
"Zum Beispiel."
"Aber wir borgen uns unsere Legenden nicht von Toten, Herr
Burmester. Das sollten Sie wissen. Das machen wir weder bei Zeugen,
noch bei unseren eigenen Leuten."
"Ja", murmelte Aldo. "Das hat mich auch gewundert." Er legte
das Foto von Raimer auf den Tisch.
"Ist er das?", fragte Vader unnötigerweise.
"Ja. Auf der Rückseite habe ich alles Wichtige über ihn
notiert."
"Ich kann Ihnen nichts versprechen, Burmester. Obwohl ich
Ihnen noch einen Gefallen schulde."
"Aber Sie können es versuchen."
Er sah Aldo einen Augenblick lang an und seufzte dann. "Okay",
meinte er.
"Aber bitten Sie mich nie wieder um so eine Art von
Gefallen!"
"Versprochen", erwiderte Aldo.
Vader machte nur eine wegwerfende Handbewegung.
13
Aldo hatte die Hälfte des Weges zurück nach Hamburg-Mitte
hinter sich, da meldete sich Jana über das Autotelefon.
"Sven hat bei mir in der Agentur angerufen", sagte sie. "Seine
Leute haben den Zahnarzt ausfindig gemacht, bei dem der Blonde vor
seinem Tod noch gewesen ist."
"Na, großartig!"
"Warte, ich gebe dir die Adresse durch. Liegt in der
Veringstraße."
Burmester hatte an den Armaturen des 500 SL einen kleinen
Block, auf dem er mit einer Hand mitschrieb. "Okay", murmelte er
dann. "Ist Sven schon unterwegs?"
"Ja, aber du wirst ihn sicher noch antreffen, wenn du dich
etwas beeilst!"
"Was ist mit Raimer? Hast du noch etwas über ihn herausfinden
können?"
"Im Augenblick versuche ich herauszufinden, ob es in Frankfurt
Studenten gab, die Raimers nicht gerade alltägliche
Sprachenkombination belegt hatten. Vielleicht kommen wir ihm so auf
die Spur."
"Vielleicht war er gar nicht in Frankfurt."
"In dem Fall sieht es finster aus. Aber einen Versuch ist es
wert!"
Aldo trat das Gaspedal des 500 SL durch und hoffte, dass im
Moment keine Streifen auf den Straßen patrouillierten. Als er dann
die Adresse erreichte, die Jana ihm genannt hatte, war Dankwers
schon da. Aldo sah es an dem Dienstwagen des
Kriminalhauptkommissars, der vor der Praxis geparkt worden war. Die
Sprechstundenhilfe wollte Aldo erst gar nicht vorlassen.
"Ich gehöre zu Kriminalhauptkommissar Dankwers", murmelte Aldo
in gedämpften Tonfall, während die Patienten im Wartezimmer
interessiert die Ohren spitzten.
"Dann ist das etwa anderes", meinte daraufhin die
Sprechstundenhilfe. "Kommen Sie mit!"
Sie führte Aldo einen kurzen Flur entlang und fragte dabei, ob
er ein Kommissar sei.
"Ermittler", gab Aldo zur Antwort. Dass er kein Mitglied der
Polizei war, erwähnte er natürlich nicht.
Der Zahnarzt hieß Mönckeberg, machte einen ziemlich
schmächtigen Eindruck und trug eine ziemlich dicke Brille.
"Hallo, Aldo", dröhnte Dankwers. "Ich bin auch gerade erst
gekommen."
Mönckeberg musterte Aldo eine Sekunde lang. Dann sagte er:
"Wie gesagt, der Mann nannte sich Garnier. Roberto Garnier. So hat
er es jedenfalls angegeben."
"Haben Sie sich seine Papiere zeigen lassen?", fragte
Dankwers.
Mönckeberg hob die Schultern.
"Warum sollte ich?", fragte er. "Der Mann hat bar gezahlt.
Sein Zinkkäppchen hatte sich gelöst. Es war auch schon ziemlich
zerbissen. Er brauchte unbedingt ein neues, weil sonst auch noch
die Unterfüllung nach und nach herausgebrochen wäre." Mönckeberg
zuckte die Achseln. "Eine Sache von wenigen Minuten."
"Ist Ihnen noch irgendetwas an ihm aufgefallen? Hat er
vielleicht was gesagt?"
Dankwers’ Stimme klang nicht so, als ob er noch viel Hoffnung
hätte, hier auf eine heiße Spur zu treffen.
"Er sprach etwas seltsam", berichtete Mönckeberg.
"Ein Akzent?", mischte sich Aldo ein.
"Ja."
"Haben Sie eine Ahnung, was für einer das gewesen sein
könnte?"
Mönckeberg überlegte einen Moment, nahm dann die Brille ab und
rieb sich kurz die Augen. Dann sagte er: "Französisch, wenn ich
mich nicht völlig irre. Auf jeden Fall ausländisch."
Dankwers seufzte. "Ich danke Ihnen", knurrte er und wandte
sich zum Gehen.
Aldo folgte ihm.
"Willst du nicht noch die Sprechstundenhilfen befragen,
Sven?"
"Das habe ich schon."
"Und?"
"Die erinnern sich kaum noch an den Mann. Mehr als Dr.
Mönckeberg wusste sie auch nicht."
Wenig später waren sie beiden Wagen. Dankwers wurde von der
Dienststelle angerufen. Er sagte nicht viel. Nur zweimal "Okay!",
aber die Art, wie er das sagte verriet, dass überhaupt nichts okay
war.
Aldo trat zu ihm.
"Neuigkeiten, Sven?"
"Abwarten. In meinem Büro sitzt jemand und wartet auf mich.
Jemand vom Bundeskriminalamt." Dankwers zuckte die Achseln. "Kann
sein, dass der Fall jetzt für mich zu Ende ist."
14
Als Sven Dankwers sein Büro betrat, saß ein langgestreckter,
hagerer Mann hinter dem Schreibtisch, der eine ziemlich wichtige
Miene machte und sich entspannt zurücklehnte. Es gefiel dem
Kriminalhauptkommissar nicht, dass sich der Kerl hier so breit
machte. Es lag unverhohlene Arroganz darin. Der Kerl hielt Dankwers
einen Ausweis hin.
"Mein Name ist Jäger. Bundeskriminalamt."
"Man Sie mir schon angekündigt."
"Ja, ich habe hier schon eine Weile gewartet."
Dankwers verzog das Gesicht.
"Tut mir leid!", meinte er, was aber nicht besonders ernst
gemeint klang. "Am besten Sie kommen gleich zur Sache. Dann sparen
wir beide unsere Zeit."
Herr Jäger fixierte Dankwers mit eisigem Blick. Zwei volle
Sekunden lang, sagte er nichts, dann nickte er und meinte: "In
Ordnung."
"Worum geht es?"
"Sie fahnden nach einem Mann namens Leon Raimer."
"Richtig."
"Lassen Sie es bleiben!"
Dankwers runzelte die Stirn.
"Wie bitte? Der Mann ist Zeuge in einer Mordsache!"
"Ich sagte: Lassen Sie es bleiben!"
"Bis jetzt wusste ich nicht, dass Sie mir gegenüber
weisungsbefugt sind", knurrte Dankwers zurück. "Genau genommen sind
Sie noch nicht einmal befugt, dieses Büro zu betreten und diesem
Stuhl da zu sitzen."
Jäger beugte sich etwas vor und meinte dann verbindlicher:
"Regen Sie sich nicht auf, Herr Dankwers! Sehen Sie, ich könnte
jetzt den langwierigen Dienstweg beschreiten, um Sie zu zwingen,
das zu tun, was ich will. Aber ich setze auf Ihre Einsicht."
Dankwers verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.
"Ach, wirklich?"
"Im Augenblick sind Sie dabei, massenhaft Porzellan zu
zerschlagen. Und ich möchte Sie schlicht darum bitten, damit
aufzuhören. Denn was Sie tun, könnte einem Menschen das Leben
kosten."
"Leon Raimer?"
"Ja."
"Er heißt nicht so."
"Nein, das ist richtig. Aber ich werde Ihnen seinen wirklichen
Namen nicht sagen."
"Wissen Sie, wo Raimer ist?"
"Hören Sie, Raimer hat einmal eine wichtige Rolle für uns
gespielt."
"Deshalb die falsche Identität, das ist mir schon klar. Haben
Sie schon mal überlegt, dass er in Schwierigkeiten sein
könnte?"
Herr Jäger grinste.
"Wenn es so wäre, würden wir damit selbst fertig werden." Er
erhob sich und trat nahe an Dankwers heran und steckte dabei beide
Hände in die Hosentaschen. Er war einen halben Kopf größer als der
Kriminalhauptkommissar. "Ich bin nicht befugt, Ihnen mehr zu sagen.
Ich kann Sie nur warnen."
Dankwers verdrehte die Augen. Jetzt kam also die grobe
Tour.
"Was wollen Sie schon machen, Jäger?", brummte der
Kriminalhauptkommissar und strich sich dabei mit der flachen Hand
die Haare nach hinten.
Sein Gegenüber blieb eiskalt.
"Ihnen ganz gehörig auf die Finger klopfen, wenn es sein
muss!" In den Augen des BKA-Mannes funkelte es bedrohlich. "Kommen
Sie ja nicht auf die Idee, dass ich bluffe, Herr Dankwers!",
knurrte er.
Der Kriminalhauptkommissar zuckte nur die breiten
Schultern.
"Auf den Gedanken käme ich auch nie", gab er dann unwirsch
zurück.
Herr Jäger verzog den schmallippigen Mund zu einer
Grimasse.
"Das will ich hoffen, Herr Dankwers!"
15
Tiefste Finsternis umgab ihn, als er aus einem kurzen,
unruhigen Schlaf erwachte. Einem Schlaf der Erschöpfung, der ihn
für kurze Zeit sogar die Schmerzen hatte vergessen lassen. Jedes
Gefühl für Zeit und Ort hatte er verloren.
Er wusste nicht wie spät es war oder welcher Tag. Er wusste
nur, dass er mit Händen und Füßen an ein Bett gefesselt war und
sich so gut wie überhaupt nicht bewegen konnte. Etwas Warmes,
Salziges spürte er im Mund. Es rann ihm zwischen den
aufgesprungenen Lippen hindurch in einem dünnen Strom den Hals
hinunter. Blut.
Er wusste nicht, wie viele Zähne man ihm ausgeschlagen hatte.
Jedenfalls tat es höllisch weh. Und die Schmerzen allein sorgten
schon dafür, dass er keinen Schlaf fand, wenn ihn nicht gerade die
totale Erschöpfung übermannte.
In diesem Moment hörte er ein Geräusch. Es waren Schritte,
draußen auf dem Flur. Eigentlich nicht einmal besonders laut, aber
jetzt empfand er sie wie Hammerschläge. Sein Kopf dröhnte. Die Tür
ging auf und gleißendes Licht blendete ihn. Er kniff die
geschwollen Augen zusammen und versuchte zu blinzeln. Eine Gestalt
hob sich als Schattenriss undeutlich gegen das Licht ab und blieb
ein paar Sekunden lang im Türrahmen stehen. Eine Hand ging zum
Lichtschalter, und dann schien alles in ein Meer aus schmerzender
Helligkeit getaucht zu sein. Der Mann auf dem Bett sah sekundenlang
so gut wie nichts und versuchte die Augen zusammenzukneifen. Auch
das schmerzte furchtbar.
Unterdessen hörte er Schritte, die sich dem Bett, in dem er
lag, näherten und kurz davor stehen blieben. Eine Hand griff roh
nach seinem Kinn und riss es zur Seite. Er stöhnte auf, während
eine Welle des Schmerzes vom Kiefer aus den Kopf
durchflutete.
"Wie ich sehe, hat Georg dich ziemlich hart rangenommen,
Raimer", sagte eine sonore Stimme. "Oder soll ich dich lieber bei
deinem wirklichen Namen nennen?"
Raimer fröstelte beim Klang dieser Stimme. Er versuchte etwas
zu sagen, aber es kam nichts über seine Lippen als ein ächzender
Laut.
"Was wollt ihr noch?", fragte er schließlich. Er sprach
undeutlich wegen seinen Zähnen. Es war kaum zu verstehen. "Warum
macht ihr nicht einfach ein Ende? Das werdet ihr doch schließlich
sowieso tun, oder?"
"Schon möglich. Aber das habe ich nicht zu entscheiden."
"Ja, ich weiß."
Langsam gewöhnte Raimer sich an die ungewohnte Helligkeit und
blickte in ein glattes, fast ausdrucksloses Gesicht, in dessen
Mitte sich zwei kalte graue Augen befanden. In diesen Augen las er
nicht mehr und nicht weniger als seinen Tod. Er hatte keine Chance
mehr.
16
Es war ziemlich früh am Morgen, als Aldo Burmester den Anruf
von Theo Vader bekam. Der Privatdetektiv lag noch im Bett und war
kaum richtig wach, als er Vaders Stimme hörte.
"Burmester, hören Sie mich?"
"Ja, aber ich verstehe Sie schlecht."
"Ich rufe von einem Parkplatz aus an und hier in der Nähe wird
gerade die Straße aufgerissen. Haben Sie Papier und Bleistift
dabei?"
Aldo langte zum Nachttisch.
"Ja."
"Der Mann, der sich Raimer nennt, ist bei uns als Kevin
Norland registriert. Norland hat vor dreizehn Jahren eine falsche
Identität bekommen, weil er zuvor als Undercover-Agent gegen die
Mafia tätig war. Kurz danach schied er aus dem Dienst aus und lebte
unter dem Namen Jonas Lempke in Österreich."
"Seit wann nennt er sich Raimer?"
"Keine Ahnung. Diese Identität hat er nicht vom BKA. Jonas
Lempke ist vor ungefähr drei Jahren spurlos verschwunden."
Und seit drei Jahren arbeitete Leon Raimer in der
Falkenberg-Agentur. Das passte zusammen.
"Haben Sie eine Ahnung, warum?"