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Eine Geschichte über zerstörte und neue Freundschaften, gebrochene und geflickte Herzen, kaputte und perfekte Familien, Dämonen der Vergangenheit und Hoffnung für die Zukunft. Über grandiosen Sex und grauenhaften Sex, schlechte Partys und gute Partys. Eine Geschichte über Verlierer und Gewinner, über Höhen und Tiefen. Eine Geschichte über das Leben. Erfahre 50 Geheimnisse über die achtzehnjährige Alice, die auf der Suche nach sich selbst alles andere aus den Augen verliert.
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Seitenzahl: 355
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Die Autorin
Charline Dreyer wurde 1997 in Berlin geboren. Die jetzige Studentin begann den Jugendroman 50 Secret About Alice im Alter von 17 Jahren zu schreiben und online hoch zu laden. Angefangen mit dem Bücherschreiben hat sie im jungen Alter von elf.
Der Kinderoman Gegengift (ebenfalls bei BoD veröffentlicht) machte sie mit einem weiteren Titel zur Verlagsautorin. Ihr bisher aufwendigstes Werk veröffentlichte sie im Jahr 2017 als Selfpublisher online. Weitere Bücher sind in Bearbeitung und zu erwarten.
Mehr über Charline Dreyer und ihre Werke auf www.charline-dreyer.jimdosite.com
***
Für meine Dari.
Danke,
dass du mein Zuhause bist,
meine Familie, meine Kindheit.
Ich liebe dich.
***
Und für meine innere Alice.
Danke, für deine Launen.
Deine Naivität, deine Ungeduld,
deine Schwächen, deine Stärken,
deine Höhen, deine Tiefen.
***
Secret # 1
Secret # 2
Secret # 3
Secret # 4
Secret # 5
Secret # 6
Secret # 7
Secret # 8
Secret # 9
Secret # 10
Secret # 11
Secret # 12
Secret # 13
Secret # 14
Secret # 15
Secret # 16
Secret # 17
Secret # 18
Secret # 19
Secret # 20
Secret # 21
Secret # 22
Secret # 23
Secret # 24
Secret # 25
Secret # 26
Secret # 27
Secret # 28
Secret # 29
Secret # 30
Secret # 31
Secret # 32
Secret # 33
Secret # 34
Secret # 35
Secret # 36
Secret # 37
Secret # 38
Secret # 39
Secret # 40
Secret # 41
Secret # 42
Secret # 43
Secret # 44
Secret # 45
Secret # 46
Secret # 47
Secret # 48
Secret # 49
Secret # 50
-Ich traue nur selten den Worten eines Erwachsenen, der mich belehren will. Denn man wird es früher oder später bereuen.-
***
Damals
Schon als kleines Kind wird einem beigebracht, nicht mit fremden Menschen zu sprechen. Man solle sie nicht beachten, wenn sie einen verdächtigerweise ansprechen, man solle ihnen misstrauen, das würde immer der sicherste, beste Weg sein. Wenn man älter wird, in eine Grundschule verfrachtet, zwischen tausenden von fremden Menschen, solle man diesen jedoch offen gegenüber treten, mit ihnen kommunizieren, sein eigenes Sozialverhalten stärken und versuchen, selbst mit Leuten nett umzugehen, die man nicht leiden kann. „Du musst lernen, über den Dingen zu stehen“, heißt es und je älter man wird, desto härter wird einem diese „Regel“ eingehämmert. Doch wie soll ein achtjähriges, kleines Mädchen, welches von älteren, fremden Jungs drangsaliert wird, dieser Regel Folge leisten? Über den Dingen stehen, wenn sie sie beleidigen, ihr Worte an den Kopf werfen, die sie zuvor nie gehört hat, doch bei denen sie sich sicher ist, dass es böse Worte sein müssen?
Und was war das nochmal, was Mama immer sagt? „Mit Fremden sollst du nicht sprechen, Kind!“
Soll sie sich umdrehen, diese Jungs nicht weiter beachten und sie einfach ignorieren? Ist ein Mädchen in dem Alter überhaupt dazu fähig?
„Aber, Frau Große hat doch gesagt, ich soll durch nette Worte Gemeinheiten aus der Welt schaffen!“
Sie glaubt an das Gute, natürlich, sie ist doch bloß ein Kind. In ihrer Angst denkt sie also nur an den Rat ihrer Klassenlehrerin, reißt das nächstbeste Gänseblümchen vom Grasstreifen neben dem asphaltierten Bürgersteig aus der Erde und streckt den boshaft lachenden Sechstklässlern ihre kleine zitternde Hand entgegen. Als sie sieht, wie das Lachen der Jungs verstummt, schöpft sie Mut und ringt sich unter bereits geflossenen Tränen ein Lächeln ab.
„Wir können Freunde sein, ja? Lasst uns doch einfach Freunde sein.“
Als der Überraschungsmoment der Jungs verflogen ist, sie wieder zu lachen beginnen, dem Mädchen das Blümchen aus der Hand reißen, es auf den Boden schmeißen und zertreten, geht ihr nur eines durch den Kopf: „Frau Große hat gelogen. Das Gute kann das Böse nicht besiegen.“
Und sie hat bis heute keine Ahnung, wie stark sie in diesem Moment eigentlich gewesen ist.
***
Heute
Dieses kleine Mädchen bin ich gewesen und, nun, an diesen Tag damals hätte ich vielleicht heute Morgen zurückdenken sollen. Ich bin nämlich fälschlicherweise dem Rat meiner Mutter gefolgt und habe dem Exfreund meiner ex besten Freundin durch die Blume gestanden, wie geil ich ihn finde. Natürlich ist das ganze komplett nach hinten losgegangen. Wie konnte ich nur so dumm sein?
Von wegen „Sprich deine Gefühle laut aus, sonst wirst du niemals glücklich und du hast ja absolut nichts zu verlieren.“ Und ob ich etwas zu verlieren hatte! Mein Stolz und meine Würde sind in nur einem Atemzug vollkommen verloren gegangen. Und das alles nur, weil ich mal wieder zu naiv gewesen bin zu verstehen, dass jemand wie Anthony absolut kein Interesse an mir hat und niemals haben wird.
Ja, natürlich. Man könnte sagen, es handele sich hier um ein bedeutungsloses Teenager-Problem, aber ich bin seit der siebten Klasse ziemlich bis sehr scharf auf ihn. Diese kleine Schwärmerei entwickelte sich von der Siebten bis zur Achten zum Verknallt-sein und dann, als er in der neunten Klasse im Deutschunterricht absolut einwandfrei vor der ganzen Klasse Eichendorffs „Mondnacht“ genau auf dieselbe Art und Weise interpretiert und analysiert hat wie ich, ist dann irgendwie Amors bescheuerter Pfeil komplett eingeschlagen und die lächerliche Idee unserer gegenseitiger „Seelenverwandtschaft“ hat sich wie ein Fremdkörper in mein Hirn gepflanzt und benebelt seitdem meine rationalen Gedankengänge im Bezug zu Anthony.
Na ja, deshalb ging dann auch meine Freundschaft zu Magdalena (ex beste Freundin) in die Brüche, als sie in der neunten Klasse mit ihm zusammen kam (verdammte Verräterin). Ich weiß zwar bis heute nicht, wieso die beiden es überhaupt miteinander versucht haben, denn Anthony ist klug, besitzt ein unglaubliches Literaturverständnis und gibt so gar nichts darauf, dass andere ihn genau deshalb als „Creep“ bezeichnen. Magdalena jedoch ... Ist die Sharpay in dieser Geschichte. Okay, sie ist nicht im Ansatz so schön wie Ashley Tisdale, aber ihr versteht schon, was ich meine. Aus dem Grund hielt diese sogenannte Beziehung auch gerade einmal stolze vier Wochen. Ja, genau, richtig. Ihr dürft einmal applaudieren, für diese Armseligkeit. Mitleidig gucken ist auch erwünscht. Danke.
Nun aber Schluss mit dem Kinderkram und ran an die Fakten. Zeitlich sind wir jetzt in der elften Klasse, also im zweiten Semester und das besagte Desaster hat sich in der ersten großen Pause zugetragen. Er (Anthony) lehnte in seiner typisch distanzierten und verschlossenen Haltung an der Tür zur Cafeteria, allein, und starrte ins Nichts. Wie schon erwähnt, er ist anders. Abwesend, irgendwie. Immer mit den Gedanken woanders. Verschwiegen aber dennoch intelligent. Immer gefasst, ruhig, ausgeglichen. So jemand, mit dem man schweigen kann. Ohne, dass es peinlich wird.
Und aus irgendeinem Grund ist all das extrem anziehend für mich. Wenn sein Blick aus Versehen meinen trifft, so durchdringend und intensiv. Oder unsere Arme sich kurz berühren, wenn es am Eingang zu voll ist.
Mist, verkackter. Seht ihr? Dieses Ding in meinem Hirn leistet schon wieder ganze Arbeit. Und, nein. Das soll keine Schnulze werden, in der eine liebeskranke Jugendliche über ihre hormonellen Ausbrüche spricht und es die ganze Zeit darum geht, ob sie ihn für sich gewinnen kann, oder nicht. Nein, ganz und gar nicht. Dafür ist es jetzt nämlich leider zu spät. Ich habe meine einzige Chance schon im ersten Kapitel vertan. Ich werde ihm nie wieder unter die Augen treten können. Der Angebetete steht schon jetzt nicht mehr zur Verfügung, um diese Geschichte so zu formen, dass ein richtig schönes, heißes, leidenschaftliches Liebesdrama entstehen kann. Die bemitleidenden Mienen dürft ihr also noch 'ne ganze Weile drauf behalten, liebe Leute.
„Hey, Anthony““ hatte ich gesagt, zitternd ausgeatmet und auf der Unterlippe gekaut. Sein Blick traf meinen und das dunkle Blau seiner Augen, so ruhig und klar, versetzte mich in eine seltsame Starre. Auf einmal waren da keine Worte mehr. Warum wollte ich nochmal mit ihm sprechen? Wieso sah er mich so direkt an? Warum ist die Erde rund? Kann sein, dass das Ding in meinem Kopf langsam beginnt, meine Hirnzellen wegzufressen. Mampfend und grinsend hält es sich den runden Bauch und verspeist schmatzend die Reste meines Verstandes.
„Hallo, Alice. Was gibt's?“, sagte er. Seine Stimme. Seine ... Oh Mann, seine Stimme. Wieso habe ich denn keine Worte mehr, Shit!
„Ich wollte nur ... Fragen.“ Ach, und weiter? „Fragen wollte ich.“ Wow, du wiederholst dich! Das Ding hat sich satt gefressen, an meinem Gehirnschmalz. „Ob du Lust hättest? Mit mir? Ob wir beide nicht vielleicht ...“, in dem Moment ging der Rest des kläglichen Versuches eines deutschen Satzes im Klingeln der Pausenglocke unter und Anthony und ich wurden auseinander gespült aus dem Strom von Schülern, die entweder aus der Cafeteria oder von draußen ins Foyer stürmten.
So weit so gut. Das war zwar schon schlimm genug, aber noch lange nicht alles. Der Burner kam nach Schulschluss. Ich wollte gerade zu Jess gehen und mich bei ihr ausheulen, dass die Pausenglocke mein Vielleicht-Date versaut hatte, als Kiffer-Kevin sich mir mit seinem dümmlichen Grinsen in den Weg stellte.
„Was willst du?“, fragte ich gelangweilt.
„Ist es wahr, das mit dem Creep und dir?“
„Was für ein ... Pass auf, Kevin, ich hab gerade echt keine Lust Zielscheibe deiner Kiffer-Faseleien zu sein, sorry.“ Oh Fuck, der Gute sollte sich aber dringend mal ordentlich die Zähne reinigen lassen, am besten direkt professionell beim Zahnarzt. Ich rümpfte kaum merklich die Nase.
„Nein, chill. Ich bin völlig klar. Ich meine, das mit Anthony?“
„Das mit ... Wie bitte? So schnell kann sich das doch nicht herum gesprochen haben, ich verstehe nicht ...“
„Also stimmt es!“ Er gab ein grölendes Lachen von sich. Doch bevor ich weiter nachfragen konnte, war er in einer Traube von Jungs seinesgleichen verschwunden.
„Süße, du solltest sehen, dass du hier weg kommst“, sagte meine andere (immer noch) beste Freundin Jess, die auf einmal dicht hinter mir stand.
„Was meinst du? Gibt es hier irgendetwas, das ich verpasst habe?“ Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte ich so eine merkwürdige Vorahnung.
„Und ob.“
„Kannst du mich bitte aufklären?“, meine Stimme hatte unfreiwillig einen seltsamen, quietschenden Ton angenommen. „Und zwar schnell, wenn's geht!“
Sie seufzte, packte mich am Arm und zog mich nach draußen. „Jemand behauptet gehört zu haben, wie du dich mit Anthony unterhalten hast.“
„Ja. Und? Was ist dabei?“ Diese Schule und ihre Wände, die Ohren zu haben scheinen. Schrecklich. Werde ich nicht vermissen.
„An sich finde ich es ausgezeichnet, dass du dich endlich getraut hast, Schätzchen, aber ihn gleich zu fragen, ob er mit dir schlafen will, ist ein wenig zu mutig, findest du nicht auch? Ich meine, klar. Er ist ganz scharf, aber dass dein Hirn dermaßen aussetzt, wenn er in deiner Nähe ist, hätte ich jetzt nicht gedacht. Du sollst ihn förmlich angesprungen haben und euer Sexdate stünde wohl fest.“
Mir entfährt ein lautes Schnauben. „So war das war absolut nicht, aber es ist außerordentlich interessant zu hören, was hier schon wieder für ein Mist erzählt wird.“ Ich kann mich nicht einmal darüber aufregen, so lächerlich finde ich diese ganze Geschichte. Genau eine ähnliche Situation hat es schon einmal gegeben. Das Mädchen, das Zielscheibe dieser Gerüchte gewesen ist, hat am Ende sogar die Schule gewechselt.
Jess schob mich die Straße entlang, und schüttelte den Kopf. „War mir klar, dass das nicht wahr ist. Nur wer massig Butter in der Birne hat, würde einen Typen mitten auf dem Schulhof anspringen und ihn um seinen Schwanz anflehen“, schloss sie völlig trocken und ich runzelte die Stirn über ihre direkten Worte. „Oder jemand wie Magdalena. Nur, dass es bei ihr an bestimmten Bedürfnissen liegt. Und an mangelnder Erziehung und an einem gestörten Verhältnis zum Thema Sex“, fährt sie fort, während sie eine schwarze Haarsträhne um den Zeigefinger wickelt, als würde sie sich ganz genau auf ihre Überlegungen konzentrieren.
„Okay, Jess! Stopp, das reicht. Das Letzte, was ich jetzt will, ist über Magdalenas Sexleben zu sprechen.“ Nicht nur, weil ich keines hatte (cry). Sondern viel mehr, weil mir in dem Moment dämmerte, dass Anthony vermutlich denken musste, ich allein hätte dieses Gerücht von unserem „Sexdate“ in die Welt gesetzt. Und das ist dann doch dezent peinlich. Er muss jetzt denken, ich hätte es absolut nötig, so einen Bullshit zu erzählen.
Stillschweigend denke ich daran, mir ein Loch zu buddeln oder mindestens bis nach Australien auszuwandern. Nur zur Sicherheit.
-Sofern ich noch fähig bin zu weinen, ist der Schmerz tief in mir drin noch erträglich.-
***
Damals
Diese Nacht ist dunkler, als andere Nächte. Sie ist kälter, als andere. Finster und niederschmetternd, irgendwie. Die Luft beißt sich förmlich in meinen Lungen fest.
Es brennt. Ich will nicht, dass es brennt. Ich will nicht hier draußen sein. Ich will nach Hause, in mein Bett. Unter die Decke, mich verstecken und hoffen, dass das alles hier einfach vorbeigeht. Einfach an mir vorbeizieht. Dass die Tage ohne mich weiter gehen und irgendwann, wenn alles wieder wie früher ist, wenn alles wieder gut ist, stehe ich auf. Lebe weiter, als wäre all das Schlimme nie passiert. Als wäre alles wieder normal. Nichts wünsche ich mir mehr.
Meine Kehle ist staubtrocken. Eigentlich will ich weinen. Ich will schreien und kreischen. Aber da sind keine Tränen mehr. Und auch keine Worte. Da ist einfach nichts mehr, außer leerer Traurigkeit, tiefsitzend und unantastbar.
Zähneknirschend blinzele ich gegen das Licht greller Autoscheinwerfer, die mir der Straße entlang entgegen kommen. Ich drücke mich stärker gegen die Gartenhecke, in diese endlos dunkle Nacht, in der Hoffnung, nicht bemerkt zu werden. Vergebens. Der schwarze VW Golf hält direkt neben meinem Versteck. Der Motor geht aus. Die Autotür öffnet sich um Sekunden danach laut zugeknallt zu werden.
„Es reicht jetzt, Alice“, hallt die Stimme meiner Mutter in die Dunkelheit. „Du kannst nicht die ganze Nacht hier draußen bleiben. Das geht einfach nicht, ich ...“, sie stockt. Ihr Ton ist zittrig, aber bestimmend. Ein bisschen erstickt, vielleicht. Als ich nicht antworte, kommt ihr Schatten näher. Im zwielichtigen Schein der Straßenlaterne eine unheimliche Gestalt.
„Mama, mir geht es gut. Fahr' nach Hause.“ Ich erkenne meine eigene Stimme nicht wieder. Die Person die da spricht, hört sich ganz und gar nicht nach mir an.
Meine Mutter gibt ein hysterisches Lachen von sich. „Das kann nicht dein Ernst sein. Das kann einfach nicht dein Ernst sein.“ Der Schatten fängt an wild zu gestikulieren, was irgendwie bizarr aussieht. Verzerrt. Ein bisschen zum Lachen, unter anderen Umständen. Vielleicht. „Mama, ich will nicht nach Hause. Ich kann nicht. Ich bleibe hier und du fährst wieder. Ich kann nicht.“
Erst ist es still. Viel zu still. Und dann fängt Mama an zu schreien. Und zu weinen. Sie tut all das, was ich eigentlich tun will. Wieso hat sie Tränen und ich nicht? Wieso hat sie Worte, wo ich nur Leere habe? „Nein! Nein, Mama hör' auf!“, ich zwänge mich durch die Zweige der Hecke hindurch und werfe mich an die Brust des Schattens. Mit meinen kleinen Fäusten schlage ich gegen ihren Brustkorb und versuche mich an ihr hoch zu ziehen. Ich will nicht, dass sie weint. Ich will auch nicht, dass sie schreit, dass sie traurig ist, so wie ich.
„Alice, steig' ins Auto!“, schreit sie, hält meine Arme fest und zieht mich zum Straßenrand. „Du darfst nicht immer weglaufen, hörst du?“, schluchzt sie. Ihr Satz wird von wimmernden Lauten unterbrochen. Sie drückt mich auf den Rücksitz des kleinen Wagens, schmeißt die Tür zu und ich sehe, wie sie in diesem kalten Licht der Laterne zu Boden sinkt, das Gesicht in den Händen vergraben. Ihre Schultern beben, ihr helles Haar ist verklebt und haftet in Strähnen an ihrer Stirn. Diese Geräusche, die sie von sich gibt, brechen mir das Herz.
Und das ist der Moment, in dem meine Tränen wieder da sind.
***
Heute
So kam es also dazu. Das war die kleine Vorgeschichte. Der Prolog, sozusagen.
Nun liege ich in meinem Bett, wie ein Häufchen Elend. Mit angefressenem Stolz und zerstörtem Selbstbewusstsein. Sogar ein bisschen geheult habe ich. Das darf wirklich niemand wissen. Ich bin kein Mensch, der wegen solcher Kleinigkeiten herum jammert. Aber es geht hier um Anthony und, na ja ... Das mit dem Parasiten in meinem Hirn wisst ihr ja jetzt. Praktisch gesehen kann ich also gar nichts für all die Emotionen und Gefühle, die mit ihm zusammenhängen.
Meine Mutter entreißt mir mit einem Ruck die Bettdecke und baut sich mit verschränkten Armen vor mir auf. „Okay, Alice“, seufzt sie. Das wird ein Machtwort, passt auf. „Zunächst: Wenn schon, ist er der Idiot. Das ist dir hoffentlich bewusst. Nie im Leben denkt er, du hättest dieses kindische und absolut lächerliche Gerücht in die Welt gesetzt, also krieg dich wieder ein. Und selbst wenn, dann habt ihr eben so eine Art von Date, wen hat es überhaupt zu interessieren?“
Sie hat Recht. Sie hat so Recht. Verdammte Scheiße, ich verstoße gerade gegen mindestens dreihundert meiner Prinzipien. Unter anderem hatte ich mir fest vorgenommen niemals wegen eines Typen auch nur eine Träne zu vergießen. Ich will nicht um alles Geld der Welt so armselig sein wie all diese Weiber aus sämtlichen Liebesromanen. Schwach. Dumm. Naiv und am Ende gebrochen.
Meine Mutter verdreht die Augen und streicht sich eine hellblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Tatsache, dass sie sehr früh mit mir schwanger geworden und deshalb eine äußert junge Mutter ist, lässt mich manchmal staunen, wie sehr sie mir viel mehr wie eine beste Freundin und weniger wie eine Autoritätsperson vorkommt. Aber mir gefällt es.
Ich nicke und setze mich auf. „Ja, stimmt“, sage ich fest und wische mir die wenigen salzigen Tränen weg, die auf meiner Haut zu brennen beginnen.
„Natürlich stimmt das. Der denkt nicht, dass du das behauptet hast. Viel naheliegender wäre es, wenn er persönlich diesen Mist rum erzählt hätte. Ich meine, er ist nicht sonderlich beliebt und du bist ein hübsches Mädchen ...“
„Mutter!“, unterbreche ich sie leicht genervt. „Ich hab dir doch gesagt, bei ihm ist nicht nur gutes Aussehen, sondern vor Allem seine Art und Intelligenz das Attraktive. Dagegen bin ich Toastbrot.“ Okay. Alice, du hast es geschafft. Willkommen im Reich der armseligen Romanfiguren.
„Ich denke, du siehst ihn durch eine rosarote Brille!“, gibt Mama aufgebracht zurück.
„Ich denke, du siehst mich durch eine ... Ahm, mütterliche Brille. Du musst sagen, dass ich hübsch bin. Das ist deine verdammte Pflicht oder dein verdammter mütterlicher Instinkt, was weiß ich, irgendetwas biologisch Erklärbares.“
„Biologisch erklärbar also, ja?“ Sie zieht eine Augenbraue hoch.
Und schon muss ich über meine eigenen Worte lachen. „Du hast Recht, ich meine, wieso heule ich mir hier was zusammen? Bin ich zwölf? Nein. Bin ich achtzehn Jahre alt und zufrieden mit meinem Leben? Ja.“
„Das ist meine Tochter.“
„Ich kann drauf pfeifen was die gesamte Schule von mir denkt. Alle reden über mich? Ist mir egal. Alle denken ich würde es mit dem Creep treiben? Egal.“
„Alice!“
„Sorry, Mutter.“
„Mutter“, ahmt sie mich nach und schnalzt mit der Zunge.
„Entschuldige. Ich vergesse manchmal, dass wir nicht detailliert über Sex reden.“
„Nein, so weit gehen wir dann doch noch nicht“, stimmt sie mir zu und kneift die Augen zusammen. Ich rümpfe die Nase und danke Gott dafür, dass sie mir trotz aller Vertrautheit genug Freiraum lässt.
Das Schamgefühl und der Gedanke gedemütigt geworden zu sein bleiben zwar den ganzen Tag über an mir haften wie ein klebriger Kaugummi unter der Schuhsohle, aber meine Mutter hat mich soweit aus meinen depressiven Anfällen herausgeholt, dass ich am Abend sogar dazu in der Lage bin, meine Präsentation für Geschichte fertig zu stellen. Gerade als ich meinen Mac herunter fahren will, öffnet sich mein WhatsApp Nachrichtenfenster. Eine unbekannte Nummer.
-unbekannt- (23:21) tut mir leid. was sie über dich erzählen, mein ich
Alice (23:21) wer bistn du??
-unbekannt- (23:22) anthony
Wie bitte? Seit wann benutzt dieser Typ etwas wie WhatsApp? Ich habe immer gedacht Internet oder Smartphones existieren in seiner Welt aus Gedanken und Tagträumen nicht.
Plötzlich keimt etwas wie Wut in mir auf.
Alice (23:25) hör auf, dich zu entschuldigen! wir wissen beide, dass du allein diesen mist rum erzählt hast
Genervt drücke ich auf „senden“. Keine Zwanzig Sekunden später kommt die Antwort. Ich speichere seine Nummer schnell ein.
Anthony (23:26) jemand muss uns belauscht haben. ich habe nichts erzählt, nichts gesagt. ich rede nicht besonders gerne, erst recht nicht mit leuten, die mich nicht interessieren. & dann auch noch über Dinge, die niemanden etwas angehen. außer uns natürlich.
Außer uns. Wow. Ein kleines Kribbeln im Bauch lässt meinem Parasiten wieder zum Leben erwecken und meine Wut ist wie weggeblasen.
Alice (23:28) dass du nicht besonders gerne redest, ist ja wohl maßlos untertrieben
Ich hoffe inständig, dass er meinen Humor versteht.
Anthony (23:30) & trotzdem wolltest du mich offensichtlich nach einem date fragen ... allzu sehr scheint es dich also nicht zu stören, alice.
Oh mein Gott, ist das peinlich. Er hat absolut begriffen, was abgeht.
Kein Typ der Welt wäre aus diesem zusammenhangslosen Gerede von mir schlau geworden. Aber Anthony analysiert natürlich sofort in sechs Sprachen und Formen, was ich versucht habe, in Wortfetzen auszudrücken.
Alice (23:31) mir fällt auf, dass du ziemlich genau erkannt hast, was ich vorhatte .. bevor die klingel meine fantastische rede aus halben Wörtern und zerstückelten Sätzen unterbrochen hat. sehr beeindruckend, anthony
Anthony (23:31) ich bin eben ein aufmerksamer mensch
Alice (23:32) ist mir nicht entfallen. stille wasser sind tief, nicht wahr?
Grinsend tippe ich mit meinen dunkelrot lackierten Fingernägeln auf die Tischplatte und warte auf seine Antwort. Wer hätte das gedacht? Anthony Liebrecht kann gesprächig sein. Und wenn es nur über WhatsApp ist, immerhin! Auf die Idee, ihn einfach anzuschreiben, bin ich natürlich nicht gekommen. Seine Nummer hätte ich schon irgendwo auftreiben können. Wenn nicht ich, dann auf jeden Fall Jess.
Inzwischen ist es fast Mitternacht. Wieso antwortet er nicht?
Alice (00:17) so, mr. geheimnisvoll. ich werde mich jetzt ins bett begeben. wünsche dir 'ne gute nacht
Und tschüss.
-Ich bin kein Morgenmensch und damit umso koffeinsüchtiger.-
Völlig unausgeschlafen, mit einem Messy-Bun auf dem Kopf, Unmengen an Conceiler im Gesicht und drei Espresso intus, mache ich mich am Morgen darauf auf den Weg in die Hölle. Ich habe die ganze Nacht über alles nachgedacht und, wenn es hoch kommt, drei Stunden geschlafen.
Jess erwartet mich mit verzogenem Gesicht vor dem Biologieraum. „Blondie, dieser Tag wird nicht dein Tag.“
„Wundervoll“, erwidere ich trocken und quetsche mich unsanft an ihr vorbei in den Klassenraum.
„Ich habe nicht die geringste Ahnung, wieso die alle so auf diese Story abgehen, wir sind doch langweilig!“, jammert Jess, als sie sich neben mich in die letzte Reihe setzt. Damit hat sie ausnahmsweise mal Recht. Ich kann mir beim besten Willen auch nicht erklären, wieso diese Geschichte so interessant für die halbe Schule zu sein scheint. Sonst kümmert sich keine Sau darum, was ich mache, wie ich aussehe oder mit wem ich rede. Wie Jess schon deutlich gesagt hat, bin ich von der eher unauffälligen Sorte Schüler.
„Müssen die Frühlingsgefühle sein. Alles wird total aufgebauscht und dramatisiert“, murmele ich und vergrabe mein Gesicht in beiden Händen. Ich komme mir vor wie ausgekotzt. So muss ich auch aussehen, denn meine beste Freundin mustert mich besorgt von der Seite. „Jessy? Ich muss dir noch etwas erzählen, das glaubst du mir nie“, doch in diesem Moment kommt der Igel in den Raum und alle verstummen auf der Stelle. Herr Igler heißt bei allen nur Igel und das nicht nur aufgrund seines Namens und weil er Biologie unterrichtet, sondern auch, weil er genau wie einer aussieht. Seine letzten grauen Haare stehen meist zu allen Seiten hin ab und die runden Brillengläser lassen seine schwarzen Knopfaugen noch runder erscheinen.
„Was?“, zischt Jess.
„Nee, nachher“, presse ich hervor.
Der Lehrer sieht wie immer hochkonzentriert aus, als er anfängt etwas vom Stickstoffkreislauf zu erzählen.
Meine Nerven sind komplett am Ende. Ich kann die Blicke förmlich auf meiner Haut spüren, wie sie mich von allen Seiten durchbohren. Keiner gibt sich die Mühe, das unauffällig zu tun. Das alles ist mir ein absolutes Rätsel. Es ist schon öfter vorgekommen, dass Gerüchte durch die Welt gingen, der habe es mit dem getrieben. Die habe dem ein Nacktfoto geschickt und andersherum. Es gab sogar schon mal den Skandal, dass eine Schülerin es einem Lehrer besorgt haben soll. Dagegen ist meine Story ja wohl lächerlich. Ich meine, selbst wenn ich Anthony gefragt hätte, ob er mit mir schlafen möchte, wäre das doch wohl nicht damit zu vergleichen, dass irgendein billiges Weib mit einem Lehrer in die Kiste steigt, oder?
Nach endlosen neunzig Minuten Ökologie fühle ich mich absolut reif für die Klapsmühle und Jess und ich beschließen, einen Kaffee trinken zu gehen.
„Jetzt raus damit, Blondie“, sagt sie in ihrem typischen Jessica-Lorens-Befehlston.
„Er hat mich gestern über WhatsApp angeschrieben“, antworte ich leise, als würde uns wieder jemand belauschen.
„Ist nicht dein Ernst. Der Creep ist im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen?“, kichert sie und wirft ihre schwarzen Locken zurück.
„Ich habe mich auch erst verarscht gefühlt, aber die Art und Weise wie er geschrieben hat ... Eindeutig Anthony.“ Oder?
„Was hat der denn bitteschön geschrieben? Pünktchen als Zeichen dafür, nichts zu sagen und schweigend in der Ecke zu stehen?“ Lachend über ihre eigenen Worte hält sie mir die Tür zur Bäckerei auf.
„Sehr witzig.“ Das Mädel hat echt eins an der Waffel. Aber genau das liebe ich an ihr.
„Und? Was hatte er zu seiner Entschuldigung zu sagen?“
„Er sagte, jemand müsse uns belauscht haben.“
Sie schnaubt. „Natürlich.“
„Ich glaube ihm.“
Sie verdreht die Augen. „Aber klar tust du das. Setz' die rosarote Brille ab, Schätzchen.“
„Du hörst dich an, wie meine Mutter“, nuschele ich und krame die paar letzten Euros heraus, die ich in den Tiefen meiner Hosentasche spüre. Die füllige Verkäuferin hinter der Theke nickt freundlich und reicht mir den duftenden Cappuccino. „Auf Wiedersehen.“
Wir schlendern die Straße herunter, zurück zur Schule. „Ich will da nicht mehr rein. Nicht nach diesem ganzen Kram“, jammere ich.
„Du musst die Mauer hochziehen, Ally.“
„Hab keine Kraft“ Und so ist es tatsächlich, ohne zu übertreiben. Ich fühle mich seltsam ausgelaugt und verbraucht. Zu müde, um einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn eine imaginäre Mauer hochzuziehen, wie ich es sonst immer tue.
„Da vorne ist dein Objekt der Begierde“, haucht Jess mit verruchter Stimme. Sie leckt sich über ihre vollen Lippen und wackelt mit den Augenbrauen.
Oh mein Gott. Tatsächlich. Er lehnt an einer Kastanie, gegenüber vom Schulgebäude, offensichtlich in ein Buch vertieft, welches er sich vor sein hünsches Gesicht hält. Es wirkt fast so, als würde er sich verstecken wollen. Die Schultern angezogen und seine dunklen, vollen Haare ungestylt im Gesicht. Verständlich, ich würde mich auch gerne hinter irgendetwas verstecken (oder hinter irgendjemandem).
„Geh' hin“, sagt Jess pragmatisch.
„Wie bitte?“
„Du hast mich schon verstanden. Los, geh' hin und mach ihn dir klar. Jetzt hast du erst recht nichts mehr zu verlieren. Verkackt hast du so oder so schon.“
Ich lache über ihre trockene Erkenntnis über meine Situation und atme kurz danach tief durch. „Du hast Recht.“ Warum haben momentan alle Recht außer mir? Ohne weiter nach zu denken, setze ich also ein zweites Mal alles auf eine Karte, entwirrte mein Haar, sodass es mir offen bis fast zur Hüfte fällt und marschiere strammen Schrittes auf den unscheinbaren, heißen Typen von nebenan zu.
-Ich habe eine Schwäche für dunkelblaue Augen, die tief und klar sind wie das Mittelmeer.-
,,Eine wie Alaska, also. Englisch Leistungskurs oder freiwillig?“, sage ich und setze das süßeste Lächeln auf, das ich zu bieten habe. Das ist echt schwer, denn es gibt kein gegensätzlicheres Adjektiv, das meinen Charakter beschreiben könnte. Leute nennen mich lustig, eigen und bestenfalls werde ich vielleicht sogar als hübsch bezeichnet. Aber süß ... eher nicht.
Anthony schaut langsam über den Rand seines Buches hervor. Seine tiefblauen Augen, so ruhig und klar, treffen meine.
„Ein deutscher Titel, Alice.“ Ich höre sein Grinsen, als er spricht, sehe es jedoch nicht, da das Buch noch immer die Hälfte seines Gesichts verdeckt. Was für ein Jammer.
„Natürlich, also nicht der Englischkurs. Wie dumm von mir.“ War ja klar, dass ich wieder ins einzig herumliegende Fettnäpfchen treten muss. Dreitausend Menschen im Park und ich werde von der erstbesten Taube angeschissen. Aber klar, wie könnte es auch anders sein.
„John Greene ist ein Meister seines Schaffens. Liest du gerne?“ Dann versuche ich es halt so. Eigentlich weiß ich ja, dass er genauso ein Literaturfanatiker ist wie ich. Genau deshalb leide ich ja an diesem hässlichen Parasiten im Hirn der mich zwingt, Anthony toll zu finden.
Er lässt das Buch endlich sinken und sieht mich eine Weile einfach nur an. Er ist mindestens eineinhalb Köpfe größer als ich also muss ich den Kopf leicht heben, um den Blick seiner wunderschönen Augen zu erwidern. Gleich sieht er weg. Oder? Er muss. Niemand sieht mich für gewöhnlich länger als nötig an. Meine Mutter sagt, das liegt an der eisblauen Farbe meiner Augen, den hoch geschwungenen Augenbrauen und der geraden Nase. Sie meint, mein Gesicht ließe mich automatisch schlecht gelaunt aussehen. Oder eher überlegen, etwas eingebildet. Es schüchtert andere ein, sagt sie. Jess hingegen findet, diese kühle Arroganz ist, in ihren Worten, rattenscharf. Dabei bin ich in Wirklichkeit gar nicht eingebildet. Im Gegenteil. Leider bin ich oft sehr unsicher und unzufrieden mit mir selbst. Aber das nur an schlechten Tagen. An den überwiegenden, guten Tagen, fühle ich mich relativ wohl in meiner Haut.
„Das ist er, in der Tat ... Und, ja, sieht ganz danach aus, oder?“, er hebt wie zur Bestätigung seiner Worte das Buch etwas hoch.
Ich lächle noch strahlender und fahre mir mit den frisch manikürten Fingern durchs hellblonde Haar. Jess hat mal gesagt, das kommt gut. Sie hat da etwas mehr Erfahrung als ich, wie ich zugeben muss. Leider verheddern sich die Spitzen und meine Nägel bleiben in einem Nest aus Knoten hängen. Verdammt. Taube Nummer zwei hat soeben Hinterlassenschaften auf mein sowieso schon verletztes Ego abgeladen. Ich kann fast spüren, wie Jess uns aus der Ferne beobachtet und den Kopf schüttelt. Ich bin so eine hoffnungslose, unerfahrene, langweilige, ...
„Was wolltest du mich gestern eigentlich fragen?“, setzt er ein neues Gesprächsthema an. Anscheinend hat er gar nicht auf meinen gescheiterten Versuch verführerisch auszusehen, geachtet. Hastig entwirrte ich meine Hand aus dem Knoten.
„Ich dachte, das hast du bereits analysiert?“
Er zieht verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Habe ich das?“
Nun bin auch ich aus dem Konzept gebracht. Genau das hatte er doch geschrieben? Oder nicht? „Erinnerst du dich nicht an das, was du gestern Abend geschrieben hast?“
„Ich habe nichts geschrieben, wo denn auch?“
Völlig vor die Wand gefahren blinzele ich ein paarmal. „Über WhatsApp?“ Gespannt warte ich auf seine Reaktion. Doch es kommt keine. Er sieht mich nur ausdruckslos an, seine dunkelblauen Augen auf einmal leer. „Ich hab' nicht einmal WhatsApp, Alice. Tut mir leid, aber du musst mich mit jemandem verwechseln.“
Mir bleibt vor Schock die Luft weg und die Kinnlade fällt mir schwer herunter. Nicht nur, weil irgendjemand anscheinend versucht, mich zu verarschen. Sondern auch, weil die Vorstellung, Anthony könne vielleicht doch Interesse an mir haben, wie eine Seifenblase zerplatzt.
-Vielleicht ist Secret # 4 doch etwas nüchterner zu betrachten.-
„Vergiss es“, gebe ich patzig zurück und werfe mein inzwischen wieder entknotetes, langes Haar zurück.
„Was soll ich vergessen?“, er hebt eine volle Augenbraue.
„Das, was ich dir gestern sagen wollte. Vergiss es einfach. Es war unwichtig. Schönen Tag noch.“ Ich mache auf dem Absatz kehrt und setze meine arrogante Standartmaske auf. Nach zwei Schritten drehe ich mich noch einmal um und sage gelangweilt: „Spoiler-Alarm! - Alaska stirbt. Viel Spaß noch beim Lesen.“ Auch wenn ich absolut angepisst bin und so tue, als würde ich es nicht bemerken, sehe ich seinen amüsierten Gesichtsausdruck und spüre, wie er mir nachschaut, als ich auf kürzestem Wege zum Gebäude gehe. Der Spoiler sollte ihn aus der Fassung bringen, doch im Nachhinein komme ich mir lächerlich vor.
„Was war das denn bitte?“, sagt Jess mit zusammen gekniffenen Augen. „Was um alles in der Welt sollte das mit deinen Haaren?!“
Natürlich, die Haare. Das ist selbstverständlich ihr größtes Problem. „Du hast ja keine Ahnung, die scheiß Haare waren meine geringste Sorge. Aber du hast natürlich Recht, das war ... Brrr, wirklich gruselig, selbst für meine Verhältnisse, absolut unsexy“, doch Jess unterbricht mich mit einer Handbewegung: „Was war denn deine größte Sorge?“, die Neugierde springt mich förmlich aus ihren moosgrünen Augen an.
„Er war es nicht.“
„Er war was nicht?“
„Er hat nicht mit mir geschrieben. Gestern“, zische ich.
„Oh. Shit.“ Sie verzieht ihr hübsches Gesicht.
„Ja. Jemand verarscht mich hier und mich würde wirklich brennend interessieren, wer.“
Jess nickt hastig und kramt ihr Handy aus der Tasche. „Ich habe es irgendwie geahnt. Ich meine, komm. Anthony Liebrecht und WhatsApp? Hat der überhaupt ein Smartphone?“
Stimmt. Mir hätte es klar sein müssen. „Aber wer gibt sich bitteschön als Anthony aus und schreibt mir dann auch noch wenige Stunden nach dieser Situation?“
Jess zuckt die schmalen Schultern, kneift dann aber wieder ihre Augen zusammen. „Dieser mysteriöse Jemand muss einen unglaublichen Drang verspürt haben, dich zu trösten, beziehungsweise wollte, dass es dir besser geht.“
„Dass ich denke, Anthony hätte nichts weiter erzählt?“
„Das auch. Oder er/sie/es hatte ein schlechtes Gewissen, weil ...“
„Weil er/sie/es der- oder diejenige war, der das Gerücht verbreitet hat?“ Mir geht ein Licht auf.
„Vermutlich““ murmelt Jess und scrollt durch ihre Kontaktliste. „Mir fällt spontan niemand ein, dem ich das alles zutrauen würde.“
„Wem sagst du das.“
„Auf jeden Fall wissen wir jetzt, dass dieser jemand kein komplett skrupelloser Vollarsch ist.“
„Ich finde es schon ziemlich skrupellos, sich mit einem fremden Namen zu melden und mir irgendwelche falschen Hoffnungen zu machen“, maule ich und schaue sehnsüchtig in die Richtung, in der ich Anthony zurück gelassen hatte. Er ist verschwunden. Natürlich.
„Süße, es ist doch nicht alles verloren. Nur weil er dich nicht angeschrieben hat, heißt es ja nicht, dass du keine Chancen mehr bei ihm hast.“
Ich seufze. „Nach diesem Abgang vorhin? Garantiert verschissen.“ Die gnadenlose Pausenglocke gibt ihren schrillen Ton von sich, der einem schon von vornherein den Tag vermiest.
-Ich liege nachts wach und chatte mit skrupellosen Lügnern um
eine Verabredung zu vereinbaren, vor der ich vermutlich mehr
Panik haben werde, als vor der nächsten Matheklausur.-
Ich habe kaum damit gerechnet, dass mich an diesem Tag noch irgendetwas schocken kann. Aber als ich abends mit meinem Handy im Bett liege und eine weitere Nachricht von „Anthony“ empfange, fühle ich mich noch um ein vielfaches verarschter als sowieso schon.
Anthony (23:09) hübsch hast du heute ausgesehen
Dass ich nicht lache. Was soll das denn bitte heißen? Mir kommt der Gedanke, das Spiel einfach mal mitzuspielen.
Alice (23:12) vielen dank, anthony. das höre ich gerne von jemandem, mit dem ich liebend gerne ausgehen würde. leider hast du dich dazu nicht weiter geäußert. ich meine, ob du willst oder nicht
Schade dass es keinen Emoji für „Fick dich, du Loser“ gibt.
Anthony (23:12) ich will
Ach so? Und wie willst du das anstellen? Dir ein Bild von Anthony in deine verräterische Visage kleben?
Alice (23:14) wann und wo?
Challenge accepted.
Anthony (23:18) morgen um acht. ich hol dich ab
Der macht tatsächlich ernst! Ich fasse es nicht. Was hat er vor? Muss ich jetzt Angst haben?
Alice (23:19) sagen wir ... um acht im ,Flash'. meine mutter ist nicht da und ich habe keine lust von dir gekidnappt zu werden
Das ist nicht mal als Witz gemeint. Rasch schalte ich mein Handy auf lautlos und lege es auf den Nachttisch. Gute Nacht, du merkwürdiger Jemand. Ich hoffe, du hast dir genau überlegt, was du da tust.
Oder vor Allem: Mit wem du dich hier angelegt hast. Selbstzufrieden schließe ich die Augen.
-Aufgeblasene Arschlöcher mit Hundeblick können mir gestohlen bleiben.-
Nervös zupfe ich an der ausgefransten Shorts, die ich für den Abend angezogen habe und beiße auf meiner Lippe herum. Er kommt zu spät. Es ist zehn nach acht und ich sitze an der Bar vom Flash, trinke mir mit einem Caipirinha Mut an und starre immer wieder verstohlen zur Tür.
Es ist schon etwas länger her, dass ich im Flash, ein Restaurant mit amerikanischem Fast Food und Cocktailbar, war. Früher haben Jess und ich hier immer die Familienportion Nachos gegessen und die Menschen beobachtet, die nur herkommen, um sich zu betrinken. „Das wird uns nie passieren“, haben wir uns geschworen. Ein Jahr später war Jess das erste Mal so betrunken, dass ich sie praktisch nach Hause tragen musste. So viel zum Thema ... Traurig.
„Alice“, eine Stimme, unendlich tief, weich und schmeichelnd sagt meinen Namen, direkt hinter mir. Ein Mann, ich schätze ihn um die zwanzig, steht viel zu nah bei mir und mustert mich mit durchdringendem Blick. „Ja?“, sage ich und runzele die Stirn. Er ist groß, trägt ein dunkles Shirt und schwarze Jeans, sein Haar ist mindestens genauso dunkel und top gestylt. Ich weiß nicht wieso, aber mein Blick bleibt an seinen Lippen hängen. Schnell reiße ich mich los. Er ist attraktiv, aber er ist nicht Anthony.
„Ich bin Louis.“ Sein Lächeln ist strahlend, er hat weiße Zähne und seine Lippen formen einen perfekten Rahmen. Trotz seiner Attraktivität haut er mich nicht aus der Bahn. Im Gegenteil. Ernüchternd ziehe ich eine Augenbraue hoch und starre seine große Hand an, die er mir noch immer entgegen streckt. „Louis, also“, mein Ton klingt ätzender, als beabsichtigt. Er blinzelt ein paarmal, lässt die Hand sinken und sagt entschuldigend: „Nicht Anthony.“
„Ach, tatsächlich nicht?“ Ich gebe ein gepresstes Lachen von mir.
„Ich kann es dir erklären“, sagt er, streicht sich mit der Hand, die er gerade noch ausgestreckt hatte, durchs Haar und sieht mich aus ausdrucksstarken Augen und mit gerunzelter Stirn an. Den Hundeblick hat der Typ drauf. Was für ein Glück, dass mich so etwas bei Männern absolut nicht anmacht.
„Womit willst du anfangen? Vielleicht damit, dich als jemand anderes auszugeben und mir mit falscher Identität zu schreiben? Oder lieber ganz vom Anfang, dass du ein Stalker sein musst, der mich bis in die Schule verfolgt und anscheinend ganz genau weißt mit wem ich wann spreche?“, gifte ich erregt. Mein Puls ist auf hundertachtzig.
Ein amüsiertes Lächeln huscht über seine Lippen, doch er verkneift es sich schnell wieder. Vermutlich weil er ahnt, dass ich drohe an die Decke zu gehen. Eine hübsche Frau mit knallroten Haaren beobachtet uns mit schmachtender Miene. Keine Ahnung, ob sie es auf Louis abgesehen hat oder einfach nur daran interessiert ist, einer schönen Auseinandersetzung zu folgen. Vermutlich eher Ersteres.
„Ich weiß nicht, ob du mich noch kennst, Alice. Ich war bis vor drei Jahren noch auf deiner Schule. Dann habe ich dich letztes Jahr auf dem Geburtstag von Lena wiedergesehen. Ich wollte dich die ganze Zeit ansprechen, nur irgendwie hat sich kein Zeitpunkt ergeben.“ Er räuspert sich. „Jedenfalls nicht, nachdem du mich vor versammelter Mannschaft zusammen geschissen hast.“
Den letzten Teil des Satzes ignoriere ich gekonnt, denn langsam dämmert es mir. „Wie ist dein voller Name?“
„Louis Freibach.“
Verdammte Scheiße. Ohne es verhindern zu können, starre ich ihn mit offenem Mund an.
„Ich weiß, das muss merkwürdig für dich sein.“ Er lächelt noch einmal schmachtend.
„Merkwürdig? Untertriebener geht's ja wohl nicht. Und von wegen, du wolltest mich ansprechen! Du hast an dem Abend mit zig Weibern aus allen möglichen Jahrgängen rumgemacht, obwohl du genau wusstest, dass Jessika auf dich stand und das hast du schamlos ausgenutzt! Hast sie erst heiß und dann extra eifersüchtig gemacht, um deinen Ego zu stärken!“ Mir ist kotzübel. Dieser widerliche Schleimbeutel. Ich schäume vor Wut, bin inzwischen aufgestanden und drücke meinen Zeigefinger auf seine Brust.
„Alice, das war mal. So bin ich schon lange nicht mehr. Außerdem wusste ich nichts davon, dass deine kleine Freundin Gefallen an mir gefunden hat.“ Er zieht seine Augenbrauen zusammen und schaut herunter, auf meinen Finger auf seinem Brustkorb. Schnell ziehe ich meine Hand zurück und schmeiße mein geglättetes Haar über die Schulter. „Tu doch nicht so, im Ernst.“
„Gut, vielleicht habe ich es gewusst. Aber...“
Ich schneide ihm mit einer Geste das Wort ab. Der Geburtstag von Lena liegt ungefähr ein Jahr zurück. Jess stand schon immer auf Louis Freibach. Sein bester Freund Chris wollte wiederum was von Jess, was Louis wusste und aus reiner Gemeinheit hatte er Jess schöne Augen gemacht, um seinem sogenannten Freund zu beweisen, dass er das Mädchen haben könnte, wenn er denn wollte.
Louis ist der typische Frauenheld, das Arschloch, der beliebte Star aus der Footballmannschaft eines amerikanischen Liebesdramas. Merkwürdig, dass ich ihn eben nicht sofort wiedererkannt habe. Irgendetwas an ihm sieht anders aus als sonst, ich komme aber nicht drauf, was es ist.
„Ich wollte mir damals etwas beweisen. Ich wollte jemand sein, der ich nicht bin.“
Ich schnaube verächtlich. „Deine ganze Schulzeit über warst du ein Idiot, Louis!“
Er sieht zu Boden, fast ein bisschen betreten und atmet zitternd aus. „Ich weiß.“
„Jetzt ist mir aber klar, wieso du so genau über mich Bescheid weißt. Hast deine kleinen verknallten Unterstufenschülerinnen, die für dich spitzeln, nicht wahr?“ Ich bin immer noch so sauer, dass ich mich zurückhalten muss, nicht zu schreien. Der Alkohol gibt mir noch dazu Mut.
„Ich kenne immer noch viele aus der Schule, die sind aber alle in deinem Jahrgang und machen das aus reiner Freundschaft zu mir und nicht, weil ich ihnen irgendwelche Hoffnungen mache!“
„Ach so? Und wieso muss ich mir dann seit einer Woche wie eine Kriminelle vorkommen, nur weil ich mit Anthony gesprochen habe? Nette Freunde hast du.“
Ich meine, etwas wie Schuldbewusstsein in seinem Blick zu lesen. Dann Bedauern. „Er ist nicht der Richtige für dich.“ Seine Kiefermuskeln spannen sich an.
Mir platzt fast der Kragen. „Und deshalb sagst du denen, sie sollen anfangen, beschissene Gerüchte in die Welt zu setzen? Hast du auch sowas, wie ein eigenes Leben? Oder ein Gewissen“ Ich drehe mich zur Barkeeperin um und zische: „Die Rechnung geht auf ihn!“, drehe mich um, schubse ihn zur Seite und verlasse fast rennend das Lokal. Was für ein aufgeblasenes Vollarschloch.
-Sommernächte sind wie Balsam für meine Seele.-
Es ist das erste Juniwochenende und die Luft ist drückend und heiß, obwohl es bereits nach einundzwanzig Uhr ist. Ich habe das Flash weit hinter mir gelassen und bin auf dem Weg zu Jess. Heute ist Freitag, aber Jess verbringt den Abend zuhause, veranstaltet eine kleine Home. Das weiß ich, weil ihre Eltern mit meiner Mutter von heute bis Montag in einem Wellness-Hotel im Süden von Brandenburg Kurzurlaub machen.