57 - Mariam Kühsel-Hussaini - E-Book

Beschreibung

57 erzählt vom Deutschland der Nachkriegszeit: von der Stunde Null, die man nicht atmen ließ, von Ruinen, die sich in Glas verwandeln, von amerikanischen Komplexen. Was absurd erscheint, beginnt sich mit der Niederlage abzuzeichnen: Kern und Wesen der Menschen sollen nach und nach überformt, ihre Geschichte eingefroren, ihre Sehnsucht gekauft werden. Es ist der große Neustart in eine Welt der Tarnung im Mantel der Demokratie, abgesprochener Lügen und künstlicher Politik. Die Verbrechen, die in den deutschen Konzentrationslagern begangen wurden, sollen nicht zur Läuterung der Deutschen, sondern zu ihrer Einschüchterung führen. Verbrechen, die schon der Vorläufer dieses Buches, EMIL, eindringlich und beunruhigend in den frühen Lagern von SA und SS entfaltete. Verbrechen, die auch 57 benennt, verurteilt und in ihrer Hässlichkeit zur Sprache bringt. Jedoch: Im unermesslichen Strudel der Geschichte dieser Welt beginnt sich das Wort Schuld aus seiner rein deutschen Physiognomie zu befreien und sich an allen erdenklichen Plänen, Herkommen und Nuancen zu entzünden – eine Enzyklopädie der Schuld erstreckt sich, unabhängig von Geografie und Geschehen, eine Schuld, die tief im Menschen selbst sitzt und nur im Fokus ständiger, schuld-intrigierender Spiegelungen ihre Wahrhaftigkeit behält. Mit dem ersten Gestapo-Chef Rudolf Diels, der ein Jahr nach Amtsantritt, 1934, die Polizeizentrale für Himmler und Heydrich räumen musste und dessen Verfolgung durch die SS ebenda begann, offenbart sich ein bislang unter Verschluss gehaltenes Leben für die Menschlichkeit, für die Liebe und für den Rechtsstaat.

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EUROPA VERLAG

Mariam Kühsel-Hussaini

57

Roman

EUROPA VERLAG

Originalausgabe

1949 : Exposition

1954 : Horizont

1957: Aglais io

Auf welcher Plattform ich stehe, aus welcher Wertewelt ich meine Maßstäbe für Kritik und Lehren nehme: Aus jener übernationalen, an keine Grenzen gebundenen geistigen Welt, die noch immer die besten deutschen Geister angezogen hat und anziehen wird, wenn auch das geographische Preußen verschwunden ist und von allen Freigelassenen über seine Zerstörung hinaus verdammt wird.

Rudolf Diels

Gerade 1957 kam die aggressive Komponente in Adenauers Wesen auf beinahe exemplarische Weise zum Vorschein.

Daniel Koerfer

Das größte Problem in der Geschichte der Menschheit ist, dass die Leute, die die Wahrheit kennen, den Mund nicht aufmachen und diejenigen, die von nichts eine Ahnung haben, bekommt man einfach nicht zum Schweigen.

Dieter Hallervorden

Es gibt einen amerikanischen Ausdruck, in dem Entdeckung, Vergeltung, Folterung, Tod, Ewigkeit auf eine einzigartig abstoßende Formel gebracht sind: this is it.

Vladimir Nabokov

1949 : Exposition

1

Deutschland.

Es ist aus. Zum Vorschein kommt Stille. Eine Stille, die sich durch die untoten Schädellöcher stehen gebliebener Fassaden zieht, die farblos herumstehen, als könne ein letzter Hauch vertrockneter Lippen sie fortwehen.

Ein Mann in seinem Regenmantel betritt das Dürer-Haus in Nürnberg. Er hat eine leichte Reisetasche bei sich. Im unteren Bereich des Gebäudes sind noch Rechtecke offen, Teile des Baus werden von Stangen wie ein zertrümmertes Bein aufrechterhalten. Hart ist es innen, ein gestorbenes Kinderlachen kichert aus dem Dreck der Steine.

„Fast wieder aufgebaut“, taucht eine zitternde Stimme auf, ein abgemagerter alter Herr, der sehr jung ist.

„Ich sehe es“, stimmt der große, schlanke Schwarzhaarige im Mantel mit ein.

„Draußen wartet ein Ami. Wartet der auf Sie?“ „Ja“, sagt der Dunkle. „Kurz nach dem Krieg schien es mir, als könnte dieses Haus nie mehr … es jetzt so zu sehen verblüfft mich.“ – Er geht prüfend herum, als wäre er allein. „Was ist das für ein Buch, das Sie da in Händen halten?“, fragt er dann.

„Das hier?“, und der Nürnberger betrachtet es. „Ach, dies Büchlein hat meiner Frau gehört, es hat, wie ein Wunder, alles überstanden, nicht einen Kratzer abbekommen. Es ist eine kleine, alte Ausgabe von Dürers Briefen, Tagebuchgedanken und so was. Gut lesbar, weil aus seinem unmöglichen Fränkisch übertragen. Das haben wir hier immer verkauft, also meine Frau, ihretwegen zog ich ja erst nach Nürnberg. Das Letzte, was ich von ihr sah, war ihr brennendes Gesicht, ihre brennenden Hände. Sie lebte noch – ihr Körper lebte –, aber ihr Gesicht und ihre Hände wurden vor meinen Augen so … so wie von innen durchschwelt und so stand sie vor mir. Über uns, der pfeifende Himmel, übersät, mit den schmutzigen Streifen der Engländer, die flogen so seltsam … so wie Fische, die unaufhörlich ihren Laich werfen, Kilometer für Kilometer für Kilometer, immer und immer wieder fielen ihre Bombenschwärme nieder. Sie hatte schon Wochen nicht mehr geschlafen. Unser Haus am Ende der Straße schwankte wie ein Schiff, eins gegenüber sprang gleich entzwei, alles brannte, die ganze Stadt brannte, die ist ja fast nur aus Holz, verstehen Sie? Hab schon längst Großschadensfall angemeldet, nur die Toten, die kann man schlecht … – Auch einen Freund fand ich unter den Trümmern, er war mit anderen verschmolzen, klebrige Ascheteile waren das, die manchmal zerbröselten, wenn man sie berührte. Was ich fand von ihm, löste ich und legte es in einen Eimer, ich erkannte ihn an seinem Ring, eine sehr wertvolle Goldschmiedearbeit, der grüne Stein war weg. Ich rieche das immerzu noch, Leiche, Leiche, Leiche. Herrgott, was gäb’ ich jetzt für ein Parfum!“, lacht er bleich.

„Dann habe ich einen Vorschlag“, sagt der Schwarzhaarige im Mantel und öffnet sein Gepäck. Er holt zwischen seinen Hemden ein halb verbrauchtes, smaragdgrünes Fläschchen hervor und reicht es dem Anderen. „Wir tauschen. Mein Parfum gegen Ihr Buch.“

„Wie Karnickelschießen.“

US-Tiefflieger P-51 Mustang gegen ostfränkisches Dorf.

♦ ♦ ♦

2

Wohin?

Von Nürnberg nach Hannover ist es nicht weit, kein Katzensprung, aber auch keine Weltreise. Es sei denn, auf dieser Fahrt liegt die Welt selbst verborgen. Es sei denn, man fährt zwischen ihre Haut ein. Dann pellt sich die milde Regenluft Abendsekunde für Abendsekunde, und unter den Dunkelheiten beginnen alle Erinnerungen zu leuchten, mit einem Mal.

Auf dem Wagen stand U. S. A. Er ließ sich von dem Amerikaner fahren und war dankbar für die Sprachlosigkeit. Nichts war so wohltuend wie dieses Schweigen nach all den Stimmen im Justizpalast in Nürnberg, die sich in ihm wie betäubende Gewitter nachritzten.

Er lehnte seinen Kopf gegen die Scheibe, eine Strähne des schwarzen Haares streifte das Glas wie ein verlorenes Seidenband. Selten verließ eine Strähne den sorgfältig nach hinten gekämmten Haarhelm, doch einmal hatte sie es gewagt, sich von seiner Stirn zu lösen und verspielt zu pendeln, das war, als er vor einigen Jahren vom geglückten Attentat auf Heydrich gehört hatte.

Was für ein unbegreifliches Fest war das gewesen, Geschenk aller zärtlichsten, aller schrecklichsten Sterne! Reinhard Heydrich, der oberste Schlächter in der Gestapozentrale, die Folterbestie, der Herrscher über Prag, wo er Böhmen-Mähren sein Eigen nannte, der Lederkampfhund, die Violine Himmlers, die Signatur der Vernichtung, der oberste Sachbearbeiter des Mordens – im offenen, gigantischen Mercedes auf dem Weg von seinem Landgut zur Burg angegriffen, unflickbar außer Gefecht gesetzt: eine Atem raubende, berauschende, prachtvolle Momentaufnahme dieser Welt. Ja, der Schwarzhaarige lutschte diese Erinnerung wie den köstlichsten Granatapfelsamen auf der Zunge weich. Er hatte von der Ermordung Heydrichs gehört, als er selbst in Agram war. Die Nachricht schlug bei ihm ein wie Goldstaubhagel, als hätte ein Komet seinen Schweif einem Gürtel gleich um ihn herum aufgewirbelt. Aus dem Kofferraum des Wagens – mit der SS konnte man in Schnaps verhandeln – nahm er sich eine Flasche, setzte an und ließ dem Prickeln in der Kehle seinen vollen Lauf. Dann umarmte er die herumstehenden Kroaten, jeden einzeln, und reichte jedem einen großen Schluck. Er schrie und jubelte und lachte so ergeben und so begeistert, und die Sonne, die traf mit ihrer ganzen heilenden Schärfe bis in seine heiseren Narben hinein, die schwitzend glitzerten.

Auch jetzt noch, wie eine Murmel zwischen den zerschnittenen Landschaften Deutschlands kullernd, empfand er so viel grenzenlose Dankbarkeit dafür, jetzt und hier, mit dem unbekannten Buch auf dem Schoß. Überallhin hatte ihn das Schicksal seit dem Verlassen und Zurücklassen der Gestapo geführt, und schließlich war das Schicksal nichts anderes als eine Karte, die den Verstand verloren hatte.

Vor Kriegsende hatte er in seiner Berliner Wohnung diejenigen zusammengerufen, mit denen er schon ’33 vertrauensvoll war: Staatsanwalt Joël. Der war aus hartem, aus feinem Holz. Aber auch solche, von denen er sich versprach und erhoffte, die Lehren des Augenblicks doch noch gewonnen zu haben, wie den ehemaligen SA-Obergruppenführer Helldorf. Vier der Anwesenden wurden jedenfalls später als Mitverschwörer des 20. Juli hingerichtet, darunter Oberregierungsrat Hans von Dohnanyi.

Der Schwarzhaarige selbst hatte bei unzähligen Begegnungen im engen und entfernten Bekanntenkreis eine Spur der ungeschütztesten Aufforderung zum Einschreiten in das staatliche Unwesen hinterlassen, es war heikel geworden, sich mit ihm abzugeben, wenn er in züngelnden Konturen seinem Hass gegenüber dem Machttumor der SS jeden Ausdruck verlieh. Das hatte er in Hannover vor benachbarten Bauern getan, wo er einen Hof besaß, und das hatte er in Berlin getan, wo er eine Wohnung hatte. Und so kehrte er schließlich, nach mehreren absichtlich unvorsichtigen Ausbrüchen vor versammelter Gesellschaft, festgenommen in Berlin, in die Prinz-Albrecht-Straße zurück, dahin, wo er einst der erste Chef der Geheimpolizei Hitlers geworden war – nun selbst eingesperrt –, Himmler hatte sich Zeit lassen wollen mit einem Urteil für den schon so lang verachteten Defätisten. Göring aber forderte die Freilassung unter der Bedingung, der Befleckte möge sich dafür wieder von Görings Cousine scheiden lassen; dagegen hatte der große Dunkle nicht das Geringste einzuwenden, im Gegenteil, von der Ilse wollte er ohnehin weg.

Im Keller der Gestapo war noch einer der „Alten“, der früheren Polizeibeamten, in seine Zelle gekommen, hatte ihm Mut zugesprochen und gefragt, warum er denn damals nicht geblieben sei. Wären sie doch geblieben! Die einziehenden Russen erhängten den klagenden Herrn als einen der Ersten, während der ehemalige erste Chef der Geheimpolizei in eine Strafkompanie kam, hinaus, in die immerfort zerspringende Stadt Berlin, die von der Royal Air Forces und den United States Army Air Force attackiert wurde.

Das alte Gestein der Gebäude sammelte die Hitze und durchglühte alles, überall bildeten sich Gase, jedes Spielzeug, jeder Puppenkopf lösten Gift aus. Die Häuser selbst wurden zu sich ausbreitenden Gefängnissen der Erstickung. Gefäße in Gehirn und Lunge rissen auf und verbluteten, den Menschen quoll Schaum aus Nase und Mund. Und es war heiß und es war kalt, heiß war es und kalt zugleich.

Wieder auf freiem Fuß, hatte er auf dem Weg ins Adlon, durch die Sichtgläser seiner Luftschutzmaske – langsam ins lange Ventil hineinatmend, wie in die zeitgestreckte, marsartige Sphäre zwischen Film noir und Verderben – einen Elefanten erblickt, der aus dem zerklüfteten Berliner Zoo geflohen war. Die Häuser ringsum waren von oben aufgebrochen, Fliegerangriffe rammten sich wie Haie durch die Stadt, und überall verteilt bildeten sich einzelne Brände und ketteten sich aneinander.

Ein Zeitzünder erfasst das Tier, der Elefant zeichnete sich aus seinen flammend strömenden Schemen hervor, brennend am ganzen Leib, über die Straße stürmend, wie wahnsinnig. Die feinfühligen Falten seiner Haut zwickten im Phosphorregen dampfend auf, er strahlte weißrot wie durchsichtiges Blut, mit dem Rüssel in weiten Sirenenschreien um sich greifend. Seine riesigen Stoßzähne leuchteten zwei gondelscharf geschnittenen Lampen gleich in eine heulend einstürzende Berliner Nacht hinein.

Im Luftschutzkeller des Hotels traf er auf manche Künstler und Politiker, die sich dort eingefunden hatten, Riefenstahl war auch da. Er erzählte allen von seiner Verhaftung, und oben, oben stand die Geschichte in Flammen.

– Der Amerikaner vorne am Steuer hatte das Ziel fast erreicht. Rudolf Diels schlug wenige Meter vor seinem Hof das Buch auf. In mancher Kriegsnacht war es so hell gewesen, dass man hätte die Zeitung lesen können – jetzt sah er nur die leicht schummrige Seite vor sich, … ich bitte Euer Ehrwürden, wenn sich mein gnädigster Herr der Schuld mit den Hirschgeweihen entsinnen will, damit ich ein paar schöne Hörner bekomme, denn ich will zwei Leuchter daraus machen. Euer williger Albrecht Dürer zu Nürnberg.

Wirf noch einen Packen Flugblätter in die Bomben!

Wenn alles, Mensch und Splitter

Mörder und Ritter

Durch die Luft stürzen

Wirf sie eben dann wie weiße Tauben raus!

Mitten in den Lärm

Mitten ins Gedärm!

3

Zerstörung.

Es war, als hätte die Geschichte sich selbst verseucht und als wären alle kommenden Zeitalter verdammt. Als hätte man jemanden wirklich geliebt und wäre verlassen worden. Nur, dass dieser Jemand Deutschland war. Man wollte die Liebe zurück, die überhebliche Verliebtheit, die Erregung, die Versprechen. Man wollte in jeden anderen rein, so hungrig nach Nähe, so vertraut mit der Angst. 1949, diese Zahl war gar nicht da, die Leere war da und die überschlug sich mit Stummheit und Vorwurf zu einem großen Zittern. Städte, deren aberwitzig geschraubter Wuchs aus mittelalterlicher Zeit – Türme wie eingebildete Taillen, Giebel wie unbeherrschte Kronen, Maurermeisterschaften einer zu Stein verwandelten, einschüchternden Leichtigkeit – jetzt in Aufschüttungen aus zerstoßenem Leben seitlich von den Straßen weggeräumt war, im steinernen Atempulver und im letzten massiven Geröll einer in ihrer tiefen Alchemie, in ihrer Bewunderung für den Menschen, in ihrer Unwiderstehlichkeit unwiederholbaren Architektur.

Und doch, an einem jeden neuen Tag – nur sehr wenig, nur eine Nadelspitze mehr – schien sich diese Verzweiflung auflösen zu wollen, wie ein sanfter Faden, der irgendwo aufwacht, zwischen der zusammengekehrten Geschichte loszufliegen beginnt und viele Gesichter hat.

Die Frau, in deren Haar noch immer ein Foxtrott tollt. Vielleicht ist sie ergraut, vielleicht ist sie verrückt, vielleicht ein klein wenig entsetzt um die Augenhöhlen herum und aus Vitaminmangel eigentlich nicht mehr wiederzuerkennen, doch wenn sie Butter gegen Puder oder Lippenstift oder ein Paar weiße Socken zu tauschen weiß, dann hängt sie an diesen Dingen wie an den Schätzen einer Pharaonin. Die Kinder, die noch da sind, sind Greise jetzt, aber sie sind einem geblieben. Da sind auch noch Männer, ihre Zahl ist geschrumpft, doch ein heiler Mantel oder ein Seidenschal ist eine begehrenswerte Sache, ein Hut dazu lässt sie auf den Punkt auftreten, man trägt alles Schöne, was man retten konnte, auf einmal spazieren, zwischen Trockenblut-Altstadt-Resten gehen sie aufrecht und knochig über eine ihrer Straßen, die einst bis ans Ende der Welt geführt hatten, in deren Wortlosigkeit sie sich jetzt verlaufen.

Die entfernten Landstriche, die weiten Ellipsen einer namenlosen Geografie, in die Väter heimkehren, von Weitem, einem unsicheren Strich ähnlich, lange uneindeutig im Gang, näher kommend und erkennbarer dann mit jeder Minute, die ins Herz einsticht, grausam und groß.

Das Herz konnte nicht aufhören. Es wäre doch aber die erwartete Folge gewesen, die Folge dieses bedrohlich gemeinsam begangenen Selbstmordes. Die Reaktion auf die Hölle, auf das verursachte Meer an Tränen und Grauen, auf den süßlichen Rauch, der noch in den deutschen Sommerkleidern steckte, die nicht weit von Krematorien quirlig an langen Wäscheleinen den Wind zum Tanz aufgefordert hatten.

Sie, die Menschen in diesem Land, konnten doch nicht allein schuld sein. Auch eben jener Wind war schuld und musste schuld gewesen sein und jeder Sonnenstrahl, der in den offen stehenden, leichenstarren Mund eines vergasten jüdischen Kindes hineingestrahlt hatte. Das Perlmuttzwitschern der kleinen, bunt hin und her hopsenden Vögel am Morgen, in dem überhaupt das ganze Böse und die scheußliche Verlogenheit des Lebens mitsingen, war schuldig geworden. Schuld war ebenso die Armbanduhr am Handgelenk, der samtene Kinositz, die sehnsüchtig langgewellten Halme auf der Frühherbstwiese, die Tafel in der Schule, die Straße, der Strand, die Grenze zur Welt.

Manchmal, in den Stunden gaffender Erinnerung, tauchten alle Farben des Krieges wieder vor einem auf. Die Bluthimmel des Bombenkrieges der Amerikaner und Engländer, nicht irgendwo über einem abgelegenen Schlachtfeld, sondern mitten in den deutschen Städten, über die sich das Vesuvrot der brüllenden Nächte wölbte, die zuletzt auch ganz Tag geworden waren. Rot ohne Zeit, wie in einer unbekannten Kammer der Erfindungen erzeugt und in die Wirklichkeit gezwungen.

Das gewittrig glimmende Dunkelrot zerstochener Wolken, Rot wie über einem abschreckenden biblischen Gleichnis, ein thermalsprudelndes Altdorfer-Rotblau, das echt war, tödlich und magisch. Wenn es auf Aufbauten oder auf menschliche Haut traf, dann begann es zu zaubern, ganz im Fieber losgelassen, begann es grauenvolle Vorstellungen zu geben, und alle gebärdeten sich merkwürdig oder verkrampften mit verhärtenden Händen. Das selbstglühend chemische Blaugrün hochweit oben, voller Himmelszeichen, die einfach auf die Menschen niederfielen wie Schwefelgoldäste, bis alles und alle in einem satanischen Marmor zerflossen. Die wie mit Diamant besetzten, wie Quallen emporspritzenden Phosphorbomben, mit ihren sich selbst immer und immerfort entflammenden, neblig ineinanderspringenden Bernsteinfunken. Hexen konnte Phosphor! Er konnte in Strömen niederfluten, er konnte einen überspülen, und dann genügte ein Kuss der bloßen Luft und der Arm fing von selbst alle Feuer in sich ein und brannte. Und man staunte über das gläserne, regenbogenschimmernd gelockte Dekor aus Gedärm, das irgendwem gehörte, der selbst nicht mehr da war. Wie ein riesiger futuristischer Blauer Neon zog sich der Streifen zwischen Leben und Tod als leuchtender Schatten über einen dahin, zeppelinartig, halb Raumschiff, halb Zeitlupe, und dreckig verätzender Silberregen versprühte krächzendes Geschrei. Hindenburglichter wie Feuertränen über die schwankenden Böden der Luftschutzkeller verteilt und übermeilenweit die sich die ganze Zeit reinnagelnden Bomben, das hämmernde Dribbeln eines todesgöttlichen Doppelsteppstichs.

– Diels erwachte. Es musste zwischen drei und vier Uhr in der Früh gewesen sein. Sein Hof Twenge schlief. Er fühlte durchs offene Fenster die dunkelgrüne Luft, ersehnte schon die kommenden Champignons in ihren Anzuchtkisten, den Kohl, den er liebte, und Obst, er würde endlich Obst anbauen, eine alte Sorte würde er züchten. Ein Plattenspieler musste auch wieder her, überhaupt Musik, Sekt und … und Frauen … in Seide und hochhackigen Schuhen über die Wiesen kreischend.

Der Vorhang wehte. Jetzt wurde der Regen heftiger, schwerer, weiter. Er genoss das, dieses Ausströmen. Regen ohne Stürme, ohne Blitze. Nur Regen. Es roch vertraut, darin lag alles.

Sein Körper brannte wie von innen, wie immer um diese Zeit. Sein Herz schlug so stark, dass er glaubte, jemand nähere sich ihm schmetternden Schrittes, dabei war es sein eigener Puls, der in der Matratze, an den Wänden und dunklen Streben, durch das Holz zu ihm kam. Er zog sich den Dürer aufs Kissen, knipste die Nachtleuchte an, die mit ihrem weiten, cremefarbenen Lackschirm ihre Lichtzunge über die Buchseite warf,

… von Kreuzen, die vom Himmel fielen – das größte Wunderding, das ich all’ mein Tage gesehen habe, ist im Jahre 1503 geschehen, wo auf viele Leute Kreuze gefallen sind, insbesondere mehr auf die Kinder, als auf andere Leute. Auch habe ich einen Kometen am Himmel gesehen.

Ein Mann kommt auf mich zu

Einen Koffer in jeder Hand

Aufrecht, leer

Wer

Bist du?

4

Kraft.

Hannover hatte Kraft, eine stabile und intelligente Kraft, fast schon einen wunderbaren Trotz. Genau das lag auch in dem sehr jungen Rudolf Augstein. Er öffnete die Tür in kurzen Hosen, Diels trat ein.

Augstein führte ihn über einen kleinen Flur. „Das Hochhaus kann durchaus beengend sein, Herr Diels. Dies hier sind private Räume meiner Familie, mein Bruder und ich nutzen sie des Öfteren mal, sie kennen ihn ja“, sagte er. „Kenne, und schätze ihn“, sagte Diels, im einfachen weißen Hemd und dunkelblauer Leinenhose. „Bester Jurist. Vielversprechend.“

„Der Vielversprechende aus unserer Familie, der bin nun allerdings ich!“, entgegnete Augstein und setzte sich ihm schmunzelnd in den elegant abgenutzten Klubsessel gegenüber. „Sollte ich selbst einmal Rechtsbeistand benötigen, würde ich dann gerne Carl Schmitt bemühen.“

„Seine Einzelhaft in Nürnberg, eine Schande“, entgegnete Diels. „Er stand sie wohl nur durch, indem er sich vorstellte, das Ganze als Fall von seinen besten Studenten lösen zu lassen.“

„Die Aufgabe“, meinte Augstein, „mochte wohl ungefähr so geheißen haben: Was hat der eingedrungene Fremdkörper nunmehr mit unserem Lande vor? Arbeiten Sie drei mögliche Szenarien durch. Den Amerikanern muss er ja wie dunkle Magie vorkommen.“

Augstein war 1949 schöner als jemals Schostakowitsch! Sein feines, hell durchspültes Haar war nass von dem prinzenhaften Gesicht weggekämmt. Seine warmen Augen ruhten oder rotierten geheimnisvoll in seinem geschärften Blickrahmen, sie schwangen weg oder durchbrachen einen. Es war Hannover, aber es hatte was von Amalfi, wenn er mit seiner Sommerhaut und übergeschlagenen Beinen in seinen Pastellfarben vor einem saß. Seine entschlossenen Hände lagen bewegungslos lässig auf den Lehnen des Sessels oder auf seinem Bein, als würde ein tausendarmiger, unsichtbar über ihm schwebender Apparat gleichzeitig sein Hirn für ihn durchsuchen, auf dass er sich selbst nicht zu sehr traue. Er besaß eine wilde, zarte Aura.

„Jede Form von geistiger Auseinandersetzung ist für Amerikaner dunkle Magie“, sagte Diels. „In ihrer hysterischen Umerziehung ist Schmitt das Letzte, was sie gebrauchen können. Sie isolierten ihn, weil sie fürchteten, er könne Scharen von Deutschen anziehen. Dabei war es kurz nach dem Krieg doch ein amerikanischer Besatzungsgeneral, der rund dreihunderttausend Menschen als politische Gefangene in seinen süddeutschen Lagern festhielt. Absurd, nicht?“

„Absurd und teuer für uns“, sagte Augstein. „Aber stellen sie sich vor, Herr Diels, meine Mitarbeiterin, sie sehen sie dort am Tisch neben meiner Gattin Lore arbeiten, konnte ein paar Kalorien beschaffen. Da wären gefüllte Pfannkuchen, allerhand Kaffee-Ersatz und Zigaretten, bedienen Sie sich. Später könnte es sogar noch etwas Feierliches zu trinken geben. Literweise hätte ich noch Deinhard-Cabinet im Angebot, der uns wöchentlich ereilt, aber wie gesagt, warten wir lieber auf das feine Zeug! Sie sind nicht böse, wenn wir hier nicht zu zweit sitzen, sondern uns die bescheidene Schar des Spiegels umgibt, nicht wahr, lieber Herr Diels?“

„Kein bisschen. Und auch ich bin nicht mit leeren Händen gekommen“, Diels reichte ihm ein winziges Päckchen.

„Also Herr Diels, wenn Sie glauben, ich bräuchte mal wieder ein Geschenk, um mich so richtig gut zu fühlen, dann haben Sie durchaus zutreffend geraten!“ –

Augstein entfaltete es lächelnd und fand darin einen Johann-Faber-Anspitzer aus Messing mit frisch eingesetztem Messer.

„Für die Wahrheit“, sagte Diels.

Augstein zog einen Bleistift aus der Brusttasche seines kurzärmligen Hemdes, die Spitze leicht abgeflacht. „Den brauche ich, wie sie unschwer erkennen können, ja nun dringend, und die Wahrheit, wie sie sagen, die muss noch dringlicher erforscht werden, auch und gerade mit Ihnen, mit Ihrem Auge, das ja diesen unerhörten Einblick besitzt. Sie haben das Innere des Dritten Reichs mit entstehen sehen, Sie haben die Nürnberger Prozesse erlebt, beides hautnah – natürlich will ich diesen Blick festhalten, denn die Wirklichkeit um mich herum, löst sich gerade gewissermaßen in eine, nun ich will nicht sagen einzige, so aber doch sehr amerikanische … –“

„In eine amerikanische Scheinwirklichkeit auf“, beendete Diels den Satz.

„Ich würde sogar sagen, in eine Scheinsouveränität“, bemerkte Augstein, seine Stimme klang klar und fest in ihrem angenehm matten Staccato. „Und ich komme nicht umhin, diesen Schein also als trügerisch zu charakterisieren.“

„Ich habe das alles gesehen, ja. Das Dritte Reich und seine Liquidierung, befand mich in Gestapohaft von Himmlers Polizei und kenne die verhangenen Zimmer der Nürnberger Prozesse. Das klingt jetzt vielleicht etwas salopp, aber ich geriet von dem einen ins andere, und wenn Sie mich heute fragen, wie, dann weiß ich es nicht.

Durch meine Vorbildung natürlich, durch meine Kenntnisse, und doch wurde mir eben das immer wieder zum Verhängnis“, Diels hauchte den Rauch seiner Zigarette weit ins Zimmer, an einem größeren Tisch saßen drei Frauen und ein Mann über verschiedenen Inseln von Texten und Bildern, sahen kaum auf, vom Fenster her spielte Nachmittagslicht herein.

„Sie haben unseren ja nunmehr verflogenen Staat richtiggehend in Händen gehalten, den preußischen Geiste der Verwaltung immer verteidigt“, fing Augstein wieder an.

„Da die Alexander und Napoleone unserer Zeit gottlose Massenmenschen sind, ist das Studium der deutschen Verwaltungsorganisation auch tatsächlich das erste, was ich jedem empfehle, der zu mir kommt. Guter Wille allein reicht nicht, Betulichkeit ist sehr gefährlich.“ Diels winkelte seinen Arm an der Lehne des Sessels an. So saß er am liebsten.

Augstein betrachtete die feinen Strukturen im Diels-Gesicht, die Schnitte auf der Haut, dunkle Flüster-Flüsse in einer sanften Landschaft. „Der Spiegel ist ein Exponent gegen diese Betulichkeit, überhaupt deshalb bin ich hier. Wenn, dann kann Ihre Arbeit die Wahrheit ergründen“, sagte Diels. „Es sind zu viele auf den Plan getreten, die das verderben wollen.“

„Nicht selten mit Widerstandslorbeer geschmückt“, warf Augstein ein.

„Vergoldet gleich jedes einzelne Blatt“, sagte Diels, „es genügt, ein Denunziant zu sein, die Amerikaner lieben so was.“

„Unsere preußische Verwaltungsorganisation“, fragte Augstein, „ist das der Komplex der Amerikaner?“

„Wilson begann doch kaum eine Schrift ohne Verherrlichung Preußens. Das ist es, was Roosevelt eigentlich ‚ausrotten‘ wollte, das Deutsche schlechthin und möglichst endgültig. Die deutsche Kultur, wenn Sie so wollen, die für ihn ja ihrem Wesen nach schon militaristisch ist. Ich darf doch ganz ungeschützt zu Ihnen sprechen, Herr Augstein? Der Nürnberger Gerichtssaal wurde wie das größte Bühnenbild hergerichtet, von jeder Art Naziverbrecher gab es ein besonderes Exemplar, das, stellvertretend für jeden einzelnen Deutschen, dasaß, und Kameras in Form von Riesenschlangen flogen über die Köpfe hinweg, wie in einem der Studios von Hollywood. Ein guter Deutscher, wollten die Amerikaner dann klarmachen, könne nur ein Antideutscher sein, und selbst der Edelstein in unserer humanistischen Kultur sei einst nur darauf spitzgeschliffen worden, einmal die Juden zu vernichten, wir hätten doch alle in unseren feuchtesten Träumen immer nur einen Himmler ersehnt, Deutschland, ein einziger grinsender Totenkopfverband, ein SS-Volk von vornherein. Dass der missbrauchte preußische Staatsgeist eine sittliche Ordnung ist – mal liberaler, mal konservativer – eine höhere, organische Form, das wissen die zwar, das haben sie in Harvard gelernt, wo man zuweilen sogar Descartes zu entziffern fähig ist, aber da Gerechtigkeit nur amerikanisch sein kann, nutzten sie die ‚Gunst‘ der Stunde in Nürnberg, nahmen sie auch gern einen Hitler als ‚Anlass‘, das Deutsche ein für alle Mal zu kastrieren.“ Diels brach direkt mit seinen amethystfarbenen Augen in Augsteins aufmerksame, punktgenaue, dunkle Peridotlinsen ein: „Hitler hat Preußen schwer beschädigt, die Amerikaner haben Preußen beendet.“

„An den deutschen Eliten stören sie sich ja nun auch gewaltig, die Bringer der Freiheit“, sagte Augstein.

„Ja“, sagte Diels. „Da haben sich die Briten und Amerikaner bereits kurz nach Kriegsende in deutschen Gefangenenlagern reich bedient, an solchen Zu-kurz-Gekommenen, die sich sowieso schon vor und seit ’33 an diversen Offizieren, am Bürgertum, an der Wirtschaft oder an der Industrie abreagieren wollten.“

„Sogar die grand tour, ließ ich mir erst kürzlich sagen, hat einen ganz neuen Impetus. So bereisen Amerikaner nicht mehr die ehrwürdigen Ruinen der alteuropäischen Geschichte, sondern die Kriegstrümmer Berlins“, erzählte Augstein.

„Nicht entgangen ist Ihnen dann aber auch der Spruch, besitzt du Berlin, besitzt du Deutschland“, entgegnete Diels.

Augstein schmunzelte. „Hatte man Sie in Nürnberg?“

„Ich war weitestgehend frei“, begann Diels. „Ich hab mich gestellt, wurde interniert, dann als Zeuge befragt, schließlich begann der Hauptprozess gegen die Hauptangeklagten, den ich beobachtet habe. Ich hielt mich in Nürnberg und Umgebung auf. Verreisen konnte ich immer nur bedingt. Die Asche der Erhängten ist in alle Winde ausgestreut worden, es folgten die subsequent proceedings.

’47 war ich viel zugegen und dann auch offiziell als Zeuge entlassen, aber bis vor Kurzem immer wieder dort gewesen. Zum Kreuzverhör kam es in Sachen I.G. Farben. Es ging um Vergasungen, ich sagte aus, dass diese dem Kopf des Unternehmens hätten nicht unbemerkt bleiben können, wobei dieser, meines Wissens, aber nicht in Vergasungen involviert war. Er kam einmal ’33 zu mir in die Prinz-Albrecht-Straße, bot mir an, die Gestapo mit Informationen aus dem Ausland zu versorgen, er bastelte an so etwas wie einem Nachrichtendienst. Sein Angebot erschien mir eigen, ich dankte ihm, und das war’s auch schon. Ich erinnere mich noch, ich lächelte höflich und verwundert. Er wollte mich aber auch einfach kennenlernen, das muss man ebenfalls sehen, so war das damals. Wir sprachen eine halbe Stunde und fertig.“

„Nach Ihrem Weggang von der politischen Polizei, hat er es da noch mal bei Ihren Nachfolgern versucht, mit seinem Angebot?“, fragte Augstein.

„Das weiß ich nicht, kann ich Ihnen nicht sagen, keine Ahnung. Jedenfalls hatte ich beim I.G.-Prozess keinen Anlass, ihn hammerhart zu belasten, auch wenn das die Engländer gerne von mir wollten.“

„Well done!“, sagte Augstein.

„Nur fair-play“, winkte Diels ab und legte den Kopf zurück, als schaue er den Wolken an der Decke nach. „Wie mich das alles noch anwidert.“

„Aber Herr Diels, ich bitte um Pardon, schließlich geht es hier um nichts Geringeres als das come-back Deutschlands!“, rief Augstein verschmitzt.

„Hören Sie gefälligst auf, mich mit Ihren Fragen zu screenen, werter Herr Journalist!“, lachte Diels.

Augstein bat: „Seien sie nachsichtig, ich bin doch gerade so im drive!“

Privat

In Auschwitz wurde viel gelacht

Wenn das Personal die Kanister entfacht,

Dann wurde Sonne getankt

Wurden Locken gewickelt

Und der Höcker knipste ganze Alben

Mengele inmitten

Trällernd und mit Witzen

Ganz feucht wurden die SS-Helferinnen dann in ihren Schlitzen.

5

Luftholen.

„Wie geht es denn eigentlich Ihrer Lunge?“, fragte Augstein und erhob sich, als es an der Tür klopfte.

„Es geht mir sehr gut, seit meinem Aufenthalt im Schwarzwald zur Behandlung bei einem Freund, seitdem bin ich wiederhergestellt. Er wollte mich früher schon mehrfach vor der Gestapo retten, wollte mich sogar einmal – das war kurz vorm Ende des Krieges – in einer Schweizer Irrenanstalt verstecken!“ Diels zog sich noch eine Zigarette aus der Schachtel. „Als ich interniert war, kam das Lungenleiden kurzzeitig zurück. In meinen Dreißigern war auch einmal der Kiefer entzündet, ich habe das alles etwas schleifen lassen. Ist kein Zuckerschlecken.“

Augstein kam mit einer jungen Frau wieder ins Zimmer zurück. „Wie versprochen, die besseren Getränke sind eingetroffen, Herr Diels. Dieser Cognac hier ist geradezu hinreißend!“ Augstein stellte zwei Flaschen auf den Tisch, die Frau blieb mitten im Raum stehen. Sie trug eine weite Hose, den viel zu großen Bund mit einem wie zu einem Bootsseil gezwirbelten Tuch an der Hüfte zusammengeschnürt. Ihr kurzes, haselnussbraunes Haar lockte sich über der Stirn.

Diels wollte weiterplaudern, aber die Zigarette steckte noch zwischen seinen Lippen und er sah sie nur an. Ihre grauen Augen waren weich, aber auch grenzenlos zerstört. Die dunkle Bluse erinnerte an die Dreißiger und war an den Armen hochgekrempelt. Ihre Haut besaß so etwas Nasses neben dem rauen Haar.

„Herr Diels, diese Dame nun meint, ich müsste sie beide nicht mehr miteinander bekanntmachen – mir sehr recht so.“ Augstein suchte Gläser zusammen.

Diels erhob sich, trat auf sie zu, dachte nach. Seine länglichen Augen visierten sie an.

Sie zog die Zigarette aus seinem Mund und zündete sie sich selbst an. „Du kommst nicht drauf? Der Krieg hat uns eben alle älter gemacht. Dünn bist du geworden.“

„Die, von der ich glaube, dass du sie bist … nein, niemals. Die wäre dann jetzt –“.

„Sechsundzwanzig“, sagte sie.

Augstein setzte sich wieder und gab ihr zu verstehen, dass sie sich durchaus entfernen dürfe. Sie ging an den Tisch zu den anderen und begann, die Bleistifte anzuspitzen. Dabei rauchte sie abwechselnd, blickte dann jedes Mal, wenn sie einen Zug nahm, seitlich hinter Augstein zu Diels herüber, sodass seine Augen vorsichtig und gekonnt zwischen Augsteins alles mitbekommenden und ihren stolz beobachtenden wanderten.

„Die Menschen wollen verstehen. Sie wollen verstehen, eh diese Chance sozusagen abhandenkommt. Lassen Sie uns alle Spiegel aufstellen, die wir haben“, begann Augstein entspannt und schenkte ein. „Unsere ersten, unsere letzten Spiegel.

Zerbrochene, neue, alte. Alles, was wir gesehen haben, was wir erleben mussten, was wir wussten und nicht wussten, alles das, was wir sind. Fügen wir uns in allen unseren Taten, in unserer – wenn Sie so wollen – Unvernunft, zu einem Bilde zusammen. Das muss einmal kommen und wenn, dann muss es von uns kommen, von uns selbst, von uns allein. Persönliche Erkenntnis reinigt.“

„Ihr Blatt könnte jetzt alleiniger Träger einer solch unverfälschten deutschen Innenschau werden. Die echte Meinung der Menschen ist nämlich eine ganz andere als die öffentliche. Die echte Meinung ist wie eine geheime Macht“, sagte Diels.

Rechts von Augsteins Schläfe studierte die Bleistiftanspitzerin Diels, ihr Mundwinkel spielte mit einem Lächeln, das sie dann wieder hastig wie einen Tropfen Wein wegleckte.

„Das wird sonst bis auf den letzten Rest eingehen, so mein Verdacht“, sagte Augstein. „Und dann wäre ein, nun sagen wir, inneres Archiv doch wohl für immer verloren.“

„Das wäre das Verdienst derer, die die Verhältnisse gar nicht oder nur bis höchstens ’34 kannten und sich nun unaufhörlich als ‚Widerständler‘ dem Feind anbieten. Aus diesen staatsfeindlichsten Milieus heraus bilden sich seit Nürnberg sowieso schon die Triebkräfte, die einen neuen Staat für uns entwickeln helfen sollen, der gegen alle Rückfälle ‚immun‘ ist – das wahre Ziel dabei ist aber der vollständige Abbau deutscher Substanz. Musterdemokraten, echte Bestien an Tugend und Moral, widerlich. Lauschten sie unserem Gespräch jetzt, als zwei satte Nationalsozialisten würden sie uns abstempeln. Dabei geht es …“, Diels traf mit ihrem Blick zusammen, während sie ihm unauffällig lauschte und sich das Haar hinters Ohr legte, das doch wieder hervorsprang. „Dabei geht es … um …“ – Ihre Fingerspitzen glitten über den Tisch, als sie die gezackten Späne zusammenstrich.

„Um Erneuerung“, half Augstein nach und grinste wissend.

„Danke“, fuhr Diels fort, „und nur so wird unser Staat wieder eine eigene Gestalt annehmen, seine klassischen Talente erneut erwecken können, das preußische Beamtentum zurückholen.“

„Der Deutsche Widerstand strebte ja nun auch Erneuerung an, Sie besaßen Kontakt“, sagte Augstein.

„Ich habe nur mit solchen in Verbindung gestanden, die den Staat als Staat verehrt haben, keine düster-märchenhafte, poetisch-militärische Utopie erträumten. Eine Reichsreform war mein Realismus, den Staatskörper zu erhalten mein Wunsch. Wahren Widerstand lehrt einzig preußische Verwaltung. Lehrt das Widersprechen in der Sache, das Abwägen von Entscheidungen, sodass es nie zu Mustern und Schablonen kommt, dass Befehle unnötig werden, dass guter Geschmack Willkür beeinflusst. Wahrer Widerstand, der darf nie aufhören, auch jetzt gegenüber den Besatzern nicht.“

„Verkörpern Sie den wahren Widerstand?“, fragte Augstein.

„Herr Augstein, ich bin jetzt neunundvierzig Jahre alt, im Zuge der Nürnberger Prozesse wurde ich abwechselnd als Hauptakteur und Mitläufer betitelt.“ Diels zählte mit seinen Fingern auf. „Was in Zukunft noch kommt, davon wollen wir gar nicht erst anfangen, Vampir vielleicht? Schürzenjäger auf jeden Fall! Kommunist, Morphinist, Atheist. Kommunistenjäger, Gegner der Nazis, Nazi. Die Zeit, die kann man nicht erklären, die muss man erleben, und Atmosphäre war 1933 alles!

In Nürnberg hatte es ein CIC-Offizier besonders auf mich abgesehen, denn für alle unehelichen Kinder in meiner Umgebung machte er mich verantwortlich.

Zugegeben, einige sind da entstanden, aber er muss ein anderes Zahlensystem führen als ich, denn ich komme, beim besten Willen, nicht auf sein schmeichelndes Ergebnis. In seiner Überwältigung, was meine Wenigkeit betrifft, vermengte er Wahrheit und Dichtung auf eine Art, wie sie auch gerade in der Enthüllungs- und Anklageliteratur methodisch betrieben wird. Er warf mir nicht nur Vielweiberei, sondern auch Homosexualität vor. Im Hause meiner Freunde, des Grafenehepaares Faber-Castell, trieb er sein Unwesen, quartierte seine Mutter und seine schwangere Frau im Schloss ein, die, so unterstellte er, ich ebenfalls bedrängt hätte. Weihnachten näherte er sich in betrunkenem Zustand der Gräfin Castell, die sich nur durch eine Ohrfeige aus der Situation zu befreien wusste, woraufhin er sie beleidigte, der geldgierige Lump. Nach Aufhebung meiner Beschränkungen war er es gewesen, der mich hin und wieder aus der Novalisstraße zum Schloss des Grafen fuhr, ich hatte das für einen menschlichen Akt gehalten, wie falsch ich lag. Seine Beschuldigungen gegen mich reichten von Meineid bis zu hemmungslosem Triebleben. Der fadenscheinige Hitlerfotograf Hoffmann und die Gräfin Kálnoky halfen ihm beim Ausschmücken seiner Fantasie. Schon Hitler gegenüber verbutterte ich einmal gleich zu Beginn alle nur denkbar kommenden Verunglimpfungen über meine Person in einer Art Katalog. Weg damit Diels, hat er gesagt. Auch meine Sekretärin, die gute Edith, schüttelt nur den Kopf und fragt sich, was man aus meiner Person noch machen wird, einen Blutsauger?“, er lachte, und die Enden seiner Augen sichelten sich in die Wangen. „Ich versicherte jedenfalls dem Chef der Behörde, dass meine Bereitschaft, als Zeuge auszusagen, von diesem Offiziersflegel nicht getrübt würde, aber dass mir der Stil des Knaben nicht passe und ich mich frage, warum all die schwarzhäutigen Gouvernanten, die doch gewiss regelmäßig von seinesgleichen auf den herrschaftlichen Wiesen der Anwesen im Süden des Landes ausgepeitscht wurden, den hohen Anvertrauten denn keine besseren Manieren beigebracht hätten? Nun, ich fürchte, dass solche amerikanischen Herren meine Denazifikation entschleunigen dürften. Die werden immer wieder etwas hervorholen, wenn ich im besten Tatendrang loslegen will.“

„Na, dann holen Sie eben auch immer wieder etwas hervor“, schlug Augstein vor, und sie stießen an.

„Fest steht, wir können uns selbst erziehen“, sagte Diels. „Uns selbst erkennen. Das liegt in uns, muss in uns sein und als Selbstzeugnis, käme es also aus uns allein, würde es immerhin Dummheit entbehren, Verlogenheit und Heuchelei. Die Amerikaner übten ihre ganz eigene Art von Rache in Nürnberg, keine ‚Rechtsprechung‘. Seinem geistigen Gehalt nach war Nürnberg eine amerikanische Schöpfung, wie es Kranzbühler, der Verteidiger von Dönitz, kürzlich in einem Meistervortrag sagte.“

„Erzählen Sie nun aber von diesem Vortrag“, bat Augstein.

Diels begann, und es war, als würde er das alles mit seiner Stimme und seinen lebhaften Bewegungen skizzieren: „Otto Kranzbühler ist der dunkelhaarige Jurist, der bei den Hauptprozessen immer direkt unterhalb Görings saß, ein ebenmäßiger Charakter, Typus des Feinen, Naziparolen ekeln ihn an. Er hat versucht, das Momentum Nürnberg rechtsneutral zusammenzufassen und wissen Sie, er ist nicht so hochfahrend wie ich es bin. Auch er war seit dem ersten Prozess im Oktober ’45 dabei. Sein Vortrag beginnt mit der Würdigung des Rückhalts, den die Amerikaner Deutschland jetzt gäben, er beginnt aber auch damit, dass die deutschen Verteidiger so gut wie kein Material zusammentragen durften, weil das angloamerikanische Strafverfahren nur das jeder Partei günstige Material vorlegt. Da das Gericht bereits im Vorlauf so gut wie alles ergattert hatte, blieb den Deutschen nur das Belastungsmaterial. Der Weg in die Archive für Entlastungszeugnisse wurde untersagt, denn deren Gerichte und Staatsanwaltschaften unterliegen keiner Pflicht, die Wahrheit selbstständig zu erforschen, sie ergeben sich den Beweisen.“

„Mein Bruder erzählte mir, es wurden da lauter Anträge gestellt, vonseiten der deutschen Verteidiger“, sagte Augstein.

„Immer und immer wieder vom Tribunal abgelehnt“, antwortete Diels. „Gerade in Fragen der Außenpolitik des Dritten Reichs konnte darum kein historisch wahres Bild entstehen. Kranzbühler meint den deutsch-russischen Geheimvertrag von ’39, die Voraussetzung für den Angriff auf Polen. Ein Verteidiger bewies diesen Geheimvertrag schließlich beschwerlich unter eidesstattlichen Erklärungen und – “, Diels spottete kopfschüttelnd, „unter ständigen Protesten der Russen.

Polen war ein Angriffskrieg, ja, aber bei den weiteren Kriegen konnte das wohl nicht so klar nachgewiesen werden. Der Norwegenfeldzug zum Beispiel. Dem Gericht wurde von einem Verteidiger Schriftgut zugetragen, aus dem hervorgeht, dass die britische Regierung gleichzeitig eine Landung in Norwegen beabsichtigte. Es gibt einen aktuellen Bericht von Hauptankläger Jackson, aus dem man erfährt, wie sehr englische Vertreter bei der Schaffung des Internationalen Militärgerichts im Sommer ’45 in London davor bangten, dass diese britischen Absichten im Nürnberger Prozess zum Vorschein kommen könnten.“

„Kurt Schumacher war es doch, der offen fragte, ob England nur den Krieg führte, um sich, ich zitiere, ‚unbequemer Konkurrenzfirmen‘ zu entledigen?“, Augstein zupfte sich ein winziges Stück Haut von der Unterlippe.

„Woraufhin Adenauer, es durchaus besser wissend, forderte, endlich Schluss zu machen mit Rache, Hass und Demontage!“, rief Diels.

„Ist ja kein Hass, es ist Wahrheitstrieb, und das wird doch wohl noch dem Menschen ein Recht sein?“, entgegnete Augstein.

„Nicht, wenn es um deutsche Geschichte geht, Herr Augstein“, sagte Diels. „Auch der Begriff der deutschen ‚Kollektivschuld‘ ist so ein gefährliches Gebilde.

Kranzbühler sagt ganz klar, dass an der Vernichtung des Judentums, dass an dieser historischen Wahrheit niemals ein Zweifel besteht, und er drückt seine persönliche Scham aus, die er, angesichts dieses Verbrechens, nicht wird überwinden können. Besonders aber die Amerikaner konnten sich zunächst nicht vorstellen, dass solche Verbrechen unbekannt zu bleiben vermochten, erst mit der Zeit fand in den Richtern der Gedanke Einlass, dass die Gräuel an den Juden, dass die Vernichtungsvorgänge gegen Menschengruppen, die Hitler nicht passten, nicht im Bewusstsein aller die heutigen Konturen besaßen. Damit war das Tribunal und die Besatzungspolitik widerlegt, die ‚Sühneperiode‘, die ja ganz Deutschland auferlegt wurde. Darauf“, wiederholte Diels, „war Nürnberg ja überhaupt erst gestützt worden.“

„Nun stellt sich mir natürlich die Vermutung nahe, dass die Viermächte mit der nun einmal kolossalen deutschen Schande der Konzentrationslager ja gewissermaßen keinerlei Rechtmäßigkeit mehr benötigen“, schob Augstein rein.

„Ade Gleichheit, ade fairness.“

„Mit angloamerikanischen Begriffen der fairness kommt man in Nürnberg aber sowieso nicht weit“, versicherte Diels. „Jahrelange Haft ohne Rechtsschutz, Vernehmungen unter Aussagezwang, Einschüchterung von Zeugen durch Verhaftung, Einschaltung in die Entnazifizierung, Androhung von Auslieferung und so weiter.

Genial beschreibt Kranzbühler das ganze Wesen des Militärtribunals vergleichbar mit einer einzigen Person, die sowohl Gesetzgeber, Richter als auch Staatsanwalt ist.“

„Ich staunte ja nicht schlecht über eine noch weitere frischfröhliche Nürnberg-Rechtfertigung“, sagte Augstein. „Diese hieß ‚künftige Kriegsverhütung‘.“ „Sie führen mich unmittelbar zu Kranzbühlers letztem Punkt: Das Nürnberger Gericht hat nicht eine Spur zur Erhöhung der Sicherheit unter den Völkern beigetragen, der Staat Israel wurde jetzt praktisch nur per Krieg geschaffen. Eine internationale Gemeinschaft hat sich nicht verwirklicht. Kranzbühler zitiert den Historiker Bainville: Wo liegt die Verantwortung derer, die durch die Gestaltung des Friedens den ewigen Krieg organisieren?“

„Deutschland zu gestalten, diese köstliche Aussicht muss Amerika ja geradezu in Ekstase versetzen!“, rief Augstein. „Und zwar auf unabsehbare Zeit hinweg zu gestalten. Herr Augstein, wenn ich Ihnen sage, dass es mir unbegreiflich ist, wie mein Bundesgenosse in der Justizverwaltung, Joël, vom Nürnberger Gericht zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde und diejenigen, denen sein Kampf all die Jahre hindurch galt, verschont blieben – diese ganzen Sadisten mit Privat-KZ, meine ich. Das ist das reinste Chaos angloamerikanischer Rache. Dummheit ist und bleibt eben etwas, was mich schon des Öfteren hat richtiggehend krank werden lassen, ich meine wirklich krank. Himmler hat mir genügt, mit seinen Verdächtigungsschriften, die er regelmäßig über mich in Auftrag gab.“ Diels schloss die Augen, der Cognac funkelnde seinen Gaumen hinab und er dachte an den Morgen, als er sich in der Küche seines Hauses vor dem kleinen Klappspiegel rasierte. Das kalte Wasser hatte er inzwischen lieber als ein warmes Bad, und das Licht, das vom kleinen Fenster über der Spüle auf seine Wange fiel – die er sich mit einem Finger straff zog – ließ ihn einen Tropfen Wasser die V-Narbe entlang verfolgen. Auf dem alten Bauerntisch mit den Kugelbeinen hatte Dürer gelegen, … diese meine Mutter hat achtzehn Kinder getragen und erzogen, hat oft die Pestilenz gehabt, hat große Armut erduldet … Verspottung, Verachtung, höhnische Worte, Schrekken und große Widerwärtigkeiten. Dennoch ist sie nie rachsüchtig gewesen.

Dreißigtausend politische Gefangene ’33 im Reich,

Dreihunderttausend im Frühjahr ’39 gleich,

Mit Eichmanns Bericht von sechs Millionen war Himmler nicht

zufrieden

Und wollte gebieten,

Einen Statistiker zu schicken

Erneut in die Zahlen zu blicken,

Und er war enttäuscht

Und seine Fresse verseucht

Und seine Äuglein stanken

Hinter dem blanken

Glas.

6

Temperament.

„Man hat mich ja vor Ihrer impulsiven Art gewarnt, Herr Diels“, gestand Augstein. „Umso mehr wollte ich sie treffen. Unser Adenauer hingegen, ich werde das Gefühl nicht los, dass er unecht ist.“

„Jedenfalls kein echter Preuße“, sagte Diels.

„Bin ich denn aber einer?“, fragte Augstein. „Meine Familie stammt, wie sie wissen, aus dem Rheingau, in Hannover bin ich geboren und aufgewachsen, mein Vater war alles andere als preußisch.“

„Preußische Staatsgesinnung ist keine Geburtsurkunde, sondern ein Numerus clausus. Ist man in der Lage, aus Persönlichkeit und Gerechtigkeitsgefühl ein Urteil zu fällen, einen Schlüssel zu fertigen? Selbst Göring empfand ’33 noch Respekt davor, später nicht mehr. Er wählte mich für meine Tätigkeit eben darum aus, weil er Sachverstand wollte. Preußen ist die Proportionslehre der beständigsten Zeichnung von der Idee eines Staates. Was einem Albrecht Dürer das unbedingte Erlernen des Maßes nach Vitruv war, ohne dass er keinen Weg in ein bleibendes Gemälde fand, ist für den Beamten die verinnerlichte Kenntnis der Verwaltungsmuskulatur. Kriege und Schlachten, große Taten – danach schauen alle, aber die Ausartungen der Bürokratie sollten der Mittelpunkt der Geschichtsbetrachtung sein, denn der Mensch steht dem Staat gegenüber: Bildet der Staat eine Anmaßung aus, muss der Mensch argwöhnisch erwachen, ihr Ausgleich ist das Ziel.“

„Wie konnte Henker Heydrich diese Essenz, die sie beschreiben, dann derart austreiben, wenn sie doch so sehr in uns verankert ist, wie sie behaupten wollen?“

„Weil Henker ‚Heiderich‘ keinen Schimmer von Technik besaß“, antwortete Diels, „er war ein Ideologe. Ideologen sind keine Fachmänner, sie sind doktrinär. Statt in Gesetzen einen geistig beweglichen Raum zu erkennen, hat er den Wortlaut bevorzugt. Er hat alle Beamten aussortiert, die ihm suspekt erschienen, die Skepsis über Menschenquälerei stellten. Er hat diesen Numerus clausus abgeschafft, verhältnismäßig unbemerkt, getarnt durch Personalpolitik, verborgen hinter seiner Endlösung. Den Geschwüren wahllos sich bildender Behörden, die ihm allein unterstanden, und seinem Ausrottungsfeldzug gegen die Juden stand ab ’34 nichts mehr im Wege. Er begann, einen schaurigen Cocktail anzumischen: Misstrauen, Dilettantismus und Verbrechertum. Carl Schmitt ist deshalb dunkle Magie, weil kaum einer versteht, dass Schmitt das Dritte Reich nur unter der Bedingung des Einklangs als einen rechtmäßigen Staat betrachtete. Wo Legitimität und Legalität jedoch auseinandergehen, nimmt Unrecht den Platz ein. Preußische Staatsgesinnung ist jenseits von Hass, auch darum, weil sie sich ganz offen und empfänglich am Beispiel Englands gestaltete und den französischen Zentralstaat übernahm. Das ist dann das vielleicht Höchste, was sich bilden kann: die volle klassische Staatskunst des freien Ermessens, mit dem Ziel von Freiheit und Gerechtigkeit, die sich nicht mehr abstoßen, sondern ergänzen, im großen europäischen Stil.“

Sie trat an die beiden heran und setzte sich einfach dazu, Augstein missfiel das. „Siehst du denn nicht, dass wir beschäftigt sind? Halte uns bitte nicht auf, hier geht es eher dreckig zu.“

„Du wirst eh abgehört“, bemerkte sie Augstein gegenüber und nahm sich einen Schluck. „Ein Gespräch im Freien wäre vielleicht anzuraten? Übrigens solltest du netter zu mir sein, sonst spendiert dir mein Bruder in Zukunft keine erlesenen Kriegsreste mehr.“

„Also doch“, sagte Diels, „du bist es, du bist Elisabeth! Natürlich bist du Elisabeth. Vielleicht … wollte ich es nicht fassen, vielleicht wollte ich eine unbekannte Frau kennenlernen. Diesen Cognac hier kann jedenfalls nur deine Familie ausgesandt haben!“

„Na endlich, und Lisa für dich, wie du weißt“, sagte sie und nahm einen Schluck, sah ihn an.

„Lisa für mich“, wiederholte Diels brav, beugte sich zu ihr vor und küsste sie auf die Wange.

„Du liebe Güte! Entsetzlich ist das ja!“, klagte Augstein lachend. „Und ihr da am Tisch, hier gibt es nix zu gucken, weiterarbeiten!“ – Augsteins Mundwinkel waren schon eine Sensation, die besaßen etwas so Unheiliges, etwas so Ansteckendes, Filigranes und bedrohlich Schönes, wie er die Lippen so zusammenpresste beim Schmunzeln! Dazu die linke Braue, die wartende Stirn, die doch alles schon zu wissen schien.

„Hat der Heinrich Hoffmann dich eigentlich auch fotografiert?“, fragte Lisa.

„Ja“, sagte Diels. „Hat er. In der Novalisstraße. Störte mich beim Lesen. Störte mich im Garten. Störte mich beim Nachdenken.“

„Grundgesetz?“, Diels reichte Lisa die Zigaretten. „Sie haben es ja längst auf dem Schirm, Herr Augstein, es handelt sich wohl eher um eine Art unsichtbares Zwangsgesetz der Besatzer, trefflich in unser Land transplantiert: Herr Adenauer hat den Beruf verfehlt, er hätte Chirurg werden sollen. Ihr Gefühl stimmt, Herr Augstein, Adenauer ist unecht, geradezu wie vom Himmel gefallen – nicht wahr? Alle Tatsachen verbergend. Stimmt es, dass Adenauers erste Frau in angeheirateten, verwandtschaftlichen Verhältnissen zu Hochkommissar McCloy, dem ehemaligen Chef der Weltbank, steht? Wenn ja, dann hat Adenauer eine steile Karriere vor sich. Ein vielleicht ganz neuer Staatsverbrecher, denn er ist dabei, gleich ein ganzes Land zu verkaufen. Die Sowjetische Zone darf immer mehr dem Marxismus die Ehre geben, und wir werden umkonstruiert, so zerreißt Deutschland ganz von allein, das Spiel der Alliierten geht auf, aber der Iwan, der wird eines Tages alles holen, wenn man ihn weiter so provoziert und klein hält.“

„Aufsplitterung und Föderalismus, wohin man schaut“, sagte Augstein, „das scheint nur niemanden zu beunruhigen. Die Wünsche der Alliierten und die Einsichten der Deutschen hätten zu einem vorübergehenden Konstrukte sich vereinen können, bis zu dem Tage, an dem die Besatzer uns die Rechte freier Staatsbürger zurückgegeben und uns gestattet hätten, in Freiheit die Verfassung zu wählen, die die vom Volke beauftragten Vertreter für gut befinden. Stattdessen wird eine Verfassung ausgerufen, die nicht frei, sondern vom Ausland beschnitten ist. So, wie es jetzt ist, wird es uns nur weiter schwächen. Man kommt ja gar nicht umhin, zu unterstellen, dass das alles doch befremdlich eingespielt ist.“

„Von Stärke und Größe versteht Adenauer nichts, weil er vom aufrichtigen und aufrechten Beamtentum nichts versteht oder etwa von der Wirtschaft. Seit meiner Zeit bei den Reichswerken weiß ich, wie wichtig eigene Initiative und kühne Investitionen sind. Da ihm an einem eigenständigen Deutschland aber nichts liegen darf und er das Preußische immer schon verdammte, wird er uns stets rechtzeitig zu bändigen wissen. Er unterzeichnet nämlich jetzt gerade in diesem einen ewigen Augenblick, dass Amerika das Recht hat, ihn für immer auszuleihen, auch, wenn er selbst schon nicht mehr da ist. Geld kann Geist werden, nicht so mit Amerikanern, für die ist es einzig Geschäft und Mittel und all das Material, was da ist, nennen sie es Geschichte, nennen sie es Liebe, Politik, Handel – all das wird ebenso unecht werden, so, wie es Adenauer geworden ist, beim bloßen Berühren des weißen Handschuhs der Befreier.“

„Es wird auch minderwertig werden“, sagte Augstein. „Erst kommt unecht, dann minderwertig. Erst war Berlin, jetzt ist Bonn – erniedrigend genug.“

„Und dann ist endlich das Deutsche ganz gebrochen, der alte Machtstaat als Verkörperung preußischer Ordnung ausgelöscht und ein machtloser Unstaat gegründet, unsere Bundesrepublik – Prost!“ – Diels schenkte nach. „Du kannst gern von meinem Glas trinken, da der Herr Augstein dir jeglichen Genuss verweigert“, er schob es Lisa zu.

„Als dein Bruder mich einmal bei sich versteckte, kurz vor meiner Verhaftung, du warst nicht im Haus“, sagte Diels, als Augstein sich kurz entfernte.

„Er hielt es für besser, wenn ich nicht dort wäre, er schickte mich zu Freunden“, erklärte sie.

„Sehr weise“, fand Diels. „Ich danke ihm dafür. Sechsundzwanzig also“, flüsterte er. „In dem Alter sollte einem die Welt gehören, verzeih mir, dass ich sie dir nicht schenken kann.“

„Die Welt sollte einem immer gehören“, sagte sie in seine Augen hinein und trank sein Glas leer.

Duck: The „Spiegel“, what is it?

Dick: It’s a magazine.

Duck: What is it about?

Dick: Celebrities.

Duck: „Spiegel“. What does that really mean?

Dick: Means egg, because in the restaurant you can order it.

Duck: Contains any news?

Dick: About celebrities.

Duck: Any dangerous stuff?

Dick: About celebrities.

Duck: Nazis?

Dick: Nazi celebrities.

7

Hoffnung.

Augstein nahm sich etwas vom spärlichen Buffet. „Kekse schmecken auch schon wieder fast wie früher. Danke noch mal, Herr Diels, dass sie sich in Ihrer Zeit als Regierungspräsident hier in Hannover für Bahlsen so stark gemacht haben.“ „Wörtlich schrieb ich damals dem General Muff, dass wenn die bedeutende niederländische Dauerbackwarenindustrie überhaupt einer Betreuung bedürfe, so hierfür doch einzig Bahlsen, die sich damals um die kommissarische Betreuung bewarben, infrage käme. Förderung hannoverscher Industrie eben“, Diels legte den Arm über die Lehne des Klubsessels, in Lisas Richtung. „Außerdem, nach den ganzen Strapazen, dem Partei-Behörden-Müll in Köln, war Hannover ein Idyll, der nationale Sozialismus besaß hier eine skeptischere Note, Hitler hat für seine Reden in Hannover immer mehr Zeit eingeplant, hier bräuchte er länger, eh er sie so weit habe.“

„Sagen Sie das mal keinem Ami“, riet Augstein. „Skeptisch? Deutsche und zurückhaltend? Am Ende vielleicht sogar sittlich? Solche darf es doch gar nicht gegeben haben.“