6 Krimis Extraband 1018 - Alfred Bekker - kostenlos E-Book

6 Krimis Extraband 1018 E-Book

Alfred Bekker

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Alfred Bekker Krimis: Commissaire Marquanteur und die Zikade Tot und blond / Der Hurenmörder von Berlin / Kommissar Jörgensen und der Mann mit der Samtstimme / Kommissar Jörgensen und das Netzwerk/ Kommissar Jörgensen und das Totenhaus In Berlin treibt ein unheimlicher Serienmörder mit ganz spezieller Handschrift sein Unwesen. Kommissar Harry Kubinke vom BKA heftet sich an seine Fersen und versucht, den Killer zu stoppen. Schon bald erkennt er, dass der Fall einen ganz anderen Hintergrund hat, als man bisher vermutete... Entlang der A24 zwischen Hamburg und Berlin werden über Jahre hinweg immer wieder Frauen ermordet. Die Opfer scheinen nichts gemeinsam zu haben – außer, dass sie blond sind. Der Berliner BKA-Ermittler Harry Kubinke und sein Team von Spezialisten übernehmen den Fall, als der Täter erneut zuschlägt. Ein psychisch gestörter Einzelgänger scheint in das psychologische Täter-Profil zu passen und gerät in Verdacht. Doch Harry Kubinke ahnt früh, dass der Fall noch eine ganz andere Dimension haben könnte... ALFRED BEKKER IST EIN bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alfred Bekker

6 Krimis Extraband 1018

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Inhaltsverzeichnis

6 Krimis Extraband 1018

Copyright

Commissaire Marquanteur und die Zikade: Frankreich Krimi

Tot und blond

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Der Hurenmörder von Berlin

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Kommissar Jörgensen und der Mann mit der Samtstimme

Kommissar Jörgensen und das Netzwerk

Kommissar Jörgensen und das Totenhaus

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Titelseite

Cover

Inhaltsverzeichnis

Buchanfang

6 Krimis Extraband 1018

von Alfred Bekker

Alfred Bekker Krimis:

Commissaire Marquanteur und die Zikade

Tot und blond /

Der Hurenmörder von Berlin /

Kommissar Jörgensen und der Mann mit der Samtstimme /

Kommissar Jörgensen und das Netzwerk/

Kommissar Jörgensen und das Totenhaus

In Berlin treibt ein unheimlicher Serienmörder mit ganz spezieller Handschrift sein Unwesen. Kommissar Harry Kubinke vom BKA heftet sich an seine Fersen und versucht, den Killer zu stoppen. Schon bald erkennt er, dass der Fall einen ganz anderen Hintergrund hat, als man bisher vermutete...

Entlang der A24 zwischen Hamburg und Berlin werden über Jahre hinweg immer wieder Frauen ermordet. Die Opfer scheinen nichts gemeinsam zu haben – außer, dass sie blond sind. Der Berliner BKA-Ermittler Harry Kubinke und sein Team von Spezialisten übernehmen den Fall, als der Täter erneut zuschlägt. Ein psychisch gestörter Einzelgänger scheint in das psychologische Täter-Profil zu passen und gerät in Verdacht. Doch Harry Kubinke ahnt früh, dass der Fall noch eine ganz andere Dimension haben könnte...

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ALFRED BEKKER IST EIN bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

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© dieser Ausgabe 2025 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Commissaire Marquanteur und die Zikade: Frankreich Krimi

von ALFRED BEKKER

Commissaire Marquanteur und die Zikade – Frankreich-Krimi von Alfred Bekker

Ein brennendes Luxusboot im Hafen von Marseille. Eine rätselhafter Origami-Zikade am Tatort. Ein tödliches Spiel aus Symbolen, Fabeln und Sprengstoff – und ein Ermittler, der sich den Schatten der Stadt stellt.

Commissaire Pierre Marquanteur und sein Team geraten in einen Wettlauf gegen eine geheime Gruppe, die ihre Anschläge nach den Fabeln von La Fontaine inszeniert. Während Marseille zwischen Glanz und Gefahr schwankt, führen Spuren zu einflussreichen Unternehmern, undurchsichtigen Netzwerken und einer Verschwörung, die bis nach Italien reicht.

Atmosphärisch, spannend und voller überraschender Wendungen: Alfred Bekker entführt Sie mitten ins Herz der französischen Mittelmeermetropole. Ein Krimi über Macht, Moral und die leisen Stimmen, die manchmal am lautesten singen.

Für Fans von Frankreich, cleveren Ermittlern und raffinierten Kriminalfällen!

Jetzt lesen und in die dunklen Geheimnisse von Marseille eintauchen!

Personenverzeichnis

Commissaire Pierre Marquanteur

Leiter der FoPoCri (Force de Police Criminelle) in Marseille. Marquanteur ist ein erfahrener Ermittler, dessen Blick für Details und Menschen ihn auszeichnet. Nachdenklich, manchmal melancholisch, aber mit einem feinen Gespür für die verborgenen Rhythmen der Stadt. Seine Loyalität gilt dem Team und der Wahrheit – auch wenn sie unbequem ist.

François Leroc

Marquanteurs engster Kollege und Freund. Groß, kräftig, mit einer rauen, aber humorvollen Art. François ist ein Mann der Tat, der lieber handelt als redet, aber in kritischen Momenten den richtigen Ton trifft. Er kennt Marseille wie seine Westentasche und ist bekannt für seine unorthodoxen Methoden – und seinen schlechten Kaffee.

Rita

Dritte im Ermittlerteam. Italienische Wurzeln, französische Direktheit. Rita ist eine brillante Verhörspezialistin, die mit Empathie und Scharfsinn Menschen zum Reden bringt. Sie ist stolz, temperamentvoll und besitzt ein feines Gespür für die Zwischentöne der Stadt und ihrer Bewohner.

Pascal Montpierre

Experte für Spurensicherung und Beweismittel. Pascal ist ein Tüftler, der lieber mit Fingerabdrücken und Origami als mit Menschen arbeitet. Er hat ein Auge für Details und Symbolik und ist bekannt für seinen trockenen Humor und seine Liebe zu Reclam-Heftchen.

Maxime

IT-Spezialist der Dienststelle. Maxime ist jung, schnell im Denken und in der digitalen Welt zu Hause. Er liebt Herausforderungen, Daten und Kaffee – am liebsten alles gleichzeitig. Wenn es um verschlüsselte Nachrichten oder digitale Spuren geht, ist Maxime unverzichtbar.

David Hollande

Sprengstoff- und Ballistikexperte. David ist ruhig, sachlich und immer auf der Suche nach der chemischen Wahrheit. Er versteht sich auf die Sprache der Detonationen und ist der Mann für die Momente, in denen es um Sekunden und Sicherheit geht.

Melanie

Sekretärin und gute Seele des Teams. Sie hält das Büro zusammen, sorgt für Kaffee und Ordnung und weiß über alles Bescheid, was zwischen den Zeilen passiert. Wenn Melanie anruft, ist es wichtig.

Monsieur Marteau

Vorgesetzter der FoPoCri, ein Mann mit scharfem Verstand und großem Verantwortungsbewusstsein. Er führt mit ruhiger Autorität und hat ein Gespür für die politischen und menschlichen Seiten der Polizeiarbeit. Seine Sätze sind selten lang, aber immer gewichtig.

Alban Delvaux

Unternehmer, Philanthrop und Opfer des ersten Anschlags. Delvaux ist eine öffentliche Figur, die Marseille mit Spenden und PR-Aktionen prägt – und dabei viele Freunde und Feinde sammelt.

Maude Rigal

Assistentin von Delvaux. Jung, ehrgeizig, aber von den Ereignissen gezeichnet. Sie ist eine wichtige Zeugin und kennt die Abläufe und Geheimnisse rund um Delvaux und seine Stiftung.

Nadja

Straßenmusikerin am Vieux-Port. Nadja ist eine stille Beobachterin der Stadt, deren Musik und Augen mehr sehen als die meisten. Sie wird zur Schlüsselfigur, weil sie hört, was andere überhören.

Jean-Luc Hombard

Leiter der Sicherheit im Hafen. Ein Mann mit militärischer Vergangenheit und wenig Geduld für Fehler. Er sorgt für die Technik – und manchmal für Probleme.

Matteo Viani

Techniker bei Nérée Solutions. Er ist in Sprengstoff und ROVs bewandert, hat Verbindungen nach Genua und spielt eine zentrale Rolle in der Tätergruppe. Sein fehlender kleiner Finger ist ein markantes Detail.

Jean-Pascal Briand („La Cigale“) Ein Mann mit vielen Namen, der Fabeln und Symbolik liebt und die Bühne sucht – egal, ob digital oder real. Er ist intelligent, gefährlich und von seiner eigenen Moral überzeugt.

Lucien Perrin

Chef von Nérée Solutions. Ein Mitläufer, der zwischen Technik und Loyalität schwankt und sich in den Fall verstrickt.

Étienne Carral

Junger Komplize, Teil des Täter-Netzwerks. Unsicher, aber von den Ideen und der Gemeinschaft der „Zikaden“ angezogen.

Luc Moreau („Claudel“) Ehemaliger Diözesan-Pressereferent und intellektueller Kopf des Forums „Chant des Cigales“. Er verpackt Pläne in Poesie und Predigten und zieht die Fäden im Hintergrund.

Constant Bréval („Constant“) Öffentlichkeitsarbeiter und Kolumnist, der mit Worten und Netzwerken Einfluss nimmt. Er ist ein Vermittler zwischen Ideologie und Aktion.

Weitere Figuren und Nebenrollen

Im Roman begegnen Sie Hafenarbeitern, Polizisten, Sicherheitsleuten, Politikern, Journalisten und vielen Menschen, die Marseille zu dem machen, was es ist: eine Stadt voller Stimmen, Geheimnisse und Geschichten.

Schauplatz-Verzeichnis

Vieux-Port (Alter Hafen)

Das pulsierende Herz von Marseille. Hier treffen Fischerboote auf Yachten, Händler auf Touristen, und die Polizei auf das tägliche Chaos der Stadt. Der Hafen ist Schauplatz für Begegnungen, Ermittlungen und den ersten großen Anschlag. Morgens riecht es nach Salz, Diesel und Aufbruch.

Rue Paradis

Eine elegante Straße, in der sich das alte und neue Marseille begegnen. Hier wohnen die Reichen, hier lebt Sofia Delvaux. Hinter den Fassaden verbergen sich Geschichten von Macht, Geld und Einsamkeit.

Stiftung Delvaux

Modernes Bürogebäude mit Glasfronten und Grünpflanzen, Sitz der wohltätigen Aktivitäten von Alban Delvaux. Treffpunkt für Assistenten, IT-Spezialisten und Schauplatz für Intrigen und digitale Spuren.

Parc Borély – Rosengarten

Eine grüne Oase am Rand der Stadt, morgens fast surreal ruhig. Hier werden Hinweise versteckt, Beweise gefunden und die Ermittler auf neue Fährten geführt. Der Rosengarten steht für Schönheit und Geheimnis zugleich.

Môle Léon Gourret – Terminal C

Ein weitläufiges Hafengelände mit Lagerhäusern, Containern und nervöser Security. Hier kreuzen sich die Wege von Schmugglern, Hafenarbeitern und Ermittlern. Die Atmosphäre ist rau, das Risiko allgegenwärtig.

Palais du Pharo

Prächtiges Gebäude auf einem Felsen über dem Meer, Schauplatz der Gala der Handelskammer. Hier versammelt sich die Elite der Stadt – und hier droht ein Anschlag, während die Ermittler versuchen, das Publikum zu schützen.

La Ciotat – Werkstatt Nérée Solutions

Ein Hinterhof im Technologiepark der Nachbarstadt. Hier werden ROVs gebaut, Sprengstoff vorbereitet und Spuren nach Genua gelegt. Die Werkstatt ist ein Ort der Technik und der Geheimnisse.

Prado-Carénage-Tunnel

Betonschacht unter der Stadt, Symbol für die verborgenen Wege und die Gefahr im Untergrund. Hier versuchen die Täter, einen Anschlag zu verüben, und die Ermittler kämpfen gegen Zeit und Unsichtbarkeit.

Rue d’Athènes – Medienhaus „Le Corbeau“

Sitz eines großen Medienunternehmens, Ziel eines geplanten Anschlags. Moderne Büros, technische Zentrale und ein Netzwerk von Journalisten, die zwischen Wahrheit und Sensation balancieren.

Chemin des Accates – Altes Seminar

Verlassene Kapelle am Stadtrand, Rückzugsort von Luc Moreau („Claudel“). Ein Ort zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Predigt und Planung. Hier treffen sich die Fäden des Falls.

Cafés und Bars von Marseille

Ob am Hafen, in den Arbeitervierteln oder auf den Boulevards – die Cafés und Bars sind Orte der Begegnung, des Austauschs und der Beobachtung. Hier werden Gerüchte geboren und Wahrheiten versteckt.

Die Gassen von Noailles, Panier und Belle de Mai

Die alten Stadtviertel, voller Leben, Stimmen und Geheimnisse. Hier mischen sich Kulturen, Generationen und Geschichten. Die Ermittler bewegen sich oft in diesen Gassen, auf der Suche nach Hinweisen und Zeugen.

Marseille ist mehr als Kulisse – sie ist Mitspieler, Gegner und Verbündeter zugleich. Die Schauplätze spiegeln die Vielfalt, Schönheit und Widersprüche der Stadt wider und sind eng mit den Figuren und der Handlung verbunden.

Kapitel 0 – Vor dem ersten Ton

Marseille, kurz vor Sonnenaufgang. Die Stadt lag zwischen den Farben, die noch keine Namen hatten: ein Grau, das nach Salz schmeckte, ein Blau, das sich in den Schatten der Fischerboote verlor, und ein Gelb, das nur für Sekunden auf den Fassaden tanzte, bevor es wieder verschwand. Die Luft war kühl, aber nicht kalt, und irgendwo in den Gassen summte bereits das Leben, als wüsste es, dass es gleich gebraucht würde.

Pierre Marquanteur stand am Fenster seines kleinen Büros in der Dienststelle der FoPoCri – Force de Police Criminelle. Das Gebäude war ein Relikt aus den Siebzigern, Beton, der sich nie für Schönheit interessiert hatte, aber für Standhaftigkeit. Er mochte das Fenster, weil es ihm einen Blick auf den Vieux-Port erlaubte, ohne dass er sich bücken musste. In diesen Minuten vor dem Tag, wenn die Stadt noch nicht entschieden hatte, ob sie freundlich oder feindlich sein wollte, fühlte er sich am ruhigsten. Das war der Moment, in dem die Sorgen leiser wurden, aber nie ganz verschwanden.

Er hatte sich angewöhnt, die Stadt zu mustern wie einen Verdächtigen: Wo war die Schwachstelle, wo die Routine, wo das Unerwartete? Marseille war ein Puzzle, das sich jeden Tag neu zusammensetzte, und Pierre wusste, dass er nie alle Teile finden würde. Aber er war zufrieden damit, die fehlenden Stücke zu suchen.

Sein Schreibtisch war aufgeräumt, aber nicht leer. Eine Tasse mit kaltem Kaffee, ein Notizbuch, das mehr Fragen als Antworten enthielt, und ein Stapel Akten, die nach Aufmerksamkeit verlangten. Er griff nach dem Notizbuch, blätterte durch die letzten Seiten. Namen, Orte, kleine Skizzen, die er in den Nächten gezeichnet hatte, wenn der Schlaf sich weigerte, zu kommen. Er las die Zeile, die er gestern Abend geschrieben hatte: „Die Stadt atmet anders, wenn niemand hinsieht.“ Er wusste nicht mehr, ob er das als Warnung oder als Trost gemeint hatte.

Ein Klopfen an der Tür. François trat ein, wie immer ohne Ankündigung, aber mit einer Selbstverständlichkeit, die Pierre schätzte. François war sein engster Kollege, ein Mann, der das Talent besaß, in jedem Raum zu verschwinden und gleichzeitig alles zu sehen. Groß, breitschultrig, mit Händen, die Geschichten erzählten, wenn sie etwas berührten. Sein Gesicht war das eines Mannes, der zu viel gesehen hatte, aber nicht genug, um müde zu werden.

„Du bist früh“, sagte Pierre, ohne aufzusehen.

„Du bist immer früher“, erwiderte François, und setzte sich auf die Kante des Schreibtischs. Er roch nach Tabak und Regen, eine Mischung, die in Marseille so alltäglich war wie das Summen der Zikaden im Sommer.

„Was treibt dich heute?“ fragte Pierre.

François zuckte die Schultern. „Die Stadt. Sie ist unruhig. Ich habe gestern Nacht mit Rita gesprochen. Sie sagt, die Hafenarbeiter sind nervös. Jemand hat wieder die Kameras am Môle Léon Gourret sabotiert. Und die Kollegen von der Gendarmerie haben einen anonymen Hinweis bekommen. Nichts Konkretes, aber…“

Pierre nickte. Die Stadt war selten konkret. Sie sprach in Andeutungen, in Geräuschen, die erst später zu Worten wurden. „Rita hat ein gutes Ohr für Unruhe.“

„Sie hat ein gutes Ohr für alles, was nicht in den Akten steht“, sagte François. „Und sie mag es, wenn man ihr zuhört.“

Rita war die Dritte im Team, eine Frau, die ihre Herkunft wie einen Mantel trug: italienische Wurzeln, französische Härte, ein Blick, der durch Wände ging. Sie arbeitete seit drei Jahren mit Pierre und François, und in dieser Zeit hatte sie mehr Verhöre geführt als die meisten Kollegen in einem Jahrzehnt. Ihr Talent war es, Menschen zum Reden zu bringen, ohne dass sie merkten, dass sie redeten.

„Hast du sie heute schon gesehen?“ fragte Pierre.

„Sie kommt gleich“, sagte François. „Sie wollte noch mit einem Informanten sprechen. Ein Mann, der morgens am Quai spielt – Geige, sagt sie. Er hört Dinge, die andere überhören.“

Pierre lächelte. Die Musiker am Hafen waren ein eigenes Volk. Sie kannten die Rhythmen der Stadt besser als jeder Polizist. „Nadja?“

„Ja. Sie ist neu hier. Flüchtling, sagt man. Aber sie spielt, als hätte sie schon immer hier gestanden.“

Pierre dachte an die Morgen, an denen er Nadja gesehen hatte. Ihre Hände waren schmal, aber stark, und wenn sie spielte, schien die Stadt für einen Moment still zu werden. Er hatte ihr einmal ein paar Münzen gegeben, und sie hatte nur genickt, als ob sie wusste, dass das Geld nicht das Wesentliche war.

Das Telefon klingelte. Pierre griff danach, hörte die Stimme von Melanie, der Sekretärin, die das Büro zusammenhielt wie ein Dirigent ein Orchester. „Pierre, Rita ist da. Soll ich sie schicken?“

„Ja, danke, Melanie.“

Rita trat ein, das Haar zu einem festen Zopf gebunden, die Augen wach. Sie trug einen Mantel, der nach Regen roch, und einen Blick, der nach Fragen schmeckte.

„Guten Morgen“, sagte sie, und setzte sich neben François. „Nadja hat heute früh etwas gehört. Zwei Männer am Steg, leise Stimmen, eine davon mit Akzent. Sie sprachen über einen ‚großen Tag‘. Und über einen Namen, den ich schon einmal gehört habe: Delvaux.“

Pierre hob die Augenbrauen. „Alban Delvaux?“

„Ja. Der Unternehmer. Die Stiftung, die Oper, die Yachten. Nadja sagt, die Männer waren nervös. Einer hatte eine Tasche, die zu schwer für einen Spaziergang war.“

François grinste schief. „Vielleicht ein Picknick.“

„Vielleicht etwas anderes“, sagte Rita. „Nadja hat ein gutes Ohr für Lügen. Sie sagt, der eine Mann hat gelacht, aber nicht aus Freude.“

Pierre notierte den Namen. Delvaux war einer von denen, die in Marseille mehr Einfluss hatten, als ihre Visitenkarten verrieten. Er war bekannt für seine Großzügigkeit, aber auch für seine Härte im Geschäft. Pierre hatte ihn zweimal getroffen, bei Veranstaltungen, bei denen er sich fehl am Platz gefühlt hatte. Delvaux war ein Mann, der gerne gesehen wurde, aber nie zu viel zeigte.

„Wir behalten ihn im Auge“, sagte Pierre. „Was ist mit den Kameras am Môle?“

Rita schüttelte den Kopf. „Die Security sagt, es war ein technisches Problem. Aber ich habe mit Jean-Luc Hombard gesprochen, dem Leiter. Er ist nervös. Die Updates, die sie eingespielt haben, kamen von einer Firma in La Ciotat. Klein, aber mit Verbindungen nach Genua.“

François seufzte. „Genua ist überall.“

Pierre wusste, dass Genua für Marseille so etwas wie ein Spiegel war – eine Stadt, die ihre eigenen Schatten hatte, aber deren Schatten manchmal bis ins eigene Haus reichten.

Die Tür öffnete sich erneut. Pascal Montpierre trat ein, der Beweismittel-Experte, der lieber mit Spuren sprach als mit Menschen. Er trug wie immer Handschuhe, selbst wenn er nur Papier anfasste.

„Ich habe die Protokolle vom letzten Brand in Cassis dabei“, sagte er, und legte einen Umschlag auf den Tisch. „Nichts Spektakuläres. Aber am Rand des Weinkellers lag ein Origami. Eine Libelle. Papier, sauber gefaltet. Ich habe die Fotos dabei.“

Pierre nahm die Bilder, betrachtete die Libelle. „Symbolik?“

Pascal nickte. „Nicht das erste Mal. In Toulon gab es vor zwei Jahren eine Serie von Bränden, bei denen Papierboote hinterlassen wurden. Der Täter mochte Fabeln.“

Rita blätterte durch die Fotos. „La Fontaine?“

„Immer wieder“, sagte Pascal. „Die Polizei in Toulon hat nie einen Zusammenhang gefunden. Aber ich mag Muster.“

Pierre dachte an die Zikaden, die im Sommer die Stadt übertönten. An die Ameisen, die in den Fabeln immer arbeiteten, während die Zikade sang. Er fragte sich, ob die Stadt heute eine Zikade oder eine Ameise war.

François stand auf, streckte sich. „Ich hole Kaffee. Wer will?“

„Den guten“, sagte Rita.

„Den schlechten“, sagte Pascal. „Ich mag, wenn der Kaffee nach Arbeit schmeckt.“

Pierre lächelte. Die Routine war ein Schutz, ein Mantel gegen die Unruhe, die jeden Tag begann, bevor die Sonne richtig aufging.

Als François gegangen war, wandte sich Rita an Pierre. „Was denkst du?“

Pierre überlegte. „Ich denke, die Stadt ist nervös. Die Menschen sind nervös. Und wenn Menschen nervös sind, tun sie Dinge, die sie sonst nicht tun.“

Rita nickte. „Ich habe gestern mit Maude gesprochen, Delvauxs Assistentin. Sie sagt, er ist in letzter Zeit unruhig. Er hat Termine verschoben, Routen geändert. Sie glaubt, er hat Angst.“

„Vor wem?“ fragte Pierre.

„Vor dem, was er nicht sieht“, sagte Rita. „Oder vor dem, was er zu oft gesehen hat.“

Pierre machte sich eine Notiz. Angst war ein schlechter Ratgeber, aber ein guter Hinweisgeber.

François kam zurück, stellte die Tassen auf den Tisch. Der Kaffee dampfte, roch nach Bitterkeit und Hoffnung.

„Melanie sagt, wir haben Post“, sagte François. „Ein Umschlag, anonym. Nur ein Zitat: ‚Wenn die Ameise plündert, darf die Zikade singen.‘“

Pierre nahm den Umschlag, las die Zeile. La Fontaine. Immer wieder La Fontaine.

„Wir sollten uns die Fabeln noch einmal ansehen“, sagte er. „Vielleicht sind sie mehr als nur Geschichten.“

Pascal nickte. „Ich habe eine Sammlung im Büro. Reclam-Gelb, wie es sich gehört.“

Rita lächelte. „Du bist ein Romantiker, Pascal.“

„Ich bin ein Sammler“, erwiderte er. „Romantik ist ein Luxus.“

Die Sonne stieg langsam über die Dächer, tauchte den Vieux-Port in ein Licht, das alles schärfer machte. Die Fischerboote schaukelten, als ob sie eine Melodie kannten, die niemand sonst hörte.

Pierre stand auf, trat ans Fenster. Er sah Nadja, die Geige spielte, sah Maude, die am Wasser entlangging, sah Delvaux, der auf einer Yacht stand, den Blick auf das Meer gerichtet. Er sah Rita, die Menschen beobachtete, François, der den Kaffee trank, Pascal, der Papier faltete.

Er dachte an die Stadt, an die Stimmen, die gleich laut werden würden. An die Sorgen, die jeder mit sich trug: Rita, die Angst hatte, dass ihre Familie in Italien wieder in Schwierigkeiten geriet. François, der nie darüber sprach, warum er nachts nicht schlief. Pascal, der immer einen Schritt zu weit ging, wenn es um Beweise ging. Melanie, die alles zusammenhielt, aber nie fragte, warum.

Und er dachte an sich selbst, an die Jahre, die er in Marseille verbracht hatte, an die Fälle, die gelöst waren, aber nie ganz abgeschlossen. An die Nächte, in denen er am Hafen entlangging, das Maßband in der Tasche, bereit, die Stadt zu vermessen, auch wenn er wusste, dass sie sich nie ganz messen ließ.

Die Stadt war bereit für einen neuen Tag. Die Sorgen waren bereit, laut zu werden. Die Stimmen waren bereit, gehört zu werden.

Pierre griff nach seinem Notizbuch, schrieb eine Zeile: „Die Zikade singt, weil sie glaubt, dass niemand zuhört. Die Ameise arbeitet, weil sie glaubt, dass niemand hinsieht.“

Er wusste, dass heute etwas beginnen würde. Etwas, das noch keinen Namen hatte. Aber er wusste auch, dass er bereit war, zuzuhören.

Die Stadt atmete. Die Zikaden waren noch still. Aber der Sommer war nah, und die Stimmen würden bald laut werden.

Marseille ist eine Stadt, die nie ganz schläft. Selbst wenn die Nacht über die Dächer kriecht und die Boulevards in Dunkelheit taucht, bleibt ein Rest von Bewegung, ein Flirren, das sich nicht vertreiben lässt. Es ist das Summen der Zikaden im Sommer, das Kreischen der Möwen, das Klappern der alten Fensterläden im Mistral. Die Stadt lebt zwischen den Extremen: Hitze und Wind, Reichtum und Armut, Tradition und Aufbruch.

Am frühen Morgen, wenn die Sonne noch zögert, steigen die Gerüche aus den Gassen: Salz vom Meer, Diesel von den Lastwagen, die die frischen Fische vom Hafen zu den Märkten bringen. In den Cafés sitzen die ersten Stammgäste, ihre Stimmen rau vom Tabak und von Geschichten, die schon hundertmal erzählt wurden. Ein Kellner poliert Gläser, als könnte er damit die Zeit anhalten. Die Bäckereien öffnen ihre Türen, und der Duft von Baguette und Croissant mischt sich mit dem Lärm der Mopeds, die wie Fliegen durch die engen Straßen jagen.

Der Vieux-Port ist das Herz der Stadt. Fischerboote schaukeln neben Yachten, und die Wasseroberfläche spiegelt die Fassaden, die schon seit Jahrhunderten der Sonne trotzen. Händler bauen ihre Stände auf, bieten Muscheln, Seeigel, Sardinen an, und die Stimmen der Käufer und Verkäufer vermengen sich zu einem Chor, der kein Dirigent braucht. Touristen schlendern über die Quai, suchen nach dem perfekten Blick, während Einheimische ihre Routinen pflegen – ein schneller Espresso, ein Plausch über das Wetter, ein Streit um den Preis der Tomaten.

Marseille ist stolz und rau. Die Menschen hier sind keine Schauspieler, sie sind Überlebenskünstler. Sie wissen, dass die Stadt ihnen nichts schenkt, aber sie nehmen, was sie bekommen können. In den Vierteln rund um die Canebière, wo die Fassaden bröckeln und die Wäsche zwischen den Häusern hängt, leben Familien, die aus allen Teilen der Welt stammen. Arabisch, Italienisch, Französisch, ein Dutzend Sprachen in einem einzigen Treppenhaus. Die Kinder spielen Fußball auf staubigen Plätzen, die Alten sitzen auf Plastikstühlen und beobachten das Leben, das an ihnen vorbeizieht.

Die Polizei ist Teil des Stadtbildes, aber nie ganz willkommen. Blaulicht spiegelt sich in den Pfützen, Uniformen mischen sich unter die Menge, und doch weiß jeder, dass die wirklichen Regeln woanders gemacht werden – in Hinterzimmern, auf Märkten, in den Bars, die nie ganz schließen. Commissaire Marquanteur kennt diese Regeln. Er weiß, dass ein Blick oft mehr sagt als ein Protokoll, dass Schweigen manchmal lauter ist als ein Geständnis.

Am Mittag wird die Stadt laut. Die Sonne brennt auf den Asphalt, die Hitze flimmert über den Dächern, und die Menschen suchen Schatten, wo sie ihn finden können. In den Büros wird wenig gearbeitet, dafür viel diskutiert. Die Märkte sind überfüllt, das Gedränge ist Teil des Spiels. Die Fischer kehren zurück, ihre Gesichter gezeichnet vom Wind und vom Meer, und die Restaurants bereiten Bouillabaisse vor, die nach Fenchel und Vergangenheit schmeckt.

Am Abend verändert sich Marseille. Die Hitze weicht einer feuchten Kühle, die Lichter der Stadt spiegeln sich im Wasser, und die Stimmen werden leiser, aber nicht weniger. Musik dringt aus offenen Fenstern, irgendwo spielt jemand Gitarre, irgendwo lacht jemand zu laut. Die Bars füllen sich, die Gespräche werden intensiver, und die Stadt atmet langsamer, als würde sie für einen Moment innehalten.

Und immer wieder das Meer. Es ist nie weit entfernt, nie ganz vergessen. Es bestimmt den Rhythmus der Stadt, die Träume ihrer Bewohner, die Geschichten, die sie erzählen. Marseille ist eine Stadt, die sich nicht erklären lässt, nur erleben. Sie ist voller Widersprüche, voller Leben, voller Geheimnisse. Wer hier lebt, weiß, dass jeder Tag eine neue Geschichte bringt – manchmal schön, manchmal gefährlich, immer echt.

Für Commissaire Marquanteur und sein Team ist Marseille mehr als nur ein Schauplatz. Sie kennen die Ecken, in denen sich die Sorgen sammeln, die Cafés, in denen die Wahrheit zwischen zwei Schlucken Kaffee gesagt wird, die Gassen, in denen die Angst wohnt. Sie wissen, dass die Stadt ihnen nie alles zeigt, aber genug, um weiterzumachen. Und sie wissen, dass die Zikaden nie ganz verstummen werden – nicht in Marseille, nicht in diesem Sommer.

So lebt und atmet Marseille – eine Stadt, die in jedem Fall, in jeder Begegnung, in jedem Augenblick ihr eigenes Lied singt.

Kapitel 1 (Marquanteur erzählt)

Manchmal riecht Marseille am frühen Morgen nach Salz, Diesel und einem Hauch von Anarchie. Ich lief am Quai entlang, dem Vieux-Port entgegen, als die Luft vibrierte – erst ein Knacken, als ob irgendwo ein Stahlseil riss, dann der Schlag. Das Wasser hob sich, als hätte der Hafen einen Atemzug getan. Ich stolperte, fing mich, blickte auf.

Flammen schossen aus einer weißen Yacht zwei Stege weiter, eine aufgerissene Muschel aus Fiberglas, funkelnde Splitter wie Konfetti. Schreie. Eine Möwe, die zu tief kam, verlor die Federung, taumelte und flog weiter, als hätte sie sich anders entschieden. Ich rannte los. Mein Telefon vibrierte.

„Sag mir, du bist schon da“, hörte ich François’ Stimme. Er klang wach und trocken – ein Ton, den man nur Kultivieren kann, wenn man ständig zu früh geweckt wird.

„Am Wasser. Ich sehe die Flammen.“

„FoPoCri ist alarmiert. Pompiers auch. Vieux-Port, Steg K, Box 12. Yacht heißt La Reine d’Azur. Eigentümer… war… Alban Delvaux.“

Ich hatte den Namen schon einmal gehört. Marseille hat so seine Leute, deren Namen wie Logos sind. Delvaux gehörte dazu: Unternehmer, Philanthrop mit Pressefotos neben Kiefernsetzlingen, Sponsor von Oper und Strandmüllsammelaktionen. Und eine Yacht, die jetzt brannte.

„Ich bin fünf Minuten weg“, meinte ich, „wenn der Verkehr mich nicht frisst.“

„Heute hat er Appetit“, erwiderte François. „Und, Pierre – pass auf. Es gab eine zweite Detonation, kleiner.“

Das Blaulicht kam mir entgegen. Ich duckte mich reflexartig, als ein Stück Gelcoat pfeifend am Kopf vorbeischoss und ins Wasser klatschte. Am Kopfende des Stegs zerrte bereits ein Mann in orangefarbener Weste einen Schlauch hinter sich her, Flüche, Befehle, das Krachen, wenn ein Tau brannte. Ich zeigte meinen Ausweis. „Marquanteur, FoPoCri.“

„Capitaine Bonnet, Sapeurs-Pompiers.“ Er war ein massiver Typ mit grauen Koteletten, Schweiß und Ruß in den Falten. „Kein Zugang auf den Steg, solange wir die Gasflaschen nicht haben. Zwei an Bord gewesen, eine hat’s erwischt.“

„Überlebende?“

„Drei im Wasser, rausgezogen. Eine Frau am Steg, Schock. Und…“ Er wies mit dem Kinn. „Da ist einer noch drin.“

Ich sah durch die Flammenlücken etwas Dunkles, Festes, das nicht zu den freundlichen Formen einer Yacht gehört. Eine Gestalt, die unter dem Cockpittisch eingeklemmt schien, ein Arm, der nicht mehr zum Körper gehörte. Der Geruch war eine grauenhafte Mischung aus Chemie, verglastem Holz und etwas Süßlichem, das ich nie vergessen werde. Man gewöhnt sich nicht an Tod. Wer das behauptet, belügt sich selbst – oder ihn freut das Falsche.

Zwei Meter neben mir stand eine junge Frau, die knöchellangen Haaren standen zu Berge, als hätte sie in eine Steckdose gefasst. Sie trug ein weißes Kleid, das rot gesprenkelt war, nicht ihr Blut, soweit ich sehen konnte. Ihre Hände klammerten sich an eine Panerai-Uhr, viel zu groß für ihr Handgelenk. „Er ist drin“, sagte sie, ich weiß nicht, ob zu mir, zu sich selbst oder zu irgendwem, der sie hören sollte. „Er ist drin.“

„Wie heißen Sie?“ fragte ich.

„Maude.“ Ihr Mund zitterte, als sie den Namen ausstieß. „Maude Rigal. Ich bin… war… seine Assistentin.“

„Von Herrn Delvaux?“

Sie nickte. „Er wollte das Boot selbst ablegen. Skipper kommt sonst, aber er wollte. Er sagte, es wäre… ein guter Tag.“ Ihre Augen verloren den Fokus, als ob sie den Satz irgendwo an der Reling hängen ließ.

François war plötzlich neben mir, ohne dass ich ihn hatte kommen sehen. Er ist gut darin, die Luft nicht zu stören, wenn er auftaucht. „Verkehr hat Hunger“, sagte er. „Aber ich beiße zurück. Was haben wir?“

„Delvaux vermutlich tot, Pompiers arbeiten an Gasflasche, Assistentin Maude Rigal, drei aus dem Wasser. Und…“ Ich deutete auf die Kante des Stegs. An der hölzernen Bordkante, fleischfarben aufgeplatzt von der Hitze, klemmte etwas Unwirkliches: ein kleines Objekt, das die Realität beleidigte, weil es sorgfältig und sauber war. Ein Insekt. Papier, präzise gefaltet. Ein Origami. Keine Kranichform, wie man sie in Kinderzimmern sieht – eher was mit einer geraden Stirn, häutigen Flügeln in Dreiecksfalten. Eine Zikade. La cigale.

„Einer hat Humor“, murmelte François. „Oder glaubt, Poesie sei eine Entschuldigung.“

„Nicht anfassen“, sagte ich, zu mir selbst genauso wie zu ihm. Ich zückte mein Handy, fotografierte. Ein feiner, durchsichtiger Beutel, wie man ihn im Juwelierladen bekommt, schützte das Papier vor Spritzwasser. Mit einer Angelschnur war er an die Klampe gebunden. Wer immer das platziert hatte, hatte gewollt, dass wir es finden.

Capitaine Bonnet kam zurück, gab Anweisungen. Die zweite Gasflasche war gesichert. Die Flammen schrien noch, aber sie verloren. Auf dem Wasser trieben kleine brennende Inseln – Polsterreste, Lacke. Jemand aus Delvaux’ PR-Team würde irgendwann „Tragischer Unfall“ sagen, auf gerautetem Papier. Aber diese Zikade sprach eine andere Sprache.

„CCTV?“ fragte François. Er hatte die Stirn in Falten gelegt, die er bekommt, wenn er mental Pfeile auf einer unsichtbaren Karte zieht.

„Marina hat eine Leitung, ja“, beantwortete ich mir selbst die Frage, dann wandte ich mich an Bonnet. „Ist der Sicherheitsleiter da?“

„Der, der die Nachtschicht gemacht hat? Taugt nichts. Aber der Chef kommt gleich. Sie rufen schon.“

Die Bitte um Ausweisungen und die Aufforderung, Absperrband zu respektieren, konkurrierten mit dem Drang der Umstehenden, das Ereignis durch Telefone zu filtern. Ein Mann mit einem Hund versuchte gegen den Strom zu gehen, blieb dann stehen, als er meinen Blick sah. Ich kehrte zu Maude zurück.

„Maude, atmen Sie. Tief. Hören Sie mir zu. Wie viele waren an Bord? Sie sagten: Er, Sie?“

„Nicht ich“, stieß sie hervor. „Ich… ich hatte die Mappe. Ich war bis zur Rampe, dann bin ich zurück. Er, und…“ Sie blinzelte. „Ein junger Mann von der Stiftung. Praktikant. Romain. Ich kenne seinen Nachnamen nicht. Und ein Skipper-Ersatz, weil Hassan krank ist. Stand so in der Nachricht. Ich… ich habe sie ihm weitergeleitet.“

„Die Nachricht kam an Sie?“

„An die zentrale Adresse der Stiftung. ‚Hassan krank‘. Ohne Gruß. Ich dachte…“ Ihre Stimme brach. Sie presste die zu große Uhr an ihre Brust, als wollte sie damit einen Herzschrittmacher improvisieren.

„Haben Sie die Nachricht noch?“

Sie griff in ihre Tasche, zitterte, hielt mir ein Telefon hin. Das Display war rissig. Gmail, Betreff: Skipper. Inhalt: „Kann heute nicht. Magen. Ersatzmann schickt Agentur. 6:30 an Steg. H.“

Ich zeigte François den Rand des Bildschirms. Die Absenderadresse war ein Freemailer. Keine Signatur. François sah mich an. „Jemand hat sie gespielt,“ sagte er. „Und uns.“

„Capitaine Bonnet, wir brauchen eine Kette“, sagte ich. „Niemand berührt irgendetwas, was nicht brennt. Und bitte lassen Sie uns die Stelle am Steg trocken. Wir haben eine Zikade.“

Er blinzelte mich an, als hätte ich „Elefant“ gesagt. Dann nickte er. Er hatte in seinem Leben schon genug gesehen, um nicht mehr zu fragen, wenn die Polizei poetisch wurde.

Zwei Polizisten vom Revier Vieux-Port kamen über die Absperrung. „Marquanteur“, grüßte mich einer. „Was haben wir?“

„Noch keine Theorie, nur Fragen. Halten Sie mir die Leute, die gefilmt haben. Ich will die ersten fünf, die am Steg waren, bevor die Pompiers von der Feuerwehr kamen. Als Zeugen, nicht als Feinde. Und die junge Frau— Maude— muss ins Hospital, Check wegen Schock.“

François legte eine Decke um sie. Sie ließ es zu wie eine Schülerin, die sich fügen gelernt hat. Er hat das. Seine Hände sind groß und ruhig, und Menschen geben ihm Dinge. Die Uhr war immer noch an ihr. Sie roch nach Parfüm, das den Rauch nicht überzeugte.

„Ich habe Delvaux immer für glatt gehalten“, sagte François leise, ohne Spott, eher als Notiz. „Aber glatt ist ölhaltig, und Öl brennt gut.“

Die „La Reine d’Azur“ gab zischend auf. In den Augenblicken, in denen Flammen Wind holten und abflachten, war der Sprengschaden zu erkennen. Nicht nur ein Feuer, das sich irgendwo in der Kombüse heimlich warm gemacht hatte. Unten, Steuerbord, knapp hinter dem Bug, war das Laminat nach innen gedrückt. Eine inwendig gesetzte Ladung. Oder etwas, das von außen angedockt hatte? Ich dachte an ROVs – kleine Tauchroboter, die man bei Youtube an Pipelines sieht. Marseille ist eine Stadt der Fischer – und der Bastler. Jemand mit einer 3D-Drucker-Etikette und schlechten Ideen konnte Dinge bauen, die man früher nur im Krieg sah.

„Hausboot-Security!“, brummte eine Stimme. Ein Mann in einem Poloshirt, klein, füllig, die Haare militärisch kurz, kam angerannt, funkelte Wut. „Was geht hier vor? Meine Kameras sind…“ Er stoppte, als er mich sah. „Sitzt alles in der Zentrale. Aber heute Nacht waren Updates. Die Firma hat gesagt…“

„Ich liebe Updates“, sagte François. „Vor allem, wenn sie zum falschen Zeitpunkt kommen. Wie heißen Sie?“

„Jean-Luc Hombard. Leiter Sicherheit der Anlage.“

„Zeigen Sie mir Ihre Zentrale“, sagte ich. „Und hören Sie auf zu reden, bevor Sie wissen, was Sie gesagt haben.“

Wir gingen. Ich warf der Zikade noch einen Blick zu, wie man einem Tier den Blick zuwirft, das man nicht einschätzen kann. Sie erinnerte mich an die Fabel: Die Zikade und die Ameise. Die Zikade singt, die Ameise arbeitet. Die Moral, abhängig davon, welcher Großmutter man zuhört.

Die Zentrale der Marina war ein Raum mit sieben Monitoren und einem Aquarium voller überforderter Neonfische. Hombard zeigte auf die Zeitleiste. „Zwischen 02:10 und 05:35 – Bewegung, aufgezeichnet. Um 05:36: Update. Danach… Nichts.“

„Zeig uns vor dem Update.“

Er spulte zurück. Graustufenbilder, ein Möwenschatten, eine Katze, die auflass, als ob die Nacht ihr gehöre. Dann ein hungriger Pixelteppich, der sich bewegte: eine Gestalt, die die Routine kannte. Blaue Arbeitsjacke, Kapuze, ein Trolley, wie ihn Tonleute benutzen. Er ging nicht zum Haupteingang, sondern durch das Seitentor, die Schulter an den Sensor, einer, der schon mal da war. Der Trolley rollte, man hörte ihn fast, obwohl es nur ein Video war.

„Zoom“, sagte ich.

„Mehr geht nicht. Es ist 720p.“

„Du solltest dich bei deinem Chef beklagen“, murmelte François, halb ernst, halb Notiz an die Zukunft. „Und bei deinem Updateanbieter.“

Der Mann mit der Kapuze schob den Trolley bis zum Steg, verschwand aus dem Sichtbereich. Drei Minuten später tauchte er wieder auf, ohne Trolley. Sein Gang war anders, als hätte er etwas Erledigtes im Rücken zu tragen: Er war leichter.

„Wo steht die Kamera am Steg selbst?“, fragte ich.

„Störung seit zwei Tagen. Wasser in der Leitung. Wir haben…“

„… Updates“, sagten François und ich im Chor.

„Es ist ein Wunder, dass wir überhaupt noch Fälle aufklären“, sagte François. „Die Technik ist permanent beleidigt.“

Ich fotografierte den Bildschirm, die Zeitanzeige. 05:32 bis 05:39. „Und was ist um 06:10?“

Hombard klickte. Die Zeile war rot. „Da kommt die Frau. Maude, ist es? Sie hat den Steg betreten, dann wieder verlassen. Um 06:27 – Delvaux. Er läuft, als hätte er es eilig. Um 06:31 – eine dritte Person. Sieht aus wie…“ Er runzelte die Stirn. „Skipper?“

„Zeig ran“, sagte ich. Man sah einen Mann mittleren Alters, dünn, kurzer Bart, Baseballcap der Marke eines Segelmachers, Sonnenbrille, Handschuhe. Er trug eine Tasche über der Schulter, die an eine Lenzpumpe erinnerte. „Er zeigt keinen Ausweis an der Schranke“, sagte Hombard. „Das Tor war offen.“

Ich fühlte, wie die bekannten Zahnräder in meinem Kopf ineinandergriffen. Es war kein besonderes Gefühl. Eher das Maßband, das man anlegt. Es reichte noch nicht bis zum Boden.

„Wir brauchen die Praxis“, sagte ich. „Nicht nur Video.“

„Was meinst du?“

„Explosivstoffreste. Wir brauchen das Team von Pascal. Und David für die Ballistik, auch wenn das hier nicht ballistisch ist. Sprengchemie.“

François tippte schon, als hätte er gewusst, was ich sagen würde.

Wir gingen zurück. Die Pompiers hatten den Brand unten erschöpft. Die Yacht sah aus, als hätte jemand ihre Rippen gezählt. Der Gerichtsmediziner Dr. Neuville kam, in seinem weißen Overall, würdevoll wie ein Chirurg in den Dreißigern. Wir schüttelten uns nur in der Luft die Hände.

„Alban Delvaux“, sagte er, nachdem er sich verständigt hatte, so zu tun, als wäre ein Mensch ein Beweisstück. „Es wird eine Bestätigung brauchen, aber… ja. Der Unterkiefer ist…“ Er hob ihn nicht an. Er respektiert die Toten, indem er nicht rhetorisch wird. „Es wird nichts Überraschendes geben, Pierre. Gewalt, thermische Einwirkung, Splitter. Und…“ Er schnupperte, ich sah seinen Blick. „RDX oder eine Mischung. Ich rieche es nicht, ich weiß es. Erfahrung. Aber die FTIR wird es bestätigen.“

„Jemand hat es nicht improvisiert“, sagte François. „Kein Benzinkanister-Künstler.“

„Ein Profi oder jemand mit YouTube und Zugang“, erwiderte ich.

Ein junger Kollege vom Revier tauchte auf. „Gibt eine Frau da, die hat den Mann in der Arbeitsjacke gesehen. Sie hat gespielt. Geige. Für Touristen. Sie ist noch da. Sie hat Angst, man nimmt ihr die Lizenz weg.“

„In Marseille gibt es keine Lizenz zum Spielen“, sagte François. „Nur die zum Überleben. Bring sie.“

Sie war schlank und trug eine billige schwarze Jacke, die einmal zu jemand anderem gehört hatte. Die Geige hatte bessere Tage gesehen, aber ihre Hände hielten sie, als wäre sie ein Tier, das man beruhigt. „Ich war hier“, sagte sie, zeigte auf die Stelle unter den Platanen. „Es bringt morgens nicht viel. Aber manchmal kommen Leute vom Schiff. Er kam, bevor es hell war. Blaue Jacke, wie im Winter. Er hat nicht gesprochen. Er hat eine Zigarette angezündet und nicht geraucht. Nur gehalten. Er hat sie dann beim Gehen fallen lassen. Ich wollte sie aufheben, weil…“ Sie sah mich an, als ob sie sich entschuldigen müsste für jedes Gramm Tabak, das sie aus dem Müll nahm. „Aber die Polizei sagt, ich soll nicht.“

„Sie haben richtig gehandelt“, sagte ich. „Wie heißen Sie?“

„Nadja.“ Sie zog die Schultern hoch. „Ohne Papiere, Monsieur. Ich…“

„Heute sind Sie Zeugin“, erwiderte ich. „Keine Gefahr. Sie spielen die Wahrheit, und ich höre zu. Haben Sie sein Gesicht gesehen?“

„Er hat die Kapuze tief. Aber…“ Sie schloss die Augen. „Die Hände. Breit. Ein Finger – hier – ein Stück fehlt, als hätte jemand…“ Sie deutete auf ihren kleinen Finger. Ein halbes Glied, etwas unsauber. „Und… seine Schuhe. Teuer. Nicht wie die Jacke. Die Jacke war alt. Die Schuhe nicht. Weiß, lange Schnürsenkel. Kunstleder, aber gut.“

„Sie haben ein Auge“, sagte François. „Und ein Ohr, nehme ich an.“

Sie lächelte, ganz kurz, verschämt. „Mein Ohr ist mein Leben.“

„Haben Sie etwas gehört? Außer dem Offensichtlichen?“

„Zwei Mal Metall auf Metall. Vorher. Nicht vom Boot. Am Steg. Als ob man etwas einhängt. Und… ein Summen. Nicht Motor. So…“ Sie imitierte ein Insekt, das vibrierte. Es war eine merkwürdig passende Geste.

„Danke“, sagte ich. „Das hilft.“

Wir holten die Zikade. Pascal Montpierre kam kurz darauf, in Gummi, lächelte flüchtig, weil es sein Beruf verlangt, aber nur mit den Augen. Er ist in Beweismitteln zu Hause wie andere im eigenen Wohnzimmer. Er hob den Plastikbeutel an den Rändern an, als hätte er Flügel aus Glas.

„Ein Origami. Sehr filigran“, sagte er. „Beschichtetes Papier. Nicht aus dem Drucker, eher Kartenmaterial. See-Karte, wenn ich den Druck anschaue. Mikrotext. Ich fotografiere es hier, packe es doppelt. Fingerabdrücke? Unwahrscheinlich, wenn Handschuhe im Spiel waren. Aber Hautschuppen setzen sich gerne in Flügelfalten.“

„Man hat ihn da hingelegt“, sagte ich. „Das ist ein Statement.“

„Das ist Größenwahn“, sagte François. „Oder Marketing.“

„Hatte wir schon mal Zikaden?“, fragte ich. „In anderen Fällen?“

„Nicht, dass ich wüsste“, sagte Pascal. „Aber ich erinnere mich an Toulon vor zwei Jahren. Da gab es bei einer Serie von Bränden kleine Papierboote. Der Täter mochte Symbolik.“

„Symbolik ist ein Luxus, den man sich nur leistet, wenn man sich sicher fühlt“, murmelte ich. Ich spürte, wie in meinem Nacken dieser schmale Streifen kühl wurde, der das Denken schärft. „Schick das Foto an die Innendienstler. Maxime. Und sag David, er soll uns einen Sprengstoffhund jetzt sofort organisieren. Ich will wissen, ob sich solche Zikaden schon mal blicken ließen.“

François nickte. „Und Monsieur Marteau?“, fragte er.

„Er wird uns anrufen, bevor ich ihm meine Geschichte geordnet erzählen kann“, erwiderte ich.

Er rief, ehe ich geantwortet hatte.

„Monsieur Marteau“, sagte ich, und sofort war sein Bild da: die hochgekrempelten Hemdsärmel, der Blick, der irgendwo unter dem, was man im Fernsehen sieht, einen anderen Kanal empfängt, die Hände in den Hosentaschen, wenn er nachdenkt. „Vieux-Port“, setzte ich an, „Delvaux. Explosion. Wir haben…“

„Ich weiß“, sagte er. „Ich sehe aus dem Fenster Rauch. Marseille ist klein. Was haben Sie, was ich nicht im TV sehen kann?“

„Eine Zikade. Origami. Kunststoffbeschichtetes Papier. Offensichtlich platziert.“

Eine Pause. „Wie eine Unterschrift.“

„So hört es sich an“, sagte ich.

„Wir hatten einen anonymen Hinweis heute Nacht“, fuhr er fort. „Die Lokalredaktion bekam eine E-Mail. Betreff: Rauschen ist Musik. Darin ein Absatz: ‚Wenn die Ameise plündert, darf die Zikade singen.‘ Unterschrift: La Cigale. Ein Link zu einem gesperrten Video. Unsere IT schaut drauf.“

„Delvaux war Ameise, wenn man den Spenderlisten glaubt“, sagte François. „Oder war er Zikade?“

„Sein Vermögen hat er mit Logistik gemacht“, sagte ich. „Cargos, Container, Häfen. Ameisenhaufen.“

„Wir treffen uns in einer Stunde im Bureau“, sagte Marteau. „Für jetzt: sichern Sie alles. Reden Sie mit niemandem länger als nötig.“ Seine Stimme war ruhig, aber ich hörte die schräge Note, die sie bekommt, wenn eins seiner inneren Schnappmesser aufgeht. „Pierre – kein Unfall. Das wissen Sie.“

„Ja.“

Er legte auf.

„Was erwartet uns?“, fragte François.

„Ein Kreis und ein Punkt in der Mitte“, sagte ich. „Wir beginnen am Punkt.“

Wir fuhren kurz ins Hospital, um mit Maude weiterzureden. Sie saß auf einer Trage, Decke bis zum Kinn, die Uhr an der Brust. „Ich sollte… ich sollte bei seiner Frau sein“, sagte sie. „Sofia. Sie wird…“

„Wo ist sie?“, fragte ich.

„Zu Hause. Rue Paradis. Aber…“ Sie schüttelte den Kopf, als ob in dieser Bewegung ein Nein stecke, das sie nicht sagen wollte.

„Sie mögen sich nicht“, sagte François. Er sagt solche Dinge, nicht um zu provozieren, sondern um entweder das Schweigen oder die Wahrheit zu haben. Beides hilft.

„Ich war seine Assistentin“, sagte sie, und in ihrem Ton lagen Schichten. „Er war… er hatte viele Assistentinnen. Ich mochte meinen Job.“

„Wer hat Zugang zu seinen Routen gehabt?“, fragte ich.

„Jeder, der E-Mails lesen kann, der in CC steht. Skipper, Agentur, ich, er. Und manchmal andere. Er mochte Überraschungen. Er verlegte gerne Termine. Er mochte es, wenn Dinge flossen.“

„Flüsse finden immer wieder ins Meer“, murmelte François.

„Sagt die Zikade“, erwiderte ich.

„Er hatte Feinde“, sagte Maude plötzlich, als hätte sie begriffen, dass sie uns nicht mit Zitatkalendern helfen würde. „Jeder, der Geld hat, hat Feinde. Aber… in der Stiftung…“ Sie wandte den Blick ab. „Es gab ein Projekt, das er stoppen musste. Müllanlage in Sfax. Ein Vertrag, den er aufkündigte. Die hatten Geld verloren. Ein Mann hat gedroht. Am Telefon. Arabisch. Ich habe es nicht verstanden. Alban hat gelacht. Er lachte viel, wenn es gefährlich war.“

„Namen?“, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. „Wir haben es nicht notiert.“

„Haben Sie Albans Telefon?“, setzte ich nach.

„Er hatte zwei. Eines liegt im Büro. Das andere hatte er… hatte er.“

Ich sah François an. Wir wussten beide, was Telefone in Flammen tun.

„Und Hassan, der echte Skipper?“, fragte ich. „Hat er wirklich Magen?“

„Er sagt, er war bei seiner Mutter. Ich ließ ihn nicht anrufen, um ihm nicht zu suggerieren, dass wir…“

„Wir rufen an“, sagte François.

Sie nickte. Ihre Hände zitterten weniger. Ich nahm ihre Uhr. „Er hat sie Ihnen geschenkt?“, fragte ich.

Eine egal Geste. „Man trägt, was man bekommt.“

„Wir geben sie Ihnen zurück, wenn wir sie nicht brauchen“, sagte ich. Ich reichte sie ihr wieder. Es war nicht nett. Es war eine Note in meinem Ohr: Wer schenkt wem wann was? Es ging nicht um die Uhr. Es ging um Geschmack.

Das Bureau roch nach Kaffee und Papier, als wir ankamen. Melanie hatte den guten Kaffee gemacht, den man in unserer Dienststelle in Marseille als Währung benutzte. In Marteaus Besprechungszimmer stand bereits ein Ausdruck der E-Mail. La Cigale. Jemand hatte eine Zikade als ASCII-Art gezeichnet. Jemand hatte Zeit.

„Das Video“, sagte Maxime, als wir uns setzten, „ist ein Ausschnitt aus einer anonymen Plattform. Drohnenaufnahme. Um 05:11 über dem Vieux-Port, höher als erlaubt. Man sieht einen Mann am Steg. Er lässt etwas ins Wasser. Klein. Ein ROV. Kein Spielzeug, aber auch nicht Militär. In China bekommt man Bausätze. Man kann sie mit GoPros bestücken. Er lässt es unter dem Bug verschwinden. Zwei Minuten später zieht er etwas anders heraus. Er befestigt…“ Er blickte zu David Hollande.

„… eine Ladung“, sagte David. „Mit Magnethalterung. Sehr sauber. Ich tippe auf eine HMX/RDX-Mischung, Plastifizierer. Timer, wahrscheinlich. Oder Fernzünder mit Kurzstrecken – UWB in der Nähe. Das werden wir nie wissen, wenn der Controller verbrannt ist.“

„Und die Zikade?“, fragte Marteau.

„Seemannskarte. Alter Druck. Stück einer Karte der Golf du Lion. Auf dem Flügel: mit Mikroschrift beschriftet – Drucker, nicht Hand. Wir vergrößern. Es könnte Koordinaten geben.“

„Was will er uns sagen?“, fragte François.

„Das ist das Miserable an Symbolen“, sagte ich. „Sie meinen immer mehr, als man sagt. Oder weniger.“

„Ich gebe es dem Psychologen nicht“, sagte Marteau. „Nicht jetzt. Wir verlieren Zeit, wenn wir Menschen in Schachteln sortieren, bevor sie überhaupt den ersten Tritt getan haben. Wir tun Folgendes: Pierre, Sie und François gehen Delvaux’ Straße entlang. Frau, Büro, Stiftung. Ich nehme die Political-Schiene. Es wird Druck geben. David, Pascal, Sie bleiben am Hafen. Maxime, Sie machen mir eine Liste: Delvauxs Verträge in den letzten zwei Jahren, insbesondere gekündigte mit mediterranen Partnern. Und – “ er blickte mich an „– wir nehmen die Zikade beim Wort. La Cigale. Suchen Sie Fabeln. Fabelnförderer. Fabelvereine. Fabeln sind nicht zufällig.“

„Monsieur“, sagte ich, „die Marina-Security hatte ein Update.“

„Lassen Sie sich von Hombard die Wartungsfirma geben“, erwiderte Marteau. „Wenn das Update ein Loch war, ist es unser Loch. Wer hat es gebohrt?“

Er drehte sich, Hände wieder in die Hosentaschen. „Und noch etwas: Vor zwei Monaten in Cassis – Brand in einem Weinlager, Besitzer tot. Nicht unser Fall, aber… Die Gendarmerie fand ein Origami. Kein Kranich. Eine Libelle. Ich will den Aktenordner hier.“

„Libelle, Zikade“, sagte François. „Insekten werden eine Plage.“

Ich trank den Kaffee in einem Zug aus. Es war kein Heldentum; es war ein Zwang. Mein Kopf musste Lärm machen, um zu funktionieren. „Delvaux hat gerne in der Öffentlichkeit getanzt“, sagte ich. „Jemand hat ihm die Musik bestimmt.“

„La Cigale“, sagte Marteau. „Die Zikade singt. Die Ameise schleppt. In unserer Fassung klaut die Ameise vielleicht. Und die Zikade hält sich für gerecht.“

„Oder die Zikade will nur Aufmerksamkeit“, sagte François.

„Wir werden sie ihr geben“, erwiderte Marteau. „Mehr, als sie will.“

Ich ging zum Fenster. Die Sonne kämpfte sich durch die Wolke, die vom Vieux-Port her kam. Der Rauch war nicht mehr schwarz, nur grau. Marseille roch wieder nach Salz, Diesel und einem Hauch von Anarchie. Ich dachte an Nadja, die summte, an Maude, die eine Uhr hielt, die nicht ihr gehörte, an die Zikade, deren Flügel in einem Plastikbeutel gefangen waren. Ich dachte an Delvaux, der gelacht hatte, wenn es gefährlich war. An einen Mann in einer blauen Arbeitsjacke, dessen kleiner Finger abgekürzt war. An Schuhe, die besser als der Rest waren.

„Fahr du“, sagte François. „Ich mag es, wenn du den Verkehr beißt.“

„Ich bin kein Hund.“

„Du bellst aber manchmal.“

„Halt die Klappe, François.“

Er grinste.

Wir gingen. Die Stadt machte Platz oder sie tat es nicht. Sie hatte selten Lust. Aber sie wusste, dass wir wiederkommen würden. Und dass wir ein Maßband hatten, das wir legten, immer wieder neu. Bis es irgendwann den Boden berührte. Bis die Zikade schwieg. Oder wir summten für sie.

Kapitel 2

Die Rue Paradis roch nach nassem Stein und teurem Parfüm. Die Hausnummer stand in Messing am Tor, länger als mein Zeigefinger. Ein Concierge mit dem Gemüt eines Ziegelsteins hob eine Augenbraue, als ich meinen Ausweis zeigte. Es dauerte fünf Telefonate und einen Blick, der mich daran erinnerte, dass hinter jeder eleganten Fassade eine Buchhaltung lauert, bis die Tür entriegelt wurde.

Sofia Delvaux erwartete uns nicht. Sie stand, als wir ins Wohnzimmer kamen, an einem Fenster und hielt einen Vorhang zwischen zwei Fingern, als könnte sie damit die Welt draußen anhalten. Sie war Anfang fünfzig, würde aber in Artikeln „zeitlos“ genannt werden. Ihre Augen waren trocken und leer, nicht weil sie nicht weinen konnte, sondern weil es Menschen gibt, die später weinen, wenn niemand mehr schaut.

Zwischen ihr und uns stand ein Mann in einem Anzug, der aussah wie eine Absage. „Maître Gensac“, sagte er, ohne dass wir gefragt hätten. „Frau Delvaux ist im Schock. Kurz.“

„Alle sind im Schock, Maître“, sagte ich. „Manche seit Jahren.“ Ich wandte mich an sie. „Madame Delvaux. Pierre Marquanteur, FoPoCri. Das, was ich sage, wird…“ Ich brach ab. Es gab keinen Satz, der jetzt passend wäre.

„Sie wollen wissen, wer ihn töten wollte“, sagte sie. Ihre Stimme war klar, und dahinter lag eine Müdigkeit wie Granit. „Die Liste ist lang und langweilig. Geschäftliche Gegner, politische Neider, Frauen. Männer. Er mochte es, gesehen zu werden. Und gehasst.“

„Ihr Verhältnis?“ fragte François ohne Politur.

„Feindlich. Zivilisiert.“ Sie ließ den Vorhang los. „Wir hatten getrennte Schlafzimmer, getrennte Konten, gemeinsame Fotografen. Ich werde nicht so tun, als überrasche mich Gewalt in dieser Stadt. Aber ich hätte erwartet, dass sie anders aussieht.“

„Wissen Sie von einer Drohung in den letzten Wochen?“ fragte ich. „E-Mails, Briefe, Anrufe.“

„Jeden Tag droht jemand. Ich lese sie nicht. Man hat Leute dafür. Sie heißen Kommunikation.“

„Hassan? Der Skipper.“

„Ein Schatz. Seit Jahren. Er bringt die Boote nach Hause, wenn Männer zu viel trinken. Heute Nacht war er bei seiner Mutter. Er schrieb mir. Ich habe die Nachricht nicht gelesen.“

Gensac räusperte sich. „Madame möchte sich ausruhen.“

„Madame kann sich ausruhen, sobald ich weiß, ob es in ihrem Haus irgendetwas gibt, was ich beschlagnahmen muss“, sagte ich. „Telefon Ihres Mannes? Zweitgerät? Safe?“

„Safe ist leer“, sagte sie. „Er mochte Vertrauen. Und Festplatten in der Cloud.“

Sie ließ uns in ein Arbeitszimmer. Es roch nach Leder und Papier, aber die Fächer waren erstaunlich leer. Menschen wie Delvaux arbeiteten in Hotel-Lobbys und in Autos, nicht hier. Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Einladungen und eine Karte mit einem Fabelzitat: La Fontaine, gerahmt. La cigale, ayant chanté tout l’été… Ich spürte, wie sich etwas in mir schloss. Manche Zufälle sind nur Zufälle, bis sie sich wiederholen.

„Geschenk“, sagte Sofia von der Tür aus, als hätte sie meinen Blick gespürt. „Von einem Bürgermeister, den er nicht unterstützte.“

Im Fahrstuhl nach unten sah François mich an. „Sie hasst ihn“, sagte er. „So langsam, dass es wie Liebe aussieht.“

„Das hilft uns nicht“, erwiderte ich. „Aber der Rahmen sagt mir, dass die Zikade unser Mann nicht zum ersten Mal im Kopf hatte.“

Die Stiftung lag zwei Straßen weiter von der Rue Paradis, Glas, Grünpflanzen, ein Empfang, der den Eindruck machte, er könnte ein Hotel sein. Das Logo – ein stilisiertes Blatt, das nach einem Logistikkran aussah, wenn man es schief betrachtete. Eine junge Frau mit ernstem Pony führte uns zum IT-Büro. Der Mann dort trug ein T-Shirt mit einer Katze, die auf einer Tastatur schlief.

„Der Skipper-Magen-Mail“, sagte er, bevor ich fragen konnte. „Wir haben die Header. Gesendet von einem Proton-Konto, Tor-Ausgang, SPF keine Aussage, DKIM… Egal. Aufgesetzt an die zentrale Adresse, verteilte an Maude, eine weitere Assistentin, intern an den Kalender. Der echte Hassan hat 20 Minuten später geschrieben, dass er heute kommt. Die zweite Mail landete im Spam. Maude hat sie nicht gesehen.“ Er hob die Schultern. „Regeln.“

„Zeig mir den Verteilerserver“, sagte ich. Ich tue dann so, als ob ich verstehe. Es beruhigt IT-Leute. Er zeigte Logs, IPs, Zeilen, die auf andere Zeilen zeigten. „Jemand hat sich die Strukturen vorher angeschaut“, sagte er. „Er wusste, wie man Mails so aussehen lässt, als kämen sie aus dem Haus. Der Trick ist alt, aber er funktioniert noch, wenn Leute morgens früh sind.“

„Wer hat Zugriff?“ fragte François. Er hatte immer diese Frage, und sie ist immer die richtige.

„Alle, die Delvaux vertraute. Es sind viele.“

„Die Zikade-Mail an die Presse“, fragte ich, „kam die auch zu euch?“

„Ja. An eine allgemeine Adresse, die wir für ‚Stiftung@‘ eingerichtet haben, damit wir alles sehen, was geschrieben wird. Er hatte Paranoia in Ordnung. Die Zikade schickte das Video nicht nur an die Zeitung, sondern an uns, an das Rathaus, an zwei Blogger, die gerne über Verschwörungen schreiben. Und an eine Adresse bei der Justiz, die…“ Er zuckte. „..die generisch ist. Möglicherweise ein Zufallstreffer. Er mag Aufmerksamkeit.“

„Oder er will, dass wir wissen, dass er uns sieht“, sagte ich.

Ich rief Hassan an. Er kam. Er war ein Mann mit weichen Augen und Händen, die mehr Wind als Arbeitsschweiß gesehen hatten. „Magen?“, fragte ich.

„Nein“, sagte er. „Ich war bei meiner Mutter. Sie lebt in L’Estaque. Ich schrieb Maude, dass ich komme. Ich kam. Um sieben. Da brannte es.“

„Erkennen Sie den Mann auf dem Video?“ fragte François und hielt ihm den Screenshot hin. Er blinzelte, schüttelte den Kopf. „Die Hälfte der Freizeitkapitäne sieht so aus“, sagte er. „Aber die Tasche…“ Sein Finger tippte auf das Bild. „Das ist keine Pumpe. Es ist ein Tauchroboter.“

„Sie kennen sich aus“, sagte ich.

„Ich rette jedes Jahr Touristenpropeller von Planeten, die ROV heißen“, erwiderte er. „Und ich kenne die Marken. Das Ding da kaufen reiche Jugendliche, die Fische filmen wollen. Oder Männer, die glauben, James Bond zu sein.“

„Wenn ich Ihnen sage, dass jemand damit eine Ladung setzte…?“

Er schloss die Augen. „Dann sind wir alle dumm.“

Zurück im Wagen sprach mein Telefon. „Pierre“, sagte Maxime, „die Gendarmerie Cassis hat uns die Libelle geschickt. Papier, Origami, gefunden in einer Asche am Rand eines Weinkellers. Auf dem Flügel: Mikroschrift. ‚Qui vole un œuf vole un bœuf.‘ Wer ein Ei stiehlt, stiehlt ein Rind. La Fontaine. Es ist La Fontaine überall.“

„Die Zikade singt gerne Zitate“, sagte François. „Oder er hat ein Reclamheft neben dem Sprengstoff liegen.“

„Und wir haben etwas bei Delvaux‘ Zikade“, fuhr Maxime fort. „Auf dem rechten Flügel – Koordinaten. 43.291… du weißt schon. Parc Borély. Rosengarten.“

Ich legte auf. François grinste schief. „Rosengarten? Ich mag Rosen.“

„Ich mag Absperrungen“, sagte ich. „Und ich mag keine Koordinaten, die der Täter liefert. Aber wenn er uns dort haben will, gehen wir hin – mit mehr als zwei Pistolen.“

Der Rosengarten im Parc Borély ist ein seltsamer Ort morgens. Alles ist ordentlich, als wäre die Stadt für einen Moment Deutschland geworden. Wir waren nicht allein. Zwei Streifenwagen, Pascal, David, zwei Leute vom Bombenkommando – die „dicken Bienen“, wie wir sie nennen. Sie bewegten sich langsam, als wäre der Boden eine Frage.

„Koordinate liegt da“, sagte Pascal und zeigte auf eine Betonbank, in deren Rücken ein Metallkasten eingelassen war, der normalerweise das Bewässerungssystem regelt. Jemand hatte ein Vorhängeschloss spröde geschnitten. Drinnen lag ein Buch. Reclam-Gelb. Fabeln. Aufgeschlagen. Zwischen Seite 37 und 38 – eine Libelle. Papier. Und darunter, sauber, als ob es in einer Stationers-Auslage läge: ein USB-Stick, Rot. Billig.

„Lasst mich zuerst“, sagte einer der „Bienen“. Seine Hände waren ruhiger als meine Gedanken. Er machte etwas mit Baumwollhandschuhen, Luft, Spiegel, Gas. Er nickte. „Kein Zünder. Nichts Metallisches außer dem Stick selbst.“

Pascal packte. „Ich nehme ihn mit in die Zentrale“, sagte er. „Oder…?“ Er sah zur „Biene“.

„Wir haben einen Kasten im Wagen. Faraday. Wenn er spricht, reden wir später mit ihm.“

Wir standen da und sahen zu, wie der USB-Stick in einem Raum verschwand, in dem Götter wohnen, die man nicht sieht. Ich hasse USB-Sticks. Sie sind zu klein für das, was sie anrichten können.

Wir warteten. Warten ist auch Arbeit, sagt man. Es fühlt sich nicht so an. Die Luft roch nach feuchter Erde und den Parfüms von Joggern. Eine Frau schaute irritiert, als ob wir ihre Routine beleidigt hätten. Die Stadt läuft weiter, wenn jemand singt.

Der Anruf kam eine halbe Stunde später. Maxime, auf Lautsprecher. „Der Stick hatte eine Videodatei. Ein Render, kein echter Film. Schwarz, weiße Schrift, La-Fontaine-Zitat, diese Zikaden-Obsession. Dann ein Plan. Grundrisse. Ein Hafenlager. Nummern von Toren. Wege. Und ein Timer, der herunterzählt, wie in einem schlechten Film. Der Timer lief nicht, es war nur… Darstellung. Aber die Botschaft ist klar. Nächster Akt.“

„Welches Lager?“ fragte ich.

„Môle Léon Gourret. Terminal C. Ein Lager, das Delvaux‘ Firma früher nutzte. Jetzt verpachtet an…“ Er blätterte mental. „…eine Firma aus Genua. Fracht: Elektronik. Betreiber sagt: ‚Wir haben Security‘.“

„Sie haben Updates“, sagte François. „Das reicht.“

Ich spürte den Schub. Es ist ein Gemisch aus Angst und etwas, wofür ich das Wort nicht mag. Jagd? Vielleicht. Nicht edel. Nützlich. „Monsieur Marteau?“ fragte ich, obwohl ich wusste, dass er schon zuhörte.

„Ich bin da“, sagte er. „Ich habe bereits beim Préfet angerufen. Wir bekommen Zugriff. Kein Alarm auf Sicht. Diskrete Blockaden. Wir wollen keinen, der uns Zuschauer schickt. Pierre – nehmen Sie Rita mit.“ Sein Blick war auf einmal in meiner Stimme, obwohl ich ihn nicht sehen konnte. „Sie kennt die italienische Linie. Wenn Genua drin ist, hat sie Wörter, die wir nicht kennen.“

„Rita wird sich freuen, wieder in Marseille zu sein“, sagte François. Er meint es nicht böse. Es ist nur seine Art, den Ernst anzustupsen, damit er nicht einschläft.

„Ehe wir spielen“, sagte David, „noch etwas zum RDX. Bei der Yacht – sehr sauber. Bei Cassis – unsauber, Ammoniumnitrat, Überzünder, Amateur. Das passt nicht zusammen.“

„Zwei Stimmen in einem Lied“, sagte ich. „Oder eine Stimme, die übt.“

„Oder eine, die auslagert“, sagte François. „Die Zikade hat Ameisen.“

Wir fuhren zum Môle. Die Luft wurde metallischer, der Himmel niedriger. Container machen eine Stadt, die nicht atmet, aber lebt. Man sieht Wege, die Linien sind aufgezeichnet. Das mag ich. Dinge mit Linien.

Die Security am Tor war nervös, aber kooperativ. Marteaus Name war eine Eintrittskarte. Rita stieß zu uns an der Schranke dazu, dunkles Haar zum Zopf gebändigt, Augen, die gleichzeitig müde und wacher als meine waren. „Ihr habt euch einen schönen Morgen ausgesucht“, sagte sie. Ihr Ton war lakonisch, aber ihre Finger trommelten.

„Genua“, sagte ich.

„Genua ist überall“, erwiderte sie. „Lasst uns sehen, ob hier zufällig ein Onkel Produkte verschifft.“

Wir parkten hinter einer Reihe Gabelstapler. Der Grundriss auf dem Stick stimmte: Tor 7, Gang B, Lager C12. Wir gingen nicht direkt hin. Wir gehen nie direkt hin. Pascal markierte Blickpunkte, die Bienen setzten Sensoren. Ich roch es wieder – dieses Metallische in der Luft, das keine Luft mehr ist, nur Erwartung. Ein Mann in einer Warnweste sah uns und tat so, als sähe er uns nicht. Sein Gang war zu gleichmäßig. Ich merkte mir sein Gesicht. Seine Hände. Seine kleinen Finger.

„Siehst du das?“ murmelte ich.

„Links?“ François nickte.

„Fehlt ein Stück“, sagte ich.

„Ja“, erwiderte er. „Zikaden haben Handschuhe, aber kleine Finger sind launisch.“

Er verschwand hinter einer Reihe Paletten. Ich ging um die andere Seite. Das Lager war halb offen, der schmale Spalt in der Tür so, als habe jemand nicht ordentlich geschlossen. Es roch nach Pappe und Öl. Ich hörte das Summen eines Generators, dann das Klicken, das nur die macht, die sie lieben: die Sprengstoffleute, die Männer mit den Bienen. Und ich hörte das, was nur ich höre, wenn ich das Gefühl habe, dass einer schon da ist: ein Atemzug, der nicht meiner ist.

„FoPoCri!“ rief ich und hasste, wie das in solchen Räumen klingt – zu groß. „Hände hoch! Langsam!“

Der Mann kam aus dem Schatten. Warnweste, Cap, Brille. Er war nicht groß, er war nicht klein. Er war unspektakulär – so, wie man sein muss, wenn man Dinge explodieren lässt und nicht gesehen werden will. Seine Hände waren da, in der Luft. Der kleine Finger links – ein halbes Glied. Sein Gesicht blieb nicht. Er blieb nicht. Er drehte sich in einem Winkel, der aussah wie Zufall, und rannte in den Gang B. Ich rannte. Es war nicht klug. Aber manchmal ist klug ein Luxus. Ich glaubte, ich hörte ihn lachen. Vielleicht war es nur Blut in meinem Ohr.

Er war schnell. Er kannte die Wege, wie der Mann in der blauen Jacke am Hafen. Ich schoss nicht. Wir schießen nicht in Lager voller Dinge, die wir nicht kennen. Er schlüpfte durch eine Tür, die nicht vorhanden sein sollte. Ich war zu spät für das, was dahinter war. Ich prallte gegen Metall, spürte meine Schulter. Neben mir, auf der Palette, lag etwas Kleines. Ein Papier. Ich musste nicht näherkommen, um zu wissen, was es war. Eine neue Figur. Kein Insekt. Ein Ameisenkopf. Aus einer Karte gefaltet. „Es reicht“, sagte François hinter mir, nicht zu mir, sondern in die Luft. „Es reicht.“

„Noch nicht“, sagte ich. „Noch singt er.“

„Und wir tanzen“, sagte Rita leise. „Das können wir. Aber er spielt mit.“

Draußen hörte ich Sirenen, die nicht unsere waren. Die Stadt kam. Und ich wusste, dass die nächsten Stunden nicht uns gehören würden, sondern dem Zufall, dem Druck, den Telefonen und den Menschen, die an den Türen stehen und sagen: „Ich war schon immer dagegen.“ Das gehört dazu. Und dazwischen ein Mann, dessen Finger fehlte, und der glaubte, er wäre eine Zikade mit einem Orchester.

Ich atmete. Langsam. Ich legte das Ameisengesicht in einen Beutel. Ich dachte an den Rosengarten, an den USB, an die Yacht. An Nadja, die Hände mit der Geige. An ein Reclamheft. An La Fontaine. An eine Fabel, die in Marseille noch geschrieben wurde.

„Pierre“, sagte Marteau in meinem Ohr. „Keine Helden.“

„War nie mein Plan“, erwiderte ich. „Ich mag lieber Arbeit.“

„Dann arbeiten wir“, sagte er. „Singen kann der andere.“

Kapitel 3

Die Bienen gaben grünes Licht für Gang B, aber sie sahen mich an, als wüssten sie, dass ich das nicht brauchte. Ich atmete einmal tief, steckte das Ameisengesicht in eine Tüte und zwang den Puls, sich zu erinnern, dass er nicht der Dirigent war.

„Sichert die Nebenausgänge“, sagte ich ins Interlink. „François, nimm die Seite zum Wasser. Rita, mit mir die Aufgänge. Pascal—“

„—ich liebe Papier“, fiel Pascal trocken ein. „Ich nehme mir das Tierchen vor.“

„David?“

„Ich bin schon an C12“, antwortete er. „Hier riecht es nicht nach Fehlern, sondern nach Absicht.“

Wir teilten uns. Der Korridor verschluckte Geräusche, wie das Meer Wellen verschluckt, wenn man zu nahe ist. Ich tastete an der Metallwand entlang, suchte nicht Türen, sondern Spalten, die nach Türen aussahen, wenn man wissen wollte, dass sie da waren. Der kleine Fluchtweg, den der Mann genommen hatte, war hinter einer magnetgehaltenen Blechblende verborgen. Schnell gelöst, wenn man wusste, wo. Er war durch. Wir nicht.

Rita legte eine Hand flach gegen das Blech, schloss kurz die Augen, als könnte sie fühlen, wo Wärme war. „Er war geübt“, sagte sie. „Und keine Panik. Ich mag Leute nicht, die keine Panik haben.“

„Du magst wenig“, sagte ich.

„Ich mag Kaffee“, erwiderte sie. „Und wenn Männer mit fehlenden Fingern nicht entkommen.“

Ein Ruf in meinem Ohr. „Pierre“, Pascals Stimme. „Der Stick war nicht das Einzige. Im Schaltkasten des Bewässerungssystems im Rosengarten war ein RFID-Tag, passiv. Nichts Dramatisches, aber es vermittelt das Gefühl von Spiel. Und— wir haben auf dem USB im Ordner @hidden noch eine Datei gefunden. Ein Text. ‚Wenn die Ameise ruft, kommen alle.‘ Liste mit Namen.“

Ich blieb stehen. „Welche Namen?“

„Sponsoren. Handelskammer. Bürgermeister. Drei Chefs von Reedereien. Und eine Uhrzeit. Heute 20:00. Ort: Palais du Pharo. Titel: ‚Gala der Ameise‘ – Jahresball der Chambre de Commerce.“

François fluchte wehleidig. „Natürlich hat die Ameise einen Ball.“

„Dann hat die Zikade ein Publikum“, sagte Rita. Ihre Augen waren schmal geworden. „Er will es groß. Und er will uns dorthin ziehen.“

„Wir wären hingegangen, auch ohne Einladung“, sagte ich. „Aber jetzt gehen wir früher.“

„Nicht bevor ich C12 sehe“, sagte David. „Kommt.“

Wir standen an einem Rolltor halb offen. Dahinter: Paletten, ordentlich. Kisten mit Etiketten in vier Sprachen. Es roch nicht nach Sprengstoff, es roch nach Karton und Ärger. David kniete, fuhr mit einem Stab unter eine Palette, blieb an etwas hängen, das nicht Holz war. „Klassischer Hohlfasertrick“, murmelte er. „Er hat nichts gesetzt. Er hat Platz gemacht.“ Er zeigte auf Leerräume. „Genau dort wären Ladungen platziert worden. Er war noch nicht so weit. Oder er wollte uns nur zeigen, dass er könnte.“

„Schau an, wie bescheiden er geworden ist“, sagte François. „Er verschiebt den Applaus.“

„Er will Bühne“, sagte ich. „Der Pharo hat eine.“

Ich rief Marteau. Er nahm schneller ab, als ein Mensch sollte. „Wir haben den Rosengarten-Stick ausgewertet“, sagte ich, „La Cigale deutet auf die Handelskammergala im Pharo heute Abend. Wir müssen entscheiden, ob wir die Veranstaltung absagen, verlegen, verstärken, den Mann griffbereit im Publikum erwarten – oder ob das hier, die halbe Falle im Lager, uns sagen soll, dass er ablenkt.“