6 Spitzenklasse-Krimis Dezember 2025 - Alfred Bekker - E-Book

6 Spitzenklasse-Krimis Dezember 2025 E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Krimis: Kommissar Leprince und ein stiller Mord im Quartier Latin (Max Brevard) Club der Mörder (Alfred Bekker) Trevellian und die Stimme, die man töten wollte (Franklin Donovan) Die Smaragde der Bestie (H.Bedford-Jones) Der Gangster-Clan (Thomas West) Alain Boulanger und die heiße Flamme in Paris (Henry Rohmer) Das FBI ist Bronco Belucci in die Quere gekommen, einer seiner Söhne ist tot. Das schreit nach Rache, ganz in der Tradition der sizilianischen Blutrache: Trevellian und Tucker müssen sterben! Gleichzeitig aber ist der Gangster daran interessiert, seine Geschäfte in Las Vegas zu festigen und bis nach New York auszuweiten. Eine harte Nuss für die Agenten des FBI, die sich einer gerissenen Verbrecherfamilie gegenüber sehen.

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Seitenzahl: 678

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Max Brevard, Henry Rohmer, Alfred Bekker, Franklin Donovan, Thomas West, H. Bedford-Jones

6 Spitzenklasse-Krimis Dezember 2025

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Inhaltsverzeichnis

6 Spitzenklasse-Krimis Dezember 2025

Copyright

Kommissar Leprince und ein stiller Mord im Quartier Latin:

Club der Mörder

Trevellian und ​die Stimme, die man töten wollte: Action Krimi

DIE SMARAGDE DER BESTIE

Der Gangster-Clan

​Alain Boulanger und die heiße Flamme in Paris

Orientierungspunkte

Titelseite

Cover

Inhaltsverzeichnis

Buchanfang

6 Spitzenklasse-Krimis Dezember 2025

Alfred Bekker, Max Brevard, Franklin Donovan, Thomas West, H. Bedford-Jones, Henry Rohmer

Dieser Band enthält folgende Krimis:

Kommissar Leprince und ein stiller Mord im Quartier Latin (Max Brevard)

Club der Mörder (Alfred Bekker)

Trevellian und die Stimme, die man töten wollte (Franklin Donovan)

Die Smaragde der Bestie (H.Bedford-Jones)

Der Gangster-Clan (Thomas West)

Alain Boulanger und die heiße Flamme in Paris (Henry Rohmer)

Das FBI ist Bronco Belucci in die Quere gekommen, einer seiner Söhne ist tot. Das schreit nach Rache, ganz in der Tradition der sizilianischen Blutrache: Trevellian und Tucker müssen sterben! Gleichzeitig aber ist der Gangster daran interessiert, seine Geschäfte in Las Vegas zu festigen und bis nach New York auszuweiten. Eine harte Nuss für die Agenten des FBI, die sich einer gerissenen Verbrecherfamilie gegenüber sehen.

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

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© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Kommissar Leprince und ein stiller Mord im Quartier Latin:

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Kommissar Leprince und ein stiller Mord im Quartier Latin: Frankreich Krimi

von MAX BREVARD

Ein Mord in den Gassen von Paris. Ein Geheimnis, das die Republik erschüttern kann.

Im Herzen des Quartier Latin, zwischen staubigen Regalen und dem Geruch von altem Papier, geschieht ein Sakrileg: Ein angesehener Buchhändler wird in seinem eigenen Antiquariat erschlagen – mit einem unschätzbar wertvollen Folianten aus dem 16. Jahrhundert. Für den melancholischen Kommissar Leprince beginnt eine Ermittlung in einer Welt, in der Wissen eine Waffe und die Vergangenheit niemals wirklich tot ist.

Die erste Spur scheint klar: ein kürzlich aufgetauchtes, skandalöses Manuskript aus der Zeit der Französischen Revolution. Ein Dokument, das mächtige Familien entehren und die offizielle Geschichtsschreibung auf den Kopf stellen könnte. Die Ermittlungen führen Leprince in ein Netz aus obsessiven Sammlern, ehrgeizigen Politikern und einer eiskalten Aristokratin, die alles tun würde, um die Ehre ihrer Vorfahren zu schützen. Jeder von ihnen hat ein Motiv. Jeder hat ein Alibi.

Doch während Leprince den Geistern der Revolution nachjagt, entdeckt er, dass das historische Geheimnis nur eine brillante Fassade ist. In einem verborgenen Labor stößt er auf eine viel modernere und explosivere Wahrheit: kompromittierende Fotos, die einen der mächtigsten Männer Frankreichs zu Fall bringen können. Plötzlich ist es nicht mehr nur ein Mordfall. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, um einen politischen Skandal von nationaler Tragweite zu verhindern und eine brillante Mörderin zu fassen, die bereit ist, über weitere Leichen zu gehen, um ihre Rache zu vollenden.

Atmosphärisch, intelligent und voller unerwarteter Wendungen – der neue Fall für Kommissar Leprince ist eine Reise in die dunkle Seele von Paris, wo die Sünden der Vergangenheit einen langen, blutigen Schatten werfen.

Kann Leprince die Wahrheit ans Licht bringen, bevor sie in den Archiven der Macht für immer zum Schweigen gebracht wird?

Spoilerfreies Glossar: Personen, Orte & Begriffe

Die Ermittler

Kommissar Jean-Luc Leprince: Der leitende Ermittler der Pariser Kriminalpolizei. Ein nachdenklicher und erfahrener Kommissar mit einem Gespür für die psychologischen Abgründe hinter einem Verbrechen.

Kommissar Claude Levoisseur: Leprinces pragmatischer und bodenständiger Partner. Er ist oft die treibende Kraft bei der praktischen Polizeiarbeit.

Marcel Santini: Der brillante, aber arrogante und oft spöttische Forensiker des Teams. Seine wissenschaftliche Analyse liefert entscheidende, oft unerwartete Hinweise.

Direktor Bertrand Duvalier: Der Vorgesetzte von Leprince und Levoisseur. Ein erfahrener Bürokrat, der den politischen Druck von oben managen muss.

Die Verdächtigen & Beteiligten

Antoine Dubois: Das Opfer. Ein hochangesehener, älterer Buchhändler und Experte für seltene Manuskripte, der in seinem Antiquariat Le Grimoire Ancien ermordet aufgefunden wird.

Elodie Renaud: Die junge Geschichtsstudentin an der Sorbonne und Assistentin von Antoine Dubois, die ihren Mentor tot auffindet.

Victor Moreau: Ein skrupelloser Immobilien-Tycoon und aggressiver Kunstsammler. Er ist ein alter Rivale von Dubois und wollte dessen Laden seit Langem kaufen.

Professor Alaine Bernard: Der führende Historiker an der Sorbonne und Experte für den Philosophen Julien Cazeau. Sein Lebenswerk und sein Ruf stehen auf dem Spiel.

Isabelle de Valois: Eine einflussreiche und eiskalte Aristokratin. Als Nachfahrin einer im Cazeau-Manuskript erwähnten Figur ist sie entschlossen, die Ehre ihrer Familie zu schützen.

Hélène Fournier: Die junge, hochintelligente Doktorandin von Professor Bernard, die zu gefälschten historischen Dokumenten forscht.

Minister Jean-Luc Audran: Ein mächtiger und angesehener Minister der französischen Regierung mit einem makellosen Ruf.

Gérard Fournier: Hélènes verstorbener Vater und ehemaliger Geschäftsführer der Stiftung Patrimoine et Avenir.

Wichtige Orte

Le Grimoire Ancien: Das staubige, vollgestopfte Antiquariat von Antoine Dubois in der Rue de la Sorbonne, das zum Tatort wird.

Quartier Latin: Das historische Studenten- und Intellektuellenviertel von Paris rund um die Sorbonne-Universität.

Quai des Orfèvres: Die legendäre Adresse des Hauptquartiers der Pariser Kriminalpolizei auf der Île de la Cité.

Sorbonne: Die berühmte Pariser Universität, das akademische Zentrum des Falles.

Bibliothèque Forney: Eine auf Kunst und Handwerk spezialisierte öffentliche Bibliothek im Marais-Viertel, untergebracht in einem mittelalterlichen Stadtpalais.

Cercle Brossard: Ein exklusiver und diskreter Privatclub im 16. Arrondissement, ein Treffpunkt für die politische und wirtschaftliche Elite von Paris.

Schlüsselbegriffe

Cazeau-Manuskript: Ein angeblich wiederentdecktes, verschollenes Tagebuch des radikalen Revolutionsphilosophen Julien Cazeau. Es soll skandalöse Geheimnisse enthalten, die das offizielle Bild der Französischen Revolution verändern könnten.

Marianne '89: Ein mysteriöser Projektname, der in den geheimen Aufzeichnungen von Antoine Dubois gefunden wird und zunächst keine Verbindung zum Fall zu haben scheint.

Patrimoine et Avenir (Erbe und Zukunft): Eine angesehene Kulturstiftung, die in der Vergangenheit eine Verbindung zwischen einigen der Hauptfiguren des Falles herstellte.

Kapitel 1: Ein stiller Tod im Quartier Latin

Der Februar hatte Paris in einem eisernen Griff. Es war keine trockene, klare Kälte, sondern eine heimtückische, feuchte, die unter den Mantel kroch und sich auf die Knochen legte. Der Himmel über der Stadt war eine gleichförmige Decke aus Blei, die das Licht schluckte und die Farben der Welt in ein tristes Grau tauchte. Jean-Luc Leprince stand an seinem Fenster im Quai des Orfèvres und blickte auf die Seine hinab. Das Wasser war träge und dunkel, fast schwarz, und die wenigen Touristenboote, die sich darauf wagten, wirkten wie einsame Geister. Es war ein Morgen, der nach schlechtem Kaffee und noch schlechteren Nachrichten schmeckte.

Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte, schrill und ungeduldig. Er wusste, wer es war, noch bevor er den Hörer abnahm. „Leprince.“ „Jean-Luc, c’est moi“, sagte Claude Levoisseurs vertraute, pragmatische Stimme. Keine Begrüßung, kein Geplänkel. Das war nie Claudes Art, wenn es Arbeit gab. „Wir haben einen Fall. Rue de la Sorbonne. Sieht nicht gut aus.“ „Wann sieht es das schon mal?“, murmelte Leprince und griff nach seinem Mantel. „Ich bin in zehn Minuten da.“

Claude steuerte den unscheinbaren Peugeot durch den morgendlichen Verkehr des Boulevard Saint-Germain. Die Scheibenwischer kämpften gegen einen feinen Nieselregen, der die Welt da draußen zu einem Aquarell verschwimmen ließ. Studenten mit zu dünnen Jacken und zu schweren Rucksäcken eilten zur Sorbonne, ihre Gesichter blass in der Kälte. Die Fassaden der alten Gebäude schienen im fahlen Licht zu schlafen, Zeugen von Jahrhunderten voller Dramen und Revolutionen. Das Quartier Latin, das intellektuelle Herz von Paris, hatte eine Seele, die älter war als die meisten Nationen. Heute war dieser Seele eine neue Wunde zugefügt worden.

Die Rue de la Sorbonne war eine enge Gasse, dominiert von der ehrwürdigen Universität. Ein Streifenwagen blockierte bereits den Zugang, sein Blaulicht pulsierte stumm und warf unruhige Reflexe auf die nassen Pflastersteine. Eine kleine Menschentraube von Neugierigen – les badauds – hatte sich bereits gebildet, ihre gedämpften Stimmen ein leises Murmeln unter dem grauen Himmel.

Claude wartete neben dem blau-weißen Absperrband, die Schultern hochgezogen gegen die Kälte, das Gesicht eine unleserliche Maske. „Jean-Luc“, nickte er zur Begrüßung. „Direkt hier drin.“ Er deutete auf die Fassade eines kleinen Ladens, eingezwängt zwischen einem Café und einer modernen Papeterie. Die altmodische, dunkelgrüne Markise trug in verblichenen Goldlettern den Namen: Le Grimoire Ancien. Ein Antiquariat.

Leprince duckte sich unter dem Band hindurch und folgte Claude zur Tür. Der Geruch traf ihn zuerst. Es war das heilige Parfum von Jahrhunderten: eine Mischung aus trockenem Papier, rissigem Leder, altem Leim und dem allgegenwärtigen, feinen Staub der Zeit. Der Laden war klein, kaum mehr als ein langer, schmaler Schlauch, aber er war bis unter die Decke mit Büchern gefüllt. Sie standen nicht nur in den Regalen, die die Wände säumten; sie stapelten sich auf dem Boden, bildeten Türme, die den Gesetzen der Schwerkraft zu trotzen schienen, und lagen auf jedem verfügbaren Stuhl und Tisch. Es war kein Laden, es war eine Höhle, ein geordnetes Chaos, das Gedächtnis der Stadt in Papierform.

Und in der Mitte dieses Labyrinths aus bedruckten Seiten herrschte eine unnatürliche Stille.

Am Ende des Ganges, hinter einem massiven Eichenschreibtisch, der ebenfalls unter Bücherbergen ächzte, saß eine Gestalt. Oder besser, sie lag. Antoine Dubois, 72 Jahre alt, Inhaber des Grimoire Ancien, lag mit dem Oberkörper auf seinem Schreibtisch, der Kopf zur Seite gedreht. Sein schütteres weißes Haar war von einem dunklen Rot verklebt, das sich langsam auf einer aufgeschlagenen Seite eines alten Buches ausbreitete. Seine Augen waren offen und starrten mit einem Ausdruck leiser Überraschung auf einen Stapel Manuskripte neben ihm.

Neben der Leiche kniete bereits Marcel Santini, ihr genialer und unausstehlicher Forensiker. Er trug seinen makellosen Anzug, als käme er direkt von einer Modenschau, und untersuchte den Tatort mit einer Mischung aus professioneller Distanz und kaum verhohlener Freude.

„Ah, die Kavallerie trifft ein“, sagte Santini, ohne aufzusehen. „Keine Eile, Kommissare. Unser Freund hier wird nirgendwo mehr hingehen.“ „Was haben wir, Marcel?“, fragte Claude und ignorierte den Sarkasmus. Santini richtete sich langsam auf und zog seine Handschuhe mit einer theatralischen Geste aus. „Todesursache ist, für jeden mit funktionierenden Augen, ein massives stumpfes Schädeltrauma. Tatzeitpunkt, grob geschätzt, zwischen gestern Abend und den frühen Morgenstunden. Und die Tatwaffe...“, er machte eine Pause für den dramatischen Effekt und deutete mit dem Kinn auf ein riesiges Buch, das neben Dubois' Kopf auf dem Schreibtisch lag. „...ist besonders stilvoll. Ein wahrer Klassiker.“

Leprince trat näher. Das Buch war ein gewaltiger Foliant, gebunden in dunkles, rissiges Leder, mit schweren Messingschließen. Der Einband war mit verblassten, aber kunstvollen Goldprägungen verziert. Der Buchrücken war mit Blut bespritzt. „Ein Mörder mit einem Sinn für Ironie“, murmelte Leprince. „Ein Mann des Wissens, erschlagen von einem Buch.“

Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, versuchte, das Chaos zu ordnen, ein Detail zu finden, das nicht passte. Es war die Abwesenheit von Dingen, die ihn stutzig machte. Keine Anzeichen eines Kampfes, die Bücherstapel um den Schreibtisch herum wirkten unberührt. Keine aufgebrochene Kasse. Es wirkte nicht wie ein Raubüberfall.

Dann bemerkte er zwei Dinge fast gleichzeitig. Das erste war eine Lücke. In dem Bücherregal direkt hinter dem Schreibtisch, auf Augenhöhe, klaffte ein leerer Raum. Der Staub auf dem Brett war an dieser Stelle heller, als wäre dort bis vor kurzem etwas gestanden, etwas Großes, vielleicht so groß wie der Foliant auf dem Tisch. Das zweite war ein Geruch. Unter der dominanten Note von altem Papier und dem metallischen Geruch von Blut lag etwas anderes in der Luft. Ein flüchtiger, fast unmerklicher Hauch. Es war ein Parfum. Teuer, modern, blumig mit einer schweren, pudrigen Basis. Es war der Duft einer eleganten Frau, ein Geruch, der in diese staubige, männliche Welt der alten Bücher so wenig passte wie ein Kanarienvogel in eine Kohlenmine.

„Hat jemand etwas gestohlen?“, fragte Claude und sprach damit Leprinces Gedanken aus. „Schwer zu sagen“, antwortete Leprince leise. „In diesem Chaos könnte ein ganzes Regiment verschwinden, ohne dass es jemand merkt. Aber es fühlt sich nicht so an.“ Er deutete auf die Lücke im Regal. „Vielleicht wurde nur eine Sache gesucht.“

Santini, der ihre Blicke verfolgt hatte, schnaubte verächtlich. „Oder der Täter hat sich einfach nur ein passendes Wurfgeschoss geschnappt. Spekulieren Sie ruhig weiter, Kommissare. Ich halte mich an die Fakten. Und die Fakten sagen mir, dass ich diesen Ort jetzt für eine gründliche Spurensicherung benötige. Also, wenn Sie Ihre romantischen Betrachtungen abgeschlossen haben...“

Leprince wandte sich ab. Er hatte genug gesehen. Der Fall hatte seine Klauen bereits in ihn geschlagen. Ein alter Mann, getötet in seinem Heiligtum, umgeben von den stillen Zeugen tausender Geschichten. Eine dieser Geschichten war aus den Fugen geraten, hatte sich aus den Seiten gelöst und war mörderisch geworden.

„Claude“, sagte er, als sie wieder in die feuchte Kälte der Rue de la Sorbonne traten. „Finde heraus, wer ihn gefunden hat. Wer hatte einen Schlüssel? Familie, Angestellte. Und ich will alles über Antoine Dubois wissen. Feinde, Freunde, seine letzten Verkäufe.“ Claude nickte. „Und du?“ „Ich?“, sagte Leprince und blickte zurück auf die kleine Buchhandlung, ein dunkles Loch in der alten Fassade. „Ich versuche herauszufinden, welches Buch es wert ist, dafür zu töten.“

Der Nieselregen wurde stärker und wusch die Spuren der Nacht von den Straßen von Paris. Aber in dem kleinen Laden, im Flüstern der Folianten, hatte eine neue, dunkle Geschichte gerade erst begonnen.

Kapitel 2: Die Geister der Vergangenheit

Während Santinis Team – die Männer in den weißen Overalls, die Leprince insgeheim „die Gespensterjäger“ nannte – den kleinen Laden in einen sterilen, unpersönlichen Tatort verwandelte, traten Leprince und Claude wieder nach draußen. Der Regen hatte nachgelassen, aber die Luft war schwer von unverdunsteter Feuchtigkeit. Die Stadt atmete einen feuchten, kalten Seufzer aus.

Ein junger, uniformierter Polizist, kaum älter als zwanzig, trat an sie heran. Sein Gesicht war blass, und er vermied es, in Richtung des Antiquariats zu blicken. „Kommissar, das Mädchen, das ihn gefunden hat... wir haben sie dort drüben hingesetzt.“ Er deutete auf eine steinerne Bank unter den Arkaden der Sorbonne.

Dort saß eine junge Frau, zusammengesunken und verloren. Sie hatte die Arme um ihre Knie geschlungen, als würde sie versuchen, sich selbst zusammenzuhalten. Ihr dunkles Haar klebte ihr in feuchten Strähnen an den Wangen. Sie zitterte, obwohl die Arkaden etwas Schutz vor dem Wind boten. Leprince ging langsam auf sie zu. „Mademoiselle? Ich bin Kommissar Leprince. Und das ist mein Kollege, Kommissar Levoisseur.“ Das Mädchen blickte auf. Ihre Augen waren groß und rot geweint. „Elodie Renaud“, flüsterte sie. Ihre Stimme war brüchig. „Ich... ich arbeite für ihn. Oder... habe für ihn gearbeitet.“ Bei diesen Worten brach ihre Stimme endgültig, und ein neues Schluchzen erschütterte ihren schmalen Körper.

„Hier können wir nicht reden“, sagte Claude sanft, aber bestimmt. „Kommen Sie, Mademoiselle. Ein heißer Kaffee.“ Er führte sie über die Straße in das kleine Café, das direkt gegenüber dem Antiquariat lag. Le Sorbonnier. Es war einer jener zeitlosen Orte, die das wahre Paris ausmachten. Der Boden war mit abgetretenen schwarz-weißen Kacheln gefliest, die Tische waren winzig und aus dunklem Holz, und in der Luft hing der bittersüße Duft von starkem Kaffee und frischen Croissants. Der Wirt hinter der Zinktheke kannte Claude und nickte ihnen nur kurz zu, sein Blick voller ungestellter Fragen.

Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster, von dem aus man den Tatort sehen konnte. Elodie starrte auf die blau-weißen Bänder, als könnte sie nicht glauben, was sie da sah. Claude bestellte drei grands crèmes, und als die dampfenden Tassen kamen, schob Leprince eine vorsichtig vor das Mädchen. „Trinken Sie, Mademoiselle. Das wird Ihnen guttun.“

Sie umschloss die heiße Tasse mit beiden Händen, als wäre sie ein Rettungsanker. Für einen Moment sagte niemand etwas. Nur das Zischen der alten Kaffeemaschine und das leise Klirren von Geschirr durchbrachen die Stille. „Können Sie uns erzählen, was passiert ist?“, fragte Claude schließlich. Seine Stimme war ruhig, aber sachlich. Elodie atmete zitternd ein. „Ich komme jeden Morgen um neun. Monsieur Dubois ist immer schon da. Er sagt, die Bücher mögen keine Hektik am Morgen.“ Ein schwaches, trauriges Lächeln huschte über ihre Lippen. „Heute war die Tür unverschlossen. Das ist sie nie. Ich rief seinen Namen, aber... keine Antwort. Ich ging nach hinten. Und da... da sah ich ihn.“ Sie schloss die Augen, als würde sie das Bild vertreiben wollen. „Er lag einfach da. Auf seinem Schreibtisch. Ich dachte erst, er schläft.“

„Haben Sie etwas angefasst?“, fragte Claude. Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich... ich bin sofort wieder rausgelaufen und habe die Polizei gerufen.“ Leprince lehnte sich leicht vor. Seine Stimme war weicher als die von Claude. „Erzählen Sie uns von Monsieur Dubois, Elodie. Sie haben für ihn gearbeitet, sagten Sie.“ „Ich studiere Geschichte hier an der Sorbonne“, sagte sie und deutete mit einer vagen Geste aus dem Fenster. „Der Job bei ihm war ein Glücksfall. Er war mehr als ein Chef. Er war ein Mentor. Ein Hüter der Geschichten. Er kannte jedes einzelne Buch in diesem Laden, wusste, woher es kam, durch welche Hände es gegangen war. Er sagte immer, Bücher haben ein Gedächtnis.“

„Hatte er in letzter Zeit irgendwelche Probleme? Streit mit Kunden? Hat er sich Sorgen gemacht?“, forschte Leprince weiter. Elodie zögerte. Sie blickte in ihre Tasse, wo sich der Milchschaum langsam auflöste. „Sorgen? Nein. Aber... aufgeregt war er. So aufgeregt wie ein Kind vor Weihnachten. Wegen des Manuskripts.“ Leprince und Claude tauschten einen kurzen Blick. „Welches Manuskript?“, fragte Leprince. „Das Cazeau-Manuskript“, flüsterte Elodie, als wäre der Name selbst ein Geheimnis. „Es ist vor etwa zwei Wochen aufgetaucht. Ein Notar aus der Provinz rief an, aus einem Nachlass. Niemand wusste, was es war. Aber Monsieur Dubois... er wusste es sofort.“ Ihr Blick wurde lebendiger, die Trauer wich für einen Moment der Faszination, die sie mit ihrem Mentor geteilt hatte. „Es ist das persönliche Tagebuch von Julien Cazeau. Dem Philosophen. Einem der radikalsten Denker der Revolution. Man dachte, es sei bei einem Brand im 19. Jahrhundert vernichtet worden.“

„Und was macht dieses Tagebuch so besonders?“, fragte Claude, der mit Philosophen aus dem 18. Jahrhundert wenig anfangen konnte. „Es ist nicht nur ein Tagebuch“, erklärte Elodie. „Cazeau war ein Beobachter. Er kannte jeden, von Robespierre bis Danton. Und er war ein Klatschmaul. Er schrieb alles auf. Politische Intrigen, Liebschaften, Verrat. Monsieur Dubois sagte, wenn dieses Manuskript echt ist, dann muss ein Teil der französischen Geschichte neu geschrieben werden. Er sprach von einem... Skandal. Etwas, das eine der großen, verehrten Gründungsfiguren der Republik in einem völlig neuen Licht zeigen würde. Einem sehr, sehr schmutzigen Licht.“

Leprince lehnte sich zurück. Das Bild wurde klarer. Das war es also. Das Buch, das es wert war, dafür zu töten. Es ging nicht um Geld, nicht direkt. Es ging um etwas viel Mächtigeres. Es ging um das Vermächtnis. Um die Geschichte selbst. „Wer wusste von diesem Manuskript, Elodie?“, fragte er. „Nur sehr wenige. Monsieur Dubois war extrem vorsichtig. Er prüfte die Echtheit – das Papier, die Tinte, die Handschrift. Aber Gerüchte... Gerüchte verbreiten sich in der Welt der Sammler wie ein Lauffeuer. Er hatte in den letzten Tagen mehrere Anrufe. Leute, die fragten, ob er ‚etwas Interessantes‘ bekommen hätte. Er hat alle abgewimmelt. Aber er war nervös. Gestern Abend, als ich ging, schloss er die Tür zweimal ab.“

Ein Detail fiel Leprince wieder ein. Der Geruch. „War gestern eine Frau im Laden, Elodie? Eine Kundin vielleicht? Jemand, der ein starkes, teures Parfum trug?“ Elodie runzelte die Stirn und dachte nach. „Nein, ich glaube nicht. Gestern war es sehr ruhig. Nur ein paar Studenten und... ein Herr, der sich sehr für alte Atlanten interessierte. Keine Frau, an die ich mich erinnere.“

Leprince starrte hinaus in den Regen, der wieder eingesetzt hatte. Die Lichter des Streifenwagens spiegelten sich in den Pfützen auf der Straße. Ein verschollenes Tagebuch, das die Geschichte erschüttern konnte. Ein kleiner, alter Mann, der sein Geheimnis mit dem Leben bezahlt hatte. Und eine Handvoll Leute, für die dieses Geheimnis alles bedeutete.

Der Fall war nicht länger nur der Tod eines Mannes in einem staubigen Laden. Er handelte von der Geschichte selbst, und die Geschichte, das wusste Leprince nur zu gut, war eine weitaus rücksichtslosere Mörderin als jeder gewöhnliche Dieb.

Kapitel 3: Ein Kreis von Verdächtigen

Der Nachmittag war bereits fortgeschritten, als Leprince und Claude ins Hauptquartier am Quai des Orfèvres zurückkehrten. Das Gebäude war ein Monolith aus Stein und Geschichte, seine Gänge hallten wider von den Schritten zahlloser Polizisten, die vor ihnen dieselben Kämpfe gegen die Dunkelheit der Stadt geführt hatten. Leprinces Büro war ein funktionaler Raum, dessen einziges Zugeständnis an Persönlichkeit der uneingeschränkte Blick auf die Conciergerie und die Pont Neuf war. Von hier aus sah Paris aus wie eine Postkarte, eine zeitlose Schönheit, die die kleinen, schmutzigen Dramen in ihren Adern geschickt verbarg.

Claude ließ sich auf den knarrenden Besucher- Stuhl fallen und legte eine dünne Mappe auf Leprinces Schreibtisch. Er hatte die letzten Stunden damit verbracht, das digitale Echo von Antoine Dubois' Leben zusammenzufügen. „Also“, begann Claude und rieb sich die müden Augen. „Antoine Dubois. 72. Unverheiratet, keine Kinder. Lebte allein über seinem Laden. Keine nennenswerten Schulden, keine Vorstrafen, nicht einmal ein Strafzettel. Sein Leben war dieser Laden. Aber Elodie hatte recht. Die Gerüchteküche brodelt. Ich habe mit einem Kontaktmann in der Kunst- und Antiquitätenszene gesprochen. Der Name ‚Cazeau-Manuskript‘ ist in den letzten Tagen in den exklusivsten Zirkeln wie ein Code geflüstert worden.“

„Und wer flüstert am lautesten?“, fragte Leprince, während er die Mappe öffnete. „Drei Namen tauchen immer wieder auf“, sagte Claude und zählte sie an seinen Fingern auf. „Erstens: Victor Moreau. Ein Immobilienhai, der sich vor zehn Jahren dazu entschlossen hat, ein hochkarätiger Sammler zu werden. Er kauft aggressiv, zahlt jeden Preis und hat den Ruf, seine Konkurrenten ohne mit der Wimper zu zucken aus dem Feld zu schlagen. Er und Dubois hassten sich. Moreau wollte Dubois' Laden schon seit Jahren kaufen, um dort eine moderne Galerie zu eröfffen. Dubois hat sich immer geweigert.“ Leprince nickte langsam. Ein klassisches Motiv. Gier, verpackt in Kultiviertheit. „Zweitens“, fuhr Claude fort, „Professor Alaine Bernard. Der führende Experte für Julien Cazeau an der Sorbonne. Sein Lebenswerk, eine monumentale, preisgekrönte Biografie, basiert auf der Prämisse, dass Cazeau ein unbestechlicher, moralischer Kompass der Revolution war. Wenn dieses Tagebuch echt ist und Cazeau als das darstellt, was Elodie andeutete – ein Intrigant und Verräter –, wäre Bernards gesamte Karriere eine Farce. Sein Ruf wäre vernichtet.“ Ein Motiv, das noch stärker war als Geld. Die Angst vor der Demütigung. „Und drittens?“, fragte Leprince. Claude zögerte einen Moment. „Das ist die interessanteste Figur. Isabelle de Valois. Eine direkte Nachfahrin des Marquis de Valois. Einer der mächtigsten Männer seiner Zeit und eine der ‚Gründungsfiguren‘, von denen Elodie sprach. Der Legende nach war es der Marquis, der die radikalsten Exzesse der Revolution heimlich finanzierte, um seine eigenen Rivalen auszuschalten. Wenn Cazeaus Tagebuch das beweisen würde... es wäre der größte Skandal, den die alte Aristokratie seit langem erlebt hat. Isabelle de Valois ist bekannt dafür, das Erbe ihrer Familie mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Sie ist reich, diskret und hat Verbindungen, die bis in die höchsten Kreise der Republik reichen.“

Leprince schloss die Mappe. Drei perfekte Motive. Ein Mann, der das Manuskript für seinen Wert besitzen wollte. Ein Mann, der es vernichten musste, um seine Karriere zu retten. Und eine Frau, die es aus der Welt schaffen musste, um die Ehre ihrer Familie zu bewahren. „Und das Parfum?“, fragte Leprince. „Könnte es zu Madame de Valois passen?“ „Könnte zu jeder reichen Frau in Paris passen“, erwiderte Claude schulterzuckend. „Aber ja, sie passt ins Schema.“ „Gut“, sagte Leprince und erhob sich. „Dann wird es Zeit, diesen Leuten einen Besuch abzustatten. Fangen wir mit dem Geld an. Fangen wir mit Victor Moreau an.“

Victor Moreaus Galerie befand sich im 8. Arrondissement, eine Welt entfernt von den engen, gelehrten Gassen des Quartier Latin. Hier waren die Straßen breit, die Fassaden makellos und die Boutiquen zeigten in ihren Schaufenstern keine staubigen Bücher, sondern handgefertigte Uhren und Designerkleider, deren Preise dem Jahreseinkommen eines Polizisten entsprachen. Die Galerie Moreau war ein Inbegriff des kühlen, modernen Luxus. Hinter einer Fassade aus Glas und schwarzem Stahl erstreckte sich ein riesiger, weißer Raum. An den Wänden hingen drei überdimensionale, minimalistische Gemälde, die für Leprince aussahen wie leere Leinwände, die auf ihre Farbe warteten. Der Boden war aus poliertem Beton, und die einzige Möblierung bestand aus einem einzigen schwarzen Ledersofa, das so unbequem aussah, wie es teuer war.

Ein Mann, dessen Statur so imposant war wie die Kunstwerke um ihn herum, stand in der Mitte des Raumes und betrachtete eines der Gemälde. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug aus einem Stoff, der im gedämpften Licht schimmerte. Als er sich umdrehte, sahen Leprince und Claude in das Gesicht von Victor Moreau. Er war Ende fünfzig, mit kurz geschnittenem, stahlgrauem Haar, einem gebräunten Teint und Augen, die so kalt und klar waren wie Eis. „Kommissar Leprince“, sagte Moreau, bevor Leprince sich vorstellen konnte. Seine Stimme war tief und klang nach teuren Zigarren und unangefochtener Autorität. „Ich habe Ihren Besuch erwartet. Die Nachrichten verbreiten sich schnell.“ „Dann wissen Sie auch, warum wir hier sind, Monsieur Moreau“, sagte Claude direkt. „Ich weiß, dass der alte Narr Dubois tot ist“, erwiderte Moreau, ohne eine Spur von Bedauern. „Und ich nehme an, Sie glauben, ich hätte etwas damit zu tun, weil ich ihm letzte Woche gedroht habe, seinen verstaubten kleinen Laden in einen Parkplatz zu verwandeln, wenn er ihn mir nicht endlich verkauft.“ Seine Offenheit war eine Waffe, eine Form der Einschüchterung. „Sie geben also zu, ihn bedroht zu haben?“, fragte Leprince ruhig. Moreau lachte, ein kurzes, humorloses Geräusch. „Kommissar, im Immobiliengeschäft ist das eine Verhandlungstaktik, keine Morddrohung. Dubois war ein sturer Esel. Er saß auf einem Goldstück und behandelte es wie einen Haufen alter Zeitungen. Aber ermorden? Bitte. Das ist schlecht fürs Geschäft.“ „Wir hören, Sie waren auch an etwas anderem interessiert als an dem Laden“, sagte Leprince und beobachtete Moreaus Reaktion genau. „Einem Manuskript. Dem Tagebuch von Julien Cazeau.“ Moreaus Augen verengten sich kaum merklich. Es war die einzige Reaktion, die er sich gestattete. „Ah. Das also. Ja, davon habe ich gehört. Ein einzigartiges Stück. Unbezahlbar. Natürlich war ich daran interessiert. Ich habe ihm ein Angebot gemacht. Ein sehr großzügiges Angebot.“ „Und er hat abgelehnt?“, fragte Claude. „Er sagte, es gehöre der Geschichte, nicht einem Privatsammler“, spottete Moreau. „Sentimentalität ist der Feind des Fortschritts, Kommissare. Dubois hat das nie verstanden. Er klammerte sich an die Vergangenheit.“ „Wo waren Sie gestern Abend, sagen wir zwischen 20 Uhr und Mitternacht, Monsieur Moreau?“, fragte Leprince. Moreau zuckte mit den Schultern, eine Geste vollkommener Gleichgültigkeit. „Ich hatte ein Geschäftsessen im Le Cinq im Four Seasons. Mit dem stellvertretenden Kulturminister und einem japanischen Industriellen. Wir haben über die Finanzierung einer neuen Ausstellung gesprochen. Sie können gerne nachfragen. Wir waren bis weit nach Mitternacht dort. Ich fürchte, mein Alibi ist so solide wie dieser Betonboden.“ Er klopfte mit der Spitze seines handgenähten italienischen Schuhs auf den Boden. Er log nicht, das spürte Leprince. Er war zu selbstsicher. Aber seine Arroganz war fast so provokant wie ein Geständnis. „Danke für Ihre Zeit, Monsieur“, sagte Leprince und wandte sich zum Gehen. „Kommissar“, rief Moreau ihnen nach. „Wenn Sie das Manuskript finden... ich bin immer noch interessiert. Mein Angebot steht.“ Draußen auf der Straße atmete Leprince die feuchte Pariser Luft ein, als müsste er den sterilen Geruch des Geldes aus seinen Lungen spülen. „Ein unangenehmer Zeitgenosse“, knurrte Claude. „Unangenehm, ja“, stimmte Leprince zu. „Aber ein Mörder? Er ist zu clever, um eine Leiche in einem Laden zurückzulassen, den er besitzen will. Er hätte gewartet, ihn ruiniert und ihm den Laden dann für einen Spottpreis abgekauft. Seine Waffe ist das Geld, nicht ein alter Foliant.“ „Also streichen wir ihn von der Liste?“, fragte Claude. „Niemals“, sagte Leprince. „Aber setzen wir ihn vorerst an das untere Ende. Fahren wir zurück zur Sorbonne. Besuchen wir den Mann, dessen ganzes Leben eine Lüge sein könnte.“

Der Kontrast zu Moreaus Galerie hätte nicht größer sein können. Die Sorbonne war ein Labyrinth aus ehrwürdigen Hallen, deren Steinböden von den Schritten zahlloser Generationen von Studenten und Gelehrten poliert worden waren. Es roch nach Bohnerwachs, alten Büchern und dem schwachen, allgegenwärtigen Duft von Kreidestaub. Die Luft selbst schien hier schwerer zu sein, gesättigt von Wissen und dem Gewicht der Geschichte.

Professor Alaine Bernards Büro befand sich im dritten Stock eines der ältesten Flügel des Gebäudes. Es war das genaue Gegenteil von Moreaus minimalistischem Reich. Bücher quollen aus den Regalen, stapelten sich auf dem Schreibtisch, dem Boden und den Fensterbänken. Manuskripte, Notizen und aufgeschlagene Folianten bildeten eine Landschaft aus Papier. In der Mitte dieses intellektuellen Chaos saß Professor Bernard. Er war ein kleiner, hagerer Mann in den Sechzigern, mit einer Nickelbrille, die ständig auf seine Nase rutschte, und einem schütteren Haarkranz um eine glänzende Glatze. Sein Tweed-Sakko war abgewetzt, und ein Füller steckte in seiner Brusttasche.

Als Leprince und Claude eintraten, blickte er von einem Manuskript auf, das er unter einer Lupe studiert hatte. Seine Augen hinter den dicken Gläsern waren blassblau und wirkten nervös. „Professeur Bernard? Kommissar Leprince und Kommissar Levoisseur. Dürfen wir Sie einen Moment stören?“ „Oh! Ja, natürlich, Kommissare. Bitte, treten Sie ein. Wenn Sie einen Platz finden“, sagte er und machte eine fahrige Geste in Richtung zweier Stühle, die ebenfalls mit Büchern beladen waren. Er stand auf und begann, die Bücher hastig umzustapeln, wobei er beinahe einen Turm aus Papier zum Einsturz brachte. „Es geht um Antoine Dubois“, begann Leprince, als sie endlich saßen. Bernards Gesicht verfinsterte sich. „Eine Tragödie. Eine absolute Tragödie. Ein unersetzlicher Verlust für unsere Welt. Antoine war... er war ein Fels. Ein Gedächtnis aus Fleisch und Blut.“ „Sie kannten ihn gut?“, fragte Claude. „So gut man ihn kennen konnte. Wir haben oft zusammengearbeitet, wenn es um die Authentifizierung von Dokumenten aus der Revolutionszeit ging. Er hatte ein untrügliches Auge. Ein Genie.“ „Dann wissen Sie sicher auch von seinem letzten Fund“, sagte Leprince behutsam. „Dem Cazeau-Manuskript.“ Die Wirkung dieser Worte war augenblicklich und dramatisch. Die Farbe wich aus Bernards Gesicht. Seine Hände, die gerade noch zitternd Bücher geordnet hatten, erstarrten. Er starrte Leprince an, als hätte dieser eine Blasphemie ausgesprochen. „Dieses... dieses Ding“, stieß er hervor. „Es ist eine Fälschung. Eine bösartige, abscheuliche Fälschung.“ „Woher wollen Sie das wissen, Professor?“, fragte Leprince sanft. „Haben Sie es gesehen?“ „Ich muss es nicht sehen!“, rief Bernard, und seine Stimme wurde schrill. „Ich habe mein Leben Julien Cazeau gewidmet! Ich kenne jeden Satz, den er je geschrieben hat, jeden Gedanken, den er je hatte! Cazeau war ein Mann von unerschütterlicher Integrität! Er war die moralische Seele der Revolution! Er hätte niemals... die Dinge, die dieses Pamphlet ihm andichtet... es ist absurd! Eine Verleumdung!“ Er sprang auf und begann, in seinem winzigen Büro auf und ab zu gehen, wobei er mit den Händen gestikulierte. Er wirkte wie ein aufgescheuchtes Tier in einem zu kleinen Käfig. „Eine Verleumdung, die Ihre Karriere beenden würde, nicht wahr?“, sagte Claude trocken. Bernard blieb stehen und wirbelte herum. „Meine Karriere? Es geht nicht um meine Karriere! Es geht um die Wahrheit! Es geht um das Erbe eines großen Mannes, das hier mit Schmutz beworfen wird!“ Sein Dementi war zu leidenschaftlich, zu panisch. Er verteidigte nicht die Wahrheit, er verteidigte sich selbst. „Wo waren Sie gestern Abend, Professor?“, fragte Leprince und senkte seine Stimme wieder, um einen Kontrast zu Bernards Hysterie zu schaffen. Bernard starrte ihn an, sein Mund öffnete und schloss sich. „Ich... ich war hier. In meinem Büro. Ich habe gearbeitet. An einer neuen Abhandlung. Ich... ich habe die Zeit vergessen. Ich war die ganze Nacht hier.“ „Hat Sie jemand gesehen? Ein Nachtwächter? Ein Kollege?“, bohrte Claude nach. „Nein. Nein, ich war allein. Ich arbeite am besten, wenn das Gebäude leer ist. Die Stille... sie hilft mir beim Denken.“ Ein perfektes Alibi für einen Mörder. Allein, unsichtbar, nur wenige hundert Meter vom Tatort entfernt. „Haben Sie Dubois gestern besucht? Mit ihm über das Manuskript gesprochen?“, fragte Leprince. „Nein! Ich... ich wollte, aber ich kam nicht dazu“, stammelte Bernard. „Ich wollte ihn warnen. Ihm sagen, dass er sich auf etwas Gefährliches einlässt. Dass er dieses... dieses Gift nicht verbreiten darf.“ Er sank auf seinen Stuhl zurück, das Gesicht in den Händen vergraben. Er war kein Schauspieler wie Moreau. Seine Angst war echt und greifbar. Als sie das Büro verließen und durch die stillen, ehrwürdigen Korridore der Sorbonne gingen, sagte Claude leise: „Wenn die Angst ein Motiv ist, dann haben wir unseren Mann.“ „Vielleicht“, sagte Leprince nachdenklich. „Er hat das Motiv und die Gelegenheit. Aber er wirkt nicht wie ein Mann, der jemanden mit einem Buch totschlägt. Er wirkt wie jemand, der sich in einem Buch verstecken würde. Seine Waffe sind Worte, nicht Gewalt.“ „Auch Worte können töten, Jean-Luc“, erwiderte Claude. „Das stimmt“, sagte Leprince. „Aber sie hinterlassen selten Blutspritzer. Es gibt noch eine Person, mit der wir sprechen müssen. Die Frau, deren Familienehre auf dem Spiel steht. Fahren wir zur Île Saint-Louis. Besuchen wir die Aristokratie.“

Die Île Saint-Louis war eine Oase der Ruhe und des alten Geldes im Herzen der tosenden Metropole. Hier schien die Zeit langsamer zu vergehen. Die prächtigen hôtels particuliers aus dem 17. Jahrhundert standen Schulter an Schulter und blickten mit der stoischen Gelassenheit von zu oft erlebter Geschichte auf die Seine. Es gab keine lauten Bars, keine Neonreklamen, nur das leise Plätschern des Wassers und das ferne Geräusch der Stadt.

Die Adresse von Isabelle de Valois war eine der prächtigsten am Quai de Bourbon. Eine schwere, geschnitzte Eichentür führte in einen stillen, mit Marmor ausgelegten Innenhof. Ein älterer Hausdiener in Livree, der aussah, als sei er zusammen mit dem Gebäude gealtert, führte sie wortlos eine breite, geschwungene Treppe hinauf in den ersten Stock.

Der Salon, in den sie geführt wurden, war atemberaubend. Die Decken waren mindestens fünf Meter hoch und mit kunstvollem Stuck verziert. Durch drei riesige, bodentiefe Fenster fiel das gedämpfte graue Licht des Nachmittags und spiegelte sich im polierten Parkettboden. An den Wänden hingen Porträts von Männern in Perücken und Frauen in Korsetts, die mit der gleichen kühlen Arroganz auf die beiden Polizisten herabblickten wie Victor Moreau. Die Möbel waren elegante Antiquitäten, und auf einem zierlichen Tisch stand eine Vase mit weißen Lilien, deren schwerer, süßer Duft den Raum erfüllte. Es war derselbe Duft, den Leprince im Antiquariat gerochen hatte.

Isabelle de Valois stand am mittleren Fenster und blickte auf die Seine. Sie drehte sich langsam um, als sie eintraten. Sie war eine Frau Anfang fünfzig, groß, schlank und von einer makellosen, fast einschüchternden Eleganz. Ihr silbernes Haar war zu einem perfekten Chignon hochgesteckt. Sie trug ein einfaches, aber offensichtlich sündhaft teures Kleid aus dunkelblauer Seide. Ihre Augen waren von einem tiefen Blau und musterten die beiden Männer mit einer ruhigen, prüfenden Intelligenz. „Kommissar Leprince. Ich habe Sie erwartet“, sagte sie. Ihre Stimme war kühl und melodiös, ohne jede Spur von Überraschung oder Furcht. Sie schien die Situation vollkommen unter Kontrolle zu haben. „Möchten Sie einen Tee?“ „Nein, danke, Madame“, sagte Leprince. „Wir sind dienstlich hier.“ „Natürlich“, sagte sie und deutete auf eine Gruppe von Sesseln am Kamin. „Bitte, nehmen Sie Platz.“ Sie setzte sich ihnen gegenüber, ihre Haltung war perfekt, der Rücken gerade. Sie wartete. Die Stille im Raum war absolut. „Es geht um den Tod von Antoine Dubois“, begann Leprince. „Eine bedauerliche Angelegenheit“, sagte Isabelle de Valois. Ihre Miene verriet kein Mitgefühl, nur eine höfliche Feststellung. „Und es geht um ein Manuskript, das er besaß“, fuhr Leprince fort. „Das Tagebuch von Julien Cazeau.“ Sie hob eine Augenbraue. Es war eine minimale, aber meisterhaft kontrollierte Geste der Anerkennung. „Ah. Dieses unglückselige Dokument. Ja, ich habe davon gehört.“ „Unglückselig, weil es die Ehre Ihrer Familie beschmutzen könnte?“, fragte Claude direkt. Sie sah ihn an, und ihr Blick wurde für den Bruchteil einer Sekunde eisig. „Kommissar, die Ehre meiner Familie hat Kriege, Revolutionen und zwei Weltkriege überstanden. Sie wird nicht durch die senilen Kritzeleien eines längst vergessenen Jakobiners beschmutzt. Aber sie wird auch nicht unnötig durch den Schmutz gezogen. Es gibt Dinge, die in der Vergangenheit ruhen sollten. Aus Respekt vor der Geschichte und vor denen, die sie geformt haben.“ „Haben Sie versucht, das Manuskript zu erwerben?“, fragte Leprince. „Selbstverständlich“, antwortete sie ohne zu zögern. „Es ist ein Familienerbstück, wenn auch ein unliebsames. Es gehört in die Obhut der Familie, nicht in die Hände von sensationslüsternen Akademikern oder geldgierigen Sammlern. Ich habe Monsieur Dubois kontaktiert. Ich habe ihm angeboten, es für einen Preis zu kaufen, der weit über seinem Marktwert lag, unter der Bedingung, dass sein Inhalt niemals öffentlich wird.“ „Und er hat, wie wir annehmen, abgelehnt“, sagte Leprince. „Er sprach von seiner ‚Verantwortung gegenüber der Wahrheit‘“, sagte sie mit einem Hauch von Verachtung. „Eine sehr bürgerliche und naive Vorstellung. Die Wahrheit ist, was überlebt, Kommissar. Alles andere ist nur Geschwätz.“ Ihr Zynismus war tief und alt, über Generationen vererbt. „Madame de Valois, wo waren Sie gestern Abend?“, fragte Claude. Sie wandte ihren kühlen Blick wieder ihm zu. „Ich war hier. In diesem Salon. Ich habe gelesen. Allein. Mein Personal kann bestätigen, dass ich das Haus nicht verlassen habe und keinen Besuch empfangen habe.“ Wieder ein Alibi, das so einfach war, dass es schwer zu widerlegen war. „Das Parfum, das Sie tragen, Madame“, sagte Leprince leise. „Es ist sehr markant.“ Sie sah ihn an, und zum ersten Mal blitzte etwas in ihren Augen auf – keine Angst, sondern eine Art amüsierter Respekt, als hätte er einen cleveren Zug in einem Schachspiel gemacht. „Sie haben eine gute Nase, Kommissar“, sagte sie. „Es ist ein Parfum, das exklusiv für mich hergestellt wird. Man kann es nirgendwo kaufen.“ Sie machte eine Pause und fügte dann mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln hinzu: „Aber wie Sie wissen, kann ein Duft reisen. Ein Schal, ein Handschuh, ein Brief... er haftet an Dingen. Es beweist nichts.“

Sie hatte recht. Es bewies nichts. Aber es war eine Verbindung, ein feiner, unsichtbarer Faden, der von diesem opulenten, stillen Salon direkt in das Herz des blutigen Chaos im Grimoire Ancien führte.

Als sie die prächtige Wohnung verließen und wieder auf dem stillen Quai standen, blickte Claude zu Leprince. „Drei Verdächtige, drei Motive, drei Alibis, die von ‚perfekt‘ bis ‚nicht existent‘ reichen. Moreau ist zu clever, Bernard ist zu panisch, und sie...“, er schüttelte den Kopf, „sie ist zu kontrolliert. Sie ist die einzige, die kaltblütig genug wäre.“ Leprince blickte über das dunkle Wasser der Seine zum anderen Ufer, wo die Lichter der Stadt zu leuchten begannen. „Kaltblütig genug, ja. Aber ihre Waffe wäre Gift in einer Teetasse, nicht ein Foliant. Sie würde ihre Hände nicht schmutzig machen.“ Er dachte an die drei Gesichter, die sie heute gesehen hatten: das gierige, das verängstigte und das hochmütige. „Einer von ihnen lügt“, sagte er leise. „Oder sie lügen alle. Und wir haben etwas übersehen. Etwas Kleines, etwas, das nicht in dieses große historische Drama passt.“ Er wusste noch nicht, was es war. Aber er spürte es. In der staubigen Luft des Antiquariats, zwischen den stillen Zeugen aus Papier, hatte es noch etwas anderes gegeben. Einen winzigen, modernen Fremdkörper in einer Welt der Vergangenheit. Und er wusste, er würde nicht ruhen, bis er ihn gefunden hatte.

Kapitel 4: Mauern des Schweigens

Der Abend senkte sich über Paris wie ein Theatervorhang aus schwerem, indigoblauem Samt. Die Lichter der Stadt erwachten, verwandelten die grauen Fassaden in goldene Versprechen und die dunkle Seine in ein fließendes Band aus gespiegeltem Neon und alter Melancholie. In seinem Büro stand Jean-Luc Leprince lange am Fenster und beobachtete, wie die Stadt ihre nächtliche Maske aufsetzte. Er hatte das Gefühl, den ganzen Tag damit verbracht zu haben, gegen Mauern zu rennen – die gläserne Mauer des Geldes bei Moreau, die bröckelnde Mauer der Angst bei Bernard und die undurchdringliche, jahrhundertealte Mauer der Arroganz bei Isabelle de Valois.

Claude saß an dem kleinen Beistelltisch, den sie für ihre Ermittlungsnotizen nutzten, und kritzelte in ein Notizbuch. Das Kratzen seines Stiftes war das einzige Geräusch im Raum. „Nichts“, sagte Claude schließlich und warf den Stift auf den Tisch. „Ich habe die Alibis überprüft. Moreaus Geschäftsessen hat stattgefunden. Der stellvertretende Kulturminister erinnert sich lebhaft an eine Diskussion über die Zuteilung von Mitteln, die bis fast ein Uhr nachts dauerte. Moreau war die ganze Zeit anwesend. Er ist sauber.“ „So sauber wie ein Mann, der in Geld badet, nur sein kann“, murmelte Leprince, ohne sich vom Fenster abzuwenden. „Und die anderen?“ „Bernard... das ist schwieriger“, gab Claude zu. „Der Nachtwächter der Sorbonne hat seine Runde gegen 22 Uhr gemacht. Er hat Licht in Bernards Büro gesehen, aber er hat ihn nicht persönlich angetroffen. Er sagt, es sei nicht ungewöhnlich, dass Professoren die Nacht durcharbeiten. Die Sorbonne ist ein Bienenstock, der niemals schläft. Er könnte also die ganze Nacht dort gewesen sein. Er könnte aber auch für zwei Stunden unbemerkt verschwunden sein. Die Entfernung zu Dubois' Laden ist ein Katzensprung.“ „Und Madame de Valois?“, fragte Leprince. „Ihr Hausdiener, ein gewisser Jean-Pierre, der dort seit der Steinzeit zu arbeiten scheint, schwört, dass Madame das Haus nicht verlassen hat. Er hat ihr gegen 21 Uhr einen Kräutertee in den Salon gebracht und die leere Tasse gegen 23 Uhr wieder abgeholt. Sie sei in ihre Lektüre vertieft gewesen.“ „Ein loyaler Diener“, sagte Leprince. „Er würde für sie lügen, ohne mit der Wimper zu zucken.“ „Genau das dachte ich auch“, stimmte Claude zu. „Also haben wir: ein Alibi aus Stahl, ein Alibi aus Pappe und ein Alibi aus reiner Loyalität. Wir sind keinen Schritt weiter.“

Leprince drehte sich um und lehnte sich gegen die Fensterbank. Das Licht aus dem Innenhof warf lange Schatten in sein Büro. „Doch, sind wir, Claude. Wir haben ihre Gesichter gesehen. Wir haben ihre Angst gerochen. Moreau will das Manuskript, aber sein wahres Schlachtfeld ist der Markt, nicht eine staubige Buchhandlung. Er hätte Dubois ruiniert, nicht erschlagen. Bernard ist am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Er hat Angst vor dem Manuskript, aber hat er auch die Kaltblütigkeit, einen Mord zu begehen und danach seelenruhig in sein Büro zurückzukehren, um an einer Abhandlung zu arbeiten? Es passt nicht. Er ist ein Mann der Theorie, nicht der Tat.“ „Bleibt die Eiskönigin auf ihrer Insel“, sagte Claude. „Isabelle de Valois“, wiederholte Leprince leise. „Sie hat die Nerven. Sie hat das Motiv. Und ihr Parfum war am Tatort. Sie sagt, es könnte an einem Gegenstand gehaftet haben. Einem Brief vielleicht.“ „Ein Drohbrief?“, warf Claude ein. „Vielleicht. Oder eine Einladung. Eine Falle. Sie ist intelligent genug, um ihre Spuren zu verwischen, aber auch arrogant genug, um einen Fehler zu machen. Sie spielt ein Spiel mit uns, Claude. Sie genießt es.“ Er ging zu seinem Schreibtisch und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Die Akte von Antoine Dubois lag vor ihm, dünn und nichtssagend. Das Leben eines Mannes, reduziert auf ein paar offizielle Dokumente. „Wir starren zu sehr auf das Manuskript“, sagte Leprince nach einer langen Pause. „Wir lassen uns von dieser großen, dramatischen Geschichte blenden. Der Skandal, die Revolution, die Familienehre. Was, wenn das alles nur ein Nebenschauplatz ist? Was, wenn der Grund für Dubois' Tod viel kleiner, viel persönlicher war?“ „Was meinst du?“, fragte Claude und lehnte sich vor. „Ich weiß es nicht. Aber ich kann das Gefühl nicht abschütteln, dass wir in die falsche Richtung blicken. Wir jagen den Geistern der Vergangenheit nach, während der Mörder vielleicht aus einem ganz gegenwärtigen Grund gehandelt hat.“ Er schloss die Augen und sah wieder den Tatort vor sich. Den Geruch von altem Papier. Das dunkle Blut auf der aufgeschlagenen Seite. Und die Leere. Die Leere im Regal und die unnatürliche Ordnung um den Toten herum. „Der Mörder kannte sich aus“, sagte er leise. „Er hat sich in diesem Labyrinth aus Büchern bewegt, ohne etwas umzuwerfen. Er wusste, wo er suchen musste. Oder er war gar nicht auf der Suche.“

In diesem Moment klopfte es an der Tür. Es war kein zögerliches Klopfen, sondern ein kurzes, selbstbewusstes Pochen. Bevor einer von ihnen antworten konnte, schwang die Tür auf und Marcel Santini trat ein. Er trug seinen Mantel über dem Arm und hielt mehrere versiegelte Beweismitteltüten in der Hand wie ein Priester, der kostbare Reliquien zum Altar trägt. Ein triumphierendes, spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen. „Ich störe nur ungern Ihre tiefsinnigen Meditationen, Kommissare“, sagte er und legte die Tüten mit einer übertriebenen Geste auf Leprinces Schreibtisch. „Aber ich dachte, Sie wären vielleicht an Fakten interessiert, anstatt nur an metaphysischen Spekulationen über die Natur des Bösen.“ „Was hast du für uns, Marcel?“, fragte Claude und stand auf, um die Tüten zu betrachten. „Zuerst, was ich nicht habe“, begann Santini und genoss sichtlich die Aufmerksamkeit. „Keine brauchbaren Fingerabdrücke auf der Tatwaffe. Der Einband ist zu alt, zu porös. Was auch immer da war, ist verschmiert oder absorbiert worden. Ebenso wenig am Tatort selbst, außer denen des Opfers und seiner Assistentin. Unser Mörder war entweder sehr vorsichtig, trug Handschuhe oder er hatte einfach nur Glück.“ Er machte eine Pause. „Auch keine fremde DNA. Ich habe Proben vom Körper des Opfers genommen, von seiner Kleidung, von den relevanten Oberflächen. Nichts. Es ist, als wäre ein Geist durch diesen Laden geschwebt.“ „Ein Geist mit einem sehr handfesten Schlag“, knurrte Claude. „In der Tat“, sagte Santini und sein Lächeln wurde breiter. „Aber Geister hinterlassen normalerweise keine Spuren unter den Fingernägeln ihres Opfers.“ Leprince war sofort hellwach. „Was hast du gefunden?“ Santini hob eine der kleineren Tüten ins Licht. Sie enthielt nur ein paar winzige, fast unsichtbare Partikel. „Unser Freund Dubois hat sich gewehrt. Nicht sehr effektiv, aber er hat seinen Angreifer gekratzt. Unter seinen Nägeln fand ich neben dem üblichen Schmutz und Papierstaub auch das hier.“ Er tippte auf die Tüte. „Spuren eines spezifischen Polymers. Ein Acryl-Copolymer, um genau zu sein. Ich habe es durch die Datenbank laufen lassen. Es wird fast ausschließlich in einem sehr speziellen Bereich verwendet: bei der modernen, hochauflösenden Restaurierung von alten Fotografien. Es dient dazu, die Emulsion zu stabilisieren und Risse zu versiegeln.“ Leprince und Claude starrten ihn an. Fotografien? „Dubois war ein Buchhändler“, sagte Claude langsam. „Kein Fotograf.“ „Genau das ist der Punkt“, erwiderte Santini selbstgefällig. „Es passt nicht. Es ist ein Fremdkörper. Ein Anachronismus. Jemand, der mit solchen Materialien arbeitet, war in direktem, physischem Kontakt mit Dubois, kurz bevor er starb.“ Leprince spürte einen Anflug von Aufregung. Das war es. Das war das kleine, moderne Detail, das er gespürt hatte. „Aber das ist noch nicht alles“, fuhr Santini fort, seine Stimme triefte vor Genugtuung über seinen eigenen Triumph. Er hob eine zweite, noch kleinere Tüte hoch. Darin lag ein winziges, schwarzes Stück Plastik. „Das hier lag unter dem Schreibtisch, halb verdeckt von einem Stapel alter Zeitschriften. Meine Leute haben es fast übersehen. Aber ich habe ihnen beigebracht, nicht nur zu schauen, sondern zu sehen.“ Er legte die Tüte auf den Schreibtisch. Es war eine Micro-SD-Karte. Ein winziger Datenspeicher, nicht größer als ein Fingernagel. „Eine Speicherkarte?“, fragte Claude ungläubig. „In diesem technischen Niemandsland?“ „Exakt“, nickte Santini. „Ein weiterer Anachronismus. Sie ist von einer hochwertigen Marke, hohe Geschwindigkeit, große Kapazität. Nicht etwas, das man zufällig in der Tasche hat. Sie gehört jemandem, der mit großen Datenmengen arbeitet. Fotografen, Videografen, Techniker.“ „Ist etwas darauf?“, fragte Leprince, seine Stimme war angespannt. Santinis Lächeln verblasste ein wenig. „Das ist der seltsame Teil. Sie ist komplett leer. Nicht nur gelöscht, sondern professionell formatiert. Es gibt keine Restdaten, keine Fragmente, die man wiederherstellen könnte. Nichts. Jemand hat ganze Arbeit geleistet.“ Leprince starrte auf das winzige schwarze Quadrat. Eine leere Speicherkarte. Ein Polymer für Fotorestaurierung. Diese beiden Dinge hatten nichts mit einem Manuskript aus dem 18. Jahrhundert zu tun. Sie hatten nichts mit Victor Moreaus Gier, Professor Bernards Angst oder Isabelle de Valois' Familienehre zu tun. Sie erzählten eine völlig andere Geschichte. „Danke, Marcel“, sagte Leprince ernst. „Das ist... das ist entscheidend.“ Santini war sichtlich erfreut über das seltene und aufrichtige Lob. „Ich weiß“, sagte er, nahm seine leeren Tüten und wandte sich mit einer schwungvollen Bewegung zur Tür. „Ich erwarte, in Ihrem Abschlussbericht namentlich erwähnt zu werden. Vorzugsweise mit einem Adjektiv wie ‚brillant‘.“ Mit diesen Worten war er verschwunden.

Für eine lange Minute herrschte Stille im Büro. Claude starrte auf die Beweismittel, als wären sie außerirdische Artefakte. „Fotografien?“, sagte er schließlich. „Was zum Teufel hat ein alter Buchhändler mit Fotorestaurierung zu tun? Und wer verliert eine Speicherkarte an einem Tatort und formatiert sie vorher?“ Leprince stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, versuchte, die neuen, widersprüchlichen Teile in das Puzzle einzufügen. „Jemand, der nicht wollte, dass wir finden, was darauf war“, sagte er. „Die Karte wurde nicht zufällig fallengelassen. Sie wurde im Eifer des Gefechts verloren. Der Streit, der Kampf... sie ist aus einer Tasche gefallen, aus einer Kamera, aus einem Laptop.“ „Aber warum ist sie leer?“, beharrte Claude. „Vielleicht war der Inhalt so brisant, dass der Besitzer sie routinemäßig nach jedem Gebrauch löscht. Oder...“, Leprince blieb stehen, „...oder der Inhalt wurde direkt vor dem Mord auf ein anderes Gerät übertragen. Und dann wurde die Karte gelöscht, als Vorsichtsmaßnahme. Aber im Kampf ging sie verloren. Der Mörder konnte sie im Dunkeln nicht finden und musste ohne sie fliehen.“ Er ging zurück zum Schreibtisch und blickte auf die dünne Akte von Antoine Dubois. „Wir haben den Mann völlig falsch eingeschätzt, Claude“, sagte er. „Wir sahen nur den staubigen, weltfremden Buchgelehrten. Aber diese Spuren deuten auf ein zweites Leben hin. Ein verborgenes Leben, von dem niemand wusste. Nicht einmal seine Assistentin. Irgendwo in seiner Wohnung, in seinem Laden, muss es einen Hinweis auf diese andere Tätigkeit geben. Ein Labor, eine Dunkelkammer, spezielle Ausrüstung.“ „Die Spurensicherung hat nichts dergleichen erwähnt“, wandte Claude ein. „Weil sie nicht danach gesucht haben!“, erwiderte Leprince. „Sie haben nach Spuren eines Mordes im Zusammenhang mit Büchern gesucht. Wir müssen zurück. Wir müssen den Tatort mit neuen Augen durchsuchen. Wir suchen nicht mehr nach einem gestohlenen Manuskript. Wir suchen nach einem gestohlenen Geheimnis. Einem modernen, digitalen Geheimnis.“

Claudes Miene hellte sich auf. Er verstand. Der Fall hatte sich gerade um 180 Grad gedreht. Sie jagten nicht länger nur den Schatten der Geschichte. Sie jagten den Schatten eines Mannes, von dem sie dachten, sie kannten ihn. „Ein zweites Leben“, wiederholte Claude und nickte langsam. „Das erklärt, warum die Motive der anderen so perfekt und doch so unbefriedigend sind. Sie sind eine falsche Fährte. Eine, die der Mörder vielleicht sogar bewusst hat liegen lassen.“ „Genau“, sagte Leprince. „Das Manuskript war der perfekte Sündenbock. Ein Drama so groß, dass niemand auf die kleinen, unscheinbaren Details achten würde.“ Er griff nach seinem Mantel. Die Müdigkeit der letzten Stunden war wie weggewaschen, ersetzt durch die kalte, klare Energie, die ihn immer ergriff, wenn er spürte, dass er der Wahrheit nahekam. „Lass uns gehen, Claude. Die Nacht ist noch jung.“ „Wohin?“, fragte Claude, obwohl er die Antwort bereits kannte. Leprince blickte ihn an, und in seinen Augen lag ein Funke, den Claude seit Beginn dieses Falles nicht mehr gesehen hatte. „Zurück in die Höhle des Löwen“, sagte er. „Aber diesmal suchen wir nicht nach alten Büchern. Wir suchen nach Geistern in der Maschine.“

Sie verließen das Büro und schritten durch die stillen, schattigen Gänge des Quai des Orfèvres. Draußen wartete die Stadt, ein Labyrinth aus Licht und Dunkelheit. Und irgendwo in diesem Labyrinth, in einem kleinen, versiegelten Laden voller toter Geschichten, wartete das verborgene Leben des Antoine Dubois darauf, endlich entdeckt zu werden. Und mit ihm die Identität seines Mörders.

Kapitel 5: Das verborgene Zimmer

Die Fahrt zurück ins Quartier Latin war eine Reise in eine andere Zeit. Während der Peugeot sich seinen Weg durch die belebteren Arrondissements bahnte, glitt das moderne Paris an ihnen vorbei – Kinos, die die neuesten Blockbuster ankündigten, Bistros, die vor lachenden, weintrinkenden Menschen überquollen, und die unaufhörliche Flut von Scheinwerfern, die die Boulevards in künstliche Flüsse aus weißem und rotem Licht verwandelten. Doch je näher sie der Île de la Cité und dem linken Ufer kamen, desto mehr schien sich die Zeit zu verlangsamen. Die Straßen wurden enger, die Schatten tiefer, und die alten Steinfassaden schienen das Licht der Laternen aufzusaugen, anstatt es zu reflektieren.

„Es ist seltsam“, sagte Claude und durchbrach die Stille, während er den Wagen durch eine schmale Gasse lenkte. „Wir fahren zum selben Ort, aber es fühlt sich an, als würden wir einen völlig neuen Fall beginnen.“ „Weil wir es tun“, antwortete Leprince leise. Er blickte aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Mauern der Sorbonne. „Wir haben uns von einer großen, historischen Erzählung verführen lassen. Das Manuskript war die laute, dramatische Oper, die auf der Bühne aufgeführt wurde. Aber der Mord geschah leise hinter den Kulissen. Es ging nicht um die Sünden eines toten Philosophen. Es ging um die Sünden eines lebenden Menschen.“ „Und Antoine Dubois war der Beichtvater, der zu viel wusste“, ergänzte Claude. „Ein Beichtvater mit einem Scanner und Photoshop.“ „Er war mehr als das. Er war ein Restaurator. Er hat die Vergangenheit nicht nur gelesen, er hat sie wiederhergestellt. Die Frage ist, wessen Vergangenheit, und für wen?“

Als sie in die Rue de la Sorbonne einbogen, war die Szenerie gespenstisch verändert. Die neugierige Menge war verschwunden, die umliegenden Läden hatten ihre stählernen Rollläden heruntergelassen. Nur das Café Le Sorbonnier warf noch einen warmen, einladenden Lichtschein auf den nassen Asphalt. Die Straße gehörte nun der Nacht, dem Schweigen und dem blau-weißen Absperrband, das träge im kalten Wind flatterte. Ein einzelner uniformierter Polizist stand Wache, sein Gesicht im Schatten seiner Mütze verborgen. Er nickte ihnen zu, als sie sich näherten, und hob das Band für sie an.

Das Innere des Grimoire Ancien war noch stiller als zuvor. Der forensische Staub, den Santinis Team hinterlassen hatte, lag wie eine feine Schneeschicht auf einigen Oberflächen und glitzerte im Schein ihrer Taschenlampen. Der Geruch von altem Papier war immer noch dominant, aber jetzt, da Leprince darauf achtete, konnte er darunter etwas anderes wahrnehmen – eine schwache, fast chemische Note, die er zuvor nicht hatte zuordnen können.

„Okay“, sagte Claude und rieb sich die Hände. „Wir suchen nach einem Anachronismus. Einem Labor, einer Dunkelkammer, irgendetwas, das nicht hierher gehört.“ Sie begannen ihre Suche methodisch, aber mit einer völlig neuen Perspektive. Sie ignorierten die Bücher als Geschichten und betrachteten sie als Objekte, als Tarnung. Sie suchten nicht nach Titeln, sondern nach Unregelmäßigkeiten. Leprince ließ den Strahl seiner Taschenlampe langsam über die Wände gleiten, über die endlosen Reihen von Buchrücken. Er suchte nach modernen Kabeln, die hinter den Regalen versteckt sein könnten, nach Steckdosen, die nicht zum alten Gebäude passten, nach Kratzern auf dem Boden, die auf ein verschobenes Möbelstück hindeuteten.

Claude kniete sich hinter den Schreibtisch von Dubois, wo der dunkle Fleck auf dem Holzboden bereits getrocknet war. Er zog die Schubladen heraus, die von der Spurensicherung bereits geleert und untersucht worden waren. Nichts. Nur alte Rechnungen für den Bucheinkauf, Korrespondenz mit Verlagen, Notizen über Auktionen. Alles passte perfekt zum Bild des alten Buchhändlers. „Nichts hier“, murmelte Claude. „Wenn er ein zweites Leben hatte, dann hat er es nicht mit seinem ersten vermischt.“

Leprince ging langsam den schmalen Gang entlang, seine Hand strich über die Buchrücken. Leder, Leinen, Karton. Jedes Buch eine eigene Textur, ein eigenes Alter. Er dachte an Dubois. Ein Mann, der sein ganzes Leben der Ordnung und dem Wissen gewidmet hatte. Ein Mann, der in einer Welt aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert lebte. Wenn solch ein Mann ein Geheimnis aus dem 21. Jahrhundert hätte, wo würde er es verstecken? Er würde es nicht einfach offen herumliegen lassen. Er würde es integrieren. Er würde es mit den Mitteln seiner eigenen Welt tarnen.

Sein Blick fiel auf einen bestimmten Abschnitt der Regalwand, etwa in der Mitte des Ladens. Die meisten Regale waren ein buntes, organisches Durcheinander aus verschiedenen Größen, Farben und Epochen. Aber dieser Abschnitt war anders. Er enthielt eine komplette, gebundene Ausgabe der Werke eines obskuren Dramatikers aus der Zeit Ludwigs XV. Die Bände waren alle identisch, in dunkelrotes Leder gebunden, mit dezenten Goldprägungen. Sie sahen perfekt aus. Zu perfekt. Sie sahen aus, als wären sie nie gelesen worden. Sie waren Dekoration, keine Literatur. In Antoine Dubois' Laden war das eine Sünde. Es war ein Sakrileg.

Leprince trat näher. Er ließ seine Finger über die glatten, kühlen Buchrücken gleiten. Er zog einen der Bände, „Théâtre Complet, Volume III“, vorsichtig aus dem Regal. Er war überraschend leicht. Er schlug ihn auf. Die Seiten waren hohl. Das Buch war eine Attrappe, eine simple Schachtel. „Claude“, sagte Leprince leise. „Komm mal her.“ Claude kam sofort. Leprince zeigte ihm das hohle Buch. „Das ist es nicht. Das ist zu offensichtlich. Das ist eine alte Sparbüchse. Aber es ist ein Zeichen. Ein Hinweis darauf, wie er dachte.“

Er stellte das Buch zurück an seinen Platz. Sein Blick scannte die Reihe. Seine Intuition sagte ihm, dass er nah dran war. Er begann, sanft gegen die Buchrücken der Reihe zu drücken. Band I, Band II, Band III... nichts. Band IV, Band V... Bei Band VI spürte er es. Ein minimales Nachgeben. Ein leises, fast unhörbares Klicken, das tiefer aus der Wand zu kommen schien.

Er drückte fester. Für einen Moment geschah nichts. Dann, mit einem leisen, surrenden Geräusch, das in der staubigen Stille des Ladens wie ein Schrei klang, begann sich das gesamte Regal, die komplette Sektion mit den Werken des Dramatikers, langsam nach innen zu schwenken. Es bewegte sich nicht wie eine Tür, sondern glitt sanft in die Wand hinein und gab eine dunkle, rechteckige Öffnung frei.

Claude starrte ungläubig auf die Öffnung. „Mon Dieu“, flüsterte er. „Eine Geheimtür. Wie in einem Roman.“ „Dubois war ein Mann der Romane“, sagte Leprince und richtete den Strahl seiner Taschenlampe in die Dunkelheit. „Er hat sein Geheimnis nicht hinter einem Buch versteckt. Er hat es hinter einer ganzen Bibliothek versteckt.“

Der Raum, der sich hinter dem Regal verbarg, war ein Schock. Es war, als wären sie durch ein Portal in eine andere Welt getreten. Der Geruch von altem Papier war verschwunden, ersetzt durch den kühlen, sterilen Geruch von Elektronik und einem Hauch von Chemikalien. Es war kein Zimmer, es war ein Labor. Ein hochmodernes, digitales Atelier, das im kompletten Gegensatz zu der chaotischen, analogen Welt des Antiquariats stand.

Der Raum war klein, vielleicht nicht mehr als zehn Quadratmeter groß, und fensterlos. Die Wände waren weiß und kahl. In der Mitte stand ein großer, ergonomischer Schreibtisch, auf dem nicht ein einziges Buch lag. Stattdessen standen dort zwei riesige, hochauflösende Monitore nebeneinander. Daneben ein leistungsstarker Computer, dessen Lüfter leise summten. An der Seite stand ein flaches, professionelles Gerät, das Leprince als einen High-End-Film- und Negativscanner erkannte. Auf einem kleinen Beistelltisch standen sorgfältig aufgereihte Fläschchen mit Chemikalien – Stabilisatoren, Reiniger, Versiegelungen. Eines der Fläschchen trug eine technische Bezeichnung, die das Wort „Acryl-Copolymer“ enthielt.

„Santini hatte recht“, sagte Claude ehrfürchtig. „Ein zweites Leben.“ Leprince trat an den Schreibtisch. Der Computer lief. Der Bildschirmschoner zeigte ein rotierendes 3D-Modell eines alten Astrolabiums. Leprince berührte die Maus. Der Bildschirm erwachte zum Leben. Darauf war ein Bild zu sehen. Oder vielmehr, ein Teil eines Bildes. Es war eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie, stark vergrößert, so dass man das Korn und die feinen Risse in der Emulsion sehen konnte. Die linke Hälfte des Bildes war vergilbt, fleckig und von Kratzern durchzogen. Die rechte Hälfte war makellos. Die Farben waren in perfekte Graustufen umgewandelt, die Kratzer waren verschwunden, die Details waren scharf und klar. Es war eine laufende Restaurierungsarbeit.

Das Foto zeigte eine Szene in einem opulenten, altmodischen Hotelzimmer. Im Vordergrund stand ein Mann im offenen Bademantel, der lachend einer Person zuprostete, die außerhalb des Bildausschnitts stand. Im Hintergrund saß eine junge Frau auf dem Bett, nur mit einem Laken bedeckt. Die Szene war eindeutig intim, kompromittierend. Aber es war das Gesicht des Mannes, das Leprince den Atem stocken ließ. Es war das Gesicht eines bekannten Politikers. Ein Mann, der heute als Minister im Amt war, ein Verfechter konservativer Familienwerte, dessen Karriere auf einem makellosen Ruf aufgebaut war. Das Foto musste aus den späten 80er oder frühen 90er Jahren stammen. Der Mann war jünger, aber unverkennbar.

„Das ist...“, begann Claude und trat näher an den Bildschirm. „Das ist doch Minister Audran.“ „In seiner Jugend“, sagte Leprince. „Bei einer Sünde.“ Sie starrten auf den Bildschirm. Das war es also. Das war das Geheimnis, das so viel mehr wert war als ein altes Manuskript. Es war eine politische Zeitbombe. Leprince blickte sich im Raum um. Auf dem Schreibtisch, neben der Tastatur, lag ein kleines, in Leder gebundenes Notizbuch. Kein altes Manuskript, sondern ein modernes Logbuch. Leprince schlug es auf. Dubois' Handschrift war klein, präzise und akribisch. Er führte Buch über seine Projekte. Jedes hatte einen Codenamen, ein Datum, Notizen zum Zustand des Materials und eine Abrechnung.

Leprince blätterte durch die Seiten. „Projekt: Daguerreotypie Familie L.“, „Projekt: Glasnegative Jardin des Plantes“. Alles schien harmlos. Bis er zur letzten Seite kam. Der letzte Eintrag. Begonnen vor drei Wochen.Projekt: Marianne '89Material: Serie von 35mm-Negativen, schlechter Zustand. Starke Kratzer, chemische Verfärbungen. Kunde wünscht vollständige digitale Restaurierung und hochauflösende Scans.Darunter standen Notizen zur verwendeten Chemie und den Scan-Einstellungen. Und ganz unten, in der Spalte für die Abrechnung, stand:Anzahlung erhalten: 10.000 €. Abschlusszahlung bei Lieferung: 40.000 €.Kunde: Vertraulich. Kontakt über verschlüsselte E-Mail.

„Fünfzigtausend Euro“, flüsterte Claude. „Für ein paar alte Fotos. Jemand wollte diese Bilder. Und er wollte sie in perfekter Qualität.“ „Oder er wollte sichergehen, dass er die einzige Kopie besitzt“, sagte Leprince. „Er kaufte nicht nur die Bilder, er kaufte das Schweigen. Und als Dubois vielleicht zögerte, oder mehr wollte, oder einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort war...“ Er ließ den Satz unvollendet in der stillen, kühlen Luft des geheimen Raumes hängen. Die leere Speicherkarte. Nun ergab alles einen Sinn. Der Mörder war nicht gekommen, um etwas zu stehlen. Er war gekommen, um etwas abzuholen. Die fertigen, restaurierten Bilder. Er hatte die Daten von Dubois' Computer auf seine Karte übertragen. Wahrscheinlich hatte er Dubois gezwungen, es für ihn zu tun. Dann hatte der Streit begonnen. Vielleicht hatte Dubois sich geweigert, die Originalnegative herauszugeben. Im Kampf war die Karte verloren gegangen. Der Mörder hatte Dubois im Affekt getötet, konnte die Karte im Dunkeln nicht finden und musste fliehen, bevor jemand kam.

Leprince schloss das Logbuch. Der Fall hatte sich erneut gewandelt. Es ging nicht mehr um drei Verdächtige. Es ging um einen unbekannten Kunden, der bereit war, 50.000 Euro zu zahlen, und um einen der mächtigsten Männer der französischen Regierung. „Wer ist der Kunde?“, fragte Claude. „Audran selbst? Einer seiner politischen Feinde, der ihn erpressen will? Oder ein Freund, der versucht, ihn zu schützen?“ „Das finden wir heraus“, sagte Leprince. „Wir brauchen die E-Mails. Die IT muss sich diesen Computer vornehmen. Sie müssen die verschlüsselte Korrespondenz knacken. Das ist jetzt unsere einzige Verbindung zum Mörder.“

Er blickte noch einmal auf den Bildschirm, auf das Gesicht des jungen, lachenden Politikers und die stumme Szene einer längst vergangenen Sünde, die wieder zum Leben erweckt worden war, nur um erneut Tod und Verderben zu bringen. Sie verließen das verborgene Zimmer und schlossen die Geheimtür hinter sich. Das Regal glitt mit einem leisen Surren zurück an seinen Platz. Der Laden war wieder nur ein Laden. Ein stilles, staubiges Antiquariat. Aber für Leprince und Claude war er nun etwas anderes. Er war ein Mausoleum für zwei Leben.

Der tote Mann hatte zwei Bibliotheken besessen. Eine für die Welt, gefüllt mit den Geschichten anderer Leute. Und eine für sich selbst, gefüllt mit den Sünden der Mächtigen. Und es war die zweite Bibliothek, die ihn das Leben gekostet hatte.

Kapitel 6: Die digitalen Schatten

Die Entdeckung des verborgenen Labors hatte die Ermittlung mit der Wucht eines elektrischen Schlags getroffen. Die Nacht wich einem blassgrauen, widerwilligen Morgen, doch für Leprince und Claude hatte es keine Pause gegeben. Der Computer von Antoine Dubois, nun das Herzstück ihrer Untersuchung, wurde mit der Sorgfalt einer unschätzbaren Reliquie aus dem Antiquariat entfernt und in die Katakomben der IT-Abteilung im Quai des Orfèvres gebracht.

Die IT-Abteilung war eine andere Welt innerhalb der alten Mauern des Polizeihauptquartiers. Hier roch es nicht nach Bohnerwachs und altem Papier, sondern nach ionisierter Luft, dem schwachen Geruch von überhitztem Plastik und dem Koffein-Gebräu, das die nachtaktiven Techniker am Leben hielt. Es war ein Reich aus surrenden Servern, flackernden Bildschirmen und einem Kabelsalat, der so komplex war wie das Pariser U-Bahn-Netz.

Der Chef dieser Abteilung war ein junger Mann namens Luc Giraud. Er war kaum dreißig, trug ein T-Shirt einer obskuren Band, eine randlose Brille und hatte die Art von blasser Haut, die nur Menschen haben, die mehr Zeit mit Silizium als mit Sonnenlicht verbringen. Trotz seines jugendlichen Aussehens galt er als einer der besten Cyber-Ermittler Frankreichs. „Ein interessantes Gerät“, sagte Luc und betrachtete den Rechner von Dubois mit der Faszination eines Biologen, der eine neue Spezies entdeckt. „Maßgeschneidert. High-End-Prozessor, massiver Arbeitsspeicher, redundante Festplatten. Dieser Mann wusste, was er tat. Das war keine Hobby-Ausrüstung. Das war professionell.“ „Wir brauchen alles, was Sie finden können, Luc“, sagte Leprince. Er fühlte sich in diesem Raum voller blinkender Lichter immer ein wenig fehl am Platz. „Insbesondere eine verschlüsselte E-Mail-Korrespondenz. Der Kunde nannte sich ‚Vertraulich‘.“ Luc lachte leise. „‚Vertraulich‘. Wie originell. Geben Sie mir ein paar Stunden. Die Verschlüsselung, die er verwendet hat, ist gut, aber nicht unknackbar. Es ist, als würde man ein sehr kompliziertes Schloss knacken. Man braucht nur den richtigen Schlüssel... oder einen sehr großen Hammer.“