7 Mythen über Europa - René Cuperus - E-Book

7 Mythen über Europa E-Book

René Cuperus

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Beschreibung

Europa steht ratlos vor dem geopolitischen Kampf zwischen den USA und China, dem Brexit, der Flüchtlingskrise, Corona-Pandemie und einer Rezession. Nationale Alleingänge untergraben das große europäische Friedensprojekt. Die Union droht zu zerbrechen, sie ist gespalten in Gewinner und Verlierer, Reiche und Arme, Gebildete und Abgehängte. Wie kann Europa seine Wählerinnen und Wähler noch überzeugen? Mit Ehrlichkeit! Der niederländische Historiker René Cuperus hat viele Regierungen beraten. Er räumt auf mit sieben zentralen Mythen utopischer Pro-EU-Föderalisten wie auch fremdenfeindlicher Anti-EU-Populisten. Will die Mehrheit der Europäer wirklich eine "immer engere Union"? Sind die Nationalstaaten bedeutungslos geworden? Scheitert Europa am Euro? Sind wirklich alle Mitgliedstaaten gleich? Wird die Europäische Kleinstaaterei überleben? Cuperus liefert eine realistische Einschätzung der Stärken und Schwächen der EU und fordert: Die europäische Zusammenarbeit muss neu gestaltet werden! Eine intensive Suche nach der richtigen Balance zwischen der EU und ihren nationalen Demokratien muss dabei im Zentrum stehen.

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Retter Europas ist vor allem, wer es vor der Gefahr der politisch-religiös-sozialen Zwangseinheit und Zwangsnivellierung rettet, die seine spezifische Eigenschaft, nämlich den vielartigen Reichtum seines Geistes bedroht.

Jacob Burckhardt

Die Europäische Union besteht aus postklassischen Nationalstaaten, die einige ihrer Hoheitsrechte gemeinsam ausüben und andere auf supranationale Entwicklungen übertragen haben. Jeder Versuch, die Mitglieder dieses Staatenverbundes auf ein »postnationales« Selbstverständnis, die Abschaffung der Nationalstaaten oder die Finalität eines Bundesstaates nach deutschem Vorbild festzulegen, wäre zum Scheitern verurteilt und überdies kontraproduktiv. Er würde den nationalistischen Kräften Auftrieb geben.

Heinrich August Winkler

Eine Welt ohne Grenzen ist eine Wüste;

eine Welt mit geschlossenen Grenzen ist ein Gefängnis;

die Freiheit gedeiht in einer Welt offener Grenzen.

Sir Ralf Dahrendorf

René Cuperus

7 Mythen über Europa

Plädoyer für ein vorsichtiges Europa

Aus dem Niederländischen

von Gregor Seferens

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-7024-7 (E-Book) ISBN 978-3-8012-0574-4 (Printausgabe)

Copyright © 2021 by Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH Dreizehnmorgenweg 24, D-53175 Bonn

Umschlaggestaltung: Hermann Brandner, Köln Satz: just in print, Bonn E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2021

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

Inhalt

Cover

Impressum

Eine Europakonferenz in Berlin

»Für die Zukunft Europas muss man nach Deutschland gehen«

Ein »vorsichtiges Europa«

Europa-Realismus

Deutschland ist Europa im Kleinen

Post-Merkel-Deutschland in Post-Corona-Europa

Eine differenzierte Sicht von Europa

Die vernünftige Mitte unter Druck

Die historische Notwendigkeit der europäischen Zusammenarbeit

Ein starkes Europa nach außen, ein sanftes Europa nach innen

Mythen (über krumme und gerade Gurken)

Sieben Mythen über Europa

1Der Mythos der »Ever Closer Union«

Unterschiedliche Wege zur Integration?

Europäische Souveränität oder europäische Unterschiede?

Wer hat Angst vor Deutschland?

Ein neues deutsches Dilemma

2Der Mythos vom Ursprung

Europäische Mythologie

3Der Brexit-Mythos

Der doppelte Brexit-Schock

Brexit: Das sind wir selbst

Der Dämpfer des Brexits

Der Post-Brexit-Mythos

Die Post-Brexit-Anpassung der Neonationalisten

Die Europalehren aus dem Brexit

Post-Brexit-Blues

4Der Mythos der europäischen und nationalen Souveränität

4.1 Der Mythos von der europäischen Souveränität

Europa – eingeklemmt zwischen China und Amerika

Keine EU-Souveränität ohne amerikanische Unterstützung

Europäische Verteidigung

The new German question?

Zerbricht der Westen?

4.2 Der Mythos von der nationalen Souveränität

Grenzen der Souveränität

Der Aufstand des Neonationalismus

»Interne« und »externe« Souveränität

5Der Mythos des Populismus

Ökonomisches Erklärungsmodell

Revolte der »Left Behind«

Konflikt über den zukünftigen Kurs der Gesellschaft

Globalisierungsangst

Anywheres versus Somewheres

Keine internationale Solidarität ohne nationale Solidarität

Die EU: Täter und Opfer der heutigen Populismuskrise

Europa als Projektionsfläche

Keine europäische Solidarität ohne nationale Solidarität

6Der Mythos der europäischen Wertegemeinschaft

Das europäische Paradox: ein kooperatives Mosaik

Die kulturpolitischen Bruchlinien in Europa

Die Werte der Union

Der Fall »illiberales« Ungarn

Die Rache der Geschichte

7Der Mythos der Einheitswährung?

Die Corona-Eurokrise

Eine schwierige Ehe

Die Finanzialisierung Europas

»MinFin rules the euro«

Währungsunion ohne gegenseitiges Vertrauen?

Der Euro ist ein politisches Projekt

Wie wünschenswert ist eine »Disziplinarunion«?

Die große Wette vorwärts

Die populistische Falle

Zum Schluss:21 Aussagen als Zusammenfassung und Schlussfolgerung

Epilog: Über Mythen und Gurken

Dank

Die englischen Zitate in deutscher Übersetzung

Über den Autor

Eine Europakonferenz in Berlin

»Für die Zukunft Europas muss man nach Deutschland gehen«

Letzten Sommer war ich in Berlin auf einer Konferenz über die Zukunft Europas. Meine erste internationale Konferenz seit anderthalb Jahren Corona-Elend. Das Treffen fand in einer Villa im schicken Berliner Stadtteil Grunewald statt. In dieser Villa befindet sich die Europäische Akademie, ein Bildungs- und Konferenzzentrum »zur Stärkung der Europäischen Union«. Die Konferenz war organisiert von der Willi-Eichler-Akademie und der Bundeszentrale für politische Bildung. Ein solches Treffen bietet einen guten, innovativen Einstieg in das übliche Europadenken in Deutschland.

Über Europa wird geredet, als wäre es eine Religion. Für die Deutschen ist Europa Ersatznation und Ersatzreligion zugleich: Ersatzheimat und neue Religion. Dieses europäische Denken entsprang der moralischen Schuld und den historischen Narben der deutschen Gräueltaten im 20. Jahrhundert.

Der auch in Deutschland bekannte holländische Schriftsteller Arnon Grunberg schrieb dasselbe für de Volkskrant in seinem Essay über das Ende der Ära Merkel (Volkskrant, 10. Juli 2021). »Für Deutschland ist die Vereinigung Europas Staatsräson, das heißt, die Vereinigung ist aus Sicht des deutschen Staates notwendig (…). Als Nationalstaat verfolgt Deutschland implizit seine eigene Auflösung im Austausch für ein sich langsam verschlechterndes Verhältnis zu Europa (…). Deutschland sieht seine Daseinsberechtigung darin, seine moralische Schuld zu erfüllen, unter anderem durch die Zusammenführung Europas (…). Das deutsche Experiment im 21. Jahrhundert besteht in der schrittweisen Abschaffung des Nationalstaates.«

Gerade in progressiven, sozialliberalen Kreisen – und sie führen oft solche Bildungszentren in Deutschland – ist das in der Tat die offizielle Diktion, die man hört. Die Menschen glauben an eine postnationale Zukunft. Die europäische Einigung wird als der einzig mögliche Fortschritt angesehen, sogar als eine Art altruistisches Abenteuer, bei dem Deutschland seine nationale Macht im großen europäischen Plan auflöst.

Auf einer solchen Konferenz in Deutschland wird stark schwarzweiß gedacht und gesprochen. Analysen unterscheiden richtig und falsch, Gut und Böse. Zum Beispiel wurde Donald Trump immer noch stark kritisiert – die Pervertierung der Politik in Person. In einem Impulsreferat eines europäischen Spitzenpolitikers der SPD war der Trump-Schock noch immer quicklebendig. Bemerkenswerterweise wurden Putin und Xi überhaupt nicht erwähnt. Nur Victor Orbán. Unsere westliche Demokratie wird offenbar nicht von China und Russland bedroht, sondern lediglich von Nationalisten, Populisten und Rechtsextremisten. Ihnen gegenüber wird ein antipopulistisches Programm propagiert: Europa, Klima, Migration und LGBTI. Alles, was dafür ist, ist gut. Alles, was dagegen ist oder es aufweicht, löst einen Rutschbahneffekt hin zu Extremismus, Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit aus.

Jedes Mal fällt auf, dass die Deutschen die Europäische Union bewusst und unbewusst als eine Art vergrößerte Bundesrepublik sehen – nur mit zusätzlichen Bundesländern. Das ist die Sichtweise und die DNA, mit der die Deutschen Europa betrachten, ob es ihnen gefällt oder nicht. Deutschland ist wie Belgien mit föderalem Denken vertraut. Die Aufgaben- und Arbeitsteilung zwischen dem Berliner Regierungszentrum und den Bundesländern ähnelt zunehmend der europäischen Dynamik zwischen Brüssel und den Mitgliedstaaten. Ein deutscher Experte sagte mir, ohne Augenzwinkern, dass in Zukunft die nationalen Mitgliedstaaten nur noch für die Bildungs- und Kulturpolitik zuständig sein würden und der Rest nach Brüssel verlagert werde. Genau das deutsche Modell. Man ist an Kompetenzverteilung und Finanztransfers zwischen Regionen und Zentrum gewöhnt. Den Niederländern ist das völlig fremd.

Zudem sieht Deutschland im Gegensatz zu den kleinen europäischen Ländern die EU nicht schnell als Bedrohung der eigenen Identität. Nicht allein ist der deutsche Nationalstaat historisch belastet, und sein Aufgehen in einem größeren europäischen Ganzen darum moralisch gut. Es ist auch so, dass im Gegensatz zu den kleineren Mitgliedstaaten insbesondere Deutschland und Frankreich von einer größeren und stärkeren EU profitieren. Sie bekommen im Gegenzug die europäische Führung; das ist manchmal etwas kostspielig, aber trotzdem vorteilhaft. Je größer die EU, desto mächtiger werden die großen Länder und desto relativ machtloser die kleinen Länder.

Ein »vorsichtiges Europa«

Auf dieser Konferenz in Berlin habe ich eine unangenehme Position vertreten. Nicht nur in fehlerhaftem Deutsch (wie viele Niederländer sprechen die Sprache Goethes und Heines noch fließend?), sondern auch, weil ich eine andere Europasensibilität betonen wollte als die deutsche Europautopie, nämlich die Europasicht kleinerer Länder wie der Niederlande.

Ich habe für ein »vorsichtiges Europa« plädiert, eine EU, die ihre Grenzen und Schranken kennt. Warum? Weil für die Mehrheit der Menschen in Europa europäische Politik keine gelebte und bekannte Demokratie ist. Mit der Abschaffung der Nationalstaaten kann man keine Mehrheiten gewinnen (und man kann andere Länder nicht auffordern, ihren Nationalstaat wegen der historischen, nationalistischen Barbarei Deutschlands zu opfern). Darüber hinaus müssen vor allem auf nationaler Ebene politisches Vertrauen zwischen Politik und Bevölkerung und demokratisches Selbstbewusstsein wiederhergestellt werden.

Es gibt eine »Populismus-Kluft« in der Gesellschaft zwischen den Hochgebildeten und den Weniger-Gebildeten, wobei Europa die Gruppen eher trennt, als verbindet. Im Moment gibt es daher kein Mandat für die etablierte Politik (die gar nicht mehr so etabliert ist) oder für große Schritte und Sprünge in Europa. Ich bin daher sehr besorgt, wie das größenwahnsinnige Klimapaket der Europäischen Kommission (Fit for 55) enden wird: Top-down-Technokratie ohne demokratische Unterstützung.

Der nationale Populismus scheint in Deutschland und den Niederlanden seinen Höhepunkt überschritten zu haben (dank der internen Konflikte von Forum voor Democratie in den Niederlande und AfD in Deutschland). Wenn man sich aber Frankreich anschaut, sieht man, wie prekär die politische Situation in Europa wirklich ist. Dort stehen sich Präsident Macron und Éric Zemmour / Marine Le Pen – Establishment versus Antiestablishment – mit 55 Prozent zu 45 Prozent gegenüber. Und die Präsidentschaftswahlen in Frankreich entscheiden über die Stabilität und Unterstützung für die zukünftige europäische Politik.

Europa-Realismus

Ich habe dem deutschen Publikum klar gemacht, dass die Niederländer pragmatisch pro EU sind. Sie wollen wenig mit dem NEXIT-Gerede der Nationalpopulisten zu tun haben, sehen aber Europa auch nicht als ein Ersatzvaterland oder eine Art säkulare Religion. Die Niederländer sind europäische Realisten. Ihnen liegt der Binnenmarkt am Herzen, denn die holländische Wirtschaft lebt, wie die deutsche, vom Handel und vom Export. Sie kümmern sich um die offenen Grenzen und die Freizügigkeit von Menschen, denn die Niederländer sind touristische Großnutzer und holen sich gerne billige Arbeitskräfte für den Agrarsektor. Aber sie fürchten und meiden unbegrenzte Arbeitsmigration, weil sie den Wohlfahrtsstaat untergraben kann.

Die Niederländer erkennen an, dass die europäische Zusammenarbeit nach dem katastrophalen 20. Jahrhundert eine historische Verpflichtung ist: »Nie wieder Krieg«, Ende der deutsch-französischen Erbfeindschaft. Gleichzeitig widerstrebt kleinen Ländern auch eine Rückkehr des Großmachtdenkens in Europa. Das heißt: Respekt für nationale Demokratien, Kulturen und politische Traditionen.

Die Niederländer lieben das Erasmus-Stipendienprogramm, sehen aber im Prinzip in der europäischen Einigung eher einen Demokratieverlust als Demokratiegewinn. Wie kann man ein Mehrvölkerreich mit 500 Millionen Einwohnern in eine wahre Demokratie verwandeln?

Die EU, so argumentierte ich polemisch, ist keine große »deutsche Bundesrepublik« und wird es auch nie sein. Sie ist kein verzehnfachtes Deutschland mit sehr vielen Bundesländern. Nein, wenn die EU etwas ist, dann ist sie eher so etwas Ähnliches wie eine komplexe Vergrößerung Belgiens. Die EU ist dann »27-mal Belgien«. Das heißt: ein komplexes Pseudostaatsphänomen mit einer unglaublichen Vielfalt an Sprachen, Kulturen und politischen Traditionen. Und muss so angegangen werden, wenn sie ein langes, glückliches Leben haben soll.

Deutschland ist Europa im Kleinen

Mein Plädoyer für ein »vorsichtiges Europa« stieß auf lauwarme Reaktionen. Erst zur Mittagszeit sprachen mich die Leute begeistert an: »Sie sagen, wie es ist!«, und räumten damit implizit ein, dass das europäische Denken in Deutschland aus verständlichen historischen Gründen nicht realistisch sei und nicht realistisch sein dürfe.

Zur Relativierung muss nun gesagt werden, dass in Deutschland die europäische Suppe nicht so heiß gegessen wird, wie es das offizielle Denken und Sprechen sie kocht. Im politischen Alltag versuchen deutsche Politiker und politische Entscheidungsträger oft, die europäischen Pläne des französischen Präsidenten Macron abzuschwächen und zu stören. Nachkriegsdeutsche zeichnen sich durch die Haltungen aus: »Keine Experimente!« und ein stabiles und solides »Fahren auf Sicht« aus. Insbesondere in der deutschen CDU/CSU und der FDP gibt es eine große Zurückhaltung gegenüber einer weiteren europäischen Integration. Auch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe spielt dabei eine entscheidende Rolle, weil es sich weigert, die EU als Pseudodemokratie mit eigenem »Demos« zu sehen. Darüber hinaus gelingt es Deutschland oft auf geniale Weise, nationale Interessen in den europäischen Diskurs zu verpacken. Bei der Interessenvertretung der deutschen Autoindustrie wird die EU plötzlich viel weniger »religiös« interpretiert.

Wie dem auch sei, tiefgründige Kenntnisse über Deutschland sind unverzichtbar für diejenigen, die etwas über die Zukunft der EU sagen wollen. Eine solche Konferenz in Berlin lehrt, dass man die Funktionsweise der Bundesrepublik viel besser studieren muss. Schließlich finden viele der föderalen Erfahrungen und -praktiken später ihren Weg in die EU.

Die Kenntnis Deutschlands ist auch deshalb entscheidend, weil Deutschland eine Art Miniatureuropa für sich ist. Die Nord-Süd- und Ost-West-Trennungslinien innerhalb Europas findet man in Deutschland selbst im Kleinen wieder: mit den Ossis in der Rolle der Osteuropäer, der FDP als Sprachrohr der »sparsamen Länder«, den deutschen Grünen als Macrons euroföderalen Handlangern und der Merkel-Doktrin vom Zusammenhalt, der alles ein bisschen zusammenhalten muss. Es ist dieses interne »europäische Kräftefeld« innerhalb Deutschlands, das letztlich tiefgreifende Auswirkungen auf die Zukunft der EU haben wird.

Post-Merkel-Deutschland in Post-Corona-Europa

Dieses Buch ist ein lautes Nachdenken über Europa. Ein Essay über die Stärke und Schwäche Europas. Über die Spannkraft und die Zukunftsideale des europäischen Projekts. Über die falschen Mythen der neoföderalen Europhilen und der xenophoben Nationalisten. Es ist ein »europa-realistisches« Buch – weder euroskeptisch noch euroföderal. Es wurde kurz vor und während der weltweiten Corona-Krise geschrieben, und das hat lesbare Spuren hinterlassen.

Eine differenzierte Sicht von Europa

Ich will sofort mit der Tür ins Haus fallen und mit offenen Karten spielen: Ich ringe mit Europa. Ich bin weder Nationalist noch Föderalist, nicht antieuropäisch, aber auch nicht europhil. Würde es nicht so trendy wie »Transgender« klingen, würde ich mich selbst als »Transnationalist« oder »Transeuropäer« bezeichnen. Ich bin ein Anhänger eines bunten, pluralistischen Europas, nicht eines grauen, technokratischen, zentralistischen. Ich bin ein Anhänger intensiver, grenzüberschreitender europäischer Zusammenarbeit, aber ein Gegner einer forcierten, aufgezwungenen Vereinigung. Ich bin ein Bewunderer der Summe der europäischen Nationalstaaten, wobei das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.

Europa, das ist für mich vor allem Barcelona, Vilnius, Dublin, Berlin, Zagreb. Europa, das ist das reiche Mosaik europäischer Staaten, Kulturen, Traditionen, Gerüche und Farben. Darüber hinaus gibt es die Notwendigkeit und den Mehrwert der europäischen Zusammenarbeit. Notwendig geworden aufgrund der fatalen Kriegsgeschichte unseres Kontinents. Die Deutschen sagen es treffend: Die Geschichte Europas hat uns zu historischer Zusammengehörigkeit verpflichtet: »Nie wieder« und »Nie wieder allein«. Um dieses »Nie wieder« zu garantieren, haben wir uns tiefgreifende Formen der europäischen Zusammenarbeit und Verflechtung auferlegt.

Die Kernfrage ist und bleibt, wie weit diese europäische Verflechtung gehen muss und gehen kann. Kann man 75 Jahre nach der Befreiung dieselbe »Ever Closer Union« anstreben, wie sie die Pioniergeneration in der Nachkriegszeit vor Augen hatte? Ist das in Gesellschaften möglich, die unermesslich viel mündiger und demokratischer sind als Ende der 1940er-Jahre? Geht das in einer Europäischen Union, die durch nahezu permanente Erweiterung (von sechs auf 27 Mitgliedsstaaten und demnächst vielleicht noch mehr) immer diverser und heterogener geworden ist? Ist ein zentralistischer Top-down-Einheitsprozess etwas, das noch in die horizontalen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts, zu der improvisierenden Network-Generation der Millennials passt? Bei all dem sind starke Zweifel angebracht.

Dem gegenüber steht zugegebenermaßen die Frage, ob kleine Nationalstaaten in einer sich globalisierenden Welt überhaupt überleben können, ob ein uneinig und bürokratisch verhandelndes Europa der Great Power Competition des 21. Jahrhunderts gewachsen ist? Aber kann dies jemals Grund genug sein, um eine Vereinigung Europas zu erzwingen, ohne dafür den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung zu haben?

Zum Glück ist Europa mehr als Brüssel. Mehr als das Europaviertel in Brüssel. Mehr als die europäischen Institutionen. In Brüssel denkt man zu sehr, »sie« seien Europa, sie repräsentierten das »wahre Europa«. Im Gegensatz zu den halsstarrigen, quertreibenden Mitgliedsstaaten. Im Gegensatz zu den Nationalstaaten und den nationalen Nabelschauern. Im Gegensatz zu den nationalistischen Populisten. Im Gegensatz zu den in den Nationalstaaten zurückgebliebenen Menschen, die angeblich die Neue Welt noch nicht verstanden haben. Kleindenkende Menschen, die noch in der Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts leben.

Die »Feinde« Brüssels, die nationalistischen Populisten, sind in ihrem leichtsinnigen Leugnen einer europäischen Schicksalsverbundenheit ebenso fanatisch. Dort, wo die Nationalisten keine »Einheit und Homogenität« in Europa erkennen können, sehen sie davon wiederum zu viel im Nationalstaat und geraten dabei in Konflikt mit dem Pluralismus, der ein wesentliches Element jeder Demokratie ist. Als bestünden Nationalstaaten aus einem einzigen Volk, das mit einer Stimme spricht. Das ist gefährlicher Unsinn.

Das Schwarz-Weiß-Denken über Europa macht mehr kaputt, als uns lieb ist. Die Frage ist nicht: entweder die Europäische Union oder der Nationalstaat, entweder Brüssel oder die Hauptstädte. Wer glaubt, mit dieser Haltung Nationalismus (im Sinne von Patriotismus) dämonisieren zu können, erntet erst recht das, was er bekämpfen will: antieuropäischen Nationalismus. Und wer die Einheit des Nationalstaates im Gegensatz zu Europa besingt, der trällert schon bald eine antidemokratische, fremdenfeindliche Melodie.

Ebenso wenig darf die Europadebatte ausschließlich mit moralischen Begriffen geführt werden: Europa ist gut, der Nationalstaat ist schlecht. »Europa« wird vor allem von Hochqualifizierten gewollt und ungewollt als »Lifestyle-Markierung« verwendet. Um sich von ordinären Populisten und »Das-eigene-Volk-zuerst«-Nationalisten abzugrenzen. Europa als moralisches Projekt, bei dem es mehr um die richtige Einstellung geht als um echte Anteilnahme an der europäischen Politik und Wissen darüber geht.

Darum geht es diesen Menschen auch nicht. Es geht um ein Lifestyle-Statement, um ein identitätspolitisches Bekenntnis zu der Blase, der man angehören möchte. Kosmopoliten versus Nationalisten. International versus national. Gut versus schlecht. Wer für Europa ist, ist ein besserer Mensch. Wer Probleme mit Europa hat, ist ein böswilliger oder dummer Mensch.

Dieser Schwarz-Weiß-Moralismus ist eine Folge des Kulturkampfs zwischen Establishment und Antiestablishment, zwischen »Elitisten« und Populisten. Er beeinflusst auch die Debatte über Europa. Er verhindert, dass nüchtern und sachlich über das Wie der europäischen Zusammenarbeit kontrovers diskutiert werden kann, und dämonisiert sowohl die Fürsprecher als auch die Kritiker des europäischen Projekts. Das ist schlecht für die Auseinandersetzung und letztendlich schlecht für Europa, denn ihr ist mehr mit Kontroverse und reflexiver Kritik gedient.

Die vernünftige Mitte unter Druck

Ich ringe mit der Unvorsichtigkeit Europas. Die unvorsichtige Art und Weise, mit der mit Europa umgesprungen wird. Nationalpopulisten reißen mit ihren Exit-Idealen die EU auseinander, als gäbe es keine Geschichte. Föderalisten reißen die Nationalstaaten auseinander, als gäbe es keine Geschichte.

Wir stoßen hier auf einen doppelten Fanatismus. Fanatische Europhile predigen öffentlich eine »Revolution gegen die Nationalstaaten«. Sie sehen einzig eine Europäische Republik vor sich, einen einzigen und ungeteilten Staat. Dem gegenüber stehen fremdenfeindliche Nationalpopulisten, die für eine fanatische Revolution gegen das Phantom eines zentralistischen Superstaats plädieren und in den europäischen Mitbürgern nichts anderes sehen als Schnorrer und Konkurrenten.

Diese extremen Positionen ziehen die vernünftige Mitte Europas auseinander. Diese wurde in der Nachkriegszeit von den Parteien in der Mitte getragen, doch diese Parteien sind heute durch Wahlen und die demografischen Entwicklungen stark geschwächt, unter anderem, weil sie sich – entgegen ihren ideologischen Traditionen – in den vergangenen neoliberalen Jahrzehnten nicht mäßigen konnten und den Sozialvertrag der Nachkriegszeit mit seiner relativ egalitären Mittelschichtgesellschaft und einem Wohlfahrtsstaat den Marktkräften innerhalb der Europäischen Union und darüber hinaus geopfert haben.

Diese einst verbindenden Parteien der Mitte sind, aufgrund von Konflikten um die neoliberale Globalisierung und Migration, gespalten in einerseits Hochqualifizierte mit einem kosmopolitischen Weltbild und andererseits Niedrig- und Mittelqualifizierte mit einem patriotisch-kommunitaristischen Weltbild. Die betreffenden Parteien sind infolgedessen auch in sich uneinig, was den Zustand und die Zukunft Europas angeht.

Eine gefährliche Entwicklung, weil eben jene vernünftige Mitte den ausbalancierten Kompromiss tragen und vertreten muss: den der »europäischen Integration unter Beibehaltung der nationalen Identität«. Die Mitte muss den Bürgern deutlich machen, dass die europäische Wirklichkeit hybrid ist, eine einmalige Mischung aus nationaler Demokratie und europäischer Integration.

Sowohl die europhile hundertprozentige europäische Föderation als auch die populistische hundertprozentige nationale Souveränität sind Illusionen. Beide sind sie Trugbilder, die die Geschichte sowie die demokratische und internationale politische Wirklichkeit ausblenden. Es entsteht nichts Gutes daraus, wenn man schlicht glaubt, die Geschichte negieren oder sie sich nach eigenen Wünschen zurechtbiegen zu können. Als Politik- und Kulturhistoriker fühle ich mich dann verpflichtet, »historischen Alarm« zu schlagen. In beide Richtungen.

Schön und wichtig war in dieser Hinsicht die Rede des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, die er am 8. Mai 2020 in der Neuen Wache in Berlin gehalten hat. Wegen der Pandemie war er nur in Begleitung von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Steinmeier sprach sich für einen aufgeklärten deutschen Patriotismus aus, schränkte dies aber eindrucksvoll mit den Worten ein: »Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.« Und über den Zusammenhang zwischen den europäischen Weltkriegen und dem Warum der Europäischen Union sagte er mit ebenfalls beinahe historischen Worten mahnend: »Wenn Europa scheitert, scheitert auch das ›Nie wieder!‹« Wir müssen also vorsichtig sein. Wir sind gewarnt.

Die historische Notwendigkeit der europäischen Zusammenarbeit

Ich habe kein Problem damit, die Europäische Union als ein heiliges Projekt zu bezeichnen. Heilig im Lichte des barbarischen 20. Jahrhunderts, in dem Europa in zwei Weltkriegen beinahe Selbstmord begangen hätte. Jene, die sich gegen eine europäische Zusammenarbeit wehren und einfach für eine Rückkehr zu einem Europa der vollkommen unabhängigen, souveränen Nationalstaaten plädieren, machen sich einer ahistorischen Einfältigkeit schuldig. Insbesondere dann, wenn sie keine Antwort auf die Machtunterschiede zwischen großen und kleinen Ländern, die der Rohstoff für Konflikte und Krieg waren, und auf die Great Power Competition in einer globalisierenden Welt haben.

Die europäische Kooperation zwischen ehemaligen Feinden mag vielleicht heilig sein, doch das bedeutet ganz bestimmt nicht, dass alles in Brüssel heilig ist. Dass, zum Beispiel, die vielen Tausend Lobbyisten in Brüssel heilig sind. Oder dass der Stabilitätspakt heilig ist. Oder der Wanderzirkus nach Straßburg. Oder die Maseratis in den Tiefgaragen des Europäischen Parlaments. Oder der Euro.

Gerade weil das Prinzip der europäischen Zusammenarbeit so essenziell ist, muss das europäische Projekt mit großer Weisheit und Umsicht betrieben werden, und zwar so, dass es immer mit einer stabilen Akzeptanz bei der europäischen Bevölkerung rechnen kann. Aus Umfragen geht hervor, dass dies zurzeit der Fall ist. Große Mehrheiten in Europa stehen im Prinzip hinter der Europäischen Union. Und laut jüngsten Forschungen hat diese Unterstützung infolge des Brexit-Desasters sogar noch stark zugenommen. Man könnte sogar sagen: Die Europäische Union »was saved by the bell« durch den Brexit – das frühe Läuten zum Ende der britischen Mitgliedschaft an Brüssels Haustür hat sie gezwungen, die Augen zu öffnen.

Denn eine Zeitlang sah es weniger rosig aus. Die Unterstützung für die Europäische Union befand sich für längere Zeit auf dem absteigenden Ast. Eigentlich schon seit dem überzogenen Vertrag von Maastricht, als man sich für eine allmähliche Vertiefung entschied. Worauf dann die Bankenkrise, die Eurokrise und die Flüchtlingskrise folgten. Das alles hat damals der Legitimität und der Popularität der EU nicht gutgetan.

Die Europäische Union gerät in Schwierigkeiten, wenn sie mehr Nationalismus hervorruft, als sie bekämpft, und in den letzten Jahren verhielt es sich so. Man betrachte nur den massenhaften Aufstand des sogenannten Nationalpopulismus gegen die EU. Erst seit dem Chaos des Brexits und dem geopolitischen Erwachen Europas im »Jahrhundert von Trump und Xi« hat sich ein Umschwung ergeben, so stark selbst, dass die meisten Nationalpopulisten einen Rückzieher gemacht haben und nicht länger auf einem Exit-Kurs sind; stattdessen wollen sie Europa von innen her aushöhlen.

Die Unterstützung mag jetzt wieder da sein, aber aufgepasst: Aus Untersuchungen geht hervor, dass die Unterstützung für die EU oberflächlich und uninformiert ist. Der durchschnittliche Europäer ist weder fanatisch für noch fanatisch gegen Europa. Er ist gleichgültig-ambivalent.

Die Entscheidung für Europa ist für viele pragmatisch-rational und beruht vor allem auf wirtschaftlichen Interessen und Vorteilen beim Handel. Für andere ist »pro Europa« ein Lifestyle-Statement gegen vulgären Nationalismus und »Das-eigene-Volk-zuerst-Fremdenfeindlichkeit«. Wieder andere wünschen sich vor allem eine stärkere Führungsrolle der EU bei den großen Themen: Klima, Migration, Sicherheit. Doch die Distanz zwischen europäischer Multilevel-Governance-Politik und dem durchschnittlichen Europäer bleibt groß.

Das Gefährlichste, was daher passieren kann, ist, dass wir falsche Entscheidungen auf die Spitze treiben: für Europa oder für den Nationalstaat. Kampagnendynamik und Medienlogik neigen allerdings zu einem solchen Schwarz-Weiß, einer solchen Ausschließlichkeit. Das ist die Fallgrube, in die man die Menschen tappen lassen will, für die EU oder für den Nationalstaat. Keine Grautöne, keine Optionen, keine Alternativen.

Die größte Gefahr, die der EU daher droht, ist eine Entfremdung des europäischen Projekts von seiner Bevölkerung, wodurch Raum für Nationalisten und Antieuropäer entsteht, um diesen Unfrieden zu mobilisieren und auszunutzen. Man muss sich dafür nur ansehen, wie die Eurokrise und die darauffolgende Flüchtlingskrise, die zu den neuen Ungleichheiten und Unsicherheiten der neoliberalen Globalisierung hinzukamen, von der Anti-Establishment-Bewegung des Rechtspopulismus benutzt wurden und sie groß gemacht haben.

Diesem Buch liegen vier Sorgen zugrunde:

1. Die große Entfremdung zwischen der europäischen Politik und dem durchschnittlichen EU-Bürger. Dabei geht es um Entfremdung hinsichtlich von Wissen und Information sowie um gefühlte demokratische Entfremdung. Dahinter verbirgt sich ein echtes Demokratiedefizit. Das »nicht politische Europa« ist vielen Bürgern vertraut geworden und wird breit bejaht: die Vorteile des Binnenmarkts, Europa als Softpower-Weltmacht hinsichtlich von »Produktstandards« und »Sicherheitsgarantien«, das Erasmus-Programm, der freie Verkehr zwischen den Ländern über offene Grenzen. Aber das »politische Europa« in Brüssel, Straßburg und Frankfurt ist für Nichteingeweihte ein Wolkenkuckucksheim. Mehr noch: Das Klischeebild dieses politischen Europas ist das einer postdemokratischen Technokratie, eines »Elitenprojekts« für Banker, Lobbyisten, große Unternehmen und für Menschen mit viel »demokratischem Kapital«. Diese Tatsache allein ermahnt zu europäischer Vorsicht, Selbstbegrenzung und Mäßigung.

2. Meine zweite Sorge betrifft die Instabilität der nationalen Gesellschaften. Dort gibt es in zunehmendem Maße eine politische Fragmentierung, neue Trennlinien und Ungleichheiten, insbesondere zwischen Hochqualifizierten und Niedrigqualifizierten (»international Mobile« versus »national Immobile«). Die etablierte Politik, vor allem die Volksparteien der Nachkriegszeit, kann sich nicht länger auf eine stabile gesellschaftliche Basis stützen, sondern befindet sich in einem Spagat zwischen polarisierenden Kräften: Populismus, postindustrielle Ungleichheit, multikulturelle Spannungen, einem geschwächten Sozialvertrag und politischem Misstrauen. Der positive Beitrag der europäischen Politik besteht darin, die nationale Stabilität zu fördern, nicht sie zu untergraben. Wie kann man es bewerkstelligen, dass europäische Politik nicht im Konflikt zu den nationalen Demokratien steht, sondern mit diesen harmoniert?

3. Meine dritte Sorge steht in Verbindung damit: Gelingt es der Mainstreampolitik, den Angriff der Nationalpopulisten auf Europa abzuwehren? Diese befürworten mit ihren Exit-Plädoyers de facto eine Auflösung der EU. Mit ihrer illusionären Vorstellung von hundertprozentiger nationaler Souveränität und der Unterschätzung der geopolitischen Schwäche Europas scheren sie sich einen Dreck um die Lektionen des 20. Jahrhunderts. Wie können wir in Europa den aggressiven Nationalismus dauerhaft hinter uns lassen und ihm keine Chance zur Rückkehr geben?

4. Meine vierte Sorge betrifft die geopolitischen Machtverschiebungen auf unserem Globus. Der Aufstieg Chinas, ja sogar die dominante Entfaltung eines »asiatischen Jahrhunderts«, dem ein geschwächter und uneiniger Westen gegenübersteht. Die transatlantischen Beziehungen befinden sich seit dem ›Donald-Trump-Schock‹ in einer Krise. Antiamerikanismus hat sich breitgemacht in Europa, und der Gedanke einer europäischen strategischen Autonomie (gegenüber die USA) hat seitdem an Bedeutung gewonnen. Europa präsentiert sich zugleich als eine gespaltene, träge und nach innen gekehrte Union, die nicht bereit ist für die Great Power Competition des 21. Jahrhunderts. Wie kann man die außenpolitische Handlungsfähigkeit und die globale Konkurrenzfähigkeit der EU stärken? Wie macht Europa als ›postmoderne Venus‹ Weltpolitik?

Was ist angesichts dieser Herausforderungen und Probleme eine kluge europäische Politik? Wie kann man, gemäß dem Motto der deutschen EU-Ratspräsidentschaft »Gemeinsam. Europa wieder stark machen«? Welches Europa kann mit der dauerhaften Unterstützung der europäischen Bürger rechnen? Wie wird man, bei aller Gemeinsamkeit, den beträchtlichen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterschieden innerhalb der EU gerecht? Wie seiner Seele, der reichen kulturhistorischen Vielfalt?

Die kommenden Jahre werden zum Reality Check für die Reichweite und Glaubwürdigkeit der europäischen Ambitionen in stark gespaltenen Gesellschaften werden.

Darum geht es in diesem Buch. Es ist ein Versuch, aufs Neue laut nachzudenken, um in Form eines Essays die Stärke und Schwäche des europäischen Projekts deutlich zu machen. Um die komplizierte, lauwarme Haltung des »europäischen Bürgers« hinsichtlich der Europäischen Union erneut zu verstehen, und herauszufinden, welches »Projekt Europa« darauf eine richtige und nachhaltige Antwort sein kann. Kein »Das-eigene-Land-zuerst«, aber auch keine »Vereinigten Staaten von Europa«! Die beiden Extreme basieren auf Mythen, wie im Verlauf des Buchs deutlicher gemacht werden wird. Nationalpopulismus und Neoföderalismus sind beide riskante Irrwege, die nur mit unwahren Mythen verteidigt werden können. Der »Europäer« möchte irgendwas dazwischen, einen realistischen Mittelweg: intensive europäische Zusammenarbeit unter Beibehaltung der nationalen Identität. Ob es diesen Mittelweg wirklich gibt und er tatsächlich auch eingeschlagen wird, das ist die große Frage.

Dieses Buch konstatiert einen tragischen europäischen Kurzschluss: Die meisten Bürger wissen nicht, in welchem Europa sie leben. Sie meinen, in einem konföderierten Europa zu leben – dort, wo europäische Integration unter Beibehaltung der nationalen Souveränität vorliegt – , aber de facto leben sie in einem föderalen Europa. Vor allem die Währungsunion ist eine nahezu verwirklichte »Ever Closer Union«, in der die Mitgliedsstaaten europäische Teilstaaten geworden sind, deren Haushaltssouveränität aufgegeben wurde und nicht mehr existiert (Taxation without Representation).

Die große Frage ist: Was wird passieren, wenn den Bürgern mit der Zeit deutlich (gemacht) wird, in welcher EU sie eigentlich leben? Entscheidet sich die stille, konstruktiv-pragmatische Mehrheit dann für die etablierte Ordnung der EU oder für die nationalpopulistischen Gegenkräfte? Meine größte europäische Sorge ist, dass ich die Antwort auf diese Frage nicht sicher weiß. Ich wage dies nicht vorherzusagen.

Meine Befürchtung ist, und aus dieser Angst ist dieser Essay entstanden, dass Europa theoretisch einer größeren und stärkeren Einheit bedarf, um in einer sich globalisierenden Welt überleben zu können. Eine möglichst weitgehend gemeinschaftliche Außen- und Sicherheitspolitik sowie eine möglichst weitgehend gemeinschaftliche Klima-, Wissenschafts- und Technologiepolitik. Zudem braucht sie geschlosseneres Handeln, um der Währungsunion die Stabilität zu verleihen, die sie braucht. Meine große Sorge jedoch ist, dass Europa per Definition politisch, kulturell, wirtschaftlich und verwaltungstechnisch zu divers und uneins ist, um eine solche Einheit zustande zu bringen, ohne gleichzeitig dem demokratischen Geist und der kulturellen Vielfalt, aus denen Europa gerade seine einmalige Lebensqualität schöpft, enormen Schaden zuzufügen.

Meine Furcht läuft auf ein faustisches Dilemma hinaus: Um Europa zu retten, zu stärken und zu beschützen, laufen wir Gefahr, seine Seele vernichten zu müssen. Ich setze darum alles auf eine Zwischenposition, in der Hoffnung, dass diese möglich sein wird, denn wenn dem nicht so ist, laufen wir mit offenen Augen in die Schwarz-Weiß-Falle einer Einheitsföderation oder nationalistischer Nationalstaaten.

Ein starkes Europa nach außen, ein sanftes Europa nach innen

Mehr Einheit wird vor allem aus geostrategischen Gründen gefordert. Europa kann sich ein Auseinanderdriften des Ostens und Westens, des Nordens und Südens nicht erlauben, wenn es nicht zum Spielball der großen selbstsicheren und autoritären Mächte werden will. Die EU lässt sich viel zu oft auseinanderdividieren, wobei das berüchtigtste Beispiel die 17+1 »Seidenstraßen«-Zusammenarbeit zwischen China und Zentraleuropa ist.

Will Europa in der globalen Weltordnung einigermaßen bestehen, muss es über seinen Schatten springen und auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs ein »geopolitisches Europa« bilden. Außerdem ist in der Außenpolitik Mehrheitsentscheidung nötig, damit nicht etwa ein Veto Maltas oder Zyperns die EU lähmt. Auch sollte ein Europäischer Sicherheitsrat eingerichtet werden, mit ständigen Sitzen für die E3 (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) sowie wechselnden Sitzen für Länder-Gruppen. Und was die Verteidigung betrifft, hat die US-Regierung recht: Europa muss endlich einen vollwertigen Beitrag zur NATO liefern und lernen, sich selbst besser zu verteidigen.

Der Clou aber ist: Das Mandat der Wähler für eine solche »externe, europäische Souveränität« in einer immer feindlicher werdenden Welt, kann nur durch mehr innereuropäischen Respekt vor der nationalen Souveränität, Identität und Demokratie erlangt werden. Ein »geopolitisches Europa« ist besser als eine »politische Union«.

Was wir brauchen, ist eine europäische Doppelstrategie: stark nach außen, sanft nach innen. Wir müssen uns, wie gesagt, davor hüten, in der »schlechtesten von zwei Welten« zu landen: schwache Nationalstaaten in einem schwachen Europa. Wir brauchen selbstbewusste, gut regierte Nationalstaaten, die von der EU gestärkt und unterstützt, anstatt behindert und gebremst werden.

Entgegen dem Brüsseler Einheitszwang muss es mehr Respekt vor nationalen Eigenarten und Identitäten geben (insoweit diese nicht dem europäischen Prinzip des demokratischen Rechtsstaats widersprechen).

Mythen (über krumme und gerade Gurken)

Dieses Buch ist, wie gesagt, ein europarealistischer Essay. Es ist ein Buch über die Stärke und Schwäche Europas. Über Hoffnung und Sorgen. Über die Spannkraft und die Zukunftsideale des europäischen Projekts. Über die falschen Mythen der neoföderalen Europhilen und der xenophoben Nationalisten. Es ist weder euroskeptisch noch euroföderal.

Es ist eine Warnung vor der gefährlichen Demontage der Europäischen Union durch Nationalpopulisten. Aber es ist auch eine Warnung vor der schlecht durchdachten europäischen Vereinigung durch die Neoföderalisten. Die Europäische Union ist eine einzigartige Konstruktion, absolut unverzichtbar und überlebenswichtig im geopolitisch rauen Wetter des 21. Jahrhunderts. Allerdings darf die EU nie losgelöst von den nationalen Demokratien gedacht werden, die die übergroße Mehrheit der Europäer als ihre demokratische Heimat empfinden. Das zwingt zur Vorsicht.

Wir müssen deshalb mit Mythen vorsichtig sein. Wir müssen uns davor hüten, einander Mythen zu erzählen. Mythen über hundertprozentige Souveränität. Mythen über einen europäischen Superstaat. Mythen über das Verschwinden der Nationalstaaten. Mythen über europäische Einheit und Mythen über nationale Einheit. Mythen über krumme Gurken und Mythen über gerade Gurken.