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Dieser Band enthält folgende Krimis: Alfred Bekker: Commissaire Marquanteur und die mörderische Brandung Alfred Bekker: Kommissar Jörgensen und der Mann mit der Samtstimme Alfred Bekker: Kubinke und der verschwundene Flüchtling Alfred Bekker: Der Mann mit der Kapuze Alfred Bekker: Der Kommissar und das Nashorn Alfred Bekker: Der Augenschließer Alfred Bekker: Kubinke und der Mord in Wien Ein Killer treibt in Berlin sein Unwesen. Er hat die Angewohnheit, seinen Opfern die Augen zu schließen, nachdem er sie umgebracht hat. Ein Kripo-Mann gerät in eine Zwangslage und ein anderer entwickelt sich von einem Fanatiker der Gerechtigkeit zu einem dunklen Ritter der Nacht. Aber manchmal ist es besser, nicht alles zu wissen…
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Seitenzahl: 905
Veröffentlichungsjahr: 2025
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7 Strandkrimis in einem Sammelband 1003
Copyright
Commissaire Marquanteur und die mörderische Brandung
Kommissar Jörgensen und der Mann mit der Samtstimme
Kubinke und der verschwundene Flüchtling
Der Mann mit der Kapuze
Der Kommissar und das Nashorn
Der Augenschließer
Kubinke und der Mord in Wien
Titelseite
Cover
Inhaltsverzeichnis
Buchanfang
Dieser Band enthält folgende Krimis:
Alfred Bekker: Commissaire Marquanteur und die mörderische Brandung
Alfred Bekker: Kommissar Jörgensen und der Mann mit der Samtstimme
Alfred Bekker: Kubinke und der verschwundene Flüchtling
Alfred Bekker: Der Mann mit der Kapuze
Alfred Bekker: Der Kommissar und das Nashorn
Alfred Bekker: Der Augenschließer
Alfred Bekker: Kubinke und der Mord in Wien
Ein Killer treibt in Berlin sein Unwesen. Er hat die Angewohnheit, seinen Opfern die Augen zu schließen, nachdem er sie umgebracht hat. Ein Kripo-Mann gerät in eine Zwangslage und ein anderer entwickelt sich von einem Fanatiker der Gerechtigkeit zu einem dunklen Ritter der Nacht. Aber manchmal ist es besser, nicht alles zu wissen…
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2025 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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von ALFRED BEKKER
Commissaire Marquanteur und die mörderische Brandung
Ein tödlicher Anschlag erschüttert Marseille: Während einer glamourösen Regatta-Party stirbt ein gefeierter Unternehmer vor den Augen der Elite – vergiftet durch eine Drohne. Commissaire Pierre Marquanteur und sein Team stehen vor einem Rätsel, das weit über die Grenzen der Stadt hinausreicht. Ein Serienkiller, der seine Taten als "Brandungen" inszeniert, spielt ein perfides Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. rätselhafte Botschaften und eine Spur, die bis in die düstere Vergangenheit der Bretagne führt, fordern Marquanteur bis an seine Grenzen.
Atmosphärisch, spannend und tiefgründig: Dieser Frankreich-Krimi zieht Sie von der ersten Seite an in einen Sog aus Intrigen, Rache und Gerechtigkeit. Perfekt für Fans von Jean-Luc Bannalec, Pierre Lemaitre und allen, die Krimis mit literarischem Anspruch und psychologischer Tiefe lieben.
Tauchen Sie ein in die dunklen Geheimnisse Marseilles – die nächste Brandung kommt bestimmt!
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Commissaire Pierre Marquanteur Erfahrener Ermittler der französischen Polizei (FoPoCri) in Marseille. Nachdenklich, mit Hang zur Melancholie und einer feinen Beobachtungsgabe.
François Leroc Marquanteurs langjähriger Kollege und Freund. Zivil, pragmatisch, loyal und mit einem guten Gespür für Gefahr.
Monsieur Marteau Vorgesetzter im Polizeiapparat. Ruhig, analytisch, mit einer Aura von Autorität und Erfahrung.
Elias Vautrin Prominenter Unternehmer, Tech-Pionier und Klimaschützer. Gastgeber eines wichtigen gesellschaftlichen Events.
Élodie Vautrin Ehefrau von Elias, präsent in der Öffentlichkeit, aber mit eigenen Geheimnissen.
Claire Guéret PR-Chefin, strategisch denkend, mit Verbindungen in die Wirtschaft und Medien.
Maxime Valois Spezialist für digitale Forensik und Datenanalyse im Polizeiteam.
David Hollande Ballistiker und forensischer Experte, zuständig für Spurensicherung und Analysen.
Rita Corolla Ermittlerin mit italienischen Wurzeln, direkt und effizient.
Boubou Erfahrener Polizist, bekannt für seine Ruhe und körperliche Präsenz.
Jacky Lassalle, Kévin Nebenfiguren aus dem Umfeld der Crew und Verdächtigen.
Marseille Südfranzösische Hafenstadt, Schauplatz der Handlung. Lebendig, rau, voller Gegensätze zwischen Luxus und Alltag.
Alter Hafen (Vieux-Port) Historisches Zentrum Marseilles, Dreh- und Angelpunkt für Events und Ermittlungen.
Aurore Luxusyacht, auf der das zentrale Verbrechen geschieht. Symbol für Reichtum und moderne Technik.
Rue de la Joliette, Rue de Rome, Rue Paradis Straßen in Marseille, an denen wichtige Ereignisse und Ermittlungen stattfinden.
Place de la République Großer Platz in Marseille, Ort einer zentralen Gedenkveranstaltung.
Sainte-Marthe Stadtteil mit Wasserwerk, spielt eine Rolle im Verlauf der Ermittlungen.
Endoume, L’Estaque, Vallon des Auffes Verschiedene Viertel und Hafenbereiche Marseilles, jeweils mit eigenem Charakter.
Brest, Bretagne Region und Stadt im Nordwesten Frankreichs, mit Verbindungen zur Vergangenheit des Falls.
Pointe Saint-Mathieu Landzunge mit Leuchtturm in der Bretagne, Ort mit symbolischer Bedeutung.
FoPoCri Abkürzung für die französische Polizeieinheit für schwere und organisierte Kriminalität.
Brandung / Marée Im Roman Synonym für die Anschlagswellen des Täters; steht für wiederkehrende, unaufhaltsame Ereignisse.
Meridian Bleu Aktivistengruppe, die im Verdacht steht, mit den Ereignissen in Verbindung zu stehen.
Pelicase Robuster Transportkoffer, taucht im Zusammenhang mit Beweismitteln und Anschlägen auf.
Metronom Wiederkehrendes Motiv für Zeit, Rhythmus und die Unausweichlichkeit der Ereignisse.
Der Regen hing über dem Alten Hafen wie ein feiner, grauer Vorhang, der die Konturen verschwimmen ließ. Wenn es nach meinem Geschmack ging, dann hätte der Abend kühler sein dürfen und der Himmel klar. Aber Marseille fragte nicht danach, wie ich es gern hatte. Marseille tat, was Marseille immer tat: so tun, als wäre es unsterblich und unantastbar, und jedem, der das Gegenteil beweisen wollte, ein böses Lächeln zeigen.
Ich stand auf der Mole Saint-Jean, die Schulter an die kalte Steinbrüstung gelehnt, und beobachtete, wie das Licht der Scheinwerfer in zitternden Säulen auf das Wasser fiel. Musik plärrte aus Lautsprechern. Applaus. Auf dem Wasser tanzten die Positionslichter wie die Augen von Katzen. Vor Anker lag die Aurore, eine weiße, auf Hochglanz polierte Pseudo-Öko-Superyacht, vier Decks, Hubschrauberlandeplatz, unter Deck ein Labor – so hieß es – und ein paar Kabinen, die mehr Quadratmeter hatten als meine Wohnung.
Elias Vautrin stand im Buglicht und genoss den Moment. In Marseille kannte man ihn aus den Wirtschaftsseiten: Tech-Messias, Klimachampion, Geburtshelfer für grünen Wasserstoff. Er hatte die Show gelernt, bevor er das richtige Geld gelernt hatte. Neben ihm glänzte das dunkle Haar seiner Frau Élodie unter den Regenperlen. Sie lachte, nickte, hob die Hand mit dem Champagnerglas in Richtung der Kameras.
Ich wäre an diesem Abend anderswo gewesen, wenn mich nicht ein Anruf zwei Stunden zuvor erwischt hätte, als ich gerade unsere Beweismittelkammer wegen eines verschwundenen USB-Sticks auf den Kopf stellte.
Komm runter zum Alten Hafen, hatte François gesagt, der schon da war. Ein Sponsorentreffen rund um die Regatta. Vautrin lädt ein halbes Dutzend Investoren aufs Schiff. Ich rieche Ärger, und es wäre mir lieber, wir wären auf dem Festland, wenn er losgeht.
Du riechst immer Ärger, hatte ich geantwortet.
In zwanzig Jahren hatten wir gelernt, dass es besser ist, dem Bauchgefühl des anderen zu misstrauen, solange bis die Realität das Gegenteil bewies. Erfahrung ernüchtert. Aber sie macht dich wachsam.
Die Regatta-Leute gaben sich modern. Nachhaltigkeit, Sponsorenslogans in Türkis, junge Frauen in funktionalen Regenjacken, die Tablets hielten, und Männer in Slim-Fit-Anzügen, die an den Rändern schon wieder aus der Form gingen. Häppchen mit Etikett. Vegane Tartelettes von einer Pâtisserie, die ich mir nicht leisten konnte.
Ein kleines Boot mit Elektromotor schob an den Rumpf der Aurore heran. Ein uniformierter Sicherheitsmann half einem spät eintreffenden Gast hinauf. Ich kannte ihn aus den Lokalnachrichten: Bürgermeisteradjoint aus dem achten Arrondissement, ein Mann mit Zahnbleaching und einer Vorliebe für mikrofonnahe Sätze. Hinter ihm glitt ein schmaler Schatten über die Gangway. Regen tropfte vom Schirm eines viel zu eleganten Regenschirms. Eine Frauenhand, an der ein schmaler Ring glitzerte.
François trat neben mich. Seine Kapuze tropfte, und die Wasserperlen hingen ihm in den Wimpern. Er war wie ich in Zivil – Jeans, wetterfeste Jacke, Schuhe, die man danach abwaschen musste.
Jetzt sag mir nicht, du findest das glamourös, Pierre, sagte er.
Ich zuckte mit den Schultern. Glamour ist nur eine Beleuchtungstrickserei. Wenn du das Licht ausmachst, bleiben dieselben Menschen übrig. Manche von ihnen sind nett. Andere nicht.
François grinste. Deine Poesie macht mir Angst.
Ich wollte ihm gerade sagen, dass er das dem Regen zuschreiben sollte, als ein leiser Summton die Luft schnitt. Man hört ihn, wenn man darauf achtet, und ich hatte in letzter Zeit gelernt, auf andere Dinge zu achten als früher. Ein helles Insekt, dachte ich zuerst. Aber der Summton blieb, wandelte seine Tonhöhe, kam näher, schwebte, vibrierte. Ein schwarzer Punkt gegen das graue Licht der Scheinwerfer, ungefüge, und dann plötzlich klar: vier Rotoren, eine kleine Drohne, vielleicht zwei Kilo, nicht größer als eine Schuhschachtel.
Die Drohne hielt über dem Achterdeck der Aurore inne. Ein paar Köpfe hoben sich. Eine Frau lachte und zeigte. Ein junger Mann hob sein Telefon.
François stieß mich an. Siehst du? Ich habe dir gesagt, ich rieche Ärger.
Ein Sicherheitsmann sprang nach vorn, die Hand am Ohr, als würde er auf eine Antwort warten, die nicht kam. Die Drohne senkte sich um einen Meter, schwebte wieder höher. Ich trat einen Schritt in Richtung der Gangway, dann blieb ich stehen. Ich mag es nicht, wenn ich in Strukturen hineingehe, die jemand anderes designt hat.
Ein Klick, kaum hörbar. Im Licht blinkte etwas. Es war kein Projektil, das hätte ich gesehen. Es war ein Sprühnebel, unsichtbar, bis das Scheinwerferlicht ihn kurz sichtbar machte. Eine unregelmäßige Wolke, wie Atem bei Frost.
Auf dem Achterdeck hob Vautrin kurz den Kopf, so als wäre ein kalter Hauch über ihn gegangen. Er lachte. Er wollte gerade etwas sagen. Dann stockte seine Stimme. Er machte den Mund noch einmal auf, als wollte er es ein zweites Mal versuchen. Es kam nur ein Zittern.
Manchmal verlangsamt sich die Welt, nicht weil deine Sinne besser werden, sondern weil etwas in dir die Informationen einfriert, damit du denkst, du hättest Zeit. Ich sah, wie Élodie Vautrin die Hand hob, um ihren Mann am Arm zu berühren. Ich sah, wie seine Knie einknickten. Ich sah, wie das Champagnerglas in ihrer Hand kippte und die Tropfen wie hellgrüne Edelsteine in der Luft standen.
Dann fiel er. Es geschah schnell und trotzdem zu langsam. Er schlug auf die Teakholzplanken des Decks. Jemand schrie. Jemand rief nach Ärzten. Jemand anders – ich – rannte.
Die Drohne stieg. Ein Sicherheitsmann auf der Pier zog eine Pistole. Ein anderer rief, er solle es lassen. Die Kugel riss einen weißen Blutspritzer aus dem Wasser, zwei Meter neben dem Boot. Die Drohne bewegte sich hinter den Mast, verschwand, tauchte wieder auf, stieg, und dann war sie nur noch ein schwarzer Punkt, der in den Regen zog.
Die Gangway vibrierte unter meinen Füßen. Ich warf mich unter dem Absperrband hindurch, das ohnehin nur das schlechte Gewissen beruhigt hatte, und stand einen Moment später auf dem Achterdeck. Das Holz glänzte nass. Vautrins Gesicht war wachsbleich, die Lippen leicht bläulich. Sein Blick war leer und irritiert zugleich, ein Ausdruck, den ich nur bei Menschen gesehen habe, die in Sekunden mehr verlieren als nur ihr Leben.
Ein Mann kniete neben ihm und presste zwei Finger gegen die Halsschlagader. Er trug eine Armbanduhr, die teurer war als das Auto eines durchschnittlichen Polizisten. Ich sah ihm in die Augen.
Zurück, sagte ich. FoPoCri. Weg da.
Er war kein Arzt. Er wich trotzdem nicht. Ich schob ihn weg.
Élodie stand da wie eine Statue, nur dass ihre Hände zitterten. Nicht das grobe Zittern eines Schocks, sondern das feine, gemeine Zittern eines Körpers, der nicht versteht, warum die Kontrolle nicht mehr funktioniert.
Ich tastete nach dem Puls. Er war da und dann nicht. Ich öffnete den Mund von Vautrin. Ein Geruch stach mir in die Nase, wie bittere Mandeln, künstlich, aber vertraut. Ich glaube nicht an den Krimi-Mythos, aber meine Nase glaubte in diesem Moment daran. Es war nur ein Hauch, und er war schnell wieder weg, überdeckt von Regen, Teak, schlechter Parfumwahl.
Zyanid, sagte ich, ohne es zu wissen. Vielleicht war es nur das, was mein Kopf hören wollte, um das Gefühl zu sortieren.
François war hinter mir, er hatte seine Kapuze nach hinten geschoben, obwohl der Regen nicht nachließ. Seine Hände gingen in die Hüften, dann wieder zu den Taschen, dann wieder in die Luft. Er war wie ich: Er gab sich den Anschein von Bewegung, wenn er nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte.
Die Yachtcrew hatte inzwischen medizinisches Equipment gebracht. Ein Defibrillator, einer dieser halbintelligenten Kästen, die so tun, als würden sie dir die Verantwortung abnehmen. Ich wollte keine Stromstöße gegen ein Herz, das durch Gift blockiert war. Aber in solchen Momenten hat die Ratio wenig zu melden.
Nicht! sagte ich.
Der Sicherheitschef der Aurore war drei Köpfe größer als ich und doppelt so breit. Er sah mich an, als wollte er mich aus dem Bild schieben. Dann sah er meinen Ausweis, und der Blick veränderte sich. Ein Millimeter. Nicht mehr.
Wir brauchen Notfallmedizin, sagte ich. Sauerstoff. Und niemand verlässt das verdammte Schiff.
Das Schiff ist offen, sagte der Sicherheitschef. Und dieser Satz war so dumm, dass er sich selbst schämte, als er ihn aussprach.
Ich hob die Hand und sah, dass zwischen zwei Dielen unterhalb der Bank, die am Geländer anschloss, etwas Weißes klemmte. Ein winziges Dreieck, kaum größer als mein Daumennagel. Ich bückte mich, zog es heraus. Ein Stück Papier, nass, aber relativ steif. Ich klappte es auseinander. Es war eine Art Origami-Kranich, nur dass er so klein war, dass in normalen Händen niemand ihn hätte falten können. Das Papier war kein gewöhnliches. In den feinen Linien erkannte ich Wasserzeichen. Eine Banknote. Nicht Euro. Eine Währung, die ich nicht auf Anhieb zuordnen konnte. Die Ziffern sahen slawisch aus. Oder kyrillisch. Oder war es nur der Regen, der meine Wahrnehmung verzog?
François beugte sich neben mich. Er runzelte die Stirn. Origami. Das hatten wir noch nicht.
Noch nicht, wiederholte ich.
Die Yacht schwankte. Kein Wind. Nur der Summen von Generatoren. In meinem Kopf klingelte ein anderer Summton: Erinnerung an die Drohne. Man kann übles Zeug in einen Nebel zerlegen, wenn man weiß, was man tut. Ein paar Milligramm, ein Zerstäuber, eine Öffnung, und der Rest ist ein paar Atemzüge lang Sache von Glück und Geographie. Oder von Pech und Physik.
Sanitäter rannten über die Gangway, begleitet von zwei uniformierten Kollegen von der Hafenpolizei, die den feuchten Glanz der Situation mit ernstem Gesicht und viel Funk zu trocknen versuchten. Ich stand auf. Mein Rücken knirschte. Es ist kein gutes Zeichen, wenn dein Rücken knirscht, während alles um dich herum in Bewegung ist. Es erinnert dich daran, dass du aus Knochen bist.
Die Sanitäter arbeiteten. Ich sah Élodie an. Ihr Blick war in dem des Mannes gefangen, der auf dem Holz lag. Manchmal sind Blicke Leinen. Wenn du sie durchtrennst, fällt jemand.
Monsieur Marteau erreichte uns zehn Minuten später. Er trug einen grauen Mantel, der in der Hektik irgendwo einen Faden verloren hatte. Seine Hände waren in den Taschen vergraben. Wenn er sie dort vergrub, war das kein Zeichen von Kälte. Es war seine Art, Energie zu bündeln. Sein Gesicht war ruhig. Er sah kurz zu mir, kurz zu François, dann zu dem Mann auf dem Deck.
Was haben wir? fragte er.
Eine Drohne, sagte ich. Ein Spray. Vielleicht Zyanid. Vielleicht ein anderes helles Gift, das gern so tut, als sei es eine chemische Pointe im Mittelteil eines schlechten Krimis. Und das hier.
Ich zeigte ihm den winzigen Kranich. Er nahm ihn nicht an sich, sondern beugte sich nur vor und sah ihn an, als könnte der Blick allein Fetisch von Beweismittel ersetzen.
Wie alt sind Sie heute, Pierre? fragte er dann.
Ich blinzelte. Etwas müde.
Er nickte, als hätte er für diese Art von Müdigkeit eine Schublade. Dann wechselte er in den Tonfall, der andere dazu bringt, zu machen, was nötig ist.
Niemand verlässt die Aurore, bis wir von der Spurensicherung alles haben, was wir kriegen, ohne mehr zu zerstören als ohnehin schon zerstört ist. François, Sie sprechen mit der Crew. Namen, Aufgaben, wer wem Kaffee gebracht hat. Nehmen Sie die Gästeliste. Wer fehlt, wer ist zu spät gekommen, wer hat sich wohin abgesetzt. Und Sie, Pierre – reden Sie mit der Frau.
Élodie Vautrin stand still, obwohl alles in ihr vibrierte. Ich trat zu ihr. Sie sah mich erst nicht an, weil sie den Blick nicht von ihrem Mann lösen konnte. Dann doch. Ihre Augen waren grau. Nicht eisig. Nur müde. Wie die See, wenn sie nicht weiß, wie lang der Wind bleibt.
Madame Vautrin, sagte ich. Pierre Marquanteur, FoPoCri.
Sie nickte, so als hätte dieser Name eine Bedeutung, die man in einem Statement an die Presse verwenden konnte. Ich nahm es ihr nicht übel.
Sagten Sie, Sie hätten eine Drohne gesehen? fragte sie, bevor ich fragen konnte.
Ja, sagte ich. Haben Sie sie auch gesehen?
Sie nickte. Ich dachte, es wäre – ich weiß nicht – irgend so ein PR-Ding. Elias hat solche Effekte gemocht. Er dachte, man könne die Leute umarmen, indem man ihnen spektakuläre Bilder schenkt. Mir war kalt. Ich mochte es nicht.
Wer wusste von diesem Empfang? fragte ich. Wer war geladen?
Sie nannte Namen, die ich kannte, und Namen, die ich googeln musste. Ein norwegischer Fondsmanager. Ein Vertreter aus Dubai. Eine Delegation aus Brüssel für irgendetwas mit Forschungsgeldern. Zwei Journalisten, einer davon einer dieser Meinungsführer, deren Meinungen man kaufen kann. Ein Adjoint. Ein alter Freund. Und eine Frau, deren Name sie nicht sagte, bevor sie stockte.
Wer? fragte ich.
Sie sah mich an, kurz, als hätte ich ihr in die Hand gestochen. Dann sagte sie ruhig: Claire Guéret. PR-Chefin. Sie war früher in einer Agentur. Jetzt arbeitete sie für uns. Für die Firma.
Uns. Nicht ihn. Sprache verrät Dinge, die wir noch nicht verstanden haben.
Sie war an Bord? fragte ich.
Élodie nickte. Sie war aufs Klo gegangen, als – als das passierte. Meine Stimme war leiser als ich dachte. Ich klang, als wäre ich weit weg.
Wir werden mit ihr sprechen, sagte ich. Noch eine Frage: Gab es Drohungen? Im Vorfeld? Schreiben, Mails, Kommentare, bei denen es Ihnen kalt den Rücken runterlief?
Sie atmete ein, hielt die Luft einen Moment, dann aus. Jeden Tag, sagte sie. Wer in der Öffentlichkeit steht, bekommt Drohungen. Wer behauptet, die Welt zu retten, bekommt doppelt so viele. Die meisten kommen von Leuten mit schlechten Profilbildern. Manche sind ernst. Es gab – eine Gruppe, die gestern einen Brief geschickt hat. Meridian Bleu. Sie halten Elias für einen Heuchler. Greenwashing. Wissen Sie.
Ja, sagte ich. Ich wusste. Gruppen wie Meridian Bleu hatten ihre Wut oft mit guten Gründen getarnt. Und manchmal hatten sie wirklich gute Gründe. Aber Wut ist ein schlechter Ratgeber. Sie drückt auf falsche Knöpfe.
Élodie holte einen Umschlag aus ihrer Clutch. Der Umschlag war feucht und gewellt, aber der Stempel war lesbar: Meridian Bleu – Marseille, Rue de la Joliette. Innen lag ein Blatt, bedruckt, mit einem Logo: eine Welle, stilisiert, zu glatt, um wirklich Wasser zu sein.
Vautrin, stand dort, wenn Sie das Meer lieben, lassen Sie es in Ruhe. Wer mit Stahl und Lügen arbeitet, muss mit Stahl und Wahrheit rechnen. Das Meer holt sich, was ihm gehört. Und es vergisst nicht.
Ich steckte den Brief in eine Hülle. Die Hülle steckte ich in meinen Mantel. Mandeln schwebten mir noch im Nachhall durch die Nase.
David Hollande, unser Ballistiker, trat an mich heran. Er war heute ausnahmsweise nicht der Mann mit der Waffe in der Hand, sondern der mit dem Equipmentkoffer. Seine Brille war beschlagen. Er fluchte leise und so elegant, wie nur ein Mann fluchen kann, der weiß, wie viel er noch arbeiten wird, bevor er schlafen darf.
Die Drohne, sagte er. Wenn wir Glück haben, hat sie irgendwo eine Spur gelassen. Wenn wir Pech haben, war sie so billig, dass sie niemandem gehört, und so teuer, dass niemand sie verfolgt.
Ich nickte. Was ist mit deinem Lieblingsgeruch?
Er verzog das Gesicht. Ich hasse Zyanid-Gerede. Aber ich werde die Luftproben aus den Filtern ziehen lassen. Und den Atemzug, den du gerochen hast, Pierre, der wird uns nicht viel nützen, außer für dein Ego.
Mein Ego ist robust, sagte ich.
François kam wieder. Seine Miene war eine Mischung aus aufmerksamer Gereiztheit und gründlicher Müdigkeit. Crew notiert, sagte er. Zwei Köche, drei Deckhands, ein Security-Chef, zwei Ex-Militärs aus Izmir – Aydin und Öztürk – die seit zwei Jahren für Vautrin arbeiten. Eine Stewardess, die auch Krankenschwester ist, was heute nichts gebracht hat. Und der Kapitän. Er heißt Lussac. Er traut mir nicht. Ich glaube, er traut überhaupt niemandem. Wir sollten ihn mögen.
Triffst du dich jetzt mit ihm zum Bier? fragte ich.
Ich trinke keinen Alkohol, wenn es nicht zwingend geboten ist, sagte François. Er lächelte schmal.
Monsieur Marteau stand neben uns und hörte zu, ohne sich bemerkbar zu machen. Er konnte das, wie Katzen. Wenn sie wollen, hörst du sie nicht, und wenn du sie brauchst, sind sie da.
Wir brauchen einen Blick auf die Kameras, sagte er. Hafen, Yacht, Drohnenverkaufsstände, wenn es die hier gibt. Wir brauchen einen Blick auf Meridian Bleu. Und auf jeden, der Elias Vautrin noch aus der Zeit kannte, als er noch nicht meinte, die Welt retten zu müssen.
Ich sah ihn an. Noch etwas? fragte ich.
Ja, sagte er. Sie haben da diesen Kranich.
Ich hob ihn. Ich hatte ihn in einer Evidence-Tüte in meiner Tasche verstaut. Er war so klein, dass er sich im Folienlicht noch kleiner anfühlte.
Er ist hübsch, sagte ich.
Marteau sah mich an. Ich hatte seine Ironie erwartet. Sie kam nicht. Er sah den Kranich an, und in seinem Blick war etwas, das ich selten in seinen Augen gesehen hatte: ein Schatten, der älter war als er selbst.
Ich habe so etwas schon einmal gesehen, sagte er leise.
Wo? fragte ich.
Nicht hier, sagte er. Und nicht gestern. Es war, als würde er mit jemandem sprechen, der nicht da war. Er brach ab, er atmete, und als er den Blick wieder hob, war der Schatten aus seinem Gesicht verschwunden. Arbeiten wir.
Ich arbeitete. Ich ließ den Kranich in der Tüte, ich ließ ihn fotografieren, ich ließ das Papier vorsichtig entfalten. In den Schnitten der Banknote waren winzige, leuchtende Fäden eingewebt. Mikroschrift. Ein Code? Ein Sicherheitsmerkmal? Ich fotografierte es, schickte es an Maxime Valois in der Zentrale. Maxime war der Mann, der mit Zahlen redete, als wären es Menschen. Er hatte noch kein Bild von mir, auf dem ich nicht irgendeine Art von Kaffee hielt. Er mochte es, wenn ich ihm seltsame Dinge schickte. Er hatte nie behauptet, sie zu mögen, weil sie seltsam waren, aber ich wusste, dass er es tat.
Eine halbe Stunde später hatte ich die erste Antwort von ihm auf dem Schirm. Die Banknote ist aus Transnistrien, schrieb er. Ein nicht anerkannter Staat in Moldawien. Niemand benutzt diese Währung, außer Leute, die exotische Andenken sammeln und Leute, die glauben, es gebe eine Geschichte im Detail. Vielleicht ist die Geschichte, dass es keine Geschichte ist. Vielleicht auch, dass uns jemand zeigen will, wie weit sein Arm reicht.
Ich steckte das Telefon weg. Es war immer noch nass. Ich wischte es an meinem Ärmel ab. Der Ärmel war auch nass. Es war einer dieser Tage.
Zu Hause in der Zentrale roch es nach Kaffee, Druckerschwärze und dem Parfum von Melanie, die uns beides – Kaffee und Ordnung – seit Jahren schenkte, ohne je zu fragen, ob wir verdienten, was wir bekamen. Ich saß neben François im Besprechungszimmer, und Monsieur Marteau stand am Fenster, als würde er prüfen, ob der Regen draußen genug war, damit wir drin weitermachen konnten.
Maxime hatte die ersten Fetzen zusammengetragen. Meridian Bleu war eine dezentrale Gruppe, fließende Strukturen, Telegram-Kanäle, keine klare Führung. Ihre Wut war sauber. Ihre Mittel selten. Ein Sachbeschädigungsdelikt hier, eine spektakuläre Banneraktion dort. Nichts, was auf ein präzises, tödliches Manöver mit Drohne und Gift deutete. Aber das heißt nichts.
Und Claire Guéret? fragte ich.
Maxime hob die Augen. PR-Strategin. Ihre Agentur hat vor zwei Jahren Vautrins Firma übernommen. Dann bekam sie einen Vertrag im Haus. Sie war je ein Jahr mit einem russischen Investor liiert, der später aus dem Deal ausstieg. Er verschwand aus Frankreich aus Gründen, über die man nicht in der Zeitung schreibt. Sie hat einen lebenslangen Geschmack für teure Schuhe und die Fähigkeit, bei Fragen zu lächeln, ohne zu antworten.
Sieht wie eine übliche Mischung aus Talent und Zynismus aus, sagte François.
Vielleicht, sagte Maxime. Aber eine Sache ist seltsam: Sie hat vor drei Wochen eine Drohne gekauft. Offiziell für eine Kampagne – Luftaufnahmen von Windparks in der Camargue. Modellnummer passt. Versandfirma in Nizza. Abholung durch Kurier.
Wer war der Kurier? fragte Marteau.
Unbekannt. Das heißt: Er hat einen Namen. Der Name ist falsch.
Ich lehnte mich zurück. Die Stuhllehne drückte in meinen Rücken. Ich fühlte jeden Millimeter meines Körpers, der sich wie Arbeit anfühlte.
Ich hatte noch den Geschmack von Mandeln in der Nase, obwohl ich wusste, dass er wahrscheinlich nur in meinem Kopf klebte. Ich dachte an die Aurore, an den nassen Teak, an den winzigen Kranich in meiner Tasche. Ich dachte an Vautrins Blick, der mehr als nur Licht verloren hatte. Ich dachte an Marseille, die Stadt, die dich verschluckt und ausspuckt, je nachdem, was du ihr im Gegenzug gibst.
Dann vibrierte mein Telefon. Eine neue Nachricht, unsichtbar für alle, die nicht wissen, dass man manchmal Nachrichten sieht, bevor man sie liest. Absender unbekannt. Kein Text. Ein Anhang. Eine Videodatei, zwölf Sekunden lang.
Ich sah zu Marteau. Er nickte. Spiel ab.
Ich spielte ab. Das Bild sprang. Ein graues Meer, eine Kameralinse, die vom Regen benetzt war. Dann ein Schatten in der Luft, schnell, präzise. Eine Drohne. Unten im Frame: eine weiße Fläche. Die Aurore. Eine Hand tauchte ins Bild, unscharf. Die Hand hielt einen winzigen, weißen Kranich. Dann schnitt das Bild auf schwarz. Ein Satz erschien, hell, kalt, als wäre er mit einem Messer aufs Auge geschrieben.
Die erste Brandung, stand dort. Die zweite kommt, wenn ihr noch glaubt, ihr könntet schwimmen.
Ich sah zu Marteau. Er sah zu mir. Es gab keine Wörter, die man an solche Sätze hängt, um sie freundlicher zu machen. Wir hingen sie nicht.
Sie werden heute Nacht nicht schlafen, sagte er.
Ich zuckte mit einer Schulter. Ich habe schon schlechter geschlafen.
François schnaubte. Dein Bett lügt über dich, Pierre.
Ich sah ihn an, und er sah mich an, und ich wusste, dass wir beide dasselbe dachten. Der Regen würde nicht aufhören. Und selbst wenn, die Brandung war in Bewegung. Wer immer die Drohne steuerte und die Kraniche faltete, hatte nicht vor, seine Hände in den Manteltaschen zu vergraben und abzuwarten. Er hatte vor, etwas zu Ende zu bringen.
Und ich – ich hatte vor, es ihm schwer zu machen. So schwer, dass er sich wünschen würde, er hätte sich nie mit jemandem angelegt, der bei Regen den Geruch von Mandeln nicht vergessen konnte.
Maxime stoppte das Video und hielt es auf dem letzten Frame. Der Satz blieb wie ein eingebrannter Nachhall im Raum. Melanie stellte Kaffees hin, so als könnte man Worte mit Koffein neutralisieren. Manchmal gelingt das. Manchmal nicht.
Ich ließ den Blick durch den Raum laufen. François rieb sich den Nacken. Monsieur Marteau stand wieder am Fenster, und in seinem Profil lag eine Linie, die dort nur auftauchte, wenn ihn etwas persönlich traf und er es nicht zeigen wollte.
Wir hatten keine Wahl. Wir mussten gleichzeitig in drei Richtungen gehen: Technik, Motive, Menschen.
Ich nahm mir die Menschen. Vielleicht, weil ich glaubte, Gesichter noch zu lesen, selbst wenn sie sich hinter professionellen Gesten verstecken.
Claire Guéret empfing uns in einem Büro, das mit Glaswänden und gutem Geschmack viel Platz und wenig Wärme erzeugte. Sie hatte die Art von Ruhe, die teure Hautcremes und lange Trainingslager vor Fernsehkamera-Linsen produzieren. Ihre Hände waren schmal. In den Nägeln spiegelte sich der Regen von draußen.
Sie gab uns die Hand, sah mir dabei genau in die Augen und stellte keine einzige Frage, bevor ich die erste stellte. So etwas ist selten. So etwas ist gefährlich.
Madame Guéret, sagte ich. Danke, dass Sie uns gleich Zeit geben.
Sie lächelte. Unsere Zeit gehört jetzt der Sache, Commissaire. Und die Sache ist, dass jemand meinen Chef – meinen Freund – getötet hat. Ich werde Ihnen helfen, ihn zu finden.
François setzte sich nicht. Er bleibt lieber stehen, wenn er Menschen zuhört. Er sagt, er hört dann besser. Ich glaube, er will nur schneller gehen können, wenn ihm jemand Lügen erzählt.
Dann beginnen wir mit etwas Einfachem, sagte ich. Wer wusste von der Drohne?
Sie blinzelte einen Moment, so als müsse sie nachdenken, ob die Frage rhetorisch oder eine Falle war. Wir haben eine für eine Kampagne gekauft, ja, sagte sie. Ich habe sie bestellt. Aber sie wurde für Luftaufnahmen verwendet. Nicht hier. Und nicht gestern.
Wer hat sie geflogen? fragte François.
Ein Freelancer. Noé Berthier. Er fliegt seit Jahren für uns, für Events, für Imagefilme. Ich kann Ihnen seine Kontaktdaten geben. Er ist unproblematisch.
Unproblematisch ist ein Wort, bei dem ich immer hellhörig werde. Unproblematisch heißt meistens, dass man nicht viel über jemanden weiß.
Und gestern? fragte ich. Haben Sie eine Drohne gesehen?
Sie winkte vage in die Richtung, in der der Hafen lag. Ich stand an der Reling und habe versucht, eine Journalistin zu beruhigen, die Angst hatte, dass ihr Haar im Regen zusammenfällt, sagte sie. Wir schaffen die Welt nicht, wenn wir sie nicht in Szene setzen, Commissaire. Ich weiß, wie das klingt. Sie senkte den Blick. Ja, ich habe eine Drohne gesehen. Ich habe sie für eine fremde gehalten. Besucher filmen. Presse. Das passiert.
Ich nahm den Umschlag mit der Rechnung aus der Tasche. Nizza. Kurier.
Wer hat die Drohne abgeholt? fragte ich.
Wie ich schon am Telefon sagte – wir arbeiten mit einem Kurierdienst. Ich kenne die Fahrer nicht alle. Darf ich?
Sie beugte sich vor, las, nickte, weil es nichts zu nicken gab, und lehnte sich zurück. Ihre Augen wurden einen halben Ton dunkler.
Madame Guéret, sagte ich. Sie waren vor ein paar Jahren mit einem Investor liiert, der später untergetaucht ist.
Sie lächelte, eine Spur zu schnell. Ich war mit einem Mann zusammen, Commissaire. Er war charmant, reich, und ich war dumm genug, mich in die falschen Geschichten zu verlieben. Wir sind längst getrennt. Und ich habe meinen Job durch Leistung, nicht durch Beziehungen.
Ich hätte gern geglaubt, dass die Sätze so sauber waren wie sie klangen. Aber in unserer Stadt klebt selten etwas ohne Rückstände.
Haben Sie Drohungen bekommen? fragte François. Persönlich?
Jeden Tag, sagte sie, und ich glaubte ihr. Und denken Sie nicht, dass ich keine Angst hätte. Ich habe eine kleine Schwester. Sie studiert. Sie lebt in einer Wohnung, die ich ihr bezahle. Ich will nicht, dass ihr etwas passiert. Ich will nicht, dass Menschen wie Sie eines Tages bei ihr klingeln müssen.
François und ich wechselten einen Blick. Ich wusste nicht, ob sie uns manipulierte. Ich wusste, dass sie verstand, wie Menschen reagieren, wenn man ihnen eine Schwester zeigt.
Noé Berthier lebte in einem Loft, das nach Influencer aussah, aber keiner war. Pflanzen, die zu gut wuchsen, um wahr zu sein. Ein Fahrrad an der Wand. Ein Bett, das aussah wie ein Magazincover. Er selbst war schlank, mit einem kantigen Gesicht, das die Kamera mochte, und einem Bart, der so aussah, als wäre er zufällig, dabei war er natürlich perfekt berechnet.
Er ließ uns rein, als hätte er erwartet, dass wir kommen. Er setzte sich auf einen Hocker und legte die Unterarme auf die Knie. Eine Pose, die Vertrauen signalisieren soll. Ich erlaube mir, nicht darauf hereinzufallen.
Sie fliegen für Vautrin? fragte François.
Ich fliege für jeden, der mich bezahlt und nichts Illegales will, sagte er. Er hob die Hände. Ich war nicht am Hafen. Meine Drohnen haben Tracker. Ich gebe Ihnen die Protokolle. Hier.
Er zeigte uns auf seinem Laptop die Fluglogbücher. Ein Drohnenflug in der Camargue. Zwei über einem Solarpark bei Arles. Keiner im Alten Hafen. Ich wollte ihm nicht glauben, deshalb überprüfte ich es. Zwei Stunden später, als wir wieder in der Zentrale waren, hatte Maxime die Daten gegengeprüft. Sie stimmten.
Maxime rief mich unterdessen an, bevor ich meine Jacke überhaupt richtig ausgezogen hatte. Pierre, sagte er. Ich habe das Papier des Kranichs durch das Spektrometer geschickt. Es ist, wie du vermutet hast, eine transnistrische Banknote, nominal ein Rubel. Aber das Spannende ist nicht das Papier. Es ist das, was daran klebt.
Ich wartete.
Es klebten Spuren eines Schmiermittels, sagte Maxime. Aerosol-Gelen, wie sie in Sprühkammern verwendet werden, um feine Partikel zu binden, damit sie nicht wahllos überall landen. Es gibt genau zwei Firmen in Südfrankreich, die dieses Gel in dieser Zusammensetzung verkaufen. Eine davon sitzt in Nizza.
Nizza. Drohne. Kurier.
Noch etwas, sagte Maxime. Wir haben die Luftfilter auf der Aurore ausgebaut. David hat die Partikel aufgefangen. Blausäurereste, ja. Aber gemischt mit Mikrotröpfchen eines Lösungsmittelgemischs, das man in Hightech-Labs benutzt. Speziell in solchen, die mit Katalysatoren arbeiten. Rate, wer jüngst ein mobiles Labor auf seiner Yacht installiert hat.
Ich sagte nichts.
Ich will damit nicht sagen, dass Vautrin sich selbst vergiftet hat, sagte Maxime. Aber ich will sagen, dass der Täter gewusst hat, was er tut. Und dass er Zugang zu etwas hatte, das nicht jeder hat.
Monsieur Marteau strich sich mit dem Daumen über die Kante seiner Unterlippe. Wo ist die zweite Brandung? fragte er.
Wir fragten uns das alle.
Meridian Bleu hatte ein Büro in der Rue de la Joliette. Es sah aus wie jedes andere Büro, in dem Idealismus und knappe Budgets Regie führen: Secondhandmöbel, Plakate, Pflanzen, die gegossen wurden, wenn jemand dran dachte. Eine junge Frau mit kurzgeschnittenem Haar sah uns an, als wären wir die Bösen, und in ihrer Geschichte waren wir das.
FoPoCri, sagte François, freundlich und fest. Wir möchten mit jemandem sprechen, der für dieses Schreiben verantwortlich ist.
Wir schreiben viele Dinge, sagte sie. Und das, was wir schreiben, tun wir nicht. Es gibt einen Unterschied.
Ich lächelte. Ich bin alt genug, um mich an Zeiten zu erinnern, in denen Worte und Taten identisch waren.
Sie hieß Amélie. Sie war die Pressesprecherin. Sie hatte diese müde Wut, die von echter Enttäuschung genährt wird und nicht nur von Pose. Wir setzten uns. Sie setzte sich nicht.
Wir befürworten zivile Ungehorsamsformen, sagte sie. Wir kleben uns auf den Asphalt, wenn es sein muss. Wir hängen ein Banner an einen Kran. Wir machen Lärm. Aber wir töten nicht. Und wir drohen nicht mit Stahl, außer dass wir manchmal damit meinen, dass wir Schlösser aufbrechen. Sie sah mich an. Unser Logo ist eine Welle, Commissaire. Kein Kranich.
Ich legte den Kranich in der Tüte auf den Tisch. Kennen Sie das?
Sie beugte sich vor, und in ihrem Blick war für einen Sekundenbruchteil etwas wie Erstaunen, das sie schnell in Verachtung verwandelte. Origami, sagte sie. Ich bin nicht zwölf.
Jemand will, dass wir so aussehen, als wären wir es gewesen, sagte François.
Sie hob die Schultern. Es gibt viele Leute, die ein Interesse daran haben, uns zu diskreditieren. Leute, die davon leben, dass man glaubt, sie seien die Guten. Leute, die viel Geld haben für PR. Sie sah mich an, und ich wusste, wen sie meinte. Ich wusste auch, dass die Welt nicht so einfach ist, wie sie es sich wünschte.
Wo waren Sie gestern Abend? fragte ich.
Hier, sagte sie. Wir hatten eine Online-Sitzung. Sie zeigte uns Chatverläufe, Zoom-Protokolle, IP-Logins, die aussagten, was sie aussagen sollten. Ich glaubte ihr. Und ich glaubte ihr nicht. Beides ist möglich. Beides ist Arbeit.
Als wir auf die Straße traten, öffnete sich der Himmel noch ein wenig weiter. Es roch nach Fisch und Metall und Regen. Ich blieb einen Moment unter der Markise stehen.
Wir laufen hinter einem Phantom her, sagte François.
Phantome machen Fehler, sagte ich.
Wir wurden beim Weitergehen fast von einem Fahrrad überfahren. Der Fahrer fluchte, als ob wir uns in sein Bild gestellt hätten. Willkommen in Marseille.
Es war spät, als die Nachricht kam, und trotzdem zu früh. Maxime hatte die Glocken der Alarmketten mit einem Klick angeschlagen. Sie hallten bis in unser Besprechungszimmer.
Eine Gedenkfeier für Vautrin, sagte Maxime. Morgen. Place de la République. Öffentlich. Seine Frau hat zugesagt. Der Bürgermeister. Eine Schweigeminute. Und, jetzt kommt’s, eine Live-Schaltung zu einem Forschungscluster, das mit ihm zusammengearbeitet hat. Drohnen sollen eine Lichtshow über dem Platz machen. Er lachte trocken, ohne Freude. Ich empfehle dringend, aus der Lightshow eine No-Show zu machen.
Monsieur Marteau nickte langsam. Rufen Sie das Rathaus an, sagte er. Und die Firma, die die Drohnen liefern sollte. Kein Fluggerät, solange wir nicht wissen, was uns da über den Köpfen rumfliegt. Und wir wollen das Gelände sichern. Alles, was höher ist als zwei Stockwerke, bekommt Augen.
Ich wählte die Nummer des Sicherheitschefs im Rathaus. Er war ein Mann, der es gewohnt war, dass die Dinge laufen, wenn er es sagt. Ich mochte ihn. Er mochte uns. Das hilft. Ich sagte ihm, was wir wussten und was wir nicht wussten. Er sagte, die Drohnenshow würde abgesagt, und man müsse nur noch den Bürgermeister davon überzeugen, dass es keine gute Idee sei, auf einem Platz zu stehen, wenn jemand beschlossen hat, Brandung zu spielen.
Wir hingen auf, mit dem vagen Gefühl, eine Sache entschieden zu haben, die uns andere übelnehmen würden. Es ist mir lieber, jemand nimmt mir etwas übel, als er geht in ein Risiko, das ich verhindern kann.
Ich war gerade dabei, mir einen neuen Kaffee zu holen, als mein Telefon vibrierte. Wieder keine Nummer. Wieder ein Anhang. Wieder zwölf Sekunden.
Diesmal war es keine Drohne, die man sah. Es war ein Platz. Der Place de la République. Eine Kamera auf einer Höhe, die man mit einer Drohne erreichen konnte, aber auch mit einem Balkon und einem guten Objektiv. Man sah die Säule, den Baum, die Ampel. Man sah einen Mann, der aussah wie ich von hinten – Jacke, Haltung, eine Hand am Ohr. Ich sah, wie er aufsah, in die Luft. Und dann sah ich im Video eine zweite Drohne, die in ein Netz geriet. Ein Netz, das wie von Geisterhand aus dem Nichts fiel. Dann schwarz. Dann wieder Schrift.
Die zweite Brandung kommt, wenn ihr euch wappnet, stand dort. Die dritte, wenn ihr es für beendet haltet.
Ich fühlte meine Kiefermuskeln arbeiten. François stellte seinen Becher ab, als ob er ihn sonst zerdrücken würde. Monsieur Marteau sagte nichts. Er musste nicht. Wir waren alle schon auf dem Weg.
Wir sperrten den Platz weiträumig ab, wir stellten Sperrgitter auf, wir stellten Menschen dahin, die Augen hatten und Funk, und wir schickten welche nach oben. Dächer, Balkone, Fenster. Unser Innendienst hatte die Liste der Mieter zusammengestellt, und die Kollegen vom nächstgelegenen Revier klopften höflich an und fragten weniger höflich, ob sie auf die Terrasse dürften. Ich stand mitten auf dem Platz, der Regen war weniger geworden, aber die Luft blieb schwer. Wir hatten die Lichtshow abgesagt, und in den sozialen Medien war man schon dabei, der Stadt Feigheit zu unterstellen. Es ist erstaunlich, wie schnell Menschen Dinge beurteilen, die sie nicht kennen.
Es gab Momente, in denen ich den Geruch von Mandeln wieder glaubte. Ich wusste, dass er nicht real war. Ich wusste, dass er in meinem Kopf saß und dort eine Schublade geöffnet hielt, die ich nicht schließen konnte. Ich ließ ihn da. Er erinnerte mich daran, wozu wir hier waren.
Die Veranstaltung lief an, bei reduzierter Drehzahl. Keine Kameradrohnen. Keine Lichteffekte. Nur Stimmen, die sich verhedderten, weil es keine Bilder gab, an die sie sich hängen konnten. Élodie Vautrin stand auf dem Podium und sprach mit einer Stimme, die nicht brach. Der Bürgermeister warf Worte in den Wind, und der Wind trug sie weg. Ich sah zu den Dächern. Ich sah zu den Händen, die an Geländern lagen. Ich sah den Schatten eines Mannes, der in einem Fenster stand und ein Smartphone hielt. Ich sah, wie er das Smartphone wieder senkte.
Dann geschah es. Nicht aus der Luft. Aus dem Boden.
Ein dumpfes Zischen, als hätte jemand eine Limonade aufgemacht, aber die Flasche war groß, und der Korken blieb drin. Ein Nebel, ganz niedrig, wie eine Wolke, die nicht wusste, wo oben ist. Die Menschen riefen nicht. Sie merkten erst, dass sie husteten, als sie schon husteten. Ich roch nichts. Ich sah die Farbe, bevor es eine war: eine milchige Linie, die unter den Füßen hervorrollte, von der Seite des Podiums her, dort, wo die Elektronik stand, wo die Kabel in einem Kanal verschwanden, von dem jeder glaubt, er sei nur ein Kabelkanal.
François brüllte etwas, das out! bedeutete, und die Ordner reagierten, als hätten sie darauf gewartet. Sie hatten darauf gewartet. Wir hatten ihnen gesagt, worauf sie warten sollten. Sie zogen Menschen weg, die nicht verstanden, warum. Ich packte einen Mann am Arm, der mit dem Telefon filmte, während sein Gesicht bereits rot war. Ich zerrte ihn zwei Meter weiter, und er fluchte, und er sagte Worte, die man nicht wiederholen muss, wenn man weiß, wie Menschen reagieren, wenn ihnen jemand das Bild wegnimmt.
Der Nebel zog flach. Er blieb niedrig. Es sah aus, als hätte jemand versucht, ihn zu lenken. Eine Konstruktion unter dem Podium, dachte ich, mit einem Schlauch. Kein Blausäurenebel, Gott sei Dank, der würde aufsteigen. Was immer es war, es war dazu gedacht, Leute zu ängstigen und die Veranstaltung zu sprengen. Das ist terror genug, wenn du es richtig machst.
Die Feuerwehr war schnell. Wir waren schneller. Einer unserer Leute – ein junger Kollege aus dem zweiten Revier, dessen Namen ich mir merken musste – sprang unter das Podium und riss einen Kasten aus der Halterung. Es war ein Koffer, wie ihn jeder mit auf Reisen nehmen kann, und trotzdem war er keiner. Er zischte. Der Kollege schrie. François packte ihn am Kragen und zog ihn zurück. Ich trat gegen den Koffer, als wäre er ein Hund, der nicht dorthin gehört. Heiß. Nass. Schwer. Er klappte auf und sprühte. Ich kickte ihn über die Kante. Er fiel auf den Boden, rollte und blieb liegen. Ein Feuerwehrmann zog ihn mit einem Haken an sich und warf eine Decke drüber. Manchmal sind es die einfachsten Dinge, die funktionieren.
Ich atmete. Es roch nicht nach Mandeln. Es roch nach Plastik und kaltem Schweiß.
Wir spülten den Platz, und irgendwann trat jemand das Mikrofon aus, und es knackte, und die Stimme des Bürgermeisters verstummte. Eine halbe Minute später setzte sie wieder ein, ein Stockwerk tiefer, auf der sicheren Seite der Absperrung. Er redete weiter, weil das sein Job war. Ich redete nicht. Ich ging zum Umschlag, der über dem Kopf geblieben war. Ich ging dahin, wohin ich vorher geguckt hatte: zu dem Fenster, in dem der Mann mit dem Smartphone gestanden hatte.
Die Tür öffnete sich beim zweiten Mal nicht, und beim dritten Mal öffnete sie sich mit einer dieser Gesten, die sagen: Ja, ich weiß, ich hätte schon beim ersten Mal, aber ich war beschäftigt.
Ein Mann, Mitte vierzig, unscheinbar. Er hielt sein Smartphone, als gehöre es nicht ihm. Ich zeigte meinen Ausweis. Er zeigte mir sein Gesicht. Es sagte nichts.
Sie haben gefilmt, sagte ich.
Ich filme immer, sagte er. Es ist mein Job. Er gab mir eine Karte. Blogger, Journalist, es ist heutzutage dasselbe, sagte er. Er lächelte dünn. Ich war auch am Hafen, Commissaire.
Ich nahm ihm das Telefon nicht aus der Hand. Ich bat ihn, uns das Material zu schicken. Er tat so, als müsse er überlegen, und tat es dann. Ich mochte ihn. Ich mochte ihn nicht. In Marseille ist es so. Beides ist möglich. Beides ist wahr.
Als ich wieder unten war, stand Monsieur Marteau bei der Säule. Er hatte die Hände nicht mehr in den Taschen. Er sah auf den Platz, der inzwischen mehr Wasser als Menschen hatte.
Sie zwingt uns vom Himmel auf den Boden, sagte er leise.
Sie? fragte ich.
Er nickte ein kleines, fast unsichtbares Nicken. Er sah mich an. Nicht Drohnen. Das nächste Mal ist es Wasser im Trinkbrunnen. Oder eine Gasleitung. Oder ein Luftzug, der nichts trägt, außer Angst.
Wir werden uns breiter machen müssen, sagte ich.
Wir sind schon breit, sagte er. Aber es reicht nicht.
Wir fuhren ins Präsidium zurück. Maxime hatte inzwischen den Koffer, den wir vom Podium geholt hatten, in seine Einzelteile zerlegt. Ein handelsüblicher Pelicase, modifiziert, innen eine Kartusche aus dem Medizinbereich, wie sie in Inhalationsgeräten verwendet wird. Befüllt mit einer Salzlösung, harmlos, außer wenn du Asthma hast. Aber es hätte etwas anderes sein können. Darum ging es. Das nächste Mal.
Was ist mit der Banknote? fragte ich.
Ich habe einen Treffer, sagte Maxime. Eine Sammlung von Sammelgeldscheinen, die vor drei Tagen bei einem Antiquariat in der Nähe der Rue de Rome gekauft wurden. Bezahlt bar. Käufer: männlich, groß, dunkelblond, Mantel. Er lachte kurz. Auf der Überwachungskamera sieht er aus wie jeder zweite Mann in Marseille. Aber er hat eine Angewohnheit.
Welche? fragte François.
Er hält seine rechte Hand an den Bauch, wenn er geht, sagte Maxime. Als hätte er da etwas.
Eine Waffe, sagte ich. Oder eine Narbe.
Marteau setzte sich. Selten. Er sah uns an, und in seinen Augen war diese Falte wieder, die älter war als er selbst. Als ich sagte, ich habe so etwas schon einmal gesehen, meinte ich nicht den Kranich, sagte er.
Ich wartete.
Es gab in der Bretagne eine Reihe von Brandstiftungen, vor vielen Jahren, sagte er. Ein Mann, der sich „La Marée“ nannte, die Flut. Er schickte der Polizei vor jeder Tat ein Zeichen. Ein gefaltetes Segel. Und er redete über Brandungen. Die zweite, die dritte. Er war besessen von Zyklen. Wir haben ihn nie gefasst. Er hörte auf, so wie manche Dinge aufhören. Er sah mich an. Vielleicht hört er nicht auf. Vielleicht hat er nur die Bühne gewechselt.
Haben Sie einen Namen? fragte François.
Marteau schüttelte den Kopf. Nur den Wind. Er hielt an. Und wenn ich falsch liege, dann ist es nur ein Gespenst aus meinem Gedächtnis.
Ich dachte an die Falte in seinem Gesicht. Gespenster haben manchmal Hände.
Ich war auf dem Weg in mein Büro, als mein Telefon vibrierte. Wieder eine Nachricht, wieder neun Sekunden. Kein Video. Ein Foto. Es zeigte einen Brunnen. Ich kannte ihn. Der kleine, bei den Gassen hinter der Rue Paradis, wo alte Männer Petanque spielten und Kinder am Rand saßen und das Wasser berührten, als wollten sie etwas daraus mitnehmen.
Unter dem Foto stand kein Satz. Nur ein Wort.
Dritte.
Ich blieb stehen, mitten im Flur. Hinter mir lief jemand gegen mich und murmelte etwas. Ich sah auf den Bildschirm und sah meine Spiegelung im Glas. Sie sah zurück, und in ihrem Blick war mehr Müdigkeit als Wut. Ich ging zu Marteau. Ich zeigte es ihm. Er sah es an, und seine Hände, die nichts taten, taten mehr als viele Hände, die etwas tun.
Sie wissen, was das heißt, sagte er.
Ich nickte.
François erschien in der Tür, als hätte er das Wort gehört, das ich nicht ausgesprochen hatte. Er sah das Bild, und er lächelte ohne Humor. Ich nehme an, wir fahren spazieren, sagte er.
Wir fuhren. In Marseille sind Wege niemals nur Wege. Sie sind Geschichten. Heute war es eine solche, die sich nicht für uns schrieb, sondern gegen uns. Wir fuhren trotzdem. Wir haben selten die Wahl.
Der Brunnen lag da, als gehörte er einer anderen Zeit. Ein Becken aus hellem Stein, nachgedunkelt, wo Hände es immer wieder berührt hatten. Vier kleine Wasserspeier, Tauben, die aussahen, als hätten sie seit Jahrhunderten nichts anderes getan, als das Wasser der Stadt zu beobachten. Ein paar Boule-Kugeln klackten weiter hinten. Zwei Kinder, die eben noch am Rand gehockt hatten, wurden von einer Großmutter mit einem einzigen Blick weggefegt. Der Himmel war immer noch grau. Marseille roch nach nassem Stein, wie es nur nach Regen und kurz vor Ärger riecht.
François stellte den Wagen schräg, so dass niemand unbemerkt zwischen uns und den Brunnen kam. Zwei Kollegen aus dem Revier waren schneller gewesen als wir. Sie standen schon mit den Händen an den Gürteln da, Blicke wach, Finger nicht nervös, aber bereit. Einer von ihnen – der junge mit den guten Reflexen vom Podium – hob die Hand. Sein Gesicht war blass. Er hatte gelernt, in zwei Stunden schneller zu denken.
Wir haben abgesperrt, sagte er. Keiner trinkt. Keiner fasst an. Ein alter Mann hat versucht, Wasser in eine Flasche zu füllen. Meine Kollegin hat ihm die Flasche weggenommen, und jetzt hasst er uns.
Er wird uns morgen wieder lieben, wenn er es vergessen hat, sagte François.
Ich ging an den Rand. Die Oberfläche war ruhig. Das Wasser war klar, so klar, dass ich die Metallmünzen am Boden sehen konnte – Wünsche, die nie eingelöst wurden. Ich atmete durch. Kein Mandelhauch. Keine chemische Schärfe. Nur Wasser. Ich beugte mich vor, so weit, dass meine Jacke nass wurde.
David Hollande traf ein und machte das, was er am besten konnte: Er tat so, als hätte er Zeit. Er zog sich Handschuhe über, so sorgfältig, als hätte er vor, eine Operation zu machen. Er holte einen kleinen, starren Schlauch aus dem Koffer, steckte ein Filterpapier drauf und tauchte es kurz in den Wasserfilm. Er hob es hoch und sah es an, als könnte es ihm antworten. Dann steckte er es in ein Röhrchen, das aussah wie ein ineffizienter Kugelschreiber.
Ein erster Schnelltest. Er wird nichts endgültiges sagen, sagte er. Aber er wird uns sagen, ob wir rennen müssen.
Wir warteten. In meinem Kopf lief ein Uhrwerk, das nicht die Uhr in meiner Tasche war. Neben mir hörte ich, wie François mit den Zähnen knirschte. Ich kannte dieses Geräusch. Es kam, wenn die Außenwelt zu langsam war.
Negativ, sagte David nach einer Minute. Keine Blausäure. Keine gängigen Gifte in einer Konzentration, die unsere Nasen bestraft. Aber das heißt nichts. Ich will an die Zuleitung. Wenn jemand etwas eingeleitet hat, dann nicht von hier.
Der junge Kollege zeigte auf ein Gitter an der Rückseite des Beckens. Dahinter verschwand ein Rohr in einer Wand, die älter war als die meisten von uns zusammen. Es gab eine verschlossene Metallklappe. Kein Schloss, sondern drei Schrauben.
Ich rief die Stadtwerke. Der Mann am anderen Ende war der Typ, der eigentlich Feierabend hatte und trotzdem kam. Er traf zehn Minuten später ein, roch nach Arbeit und trug den Schlüsselbund eines Mannes, der Dinge kontrolliert, die keiner sieht. Er schraubte die Klappe ab. Die Schrauben waren sauber. Zu sauber.
Sehen Sie das? sagte er, wandte sich an niemanden und an mich. Normalerweise rosten die innen. Heute nicht. Heute hat jemand sie gestern gereinigt.
Er zog das Rohr ein Stück aus der Wand. Hinter dem Anschluss war ein T-Stück eingesetzt, nicht größer als meine Hand, massiv. Ein dünner, flexibler Schlauch ging davon ab und verschwand in einem Loch im Mauerwerk, das aussah, als wäre es schon immer da gewesen und nur vergessen worden war. David fluchte leise und elegant. Monsieur Marteau, in seinem Kopf, hätte genau so geflucht.
Wenn Sie mir sagen wollen, dass jemand eine Einspeisung gebaut hat, sagte ich, dann sagen Sie es.
David nickte. Ein Koffer wie am Podium. Mit einer Kartusche. Ein Timer. Oder – er hob die Augen – eine Fernsteuerung. Er sah zu den Häusern. Jemand in den Fenstern. Jemand mit einem Telefon.
Der Stadtwerker hielt das T-Stück fest, damit David den Schlauch abkoppeln konnte. Ein Tropfen spritzte heraus. Ein klarer. Keine Farbe, kein Geruch. Ich merkte, dass ich die Luft anhielt, obwohl ich wusste, dass ich wieder atmen musste. David fing den Tropfen mit einem anderen Papier auf. Er sah ihn unter einer Lampe an, die er aus seinem Koffer zog. Der Tropfen fluoreszierte nicht. Das war gut. Oder nur nicht schlecht.
Okay, sagte David, wir schließen das ab, wir nehmen den Schlauch mit, wir spülen, und dann lassen wir die Stadtwerke durch die ganze Leitung eine Probe schicken. Wenn jemand da was reingetan hat, dann ist es im System. Der Stadtwerker nickte, als hätte man ihm gesagt, er solle noch eine Stunde dranhängen. Er hatte ohnehin schon aufgehört, an seine Couch zu denken.
Ich ging die Gasse entlang, hinter den Brunnen, dahin, wo die alten, schmalen Häuser Rücken an Rücken stehen und die Wäscheleinen wie Flaggenmasten zwischen ihnen hängen. Ich ließ meinen Blick über die Fenster streifen. Ein Vorhang bewegte sich. Vielleicht vom Luftzug. Vielleicht nicht. Ich ging an die Tür. Sie war alt. Kein Klingelschild. Eine Nummer, halb abgerissen. Ich klopfte.
Niemand. Oder jemand, der sich nicht bewegen wollte. Ich klopfte erneut, anders. Es gibt eine Art zu klopfen, die sagt, man geht erst, wenn jemand kommt. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Ein Auge. Dunkel. Wach. Vorsichtig.
FoPoCri, sagte ich und zeigte meinen Ausweis so, dass er nicht nur das Papier sah, sondern meinen Blick dazu. Ich suche den Vermieter.
Ein Schulterzucken. Ein Schatten. Dann eine Frau, vielleicht siebzig, mit einem Tuch um den Kopf. Sie sah mich nicht böse an. Sie sah mich an, als wäre ich eine Störung in ihrem Ablauf.
Es ist spät, sagte sie.
Ich nickte. Es tut mir leid. Hat jemand hier gestern Abend an den Wänden gearbeitet? An der Leitung? Irgendwas Ungewöhnliches? Menschen, die nicht hier wohnen?
Sie hob die Hand und wischte in der Luft. Viele Menschen, sagte sie. Immer. Pakete. Lieferungen. Jemand hat gestern einen Koffer getragen. Er war zu schwer. Er hat ihn fallen lassen. Ich hörte es, weil ich schlafe leicht, wie eine Katze.
Wo? fragte ich.
Sie zeigte auf die Rückseite, dort, wo ein schmaler Hof war, den man von der Straße nicht sah. Ich ging darum herum. Der Hof war nicht mehr als eine Lücke zwischen zwei Häusern, mit Mülltonnen und einer Bank, die so aussah, als hätte jemand dort einmal versucht, Sonne zu finden. Eine Tür, Metall, mit Kratzern. Ein paar Meter weiter: ein Abfluss. Ich bückte mich. Ein Stück Klebeband klebte am Rand. Es war Nass, aber zäh. Transparent. Industriell.
Ein Geräusch hinter mir ließ mich hochfahren. Schritte, schnell, auf dem Stein. Ich drehte mich. Der Hofeingang war jetzt nicht mehr leer. Ein Schatten riss sich aus der Gasse, eine Gestalt, Kapuze. Dunkelblond, sah ich im Halbdunkel. Groß. Die rechte Hand an den Bauch gezogen, als hätte er Bauchweh oder eine Waffe. Vielleicht beides. Er sah mich, und sein Blick war kein Zufall. Er hatte uns gesehen, bevor ich ihn sah. Er machte einen halben Schritt zurück, der genau so aussah, wie ein halber Schritt zurück aussehen muss, wenn du gleich rennst.
François war schneller, als ich es erwartete. Er schoss nicht. Er sprang. Der Mann rannte. Er war gut. Er war so gut, dass ich wusste, wie gut ich sein musste, um ihn zu kriegen. Er schlüpfte an der Bank vorbei, sprang über die Tonne, prallte an die Mauer und stieß sich ab. Ich folgte, meine Schulter streifte den metallenen Rand, und der Schmerz schoss in meinen Arm. Ich ignorierte ihn, weil ich ihn später benutzen konnte.
Er bog in die Gasse und dann in noch eine. Er kannte das Viertel, oder er war einfach nur ein guter Läufer. Ich hörte hinter mir François fluchen, auf die Art, wie er flucht, wenn das Adrenalin schneller ist als die Worte. Vor uns tauchte ein Lieferwagen auf, der gerade rückwärts in die Gasse setzte. Der Fahrer sah uns, wenn er uns gesehen hätte, zu spät. Der Mann mit der Kapuze duckte sich unter dem Rücklicht durch und streifte dabei den Spiegel ab. Der Spiegel fiel und zerschellte wie ein schlechter Omenersatz. Ich sprang, der Rahmen striff mein Bein, ich stolperte einen halben Schritt und fing mich wieder. Der Mann erreichte die Ecke, riss sie und war verschwunden.
Es gibt Momente, in denen du weißt, dass du ihn nicht kriegst. Du rennst trotzdem, weil die Alternative ist, morgen früh nicht in den Spiegel zu schauen. Ich rannte, und ich hörte François neben mir, und wir rannten in einen Innenhof, der aussah wie alle Innenhöfe: zu viele Fahrräder, zu wenig Türen. Eine blieb offen, eine Kellertür. Ich wäre reingegangen, wenn ich nicht gewusst hätte, dass es eine Falle sein kann. Ich sah statt dessen die Treppe. Ich sah statt dessen das Dach. Ich sah statt dessen, wie eine Gestalt dort oben die Kante erreichte und sprang, ein Meter auf einen anderen Balkon, eine Hand an der Brüstung, die rechte immer noch am Bauch.
Ich stand und sah, wie man Menschen entkommt, wenn man weiß, was man tut. Ich sah, wie der Mann auf der anderen Seite verschwand. Ich sah, wie meine Chance durch die Luft ging und am anderen Haus ankam.
Zurück, sagte ich, geatmet, nicht gesprochen. François nickte, weil er dasselbe dachte. Wir gingen nicht in den Keller. Wir gingen nicht aufs Dach. Wir gingen zurück zum Brunnen, weil dort der Anfang war, den wir greifen konnten.
David hatte den Schlauch abgebaut und in eine Tüte gelegt. Der Stadtwerker fluchte mit Worten, die ich nicht aufschreiben will, weil sie jeder kennt. Er spülte. Er spülte so lange, bis er sicher war, dass er nicht mehr spülen konnte. Ich nickte ihm zu. Er nickte zurück und sah aus, als hätte er jemandem etwas versprochen, was er halten wird.
Wir standen wieder am Rand. Die Münzen am Boden sahen plötzlich aus wie Zähne. Ich nahm die Tüte mit dem Klebebandstück aus meinem Mantel. Es war mehr als Klebeband. Es war Kleberest, Faser, fein, unsichtbar für jemanden, der nicht darauf achtet. Ich gab es David. Er sah mich an, als hätte ich ihn daran erinnert, dass manches, was man mit dem Fuß zur Seite schiebt, das ist, woran du den Täter packst.
Wir hatten einen Mann gesehen. Groß. Dunkelblond. Rechte Hand am Bauch. Wir hatten ein Klebeband. Wir hatten einen Schlauch mit möglichen Spuren. Wir hatten eine alte Frau, die den Koffer hörte, und einen Hof, in dem man nicht fragt, wozu eine Tür gebraucht wird. Und wir hatten eine Nachricht auf meinem Telefon. Dritte.
Zurück im Präsidium war es nach Mitternacht. Die Stadt atmete, wie sie nach langen Tagen atmet: kurz. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und starrte auf die Tafel, die wir mittlerweile in unserem Zimmer hatten: Aurore. Drohne. Kranich. Meridian. Lichtshow. Koffer. Brunnen. Schlauch. Mann. Zwei Fotos hingen nebeneinander: das Standbild aus dem Video der Drohne und ein Screenshot aus einer Überwachungskamera in der Rue de Rome, vor dem Antiquariat. Ein Mann, Mantel, Oberkörper halb abgewandt, die rechte Hand am Bauch. Die Bilder waren schlecht. Die Bilder waren immer schlecht, wenn du sie brauchst.
François legte eine Mappe vor mich hin, die nicht nach Papier roch, sondern nach Arbeit. Claire Guéret, sagte er. Ihre Verbindungen. Ihre Reisen. Zwei nach Nizza in der letzten Woche. Ein Treffen mit einem Lieferdiensteigner. Offiziell: Produktionsabsprachen. Inoffiziell: wer weiß. Ihre Schwester, von der sie gesprochen hat. Wir sollten mit ihr reden. Nicht weil ich glaube, dass die Schwester etwas weiß. Weil ich glaube, dass Claire uns dort etwas sagen könnte, was sie hier nicht sagt.
Monsieur Marteau trat ein, ohne anzuklopfen. Er muss das nicht. Er zog den Stuhl nicht zurück. Er blieb stehen. Er sah die Bilder und sah nicht die Bilder.
Er sagte: Ich habe einen Namen.
Ich hob den Kopf. François richtete sich auf.
Er hieß damals, in der Bretagne, Louis Pardieu, sagte Marteau. Niemand wusste, ob es sein echter Name war. Niemand weiß es heute. Aber er war groß. Dunkelblond. Seine rechte Hand war vernarbt, von einer Verbrennung. Er hielt sie oft am Bauch, weil sie schmerzte, wenn es kalt war.
Ich hatte das Gefühl, als hätte jemand die Luft im Raum verändert. Nicht weil der Name eine Glocke läutete – tat er nicht. Sondern weil die Falte in Monsieur Marteaus Gesicht einen Millimeter tiefer wurde.
Woher? fragte ich.
Ein Kollege aus Brest, sagte er. Er ist alt, aber er erinnert sich. Er hat mich angerufen, weil ich ihn gebeten hatte, nach einem Mann zu suchen, der über Brandungen spricht und Papiere faltet. Er lachte kurz, ohne Freude. Es gibt nicht viele.
Ich blätterte in meinem Kopf. Ich sah den Mann in der Gasse. Ich sah die Hand. Ich sah das Wasser. Ich sah die Drohne. Ich sah den Kranich. Ich sah, wie die Dinge, die nichts miteinander zu tun haben sollten, sich nebeneinanderstellen wie Steine, die plötzlich die Form eines Weges ergeben.
Ich stand auf. Ich hatte das Gefühl, ich hätte zu lange gesessen. Ich sagte: Morgen früh um acht sprechen wir mit Claire Guéret. Um neun sehen wir uns die Schwester an. Um zehn fahre ich in die Rue de Rome und spreche mit dem Antiquar. Um elf will ich die Ergebnisse von Davids Analyse. Um zwölf frage ich beim Stadtwerker nach den Leitungen im Viertel. Um eins rufe ich Brest zurück.
Marteau nickte. François nickte. Ich nahm meinen Mantel und spürte, dass er noch feucht war. Ich mochte es nicht, mit einem nassen Mantel zu schlafen. Ich schlafe selten in meinem Bett, wenn die Stadt so riecht. Ich schlafe auf dem Sofa bei der Lampe, die zu hell ist, wenn man sie braucht. Ich dachte an die Falte in Marteaus Gesicht und an die alten Brandungen in der Bretagne. Ich dachte daran, dass Wasser nie aufhört, egal, wie oft du dagegen anläufst.
Als ich das Licht in unserem Zimmer ausmachte, vibrierte mein Telefon ein letztes Mal. Keine Datei. Kein Video. Nur ein Satz, als wäre er auf die Innenseite meiner Lider geschrieben.
Wir sehen uns, bevor ihr mich seht.
Ich legte das Telefon auf den Tisch, und mein Spiegelbild darin sah aus wie ich, nur müder. Marseille da draußen tat, was Marseille immer tut: so tun, als wäre es unsterblich. Und ich tat, was ich immer tue: mir einreden, dass das nicht stimmt.
Ich hatte mir am Abend vorgenommen, früh ins Bett zu gehen. Ich hatte mir morgens vorgenommen, nicht zu lügen. Marseille lächelte müde, als ich um halb acht die Rue Paradis hinunter lief. Der Kaffee im Pappbecher war zu heiß. Mein Mantel war immer noch feucht.
Claire Guéret ließ uns um acht Uhr fünf durch die Drehtür. Ihre Assistentin hatte keine Zeit zu lächeln. Claire selbst schon. Es war ein professionelles Lächeln, und es sagte: „Wir sind auf derselben Seite“, und dachte: „Wenn Sie mir beweisen, dass Sie es sind.“
Wir sparten uns die Höflichkeiten. Für die hatte gestern die Zeit gefehlt.
Sie haben eine Schwester, sagte ich, noch bevor wir saßen.
Sie blinzelte, dann nickte sie. “Ja.”
“Ich will, dass sie heute zwei Tage bei Freunden außerhalb schläft", sagte ich. Nicht, weil ich glaube, dass ihr etwas passiert, sondern weil ich nicht glauben will, dass es mir egal ist, wenn etwas passiert.
Sie atmete aus. “Ich habe sie schon gestern zu meiner Tante geschickt”, sagte sie. Ein Haus in Aubagne. Sie ist wütend auf mich, weil ich ihr nichts sage. Sie hat recht. Ich sagte ihr nichts.
François blieb stehen. Er mag keine Glaswände, durch die man sich selbst spiegelt. Ich machte mir Notizen, obwohl ich wusste, dass das, was ich brauchte, nichts war, das sich mit Tinte fangen ließ.
“Der Mann, der Sie kontaktiert hat", sagte ich, und ich ließ das Wort „Erpresser“ weg, weil ich es noch nicht benutzen wollte. “Wie hat er das getan?”
Sie sah kurz zur Seite, nahm einen Atemzug, der eher nach Mut schmeckte als nach Luft. Über eine App, sagte sie. Eine dieser verschlüsselten. Ein neues Konto. Kein Name. Keine Nummer. Nur eine Welle als Bild. Sie lächelte schmal. Nicht unsere.
“Was wollte er?” fragte François.
"Zugang", sagte sie. In der Kürze lag eine ganze Geschichte. “Zeitpläne, Listen. Er wusste vieles schon. Ich sollte es nur bestätigen. Und dann wollte er, dass ich dafür sorge, dass bestimmte Dinge verfügbar sind. Drohne” – sie hob die Hand, als ich Luft holte –, “und etwas, das er „Bindemittel“ nannte. Er sagte, er wisse, dass das Labor an Bord so etwas habe. Er nannte die genaue Bezeichnung. Ich kannte sie nicht, ich habe sie nachschauen lassen. Er wollte 200 Milliliter.”
“Warum haben Sie das getan?” fragte ich. Ich hörte, wie hart das klang. Ich ließ es so.
“Weil er mir ein Foto geschickt hat", sagte sie, und zum ersten Mal sah ich, wie ihr der Boden unter den Sätzen kurz wegschwamm. “Meine Schwester vor ihrer Haustür. Ein Mann, den ich nicht kannte, der in einem Auto sitzt. Rechte Hand am Lenkrad, linke am Telefon. Sie sind gut, diese Leute. Sie wissen, was man sehen muss, damit man nachts wach bleibt.”
Sie hielt meinem Blick stand. “Die Drohne ist legal gekauft worden”, sagte sie. “Das Gel ist in unseren Beständen. Ich habe es nicht ausgehändigt, ich habe ihm nur gesagt, wann und wo es gelagert wird, weil er mir sagte, er habe ohnehin jemanden, der es sich nehmen kann. Und er hatte recht.” Sie machte eine kurze Pause. “Ich habe es Monsieur Vautrin sagen wollen. Aber ich habe es nicht getan. Ich habe mir eingeredet, dass es eine Spielerei ist. Dass es Lärm wird. Dass sie uns lächerlich machen wollen. Nicht – “ Sie brach ab.
“Haben Sie eine Stimme gehört?”, fragte François.
"Nein", sagte sie. “Nur Sätze auf einem Bildschirm. Manchmal mit Fehlern. Kein Dialekt, den ich hätte zuordnen können. Einmal hat er das Wort „marée“ benutzt, ich weiß nicht, warum. Brandung.”
Ich sah, wie sich die Falte in Marteaus Gesicht gestern bewegt hatte. Claire konnte nicht wissen, was dieses Wort bei uns tat. Ich ließ es in meinem Kopf, legte es dazu, wo die anderen lagen.
Der Antiquar in der Rue de Rome hieß Borel. Er war trocken wie seine Papiere. Sein Laden roch nach Leinöl und Staub und dünnem Tee. Er trug eine Weste, die aussah, als wäre sie beim Laden schon dabei gewesen. Er mochte die Polizei nicht. Das machte es leichter, ihn zu mögen.