72 - LiLo Seidl - E-Book

72 E-Book

LiLo Seidl

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Beschreibung

"Diese Schlampe hat alles kaputtgemacht!" Nasris Traum von der großen Liebe platzt zum zweiten Mal. Verzweifelt und von seinen Freunden unverstanden, versucht er, sich das Leben zu nehmen. Er wird gerettet, bekommt aber eine zweite Chance: Ein IS-Anführer will ihn als Attentäter rekrutieren. Nasri ist der ideale Kandidat für eine Gehirnwäsche. Für seine perfiden Pläne streut der charismatische IS-Mann Salz in alle Wunden, auch in jene, die der Bürgerkrieg und die Flucht aus Syrien geschlagen haben. Und er lockt mit einem verlogenen Versprechen: "Jeden Märtyrer erwarten 72 Jungfrauen im Paradies!" Nasri macht sich bereit, er will seinen Seelenqualen ein Ende setzen. Ein flammendes Inferno droht, schlimmer als Sodom und Gomorra! Doch seine Freunde geben ihn nicht auf, einer von ihnen stellt sich ihm in den Weg. Ist Liebe stärker als Hass? 72 - Eine ergreifende Geschichte von erschreckender Realität!

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Das Leben gleicht dem Feuer:

Es beginnt mit Rauch

und endet mit Asche,

wie groß die Flamme ist,

entscheidest du.

(Arabisches Sprichwort)

Inhaltsverzeichnis

Nasri

Hasan

Rami

Nasris Nacht

Erlösung

Dr. Ziyad

Vorwürfe

Nebel

Ausflüchte

Leonie

Die Saat

Dünger

Ernte

Rache

Täuschung

Hasans Rennen

Sodom

Annette

Krisensitzung

Ketten

Entlarvt

Abkehr

Gomorra

Befreiung

Held

Blessuren

Hasans 72 Mal 72

Nasris Paradiese

Mythos 72

Anhang

NASRI

›Ich habe gelernt, dass ein Tag 24 Stunden, eine Stunde 60 Minuten und eine Minute 60 Sekunden hat. Doch erst jetzt weiß ich, dass eine Sekunde ohne dich die Ewigkeit bedeutet‹.

Er las jedes Wort und prüfte es auf Fehler. Obwohl er die deutsche Sprache und die Schrift inzwischen ganz gut beherrschte, sah er hin und wieder im Duden nach, fragte seine Pflegeeltern, seinen neuen Bruder Jonas oder seinen Ausbilder bei Audi. Die Fachbegriffe in der Berufsschule beherrschte er blind, wie alles, was mit Motoren zu tun hatte. Seinen ersten Liebesbrief wollte er allein auf die Reihe bekommen, er musste perfekt werden. Jemand anderen um Hilfe zu bitten, wäre ihm etwas peinlich.

Den Spruch aus dem Internet hatte er mit Füller regelrecht auf das feine, hellblaue Briefpapier gemalt, Leonies Lieblingsfarbe. Er unterschrieb mit ›In Liebe, Nasri‹ und zeichnete noch zwei kleine, miteinander verbundene Herzen daneben. Er nickte zufrieden und ging seinen Plan noch einmal durch. Am Mittwoch frage ich sie, ob sie Freitagabend Zeit hat und lade sie zum Essen ins Giulietta ein. – Giulietta, allein der Name! Giulietta wie Julia – Julia und Romeo. Das ist total romantisch, wie Leonie und Nasri. Er lächelte. Am Donnerstag gehe ich zum Friseur und am Freitag, nach dem Gebet, kaufe ich eine rote Rose, sie muss ganz frisch sein. Im Giulietta bitte ich den Kellner, meine John Legend-CD einzulegen und ›All of me‹ zu spielen, für ein Extra-Trinkgeld macht er das. Dann gebe ich Leonie den Brief und warte wie sie drauf reagiert. Dabei kann ich ihr in die Augen sehen. Und wenn sie alles gelesen hat sage ich ihr, dass ich sie liebe. Hoffentlich werde ich nicht rot. Er stützte seinen Kopf auf die Hände. Dann wird sie mir zuzwinkern, ihre tollen, langen Locken schütteln und vielleicht sagen: ›Das Rot passt zu meiner Haarfarbe‹. Süße Leonie, sie ist so lustig und total nett. Und sie ist ‘ne richtige Powerfrau, vertritt immer ihre Meinung und macht keine Männer an. Das gefiel ihm am besten an der Frau seiner Träume.

Leonie, 18, ein Jahr jünger als Nasri, hatte am 1. September letzten Jahres mit ihm und seinem Freund Rami die Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker bei Audi begonnen. Er konnte sie von Anfang an gut leiden. Mit ihr konnte man Lachen und Blödsinn machen und sie fuhr Motocross, wie er. Er aß mit ihr fast täglich zusammen Mittag in der Kantine und zweimal in der Woche lernten sie nach Feierabend für die Berufsschule. Zuerst hatte er in ihr nur einen netten Kumpel gesehen, eine Frau in dieser Rolle war absolutes Neuland für ihn, inzwischen war er Hals über Kopf in sie verliebt. In seinen Tag- und Nachtträumen stellte er sich vor, ihr zartes, hübsches Gesicht in seine Hände zu nehmen, ihr in die tiefen, grünen Augen zu sehen, ihre vielen, süßen Sommersprossen zu zählen und ihren sinnlichen Mund zu küssen. Früher, in seiner alten Heimat Homs, hätte er sie nicht einmal ansehen, geschweige denn mit ihr reden dürfen. Sie gehörte nicht zur Familie. Dieses Tabu galt auch für die meisten syrischen Mädchen und Frauen, die hier lebten. Er kannte einige aus dem Wohnheim und dem Deutschkurs. Aber die wurden von ihren konservativen Eltern wie Schätze behütet, immer die gut situierten Männer für ihre Töchter im Auge. Es spielte keine Rolle, ob man wie er ein anerkannter Asylbewerber war, der gut Deutsch sprach und einen Ausbildungsplatz vorweisen konnte. Sie wollten Traumprinzen mit Geld und Ansehen. Blödes, altmodisches Schubladendenken!

Zum Glück gab es aufgeschlossene Menschen wie seine Pflegeeltern Rena und Michael Bauer, bei denen er seit März 2013 im eigenen, komfortablen Zimmer wohnte.

»Du darfst deine Freundin ruhig mitbringen«, hatte Rena gleich zu Beginn gesagt.

»Okay, wenn ich eine habe.«

»So ein hübscher Kerl und keine Freundin? Das wird sich bald ändern.«

Das hoffte Nasri seit langem. Manchmal wünschte er sich ein markanteres, männlicher wirkendes Gesicht, wie das seines Freundes Hasan. Er fand sein eigenes zu weich, aber ein Bart gefiel ihm nicht. Sonst war er zufrieden mit seinem Äußeren, er tat auch etwas dafür. Er rasierte sich täglich und ging regelmäßig zum Friseur, um sich sein kräftiges, schwarzes Haar modisch kurz trimmen zu lassen. Mit Rami und Hasan trainierte er ein- bis zwei Mal in der Woche im Fitness-Studio, um seinen Körper zu stählen. ›Aber nicht übertreiben mit den Muskeln‹, riet Hasan. ›Wer will denn aussehen wie ein Bodybuilder, das mögen viele Mädels nicht. Und rasiert euch im Schritt, das mögen sie – außerdem kommt euer Prinz so besser zur Geltung‹. Nasri schmunzelte. Ein typischer Hasan-Spruch.

Manchmal schwirrten alle gut gemeinten Ratschläge auf einmal in seinem Kopf herum, kaum auszuhalten. Aber er wollte nichts falsch machen, schon gar nicht bei Leonie. Sein Antrag musste perfekt werden. Mit ihr konnte er sich vorstellen, eine Familie zu gründen. Seine hatte er im syrischen Bürgerkrieg verloren, 2012, nach der ersten Eskalation. Ich hätte bleiben müssen, sie beschützen und mein Versprechen habe ich auch nicht gehalten, weil ... Nein, nicht jetzt! Er blendete die Gedanken an seine Familie aus. Obwohl die Erinnerungen schmerzten wie tiefe Nadelstiche ins Herz, hielt er es mittlerweile für die richtige Entscheidung, die Flucht gewagt zu haben. Sie sind jetzt an einem besseren Ort.

Seine neue Heimat war Ingolstadt. Es gab schlimmere Orte, an denen man als Flüchtling landen konnte – wie in Ostdeutschland, mit der steigenden Fremdenfeindlichkeit und den Rechtsradikalen, die dort ihr Unwesen trieben. Wenn das braune Pack hier auf die Straße ging und ihre Hassparolen verbreitete, wurde es von mindestens zehn Mal so vielen Gegendemonstranten niedergebrüllt oder durch Glockengeläut zum Schweigen gebracht. Die meisten Menschen hier begegneten Flüchtlingen freundlich und tolerant. Auch in der Arbeit wurden keine Unterschiede gemacht, dort zählten Können und Leistung. Damit war Nasri sehr zufrieden, genau wie mit seinem Liebesbrief. Er faltete ihn sorgfältig zusammen, steckte ihn in den Umschlag, auf dem Leonie stand, und klebte ihn zu.

An der Tür klopfte es.

Er sah auf seine Armbanduhr, kurz vor zehn. »Komm rein, Rami.« Er wusste genau, dass nur er es sein konnte. Sie hatten sich nach Feierabend spontan entschlossen, ins XTreme zu gehen, ihrem Lieblingsclub in der City. Morgen war Dreikönigstag, sie konnten ausschlafen.

»Bist du fertig?«, fragte Rami ungeduldig zappelnd. »Hasan wartet unten.«

Nasri schmunzelte, wie immer konnte es Rami nicht schnell genug gehen. Die Aussicht auf einen Flirt, arrangiert von Hasan, versetzte ihm jetzt bereits kleine Adrenalinstöße.

»Klar bin ich fertig.« Nasri legte den verschlossenen Brief unter die CD und stand auf, um Rami mit Handschlag, Umarmung und Bruderkuss zu begrüßen, wie immer. Dann löschte er das Licht. »Yalla!«

Nasri begrüßte Hasan, der vor dem Haus an seinen Kia gelehnt wartete, wie Rami vorhin. Dann stiegen sie gemeinsam ein, Nasri nahm mit der Rückbank vorlieb. Er hatte weder Auto noch Führerschein, aber seit Beginn seiner Lehre zweigte er jeden Monat 150 Euro dafür ab. Er schätzte es, einen Freund mit Auto zu haben und Hasan machte es nichts aus, zu fahren. Sie hingen ohnehin meist zusammen ab. Nasri kannte ihn seit 2013, aus dem Deutschkurs. Rami hatte er in der Realschule kennengelernt und mit ihm den Abschluss gemacht.

Nach ein paar Minuten Fahrt wunderte sich Nasri, Hasan war heute schweigsamer als sonst. »Hey, was ist los, Hasan? Du bist so still.«

»Ach nichts. – Ich bin stinkig.«

»Warum?«

»Hast du keine Nachrichten gesehen?«

»Nein.«

»Ich auch nicht«, sagte Rami. »Gabs was Besonderes?«

»Ein ZDF-Spezial, in der Silvesternacht kam es in Köln zu Übergriffen auf Frauen. Sie wurden betatscht, beklaut, manche reden sogar von Vergewaltigung. Es sollen überwiegend Immigranten gewesen sein.«

»Dumme Arschlöcher!«, schimpfte Nasri.

»Verfickte Arschlöcher!«, setzte Hasan drauf. »Die Hälfte der Deutschen wird jetzt wieder alle über einen Kamm scheren! Ich höre sie schon brüllen: Alle Flüchtlinge und Immigranten sind Grabscher und Frauenschänder!«

»Jedes Pauschalurteil hinkt.«

»Sag das den Schwarzweiß-Denkern!«

»Warum berichten sie erst heute darüber, fünf Tage später?«

»Die wollten das garantiert vertuschen!«

»Mann, die Jungs wollen doch nur ficken!«, meinte Rami unverblümt.

»Das will ich auch«, sagte Hasan. »Das wollen alle Männer, auf der ganzen Welt. Aber die Typen in Köln haben sich aufgeführt, schlimmer wie ein Elefant im Porzellanladen! Diese geilen Böcke glauben scheinbar, dass man das mit Frauen machen darf, die ohne Männer ausgehen!«

»Das kursiert im Internet«, meinte Rami.

»Man muss ja nicht jeden Scheiß glauben, der dort oder sonst irgendwo kursiert!«, schmetterte Nasri es ab.

Damals, im Wohnheim, gingen auch negative Gerüchte über deutsche Frauen um: Verheiratete schlafen mit anderen Männern und viele gehorchen nicht. Dazu kam die Einteilung in zwei Kategorien durch die erzkonservativen Moslems, es gäbe nur Huren und Heilige. Eine Frau muss verfügbar sein, dem Mann auf der Straße oder dem eigenen Ehemann. Eine Frau ist kein vollwertiger Mensch und damit kein Ansprechpartner auf Augenhöhe, kurz: archaischer Bullshit. Dieses unterschiedliche Rollenverständnis von Frau und Mann ließ Welten aufeinander prallen. Die Ereignisse in Köln bewiesen das aufs Neue.

»Diese Typen sollen endlich checken, dass sie hier in einer anderen Kultur leben«, sagte Hasan. »Das kann man von jedem halbwegs intelligenten Menschen erwarten. Sonst können sie ihren Kram packen und wieder nach Hause fahren. Die werden das Leben hier nicht ändern, die haben sich gefälligst anzupassen, das nennt man Integration!«

»Leider sind nicht alle so vorbildlich wie wir drei«, meinte Nasri. »In Sachen Frauen könntest du ihnen ja beibringen, wie es richtig läuft. Mach ‘ne Flirtschule auf.«

Hasans Mund formte sich zu einem breiten Grinsen. »Das ist gar keine so schlechte Idee.«

»Finde ich auch, Mann«, pflichtete Rami bei. »Aber wir kriegen deine Ratschläge weiter umsonst, oder?«

»Klar, aber ihr müsst sie beherzigen!«

»Bei dir klingt das, als wäre es total einfach.«

»Es ist nur eine Frage der Übung: Anlächeln, ganz unaufdringlich, lächelt sie zurück, ist das schon die halbe Miete. Dann fragt ihr sie, ob ihr sie auf ‘nen Drink einladen dürft oder was sie eben gern mag. Fangt ein Gespräch an, am besten über Musik, das geht immer. Macht ihr ein nettes Kompliment, dabei könnt ihr sie um den Finger wickeln«, Hasan ließ passend dazu den rechten Zeigefinger kreisen, »dann könnt ihr sie ficken so oft ihr wollt.«

Er hat ja Recht, dachte Nasri. Bis auf die Sache mit dem Ficken. Das gefiel ihm nicht, das hielt er für total unromantisch. Hasan sucht nur das schnelle Vergnügen, er benutzt die Frauen. Und Rami nimmt jede, die er für ihn anschleppt. Nasri wollte keine von ihnen, willig und leicht zu haben. Er wollte das Herz von Leonie erobern und sich richtig verlieben. Später verloben und heiraten mit allem Drum und Dran und natürlich in eine eigene Wohnung ziehen – zwei Zimmer, Küche, Bad, Balkon – wie die von Hasan, oder ein Zimmer mehr. Aber erst nach der Ausbildung, bis dahin durfte er bei den Bauers wohnen.

»Du hast gut reden, Mann«, sagte Rami zu Hasan. »Du kannst jede Frau haben.«

»Nicht jede«, rutschte es Nasri gehässig heraus, am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen. Obwohl er keinen Namen nannte, wusste Hasan was er meinte: Die schöne Ärztin Janina, er nannte sie Prinzessin, bis sie ihn wegen einer besseren Partie abservierte.

Hasans Züge verhärteten sich, Nasri zog den Kopf ein. Scheiße, hätte ich nur die Klappe gehalten!

Rami entschärfte die Situation. »Als Ausgleich hast du dir kurz darauf gleich zwei angelacht, eine am Freitag und eine am Samstag.«

»Wer kann, der kann«, meinte Hasan in einem Anflug von Snobismus. »Lasst mich mal überlegen, das waren Erdbeere und Kirsche, mmmhhh!«

Typisch Hasan! Nasri schüttelte den Kopf, aber er war froh, dass er ihm seine flapsige Bemerkung nicht wirklich übel nahm. Sein Freund war kein Kostverächter, aber ohne Schutz lief nichts. Manchmal erinnerte er sich leichter an die Geschmacksrichtungen der Kondome, als an die Namen der Frauen.

Mit einer Colaflasche in der Hand beobachtete Nasri, am Rand der Tanzfläche im XTreme stehend, seine beiden Freunde von der Seite. Zu den schnellen Beats von ›Heat This Up‹ wippend, ließen sie ihre Blicke über die Frauen ohne männlichen Begleiter schweifen, manche in Glitzerkleidchen und mit Schmuck behängt wie ein Weihnachtsbaum. Jetzt, kurz nach elf, war der Club mit potentiellen Flirt-Kandidatinnen bereits gut gefüllt. Einige, sehr Mutige, die fast durchsichtige Tops trugen, stachen auch Nasri ins Auge. »Seht euch die an, und das im Januar!«

Hasan grinste. »Heiße Bräute wie die frieren nicht.«

»Was hältst du von der großen Blonden in Schwarz?« Rami wies mit seiner Colaflasche zu einer etwa 20-Jährigen mit ellenlangen Beinen und raspelkurzem Haar. »An der Bar, links.«

Hasan beäugte sie geringschätzig. »Hübsch ist sie, aber ein Knochengestell, flach wie ein Brett, vorne wie hinten. Außerdem, du weißt doch, kurzes Haar geht gar nicht. Willst du sie, Kleiner? Dann reiß ich sie für dich auf.«

Rami winkte ab. »Lass mal Mann, der Abend ist noch jung.«

»Wen haben wir denn da?« Hasans Augen blieben bei einer, in der Mitte tanzenden, Brünetten hängen: schlank, bildhübsch, schulterlanges Haar. Ihr knappes, weißes Top verriet dem Kenner die Oberweite: B-Cup, perfekt. Sie trug hochhackige Schuhe zur knackig sitzenden Jeans, die ihren Po perfekt zur Geltung brachte. »Toller Arsch und eine Hammer-Taille, der absolute Burner!« Hasan mochte schlanke Frauen mit den richtigen Rundungen. »Und wie die sich bewegt, total geschmeidig. Die ist bestimmt ‘ne Raubkatze im Bett. Und sie ist allein! Ich glaubs nicht! Das muss ich ändern.« Er schürzte genießerisch die Lippen. »Baby, du weißt es noch nicht, aber du hast ein großes FUCK ME auf die Stirn tätowiert.«

Nasri rollte mit den Augen. Er fand diese Frau auch attraktiv, aber ihm gefiel nicht, wie Hasan von ihr sprach. Andererseits beneidete er ihn, nicht nur weil er sechs Jahre älter und erfahrener war, allein die Reaktion der Frauen wenn er einen Raum betrat, als käme ein berühmter Filmstar herein. Ihm konnte kaum eine Frau widerstehen: fast 1,90, athletische Figur, leicht gebräunte Haut, schwarzes, nackenlanges Haar. Sein Lächeln wurde sofort erwidert, ein tiefgründiger Blick aus seinen samt-braunen Augen und ein paar nette Worte genügten, schon unterlagen sie seinem Charme. Hasan könnte fünf an jedem Finger haben wenn er wollte. Aber er wollte nur eine, mindestens eine pro Woche – einmal, in seinem Bett oder in ihrem. Er benutzt die Frauen, um Janina eins auszwischen, weil sie ihn wegen Shervin fallen ließ, dachte Nasri. Uns braucht er nicht zu beweisen, dass er alle haben kann. Er tut das nur für sein Ego. Wenn das jeder machen würde, das ist so respektlos!

»Ich bin dann mal weg«, entschuldigte sich Hasan.

»Ran an den Speck«, meinte Nasri zynisch.

Hasan schenkte ihm ein breites Grinsen. »Der einzige, der mir vergönnt ist.«

»Irgendwann wirst du dran ersticken.«

»Sicher nicht! Ihr kennt doch mein Ziel: 72.«

»Du und deine 72.« Nasri rümpfte die Nase, 72 Frauen fand er maßlos übertrieben.

»Ich muss mich ranhalten, ich bin erst bei dreizehn.« Hasan setzte sein Siegerlächeln auf, fuhr sich durchs Haar und schüttelte es in Form. Lässig, in Marlboro-Mann-Pose mit beiden Daumen im Gürtel, tanzte er das Objekt seiner Begierde an.

Anfangs hielt Nasri 72 Frauen für einen Scherz und einen Anflug von Hasans Machismo. ›72 Jungfrauen im Paradies verspricht der IS einem Märtyrer‹, hatte er es begründet. ›Was soll ich mit ihnen wenn ich tot bin? Ich will die Frauen haben, solange ich lebe, sie müssen auch keine Jungfrauen mehr sein. Die Typen, die sich in die Luft jagen, raffen es einfach nicht, eine Bombe zerfetzt dich in tausend Teile und verstreut sie in alle Richtungen. Du bist Matsch! Adieu Paradies, adieu Jungfrauen, adieu alle Frauen. Außerdem steht es so nicht im Koran. Die IS-Wichser legen ihn einfach falsch aus, um ein paar geile Idioten anzulocken! Dann verpassen sie ihnen eine Gehirnwäsche. Die sollen erst mal richtig lesen lernen und den Leuten nicht so einen Scheiß erzählen! Lasst euch bloß nicht von diesen radikalen IS-Wichsern beschwatzen! Bei mir hat es auch einer versucht und wollte mich für ein Attentat anwerben! Ich habs euch ja erzählt! Fuck the IS!‹

Damit sprach er Nasri aus dem Herzen. Wie Hasan und Rami hatte er genug Krieg und Gewalt in Syrien erlebt und lehnte die radikalen und militanten Doktrinen von Islamisten, Salafisten und Dschihadisten vehement ab. Er liebte und schätzte das Leben in Deutschland, das ihm Asyl bot und Arbeit gab. Nasri mochte Hasan, trotz seiner Machoallüren. Er profitierte von seinem Wissen, schätzte seine Tipps und die rationale Denkweise. Sie teilten dasselbe Schicksal, die Flucht aus Syrien, das schweißte zusammen. Der Altersunterschied spielte keine Rolle.

»Dreizehn seit Ende Oktober!« Rami schüttelte den Kopf und nippte an seiner Cola. »Der lässt es ganz schön krachen.«

Nasri kam ins Schmunzeln. Ich lasse es auch bald krachen, bei Leonie. Mmmhhh, süße Leonie ... Seit unserer Azubiweihnachtsfeier sieht sie mich anders an als früher, das bilde ich mir nicht ein. Sie mag mich, daran besteht kein Zweifel. Ich hätte es ihr längst sagen sollen, ich Idiot, dann müsste ich nicht ständig daran denken! Wenn man sich so nach einer Frau verzehrt, das ist wahre Liebe. ›Du unverbesserlicher Romantiker‹, hat Hasan am Samstag gesagt. ›Total verknallt und bringt den Mund nicht auf!‹ – Bei ihm klingt alles immer so easy, ich werde schon nervös wenn ich nur dran denke. Um den ersten Schritt zu tun, braucht man Mut.

Seinen ersten Schritt plante Nasri seit Wochen, jeden Tag war ihm etwas anderes eingefallen. Eigentlich musste er nur die drei magischen Worte sagen: Ich liebe dich! Aber er wollte nicht einfach mit der Tür ins Haus fallen, Whatsapp fand er absolut unromantisch. Dann war ihm die Idee mit dem Brief gekommen. Die beste Idee überhaupt. Plötzlich kamen ihm Zweifel. Was mache ich, wenn sie nein sagt? Er wusste nicht, wie er auf eine Absage von Leonie reagieren sollte und ob er sie wegstecken könnte. Nein, das wird sie nicht. Sie mag mich, das fühle ich.

»Erde an Nasri«, hörte er Rami sagen.

Er bedachte ihn mit einem überraschten Blick. »Äh, was ist?«

»Wo warst du gerade, Mann?«

»Ich hab nur nachgedacht.«

»Okay. – Soll ich uns noch was zu trinken holen?«

»Gute Idee.« Nasri sah zur Tanzfläche. »Wo ist eigentlich Hasan?«

»Er sitzt mit der Brünetten in der Chill-Zone.«

»Okay.«

»Rate mal, wen ich vorhin gesehen habe, Leonie.«

Nasri spitzte die Ohren. »Echt? Unsere Leonie? Äh, ich meine, die von der Arbeit?«

»Kennst du noch eine?«

»Nein.« Sie ist hier! Wa-was mache ich jetzt? Vor lauter Nervosität konnte Nasri keinen klaren Gedanken fassen. »Wa-war sie allein?«

»Nein.«

Nasri riss die Augen auf. »Nein? Wer war bei ihr?«

»Die Blonde von vorhin, die Hasan zu flach war.«

»Ach die«, er winkte ab, »wird ‘ne Bekannte sein.«

»Was nun, Cola oder nicht Cola?«

»Cola.« Nasri hielt Rami am Arm zurück und nahm ihm die Flasche ab. »Ich gehe.« Er hatte Leonie an der Bar entdeckt. Das ist die Gelegenheit!

»Für mich bitte keine Light!«, rief Rami ihm hinterher.

Nasri hob die Hand als Zeichen, dass er ihn verstanden hatte. Er wählte den kürzesten Weg zur Bar und musste dafür einige Tänzer umkurven. Er taxierte Leonie, die mit dem Rücken zu ihm stand und sich mit der Blondine unterhielt. Je näher er kam, desto schneller klopfte sein Herz, sein Puls raste. Jetzt oder nie, dachte er und atmete einmal tief durch. Du schaffst das!

Nur noch wenige Schritte entfernt, sah er wie die Blondine eine Hand an Leonies Hüfte legte und sie zum Po wandern ließ. Nasri blieb abrupt und mit offenem Mund stehen. Die Blondine zog Leonie an sich und küsste sie. Sie schob ihr die Zunge förmlich in den Hals und knetete ihren Po.

Nasri stockte der Atem.

Er ließ beide Flaschen fallen, klirrend landeten sie auf dem Boden, zum Glück blieben sie heil. Er ignorierte es. Er spürte, wie das Blut in seinen Kopf schoss. Um ihn herum wurden die Lichter greller, die Musik lauter, die Beats schneller. Sein Herz pochte im selben Takt und sein Atem ging ebenso schnell. Die Umrisse der Menschen um ihn verschwammen und die, auf die Leinwand über der Bar projizierte, bunte Spirale schien ihn einzusaugen. Er fühlte sich wie in Trance, stolperte über eine der Flaschen und drohte zu straucheln.

Eine Hand griff nach ihm und hielt ihn fest. Sie gehörte Rami, der ihm gefolgt war und ihm wieder auf die Füße half. »Hey, was ist los?«

»S-sie h-hat ...« Nasri gefroren die Worte im Mund. Unbeweglich, mit zornig-schmerzvollem Blick starrte er weiter zur Bar. Schemenhafte Gestalten versperrten die Sicht.

Rami nahm ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. »Hallo-ho!«

Starr wie eine Salzsäule, sah Nasri durch ihn hindurch.

»Mann, was hast du? Gehts dir nicht gut?«

Plötzlich war Hasan zur Stelle, er schob Rami weg und packte Nasri am Kinn. »Hey, schau mich an!«, sagte er eindringlich. »Ich bins, Hasan. Komm zu dir!«

»Lass mich in Ruhe!«, schrie Nasri. Er riss sich los und stürmte davon.

Ratlos sah Rami ihm nach. »Wo will er denn hin? Er sah aus, als hätte er einen Geist gesehen?«

»Es war kein Geist, es war Leonie«, erklärte Hasan.

»Sie stand an der Bar, er wollte zu ihr.«

»Aber sie war nicht allein!«

»Ich weiß, sie hat mit der Blondine geredet, die dünne mit den kurzen Haaren von vorhin.«

»Sie haben wild rumgeknutscht und sind händchenhaltend abgezogen.«

Rami glotzte Hasan an. »Jetzt echt, Mann?«

»Ja, Mann!«

»Leonie ist ‘ne Lesbe?«

»Volle Punktzahl!«

»Fuck!«

»Du sagt es, Fuck! Ausgerechnet heute, Anja kann ich abschreiben!« Wütend biss Hasan die Zähne zusammen, er spannte seine Gesichtsmuskeln an, dass am Hals Sehnen und Adern hervortraten. »Steh nicht rum!«, er packte Rami am Arm, »wir müssen Nasri finden, bevor er durchdreht! Wir teilen uns auf. Du siehst auf dem Klo nach, ich im Foyer und an der Garderobe. Wir treffen uns draußen.«

Nasri schrie sich die Seele aus dem Leib. Das Gesicht schmerzverzerrt und beide Hände zur Faust geballt, stand er mitten auf der Straße. Es herrschte reger Verkehr, aber die Autos fuhren langsam, damit die Insassen Ausschau nach Bekannten in der Schlange halten konnten. Weil Nasri nicht auf ihr Hupen reagierte, umfuhren sie ihn einfach. Glück für ihn, aber er zog die Blicke der vor dem Eingang des XTreme wartenden Besucher auf sich, außerdem interessierten sich die zwei bulligen Doormen für ihn. Einer marschierte los. Plötzlich stürmten Hasan und Rami an ihm vorbei, packten Nasri und zogen ihn zurück auf den Gehweg.

»Spinnst du, Alter!«, pflaumte Hasan ihn an. »Was tust du im Hemd hier draußen, in dieser Scheißkälte? Du holst dir noch den Tod!«

»Mir scheißegaaal!«, schrie Nasri. »Dann hol ich ihn mir halt!«

Der Doorman trat auf sie zu. »Braucht ihr Hilfe?«

»Nein, vielen Dank«, sagte Hasan in bestem Hochdeutsch. »Wir kommen zurecht.« Er hatte keine Lust, den Kanaken-machen-nur-Ärger-Stempel aufgedrückt zu bekommen, den manche Security-Leute schnell auf den Lippen hatten.

»Was ist passiert, er hat doch nichts eingeworfen?«

»Nein! Er hat Liebeskummer!«

»Ach du Scheiße!«

»Sorry, wegen der Umstände.«

»Kein Problem, ist ja nix passiert.«

»Danke trotzdem.«

»Passt schon.« Der Doorman kehrte wieder zu seinem Arbeitsplatz zurück.

»Diese Schlampe, diese widerliche Schlampe!« Nasri heulte und zitterte unkontrolliert am ganzen Körper, er drohte erneut umzukippen. Hasan und Rami stützten ihn.

»Was jetzt?«, fragte Rami.

»Wir fahren zu mir. Los, hol unsere Jacken.«

»Und deine Brünette?«

»Hey, wer ist wichtiger?«

Im Flur von Hasans Wohnung ließ sich Nasri, zu keiner Bewegung fähig, Jacke und Schuhe ausziehen und die wenigen Schritte bis ins Schlafzimmer manövrieren. Dort fiel er bäuchlings aufs Bett und vergrub sein Gesicht in den Kissen. Hasan und Rami sollten ihn nicht heulen sehen. Während der Fahrt hierher hatte er seine Tränen hinuntergeschluckt. Scheißegal, sie halten mich sowieso für einen Schwächling. Er ließ alles heraus, wie bei einer Katze, die ein Fellknäuel herauswürgt. Seines war größer als ein Tennisball und bestand aus Tränen, Wut und Hilflosigkeit.

»Diese Schlampe hat alles kaputtgemacht! Es ist so ungerecht! Warum immer ich?«

»Mann, den hats voll erwischt«, hörte er Rami sagen.

»Ich wollte sie am Freitag zum Essen einladen«, sagte Nasri schluchzend, den Kopf wieder aufgerichtet, »ins Giulietta. Ich hab alles so schön geplant, mit einer Rose, einem schönen Spruch und einem Lied ... und jetzt ... alles ist Scheiße!«

»Come on, andere Mütter haben auch schöne Töchter«, versuchte Hasan ihn zu ermutigen, »vergiss sie.«

»Hör auf mit den blöden Sprüchen, ich wollte sie, nur sie gefällt mir!«

»Kapier es endlich, Leonie ist ‘ne Lesbe, das wirst du nicht ändern!«

»Nenne ihren Namen nie wieder in meiner Gegenwart!«, erwiderte Nasri trotzig.

»Hör auf zu heulen, das Leben geht weiter! Ich weiß wovon ich rede und wie man sich fühlt, wenn ein Traum zerplatzt. Liebe tut manchmal weh. Ich hab es überstanden und du wirst es auch.«

»Das soll Liebe sein? Scheiß drauf! Scheiß auf die Weiber!«

Rami legte eine Hand tröstend auf Nasris Arm. »Davon geht doch die Welt nicht unter.«

»Ich hätte heute nicht in diesen Scheiß-Club gehen sollen.« Nasri schüttelte die Hand ab.

»Sei froh, dass du dort warst«, sagte Hasan. »Jetzt weißt du wenigstens was Sache ist.«

»Arschloch«, brummte er ins Kissen.

»Hey, pass auf was du sagst!«

»Mann!«, maulte Rami genervt. »Alles, was wir sagen, ist falsch!«

»Du bleibst heute Nacht hier, Nasri«, bestimmte Hasan. »Okay?«

»Okay.«

»Gib mir dein Handy, ich schreibe deiner Familie eine Message, damit sie wissen wo du bist.«

Nasri fischte es aus der Gesäßtasche seiner Jeans, entsperrte es mit zittrigen Fingern und reichte es Hasan. »Rena Bauer, steht in Whatsapp.«

Hasan brauchte nicht lange mit dem Tippen. »So, fertig. Auch wenn sie es jetzt nicht mehr liest, dann morgen früh.« Hasan gab Nasri das Handy zurück.

Er legte es neben sich auf die Bettdecke. »Danke.«

»Sollen wir dich ausziehen oder machst du’s selber?«, fragte Hasan.

Nasri sah ihn giftig an. »Bin ich ein Baby?«

Hasan ging in Abwehrhaltung. »Okay, okay!« Er gab Rami einen Wink, ihm zu folgen und nahm die zweite Bettdecke. »Wir teilen uns die Couch.«

HASAN

Er schloss die Tür hinter sich. »So ein Scheiß!« Statt der heißen Anja lag Nasri in seinem Bett und heulte.

»Hm«, brummte Rami. »Vielleicht gehts ihm morgen schon wieder besser.«

»Einmal darüber schlafen wird nicht reichen, befürchte ich. – Welche Decke willst du, Webpelz oder Daune?«

»Egal, die sind beide warm. Gib mir das Plüschteil.«

»Mit manchen Weibern hast du nur Stress!«, murrte Hasan beim Platzieren der Kissen auf seiner Polsterlandschaft. Dort konnten, komplett ausgezogen, drei Erwachsene bequem schlafen. Sein Blick fiel zur Konsole darüber, auf der seit Oktober ein gerahmtes Foto von Janina mit dem Gesicht nach unten lag. Trotz der gewaltigen Risse in Herz und Ego, hatte er es bis jetzt nicht fertiggebracht, es wegzuräumen. Warum machst du dir noch Hoffnungen? Du bist so ein Idiot! Er nahm das Bild und betrachtete das schöne, von seidig glänzendem, schwarzem, langem Haar umrahmte Gesicht mit dem unbeschreiblichen Lächeln und den strahlenden Augen – wie bei ihrer ersten Begegnung, letzten Sommer.

Nach dem Shopping im Village war er mit Nasri und Rami in den Coffeeshop eingekehrt, um dort eine Kleinigkeit zu essen. Die drei gingen leidenschaftlich gern im Outlet-Center einkaufen, es gab trendige Markenklamotten zum halben Preis. Am letzten Augustsamstag waren sie bis zu 80 Prozent reduziert gewesen. Janina hatte mit ihrer Freundin Nele am Nebentisch Platz genommen und Hasan sich beherrschen müssen, sie nicht ständig anzustarren: 1,75, zierlich, nicht zu dünn, Beine bis zum Hals, ein Traum! Dann ihre Khol-umrahmten Augen, die bei jedem Lachen aufblitzten, pure Magie – Liebe auf den ersten Blick! Wie er, hatte auch Janina eine Tasche von Superdry neben sich stehen, und er diese als Aufhänger für ein Gespräch genutzt. Zunächst ging es über die Trendmarke, dann über Mode im Allgemeinen und die angesagten Looks für den kommenden Herbst.

Ihr erstes Date, am Tag darauf, hatte bei herrlichem Sonnenschein im Park begonnen und nach einem Restaurantbesuch am Abend in Hasans Bett geendet. Wenn ihre Jobs es erlaubten, waren sie jeden Tag zusammen gewesen. Hasan, Chemikant bei PetroTec, Ingolstadts größter Raffinerie, arbeitete in Dreier-Schicht im wöchentlichen Wechsel. Janina, frischgebackene Assistenzärztin in der Unfallchirurgie am Klinikum, hatte regelmäßig Bereitschaftsdienst. Wahnsinnig in sie verliebt, hatte er sie auf Händen getragen. Wenn sie telefonierten waren seine Hände in Gedanken über ihre traumhaft-samtige, nach Rosen duftende Haut geglitten. Der Sex mit ihr war fantastisch gewesen – der Lust hemmungslos nach- und sich einander hingeben, Sinnlichkeit pur! Hasan hatte es nie schöner empfunden und es so laut geknistert, fast bis zu einem Hörschaden.

Alles hatte sich toll entwickelt und Janina nach drei Wochen Hasan ihren Eltern vorgestellt, beide Kinderärzte mit eigener Praxis, sehr nett und ebenso aufgeschlossen. So schien es. Ihre Mutter war Deutsche, ihr Vater stammte aus dem Iran, der 1982 als Angehöriger der Bahai-Religion während der Khomeini-Diktatur fliehen musste. Am zweiten Oktoberwochenende war Janinas überraschender Anruf gekommen. ›Tut mir leid, Hasan. Wir können uns nicht mehr sehen. Es ist kompliziert, bitte bohr nicht nach und ruf nicht mehr an‹. Dabei waren sie später noch verabredet gewesen.

Hasan hatte die Welt nicht mehr verstanden und nach Gründen gesucht. Bin ich ihr zu jung? Aber wegen zwei läppischer Jahre! Oder bin ich ihren Eltern nicht gut genug? Das wird es sein, ein Chemikant ist nicht standesgemäß für eine Ärztin! Dann waren ihm die Worte seiner Mutter eingefallen: ›Für die wahre Liebe lohnt es sich zu kämpfen‹. Um Janina zurückzugewinnen, hatte er ihr rosafarbene Rosen schicken und sie um ein Gespräch bitten wollen. Daraus war nichts geworden, ein anderer Mann steckte hinter dem Ganzen: Shervin Rouhani, 36, Oberarzt. Janinas und seine Eltern, ebenfalls Ärzte, kannten sich gut. Alles klar, das haben die arrangiert. Der Typ ist eine gute Partie. Scheißzwänge! Scheißansprüche! Scheißgefühl!

Gekränkt, verletzt und wütend hatte Hasan große Lust gespürt, auf irgendetwas einzuschlagen. Er war kurz davor gewesen, seinen Kummer in Alkohol zu ertränken. Hinterher wachst du mit ‘nem Scheißkater auf und alles ist noch schlimmer. Die Schmerzen des gewaltigen Muskelkaters, als Folge seines besessenen Trainings im Fitness-Studio, hatten die Gedanken an Janina nicht betäuben können. Er war kurz davorgestanden, sie anzurufen, ihrer Bitte zum Trotz. Er ließ es. Was hätte er sagen sollen, sich noch mehr quälen, sobald er ihre Stimme hörte?

Bereits Mitte November hatten Janina und Shervin Verlobung gefeiert, etwas schnell nach Hasans Meinung. Er war über die Glückwunschanzeige ihrer Eltern in der Zeitung gestolpert. Sie hat mich von Anfang an verarscht, ich war nur der Pausenclown. Warum kämpfen wenn alles endgültig ist?

Hasan nahm das Foto in die Hand. Prinzessin, pah! Ich war so ein Idiot! Wie in seinem Traum, der immer wiederkehrte, löste sich das Bild auf und wurde zu Staub, den der Wind davonwehte. Du bist abgehakt, Baby. Er ging hinüber zum Sideboard, zog die oberste Schublade auf und legte das Foto hinein. Eigentlich habe ich Glück, wer will sich denn gleich fest binden. Ich kann alle anderen haben. Naja, meinen Freunden lass ich auch ein paar übrig. Er grinste. Diese Scheiß-Islamisten können erzählen was sie wollen. Fuck the IS, fuck the paradise! Ich mache 72 Frauen glücklich, quicklebendig, eine pro Woche oder zwei, wenn es sich ergibt. Anja wäre Nummer vierzehn gewesen ... vielleicht wird sie’s noch, ihre Handynummer hab ich ja. Ich rufe sie an, wenn es Nasri wieder besser geht. Bis dahin musste das Thema Frauen in den Hintergrund treten, Freunde sind füreinander da und Nasri brauchte ihn.

»Die Traumfrau eine Lesbe.« Hasan schüttelte den Kopf. »Kommt nicht alle Tage vor. Aber lieber ein Ende mit Schrecken, als Schrecken ohne Ende. Nasri sieht gut aus, er findet eine andere und wird drüber wegkommen.« Er legte sich Fuß an Fuß zu Rami auf die Couch und löschte das Licht. »‘Nacht.«

»‘Nacht.« Rami sah zum Fenster. »Die Jalousie ist nicht ganz zu.«