Royal Flush - LiLo Seidl - E-Book

Royal Flush E-Book

LiLo Seidl

4,8

Beschreibung

"Pfeilgift? - Nicht schon wieder!" Das neue Jahr ist keine drei Tage alt und Kathi Starck hat bereits einen Mord am Hals. Das Opfer ist ihr Kollege Pit. Die Tat trägt die Handschrift des verstorbenen Profikillers Hoek. Wer kopiert ihn und warum hat er Pit eine Pokerkarte zugesteckt, einen Herz-Buben? Sofort keimt der Verdacht, dass der Fall mit der Industriespionage zusammenhängen könnte, an der Pit zuletzt arbeitete: 2 Millionen Euro Schmiergeld sind verschwunden. Noch am selben Tag stirbt eine Frau, die Herz-Dame, eine Woche später ein beliebter Politiker, der Herz-König - beide durch Giftpfeile. Kathi ermittelt unter Zeitdruck, das LKA sitzt ihr im Nacken. Bald kommen brisante Einzelheiten ans Tageslicht, ein Cocktail aus Neid, Gier, Sex und Eifersucht. Mordet sich der Killer hoch bis zum Royal Flush? Wer wird das Herz-Ass? - Eine harte Nuss für Nürnbergs Top-Kommissarin!

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Sammlungen



Man kann alle Leute einige Zeit und einige

Leute die ganze Zeit zum Narren halten.

Aber man kann nicht alle Leute

die ganze Zeit zum Narren halten.

Abraham Lincoln (1809 – 1865)

INHALT

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NHANG

EISZEIT

F reitag, 3. Januar

»Sieht das nicht zauberhaft aus!«, freute sich Paulina Söhnlein geradezu kindlich. Die Fremdenführerin erntete Zustimmung ihrer neunköpfigen, eingemummten Gruppe. Das erste Ziel ihrer Führung, der Ehekarussell-Brunnen am Weißen Turm, lag unter einer zentimeterdicken Schneeschicht und ließ ihn wie eine Märchenlandschaft in Disneyland wirken. Der großflächige Architekturbrunnen zeigte die Stationen der Ehe in sechs überlebensgroßen Figurengruppen von der ersten, leidenschaftlichen Liebe über den Ehestreit bis zum Tod – angelehnt an das Hans Sachs-Gedicht ›Das bittersüße ehlich Leben‹. Die grotesken, zum Teil vulgären Frauen- und Männerskulpturen, wirkten wie in Zuckerwatte gepackt und gaukelten vor, die Ehe wäre eine himmlische Schlittenfahrt.

Dabei wollte Paulina ihre Neun-Uhr-Tour wegen des Kälteeinbruchs schon absagen. In der vergangenen Nacht waren die Temperaturen binnen weniger Stunden von plus acht auf minus acht Grad gesunken und etwa zehn Zentimeter Schnee gefallen. Die Besucher aus Hamburg hatten sich nach einer kurzen Beratung im Hotel entschlossen, dem Wetter zu trotzen.

»Wir sind aus dem Norden und sturmerprobt, uns haut doch so ein bisschen Schnee nicht um.«

Mittlerweile zeigte sich die Sonne über den Dächern. Das Ehekarussel lag allerdings noch im Schatten des Weißen Turms. Nur an dessen Außenmauer, neben dem Eingang zu den Rolltreppen, befand sich als einzige Lichtquelle das unübersehbare blau-weiße U-Bahnsymbol.

Die Hamburger warteten geduldig, bis der Mitarbeiter der Straßenreinigung die weiße Pracht um die Brunnenanlage großzügig weggeräumt hatte und traten zu Paulina an die Westseite. Sie ging vor dem steinernen Herz in die Knie und befreite es mit ihren, in dicken Fäustlingen steckenden, Händen von der Schneeschicht. Der Blick auf die Inschrift, Hans Sachs' Gedicht vom Eheleben, lag frei, leider war es nicht gut lesbar.

Germanistikstudentin Paulina kannte es auswendig und zitierte einige Zeilen daraus: »Gott sei gelobet und geehrt, der mir ein frumb Weib hat beschert. Mit der ich zwei und zweinzig Jahr gehaust hab, Gott gab länger gar. Sie ist mein Engel auserkoren, ist oft mein Fegeteufel woren. Sie ist mein Wünschelrut und Segen, ist oft mein Schauer und Platzregen. Mein Frau ist mein getreuer Freund, oft worden auch mein größter Feind. Mein Frau oft mietsam ist und gütig, sie ist auch zornig oft und wütig.«

Paulinas Schützlinge nickten und tuschelten. Sie grinste, weil die Worte aus dem 16. Jahrhundert immer wieder dieselben Reaktionen auslösten.

Die Rolltreppe im Weißen Turm spuckte, in den Intervallen der eintreffenden U-Bahnen, immer mehr Menschen aus. Sie strömten zu den Geschäften in der Fußgängerzone, zu ihren Arbeitsstätten in Praxen, Büros oder zum Frühstücken ins Café Beck. Sie machten einen Bogen um die Gruppe, man wollte Paulinas Vortrag nicht stören. Nur ein älterer Mann sah sein Wegerecht verletzt und ging auf Kollisionskurs mit einem fotografierenden Paar.

»Mensch, naa!«, grantelte er und drängelte sich an ihnen vorbei. »Schon in aller Früh schdengers middn im Weech!«

»Keine Angst, wir Nürnberger sind eigentlich höflich«, beruhigte Paulina die brüskiert dreinblickenden Hanseaten mit einem entwaffnenden Lächeln.

»Vielleicht war es ein Fürther«, meinte einer der Männer und hatte die Lacher auf seiner Seite. Die unaufhörliche Kabbelei zwischen Nürnberg und Fürth wurde schließlich in jedem Reiseführer erwähnt.

»Oder er hatte Streit mit seiner Frau«, sagte Paulina und trug die letzten Zeilen des Gedichts vor. »Sie ist mein Tugend und mein Laster, sie ist mein Wund und auch mein Pflaster. Sie ist meines Herzens Aufenthalt und machet mich doch grau und alt.«

Einige in der Gruppe zeigten sich nachdenklich, andere schmunzelten. Paulina führte sie weiter um den Brunnen und erläuterte die Figurengruppen, vom Erbauer Professor Jürgen Weber auf sechs Karussellwagen komprimiert, daher der Name Ehekarussell. Nach dem Vortrag strömte man auseinander und fotografierte mit Kameras, Handys und Tablets was das Zeug hielt. Ein jüngeres Paar nahm es ganz genau und verglich seine Bilder mit denen des digitalen Reiseführers auf dem Tablet. Die Aufnahmen dort stammten vom Sommer, wenn das Wasser im Brunnen munter sprudelt.

Das Tuscheln der beiden machte Paulina neugierig. »Haben Sie noch Fragen, Herr Beerendonk?«

Stumm zeigte er zum Ehefelsen, mit dem verendeten Bock als Symbol für den Mann und einem Menschenschädel als Überrest der Frau. Paulina staunte nicht schlecht: die Skulptur hatte Zuwachs bekommen. Unterhalb des Sockels mit der Inschrift ›Bis der Tod euch scheidet‹ lag eine schneebedeckte Gestalt. Das Tragische daran, sie war nicht aus Bronze oder Marmor, sondern aus Fleisch und Blut und tot.

»Allmächd!«, rief Paulina entsetzt. Zwei Frauen, die neugierig nähergekommen waren, kreischten laut und mussten von ihren Ehemännern beruhigt werden. Das erregte die Aufmerksamkeit der anderen, die ebenfalls sehen wollten, was vonstattenging.

»Vielleicht ein Stadtstreicher, der erfroren ist«, mutmaßte einer.

»Kein Wunner bei de Fröst«, kam es plattdeutsch von einer Frau, die hinter ihm stand.

»Vielleicht lebt er ja noch!«, rief Beerendonk und stieg über die niedrige Einfassung. Er beugte sich über den regungslosen, auf dem Rücken liegenden Körper und stupste ihn vorsichtig an. Keine Reaktion.

»Tommi, nicht anfassen!« rief seine Frau. »Komm wieder raus!«

»Ich trage doch Handschuhe, Schatz.« Er zeigte seine Hände in rotem Fleece und wischte den Schnee vom Gesicht des Toten. Bläulich-weiß gefroren starrte es ihn an. Kopfschüttelnd und sichtlich enttäuscht kam Beerendonk wieder aus der Anlage. »Nichts mehr zu machen.«

»Gott, nein!«, jammerte Frau Beerendonk.

»Bitte, meine Damen und Herren, treten Sie ein Stück zurück«, forderte Paulina alle auf. »Ich rufe jetzt die Polizei, die müssten gleich da sein. Das Präsidium ist um die Ecke.«

Die Gruppe ging auf Abstand, begann zu tuscheln und Mutmaßungen anzustellen.

»Was suchte der Mann im Brunnen?«

»Amenn war de beswiemelt.«

»Oder er ist bei der Glätte ausgerutscht und gefallen.«

»Und hett sich de Kopp düchtig angehaun.«

»Hast du Blut gesehen, Tommi?«, fragte Frau Beerendonk.

»Nein, da war keins.«

Wenige Minuten nach ihrem Anruf entdeckte Paulina zwei näherkommende Streifenbeamte in Winteruniformen und Uschankas mit Polizeistern. Wären sie nicht dunkelblau gekleidet könnte man meinen, sie kämen geradewegs vom Roten Platz in Moskau.

»Hallo, hierher bitte!«, rief Paulina winkend.

»Grüß Gott«, sagte Polizeiobermeister Kral, ein großer Mann Ende dreißig.

Der etwas jüngere Polizeimeister Seibert lächelte Paulina an: »Hallo, Pauli.«

Sie kannten sich, ihre Wege hatten sich während der Adventszeit auf dem Christkindlesmarkt, in der Altstadt und auf der Burg schon oft gekreuzt.

»Hallo, Lucas«, erwiderte Paulina ebenfalls lächelnd.

»Sie haben den Toten gefunden, Frau ...?«, fragte Kral.

»Söhnlein, Paulina. – Nein, ein Mann aus meiner Gruppe.«

Das hörte Tommi Beerendonk und trat zu ihnen. »Ich habe ihn beim Fotografieren entdeckt.«

»Wie ist Ihr Name?«

»Thomas Beerendonk. Ich habe nachgesehen ob er noch lebt. Dazu musste ich den Schnee aus seinem Gesicht wegmachen, aber ich trug Handschuhe. Die Schuhabdrücke im Schnee stammen von mir.«

»Okay, dann schaun wir mal«, meinte Kral gelassen.

Seibert bat die Reisegruppe mit einer eindeutigen Geste zurückzutreten. Kral stieg allein in den Brunnen und achtete genau darauf, in Beerendonks Fußspuren zu bleiben. Er öffnete die beiden obersten Knöpfe der Winterjacke des Toten. Trotz seiner dicken Handschuhe gelang es ihm, die Geldbörse aus der Brusttasche herauszuziehen.

»Wer ist es?«, fragte Seibert neugierig.

»Verdammte Scheiße!«, fluchte Kral und zeigte ihm den Dienstausweis des Toten.

HERZ-BUBE UND -DAME

Das erste Mal in ihrem Berufsleben gingen Kathi Starck und Andi Steppendorff zu Fuß zu einem Einsatz. Ob das Ehekarussell Schauplatz eines bedauerlichen, tödlichen Unfalls oder ein Tatort war, wussten die Kriminalkommissare noch nicht. Es gab eine weitere Premiere, eine traurige: Beim Toten handelte es sich um ihren Kollegen Peter Rollner, bei allen Pit genannt. Der 44-Jährige Hauptkommissar aus dem Dezernat für Wirtschaftskriminalität hatte seit Oktober die Ermittlungen im Industriespionagefall bei MECH@TRON geleitet. Er und sein Team suchten noch immer nach den zwei Millionen Euro Bestechungsgeld.

»Ich hab ein ganz komisches Gefühl«, sagte Kathi.

»Und welches?«

»Dass BATC ihre Finger da drin hat.«

»Ach komm, des wär jetzt schon a saudummer Zufall. Wir wissen doch gar ned, wie er g‘schdorben is.«

»Ich sag nur was ich denke.«

»Die Kaddi mit ihren Vorahnungen! Am End hammers wieder mit am Profikiller z’tun? Bidde ned gleich im neuen Jahr!«

»Warum stirbt Pit plötzlich, komischer Zufall, oder?« Kathi kam ins Grübeln.

Seit Aufdeckung des MECH@TRON-Falles im Oktober letzten Jahres hatte Rollners Team nur kleine Erfolge verzeichnen können, unter anderem die Sicherstellung von Tüyücs Fingerabdrücken auf dem Speicherstick, der Beweis für den versuchten Datenklau. Der PC im Büro des verräterischen und mordenden Mitarbeiters, der private und sein Handy waren sauber gewesen. Gemäß Anruflisten gab es keine Verbindungen zum Kontaktmann, dem Profikiller Hoek, auch umgekehrt nicht. Zweit-Handys fand man keine, dafür Dr. Panzers Gage, 50.000 Euro im Safe seines Wohnhauses. Ob der Anästhesist, der Tüyüc mit einer Überdosis Narkosemittel ins Koma befördert hatte, sich mit diesem Betrag für sein Schweigen hatte abspeisen lassen, war fraglich. Nach Kathis Meinung handelte es sich dabei ebenfalls um eine Anzahlung. Der Rest sollte wohl an dem Montag übergeben werden, an dem Hoek im Auftrag von BATC Tüyüc und Panzer mit Pfeilgift ermordet hatte.

Zwei Millionen Euro sind Motiv genug. Kathi lief es eiskalt den Rücken hinunter, wenn sie daran dachte. Hoeks Worte ›Die holen sie sich zurück‹ klangen in ihren Ohren, als wäre es gerade erst passiert.

»BATC könnte Pit und sein Team beobachtet und Telefonate abgehört haben«, sagte sie. »Vielleicht hatte er eine heiße Spur oder sogar das Geld gefunden und musste sterben?«

Das Gebiet um das Ehekarussell war mittlerweile weiträumig mit rot-weißen Kunststoff- und Scherengittern abgeriegelt worden. Zum Schutz vor Schaulustigen und erneutem Schneefall stand über dem Bereich, in dem der Tote lag, ein großes, weißes Zelt mit Seitenwänden. Man erreichte es über eine Gasse aus hohen Paravents als zusätzlichen Sichtschutz. Die Verkehrsbetriebe hatten den Zugang zur U-Bahn-Station gesperrt, die Rolltreppe stand still. Kral, Seibert und zwei zur Verstärkung gerufene Kollegen wiesen alle Gaffer bestimmend, aber höflich zurück.

In unmittelbarer Nähe der abgeschirmten Zone parkte der dunkelblaue Bus der Spurensicherung. Kathi und Andi bedienten sich mit Schutzoveralls, Mundschutz und Latexhandschuhen und gesellten sich zu Sabine und Thomas unters Zelt. Die Szenerie konnte skurriler nicht sein: die schneebedeckten Figuren, die Kriminaltechniker, die in ihren weißen Overalls wie Michelin-Männchen wirkten, und eine halb vom Schnee bedeckte Leiche. Thomas schoss Fotos, darauf bedacht, in dem beengten Umfeld innerhalb der Brunnenumrandung nicht auf Sabines Füße zu treten.

Kathi und Andi blieben sicherheitshalber davor stehen und begrüßten die beiden Spurensucher mit einem leisen »Guten Morgen«.

»Guten Morgen«, erwiderten sie beklommen. Pits Tod nahm auch sie mit.

»Brrrrr, ist das kalt.« Kathi rieb sich die Hände an den Ärmeln ihres Daunenanoraks und zog ihre Fleece-Mütze über die Ohren.

»Zwei Grad unter null«, sagte Sabine.

»Nicht weniger? Es fühlt sich wie minus zehn an.«

Durch die milden Winter in den letzten Jahren war kaum ein Mensch in der Stadt so eisiges Wetter gewohnt. Von den Folgen für den Straßenverkehr ganz zu schweigen. Am Morgen, auf der Fahrt von Nikolais Wohnung zum Präsidium, waren Kathi zu Australiern mutierte Autofahrer begegnet. Schon ihre Oma nannte so die Kriecher, denen Schnee scheinbar fremd war und den Verkehr aufhielten.

Sabine zeigte auf den Toten. »Er ist kälter, exakt minus drei Komma acht Grad.«

»Das heißt, er liegt schon länger hier.«

»So wie es aussieht seit letzter Nacht, bevor es zu schneien begonnen hat. Der Boden unter ihm ist blitzblank und er ist nicht festgefroren.«

»Weiß jemand von euch, wann das war?« Kathi erntete Kopfschütteln. »Ich bin mit Niko gegen halb neun vom Essen heimgekommen, da wars noch trocken und überhaupt nicht kalt.«

»Ich fraach bei die Wetterfrösch am Flughafen nach«, sagte Andi. »Nürnberg, Airport, Wetterdienst«, diktierte er ins Padfone. Nur Sekunden später wurde die Verbindung hergestellt. »Grüß Gott, hier Oberkommissar Steppendorff, Kripo Nürnberg. Ich müsst bidde wissen wanns gestern Abend zum Schneien ang‘fangen hat … Ja, ich wart.« Es dauerte etwas. »Ja, ich bin noch dran … Zirka zehne, gehts bitte ein bisserl genauer?… Nein, okay. Danke trotzdem. Wiederhören.«

»Zirka zehn Uhr«, meinte Sabine. »Ist schon mal ein Anhaltspunkt.«

»Nach der genauen Todeszeit zu fragen, kann ich mir sparen, oder?«, fragte Kathi.

»Nicht bei der Kälte.«

»Und wie ist er gestorben?«

»Wir vermuten, dass er ausgerutscht und gestürzt ist«, sagte Thomas. »Hier gibts genug Stellen, an denen man sich das Genick brechen kann. Das ist massive Bronze und Marmor.«

»Sind irgendwo Blutspuren?«

»Bisher haben wir keine entdeckt.«

Kathi kam ins Grübeln. »Sabine, du hast gesagt, der Boden unter ihm ist blitzblank und er ist nicht festgefroren, dann ist es vor dem Schneefall passiert. Wie soll er da ausgerutscht sein?«

»Vielleicht eine Wasserpfütze, das reicht bei dem glatten Marmor. Gestern Mittag hat es kurz geregnet.«

»Hm.« Kathi kratzte sich am Kinn. »Aber so wie er dort liegt, muss er im Brunnen gestanden haben, als er fiel. Schaut euch mal die Entfernung an, das sind eineinhalb Meter.«

»Im Brunnen g‘standen?«, wunderte sich Andi. »Des fällt doch auf!«

»Das meine ich ja. Vielleicht war Alkohol im Spiel.«

»Riechen tut man nichts«, sagte Sabine. »Wir prüfen das im Labor, auch wegen Drogen und Medikamenten.«

»Von selber kann er jedenfalls nicht zum Felsen gekrochen sein, oder?«

»Stimmt«, sagte Thomas. »Auch wenn er nicht durch den Genickbruch gestorben ist, er wäre bewusstlos gewesen.«

»Und ist erfroren«, sagte Kathi.

»Ein Genickbruch ned tödlich?«, fragte Andi erstaunt.

»Ja, das gibt es. Wenn die Bänder nicht gerissen sind oder das Rückenmark nicht durchtrennt oder abgequetscht wurde. Nur wenn das Mark durchtrennt ist, kommt es zu einer Zerstörung des Kreislauf- und Atemzentrums. Das führt sofort zum Tod, das ist vergleichbar mit einer Enthauptung.«

Andi nickte beeindruckt.

»Respekt, Kathi«, sagte Thomas. »Wie aus dem Lehrbuch.«

»Das Sternchen hat mir das mal erklärt.« Sie ließ ihren Blick über das Figuren-Ensemble schweifen und trat einen Schritt zurück, um die Entfernung zwischen dem Toten und der Brunneneinfassung besser abschätzen zu können. »Irgendjemand muss Pit zum Ehefelsen geschoben haben, den Rest hat der Schnee besorgt.« Sie überlegte, was sich abgespielt haben könnte. »Vielleicht hat Pit sich mit einem Informanten getroffen. Es kam zum Streit, dabei hat er ihn gestoßen. Pit stand direkt am Rand, fiel ins Becken und brach sich das Genick. Dieser Informant stellt fest, dass er tot ist und kriegt es mit der Angst zu tun.«

»Bis jetzt gibts keine Anzeichen von Fremdeinwirkung«, sagte Thomas.

»Hatte Pit noch etwas bei sich, außer seiner Geldbörse?«

»Auto- und Wohnungsschlüssel.«

»Kein Handy?«

»Nein.«

»Könnt ihm geklaut worden sein«, meinte Andi.

»Und der Dieb lässt das Geld in der Börse?« Kathi schüttelte den Kopf. »Was war eigentlich genau drin?«

»Knapp hundert Euro Bargeld, EC- und Kreditkarte, Perso und Dienstausweis«, sagte Sabine.

»Vielleicht ist der Dieb unterbrochen worden«, meinte Andi. »Oder der Informant wollte grad seine Nummer vom Handy löschen, fühlt sich beobachtet und nimmts mit.«

»Möglich, aber das hätte er sich sparen können. Seine Nummer kriegen wir über die Anruflisten von Pits Anbieter raus. Und den Inhalt des Chats auch, falls sie sich geschrieben haben.«

»An welchem Fall arbeitete Pit aktuell?«, fragte Thomas.

»Die Industriespionage bei MECH@TRON.«

Damit hatte Kathi die uneingeschränkte Aufmerksamkeit beider Kriminaltechniker.

»Glaubst du, da gibts eine Verbindung?«, fragte Thomas.

»Ich hoffe nicht. Habt ihr Pit schon näher untersucht?«

»Nur das Wichtigste, hier kann man nicht richtig arbeiten. Wir nehmen ihn mit wie er ist, samt Schnee. Auch wenn der taut, die Spuren bleiben im Sack.«

»Ich schau ihn mir mal an.« Kathi zog den Mundschutz über die Nase und stieg über die Einfassung.

»Pass auf, dass du dir den Kopf nicht anhaust.« Thomas rieb sich seinen. »Ist mir vorhin bei dem blöden Bock passiert.«

»Oh! Tuts noch weh?«

»Ich hab einen harten Schädel.«

»Dann kann mir auch nicht viel passieren.« Kathi beugte sich über den Toten. Vorsichtig schlug sie den Kragen seiner Winterjacke um und legte den Hals frei. »Er hat nur ein Hemd an und ist frisch rasiert. Davon könnte die Rötung stammen.«

»Wonach suchst du?«, fragte Sabine.

»Nach einer Einstichstelle.«

»Einstichstelle?« Thomas beendete das Kauen auf seiner Unterlippe. »Du glaubst, ihn hat ein Giftpfeil ... wie Panzer ... letztes Jahr?«

»Ich will nur sichergehen.«

»Wir haben weder Pfeil noch Einstichstelle gefunden.«

Kathi kam in gebückter Haltung wieder aus dem Brunnen und nahm den Mundschutz ab. »Es könnte ihn woanders erwischt haben, durch die Kleidung hindurch. Und der Täter hat den Pfeil wieder entfernt, wie Hoek. Sagt bitte dem Sternchen, dass er drauf achten soll.«

»Das wäre ein seltsamer Zufall, aber okay.«

»Wir müssen Uli Sauer fragen, woran genau Pit zuletzt genau gearbeitet hat.« Kathi schob ihren linken Ärmel zurück und diktierte einige Stichpunkte auf ihre Smartwatch: »Freitag, 3.1.2025, Fall Peter Rollner: Stand der Ermittlungen bei MECH@TRON, Uli Sauer befragen, Dr. Stern Einstichstelle, Pfeilgift, Parallelen Hoek.«

Sabine und Thomas zogen Rollner ein Stück vor und legten ihn in den bereitliegenden, schwarzen Leichensack neben der Einfassung. Kathi staunte, über welche Kraft die nur 1,56 große Sabine verfügte. Pit war etwa 1,85 und wog immerhin zwischen achtzig und fünfundachtzig Kilo. Während Sabine den Reißverschluss des Sacks zuzog, schoss Thomas noch ein paar Fotos von der Stelle, an der Rollner gelegen hatte. Inmitten der verwischten Umrisse im Schnee lag eine Spielkarte, ein Herz-Bube.

»Die muss unter Pit gelegen haben«, sagte Kathi.

»Kann gut sein«, meinte Sabine. »Der Wind weht alles Mögliche in den Brunnen. Wir haben Pappbecher mit Kaffee- und Kakaoresten, Coladosen, Kippen, Papiertüten vom Bäcker und Kaugummis gefunden.«

Igitt, dachte Kathi angewidert. Diese Schweine im Weltall spucken die Dinger aus wo sie stehen und gehen. »Checkt ihr die Kaugummis wegen der DNA?«

»Logisch.« Thomas stellte die Nummerntafel mit der einundzwanzig neben die Spielkarte und fotografierte sie. Anschließend nahm Sabine die Karte mit einer Pinzette auf und steckte sie in eine, mit einem iQR-Code versehene, Plastiktüte. Das Schild aus dem Minidrucker enthielt Informationen zum Fundort, Datum, Uhrzeit und die Identifikationsnummer.

»Darf ich bitte mal sehen?«, fragte Kathi.

Sabine reichte ihr die Tüte. »Poker-Blatt, Plastik von ASS.«

Kathi betrachtete den Herz-Buben von allen Seiten und gab ihn wieder zurück. »Die kann wirklich zufällig dort gelegen haben. Checkt sie trotzdem auf Fingerabdrücke et cetera.«

»Ich schau mal wo die mit der Bahre bleiben.« Thomas legte die Kamera in den Koffer.

Just im selben Moment erschienen zwei kräftige Männer in Schwarz mit einer Rollbahre.

»Servus«, grüßten sie knapp und hievten den Leichensack darauf.

»Er hat oberste Prio«, sagte Andi. »Dr. Stern weiß schon Bescheid.«

Die beiden nickten und lenkten die Bahre an ihm vorbei zum Ausgang.

»Macht ihr den Schnee im Brunnen weg?«, fragte Kathi.

»Müssen wir«, sagte Thomas. »Wir sammeln alles ein, was nicht in den Brunnen gehört. Danach suchen wir außerhalb nach brauchbaren Spuren.«

»Braucht ihr Hilfe?«

»Ist schon angefordert.«

»Okay, dann wollen wir nicht länger im Weg rumstehen.«

Als Kathi und Andi vor dem Zelt ihre Schutzkleidung in eine der bereitgestellten Mülltüten steckten, begegneten ihnen zwei weitere Kollegen der Spurensicherung, ebenfalls im Michelin-Männchen-Look mit Brille und Mundschutz und mit Besen, Schaufeln und verschließbaren Plastikeimern bewaffnet. Sie grüßten mit einem »Hallo« und verschwanden hinter der Abschirmung.

»Die sind heut ned zu beneiden«, meinte Andi.

»Wenigstens schneit es nicht mehr«, sagte Kathi beim Blick in den klaren, blauen Himmel. »Allmächd! Warum hab ich nicht gleich dran gedacht!«

»An was denn?«

»Wir wissen genau, wann es gestern zu schneien begonnen hat.« Sie zeigte zu den Überwachungskameras der Modehäuser Wöhrl und C&A, rechts und links vom Weißen Turm gelegen. Vielleicht sehen wir, was sich am Brunnen abgespielt hat.«

»Ich ruf gleich unsre Big-Brother-Kollegen an.«

»Das soll die Angie machen und wenn die Bilder da sind, sich mit dem Stolli dransetzen. Ich brauche dich und den Clausi für die Befragung der Reiseleiterin und ihrer Gruppe.«

»Okay, und wo sind die jetzt?«

»Kral und Seibert haben sie beim Beck einquartiert, damit sie nicht in der Kälte warten müssen.«

»Dort kömmers aber ned in Ruhe befragen.«

»Bring sie bitte ins Präsidium, ein Besprechungsraum wird schon frei sein.«

DING-DING-DING! meldete sich Kathis Smartwatch. »Aha, der Chef!«, sagte sie nach einem Blick aufs Display. »Er wartet am Bus der Spusi.«

»Okay«, sagte Andi. »Ich geh derweil vor, bis schbääder.«

Zu ihrer Überraschung traf Kathi am Bus nicht nur auf ihren Chef Kriminalrat Grünbaum, sondern auch auf Roman Ott, dem Leiter des Dezernats für Wirtschaftskriminalität, außerdem Pits Kollegen Uli Sauer, der die beiden mit seinen 1,90 um einen halben Kopf überragte. Sie blickte in betretene Gesichter, die Stimmung war so eisig wie die Temperaturen. Die Begrüßung fiel entsprechend knapp aus.

»Pit wurde schon weggebracht«, sagte Kathi.

»Wissen wir«, erwiderte Grünbaum. »Wir kamen gerade an, als die Bahre verladen wurde.«

»Was sagt die Spurensicherung?«, fragte Ott.

Kathi erstattete Bericht und nannte ihren Verdacht bezüglich BATC. Die Reaktion der Männer: Schockstarre.

»Wie gesagt, das sind meine Vermutungen. So, wie Kollege Rollner im Brunnen lag, muss jemand nachgeholfen haben. Außerdem hatte er Schlüssel und Geldbörse noch bei sich, nur das Handy fehlt.«

»Das ist wirklich seltsam«, meinte Uli, im Beisein der Chefs wie immer um Hochdeutsch bemüht. Sein fränkischer Zungenschlag klang trotzdem durch.

»Könnte er es im Büro liegen lassen haben?«, fragte Kathi.

»Sein Handy?« Uli schüttelte vehement den Kopf. »Nein, das glaub ich ned. Der Pit ist nie ohne sein Handy raus.«

»Weißt du, wann er gestern gegangen ist?«

»Nein, ich bin um halber Viere schon heim, ich hab Kopfweh g‘habt. Da war er noch im Büro. Er hat gestern länger Mittagspause g‘macht, vielleicht wollte er die Zeit wieder reinholen.«

»Weißt du, wo er da war?«

»Er hat g’sachd, er müsste was erledigen.«

»Okay, die Kommen- und Gehen-Zeiten kriegen wir über die Zeiterfassung raus. Abends war er jedenfalls hier am Brunnen, bevor es zu schneien begonnen hat. Was wollte Pit, einen Informanten treffen?«

»Keine Ahnung.«

»Wie ist eigentlich der Stand im Fall Tüyüc?«

»Wie gehabt, Frau Starck.« Ott seufzte. »Keine Spur vom Geld, aber wir stehen seit Anfang Dezember mit den österreichischen Kollegen in Verbindung. In einer Elektronikfirma in der Nähe von Wien hat BATC letzten Sommer versucht, einen Ingenieur zu bestechen.«

Kathi spitzte die Ohren. »Was stellen die her?«

»Fernsteuerungen aller Art«, sagte Uli.

»Auch für Drohnen?«

»Ja, die auch. Die Österreicher suchen eine Spur zum Kontaktmann, der dem Ingenieur das Geld angeboten hat.«

»Bargeld?«

»Das wissen wir noch ned. Aber es ist durchaus möglich, dass sie Bitcoins oder eine andere Internet-Kriminellen-Kohle verwendet haben.«

Kathi spitzte die Ohren. »Bitcoins? – Hm, ist ja interessant, auch im Hinblick auf Tüyücs zwei Millionen.«

»Hat Hofbauer letztes Jahr nicht ausgesagt, Tüyüc hätte Bargeld verlangt?«, meinte Grünbaum.

»Nur Bares ist Wahres, seine Worte. Keiner weiß, ob das wirklich stimmt.« Kathi blies sich die Fingerspitzen warm. Ich hätte doch meine Handschuhe anziehen sollen. Jetzt rächte es sich. Ihre lagen im Auto auf dem Fahrersitz, noch feucht vom Morgen, als sie es vom Schnee befreien musste. »Bitcoins, hm ... vielleicht habt ihr das Geld deshalb noch nicht gefunden. In Scheinen dürfte das eine ganze Menge sein, auch in der Zweihunderter-Stückelung, oder?«

»Lass mich mal überlegen.« Uli überschlug die Menge. »Die passen in einen mittelgroßen Trolley und wiegen zirka elf Kilo.«

»Nehmen wir mal an«, begann Kathi, »Pit hatte in Sachen Tüyüc und BATC etwas Brisantes entdeckt, war sich aber nicht ganz sicher. Darum hat er dir nichts erzählt, Uli. Er trifft sich mit einem Informanten und es kommt zum Streit mit Handgreiflichkeiten, der tödlich endet. Der Informant gerät in Panik, nimmt Pits Handy und haut ab. Oder es war eine Falle, das Treffen nur ein Vorwand und der Informant der Killer.«

Dafür erntete Kathi einen ungläubigen Blick von Grünbaum. »Ein geplanter Mord?«

Uli pfiff leise, aber dennoch hörbar durch die Zähne. »Und das Motiv?«

»Die zwei Millionen«, sagte Kathi. »Was sonst! Hoek hat letztes Jahr angedroht, BATC würde sich ihr Geld zurückholen.«

»Scheiße!« Zu diesem Fäkalausdruck ließ sich Grünbaum höchst selten hinreißen.

»Warten wir die Obduktion ab und die Auswertung der Aufnahmen der Überwachungskameras«, schlug Kathi vor. »Wir brauchen auch die Daten von Rollners Handy, das sollte relativ schnell gehen.«

»Das muss schnell gehen!«, betonte Grünbaum. »Ich will hier alles abgesucht haben, jede Ecke, jede Ritze, jeden Abfalleimer und die Gullis! «

»Dann brauchen wir noch mehr Leute«, sagte Thomas, der gerade einen Alukoffer in den Bus stellte.

»Die kriegen sie, ich fordere sie gleich an.« Grünbaum hängte sich ans Telefon.

»Ich schau wegen dem Handy im Büro nach«, sagte Uli.

»Kommst du an seinen Rechner?«, fragte Kathi.

»Ich lass das Passwort z‘rücksetzen, ist ja ein Notfall.«

»Wo hat Pit sein Auto normalerweise stehen?«

»In unserem Parkhaus.«

»Okay, da ist es sicher. Aber es muss durchsucht werden.«

Thomas nickte. »Wenn wir hier fertig sind.«

»Verstärkung ist unterwegs, Herr Schneider«, sagte Grünbaum nach dem Telefonat. »Drei Leute melden sich gleich bei Ihnen.«

»Super, Danke.« Thomas schnappte sich einen Besen und eine Rolle Plastiktüten und verschwand wieder in Richtung Zelt.

»Wo hat Pit gewohnt?«, fragte Kathi.

»Am Norikus«, sagte Uli.

»Im Hochhaus?«

»Ja, mit seiner Lebensgefährtin, Jessica Kleine heißt sie.«

Kathi nickte. »Wer sagt es ihr?«

»Soweit ich weiß, hat der Kollege Lechner heute Dienst«, meinte Grünbaum.

»Ich könnts auch machen«, bot Uli an. »Ich mein, wenns recht ist.«

»Ausnahmsweise«, sagte Grünbaum.

Ott pflichtete ihm stumm nickend bei.

Ein feiner Zug von Uli, dachte Kathi. Angehörigen und Partnern eine Todesnachricht zu überbringen, erforderte ein besonderes Feingefühl und speziell geschulte Kollegen wie Lechner. Ein guter Freund wie Uli war in diesem Fall natürlich die bessere Alternative.

»Pit hatte keine Kinder, oder Uli?«, fragte Kathi.

»Nein.«

»Andere Angehörige?«

»Hier wohnen keine. Seine Ex-Frau lebt in Südafrika und seine Stiefschwester in den Staaten, aber zu der hat er auch kaum Kontakt g‘habt.«

»Okay, die werden sich schon ausfindig machen lassen. Ich muss mich jetzt verabschieden, die Hamburger warten.«

»Dann packen wirs auch, oder?«, sagte Grünbaum. »Mir wirds langsam zu kalt hier.« Im Weggehen drehte er sich noch einmal um. »Noch was, Leute: Solange nichts anderes bewiesen ist, gehen wir von einen bedauerlichen Unfall aus.«

Auf dem Weg ins Präsidium erreichte Kathi Andis Anruf. Er informierte sie, dass er mit den Hamburgern in B-103 wartete. Vor der Befragung machte sie noch einen Abstecher in die Damentoilette, um sich ihre kalten Hände mit warmem Wasser zu waschen. Noch schlimmer als kalte Hände sind kalte Füße, dachte sie. Zum Glück hatte sie heute Morgen ihre Winter-Bikerboots angezogen. Profilsohle, dickes Leder, warmes Innenfutter plus Sportsocken hielten die Füße warm. Sie beschloss, sich später bei C&A neue Fleece-Handschuhe zu kaufen. Am besten gleich zwei Paar, extra warm und nicht zu teuer. Doppelt genäht hält besser, wie Andi immer sagte. Im Handschuhe verlieren war Kathi ebenso Meisterin wie bei den Regenschirmen. Von denen lag mindestens ein halbes Dutzend in der Stadt verteilt, in Geschäften, Bussen und U-Bahnen.

Das warme Wasser zeigte seine wohltuende Wirkung und das Kribbeln in den Fingerspitzen ließ allmählich nach. Kathi fragte sich, was Nikolai gerade machte und sah auf die Uhr. Viertel vor elf, vielleicht eine kurze Pause oder er sitzt in einem Meeting. Seit dem 2. Dezember, dem Tag nach seinem 39. Geburtstag, durfte er sich offiziell der Leiter der Entwicklungsabteilung bei MECH@TRON nennen, mit einem Dutzend Mitarbeiter unter sich. Vielleicht arbeitet er gerade seinen Stellvertreter ein. Matthias Graef, Maschinenbau-Ingenieur, erfahren in Mikrosystem- und Mikroverfahrenstechnik und bisher in der Konstruktionsabteilung beschäftigt, hatte gestern seinen Dienst angetreten. Dann gab es noch dieses strenggeheime Projekt, über das Nikolai sich in Schweigen hüllte. Ist bestimmt wieder was fürs Militär.

Kathi bohrte nie nach, was seinen Job betraf, außer er erzählte von selbst, umgekehrt dasselbe. Agreement Nummer eins in ihrer jungen Beziehung. Viele mutieren anfangs zu Kontrollfreaks und neigen dazu, alles zu hinterfragen und unablässig zu telefonieren, nicht Kathi und Nikolai. Agreement Nummer zwei lautete: Keine Anrufe während der Arbeit, außer es ging um etwas wirklich Wichtiges. Dasselbe galt für den Messenger. Sonst wurde über alles geredet.

Nur einmal war es Kathi schwer gefallen, am Samstag vor Weihnachten. Auf ihrer Terrasse beim Brunch, bei herrlichem Sonnenschein und sechzehn Grad plus, hatte sie Nikolai von ihrem Münchner Trauma von 2016 erzählt. Er sollte endlich alles von ihrem ersten tödlichen Schuss aus Notwehr wissen. Sie erzählte auch die Vorgeschichte, wie sie Rainer kennen- und lieben lernte und den eiskalten Mörder in ihm nicht erkannte. Nach dieser ›Beichte‹, wie sie es nannte, war Nikolai aufgestanden, hatte sie in den Arm genommen und »Schwamm drüber« gesagt und sie fühlte sich geborgen wie lange nicht mehr.

Tough im Job, privat mal schwach sein dürfen, das kannte Kathi bisher nicht. Noch nie funktionierte es in einer Beziehung in so kurzer Zeit so gut, wie mit Nikolai. Seit Oktober spürte sie eine große Veränderung an sich, sie wurde gelassener. Noch nie hatte sich ein Mann so große Mühe für sie gegeben, nicht nur weil er für sie kochte. Es war ja sein Hobby, bei dem er vom Job entspannte. Mit Nikolai gewannen wieder Kleinigkeiten eine große Bedeutung: Blumen, einfach so zwischendurch oder ihre Lieblingsschokolade, die er vom Einkaufen im Bioladen mitbrachte. Wertschätzung, Vertrauen, den anderen unterstützen und bestärken, Zeit miteinander verbringen ohne einzuengen, einander bereichern, das ist die Basis für eine gute und lange Beziehung.

Was ist lange, was ist gut? Plötzlich drehte sich das Ehekarussell vor Kathis innerem Auge: Bilder von Frau und Mann in jungen Jahren, vom ersten Verliebtsein, vom Eheglück bis zur Ehehölle, in der sich ausgemergelte Körper mit Totenschädeln und in Flammen stehend gegenseitig an der Kette hielten. Am Ende prangte die Inschrift ›Bis der Tod euch scheidet‹, zu deren Füßen Peter Rollner gelegen hatte. Kathi erschrak, nicht nur wegen des Schreckensszenarios, sondern wegen der Zeit. Ihre Smartwatch sagte, dass nur fünf Minuten vergangen waren. Glück gehabt! Zur Vernehmung von Zeugen kommt man nicht zu spät.

Nach etwa einer Stunde klopfte es an der Tür von B-103. Kathi, in unmittelbarer Nähe sitzend, öffnete.

»Sorry, für die Störung«, sagte Uli.

»Schon okay.«

»Das private Handy von Pit ist ned im Büro, ich hab alles abg'sucht. Die Infos auf seinem Padfone sind von gestern früh, da hammer die Synchro laufen lassen. Danach hat er nix mehr Neues notiert.«

»Und sein persönliches Verzeichnis auf dem Rechner und der E-Mail-Account?«

»Da war auch nix.«

»Hatte er für gestern Termine im Kalender stehen?«

»Nein, keine.«

»Vielleicht hatte er nicht alle eingetragen.«

»Du meinst, er hätte Geheimnisse vor mir g‘habt?«

»Keine Ahnung, du kennst ihn besser als ich.«

Uli seufzte schwer. Es schien ihn zu belasten, dass sein Kollege und Freund ihn hintergangen haben könnte.

»Die IT-Leute sollen seinen Rechner auf Herz und Nieren prüfen«, sagte Kathi. »Vielleicht finden wir Pits Handy doch irgendwo unterm Schnee. Ruf den Thomas an und sag ihm Bescheid, dass es nicht im Büro ist.«

»Okay. – Übrigens, ich hab versucht, die Jessi zu erreichen. Am Handy war nur die Mailbox dran und übers Festnetz der Anrufbeantworter. Wahrscheinlich hat sie Nachtschicht g’habt, danach haut sie sich normalerweise aufs Ohr.«

»Was arbeitet sie?«

»Sie ist Krankenschwester in der Erler. Ich probiers später nochmal bei ihr.«

Nach der Befragung dankte Kathi den Hamburgern und Paulina für ihre Zeit und fragte sicherheitshalber, ob jemand psychologische Betreuung bräuchte. Sie lehnten ab. Einige wollten ins Hotel, die anderen Mittagessen gehen. Scheinbar hatte nicht jedem der Anblick der Leiche auf den Magen geschlagen. Kathi musste sich mit einem Müsliriegel und Milchkaffee im Büro begnügen. Nebenbei prüfte sie noch einmal die Fotos der Touristen. So, wie Rollner im Brunnen lag, war er im Dunkeln sehr schlecht zu sehen, auch vor dem Schneefall. Keinem Menschen, der hier vorbeikam, konnte man einen Vorwurf machen. Kathi markierte die Fotos und schob sie mit einem Fingerwisch auf die große Digi-Pinnwand.

»Ey, du bist ja schon fertig mit den Bildern«, sagte Andi beim Hereinkommen.

»Ich hab auch der Spusi schon Kopien geschickt.«

»Die Angie und der Stolli fassen grad die Gespräche zamm und schiebens rüber.«

Während Andi die Fotos betrachtete, spitzte Rüdiger Clausen zur Tür herein. »Darf ich?«

»Immer.« Kathi winkte den fast zwei Meter großen, schlanken, 32-jährigen Jungkommissar ins Büro.

»Es gibt gute und schlechte Nachrichten«, berichtete er mit ausdrucksloser Miene.

»Bitte zuerst die guten.«

»Wir sind mit den Aufnahmen der Ü-Kameras durch. Viertel nach zehn hat es zu schneien begonnen, zuerst nur leicht, dann volle Kanne.«

»Okay, das schränkt den Todeszeitpunkt ein. Bitte Thomas und Dr. Stern anrufen.«

»Schon erledigt.«

»Gut, und die schlechte Nachricht?«

»Die Aufnahmen zeigen die Stelle nicht, an der Rollner lag. Sie ist im toten Winkel, auf allen Einstellungen.«

»Neiiiiin!«, jammerte Kathi. »Das darf nicht wahr sein!«

»Wir haben die Filme mehrmals laufen lassen, rangezoomt, vergrößert, nichts bei rausgekommen.«

»Wozu brauchen wir Kameras, wenn die bloß die Hälfte aufnehmen!«, maulte Andi. »Big Brother light oder was?«

Clausen schmunzelte über diesen Vergleich. »Angie hat die relevanten Bilder zusammengeschnitten, schaut selbst.«

Die vorselektierten Zeitrafferaufnahmen zeigten den Platz vor dem Weißen Turm am Donnerstagabend ab halb acht.

»Mich wundert, dass so wenig Leute unterwegs waren«, kommentierte Clausen die Bilder. »Donnerstagabend ist eigentlich der typische Ausgehtag und Ferien sind auch.«

Insgesamt strömten etwa drei Dutzend Passanten in Richtung U-Bahn und Wöhrl-Saturn-Parkhaus. Um 19:38 Uhr, näherte sich aus westlicher Richtung ein Mann dem Ehekarussell, um gleich wieder in dem von der Kamera nicht abgedeckten Bereich zu verschwinden: Peter Rollner.

»Mist!«, schimpfte Kathi. »Und weg ist er! Aber die Zeit passt, gemäß Zeiterfassung und Kamera am Haupteingang hat Pit das Präsidium kurz zuvor verlassen.«

»Ihm ist keiner gefolgt«, Clausen spulte vor, »und er kommt wieder zurück.«

Rollner tauchte um 19:54 Uhr wieder auf und verschwand kurz vor dem Ehekarussel wieder aus dem Bild. Ein junges Paar kam Arm in Arm angeschlendert und fuhr mit der Rolltreppe nach unten, in die U-Bahn. Danach wirkte der Platz wie ausgestorben.

»Das bedeutet, Pit starb nach 19:54 Uhr«, sagte Kathi. »Wenn es jemand auf ihn abgesehen hatte, musste er an einer Stelle gewartet haben, die die Kameras nicht abdecken. Mit Sicherheit hatte er den Platz vorher ausspioniert.«

Andi kratzte sich am kahlen Haupt. »Des Liebespärla könnten die letzten g‘wesen sein, die ihn lebend g‘sehn ham.«

Kathi nickte. »Versucht rauszukriegen wer die beiden sind und wo Pit in dieser Viertelstunde war. Schaut euch bitte auch die Tage davor an, achtet auf das gesamte Umfeld und auf verdächtige Personen.«

»Wie weit sollen wir zurückgehen?«, fragte Clausen.

»Gute Frage. – Sagen wir mal eine Woche.«

»Okay.« Er räusperte sich. »Es gibt noch eine schlechte Nachricht.«

Kathi stöhnte. »Was denn noch?«

Er startete den Schnellvorlauf, bei der Zeitmarke 22:12:01 Uhr schaltete er wieder auf normale Geschwindigkeit. Es schneite kleine, feine Flocken, plötzlich wurden sie groß wie Pflaumen und immer mehr. Eine fiese Frau Holle schüttelte nicht nur ihre Kissen aus, sondern schien den kompletten Inhalt ihrer Betten über der Stadt zu leeren. Durch das dichte Schneetreiben konnte man fast nichts mehr sehen, dann beschlugen die Kameralinsen.

»So eine Kacke!«, fluchte Kathi leise.

»Es kommt noch schlimmer.« Clausen spulte vor, bis kurz nach Mitternacht. Eiskristalle bildeten sich und zauberten wunderschöne Blumen auf die Optik. »Die Aufnahmen danach sind unbrauchbar.«

»Diese Scheißkälte!«, schimpfte Andi.

»Erst heute, ab halb neun, wurde es wieder wärmer.« Clausen sprang zu dieser Zeitmarke. Die Eisblumen waren verschwunden, aber die Linsen noch immer beschlagen.

Kathi blies Luft aus. »Zum Glück haben wir die Bilder vor dem Schneefall und können den Todeszeitpunkt einschränken, es passierte zwischen 19:55 und 22:00 Uhr. – Clausi, ihr wisst, was zu tun ist. Neue Infos a.s.a.p. an Andi und mich.«

»Alles klar.« Beim Hinausgehen gab Clausen sich mit Uli die Klinke in die Hand.

»Ich krieg die Jessi ned ans Telefon«, sagte er. »Weder am Handy noch übers Festnetz. Jetzt ist es schon dreiviertel zwei. Normalerweise ruft sie gegen Mittag den Pit immer an.«

»Jeden Tag?«

»Ja, ich hab ihr jetzt mal auf die Box gesprochen.«

»Vielleicht ist sie einkaufen. Hat sie ein Auto?«

»Ja, einen Golf.«

»Wo parkt sie den normalerweise?«

»In der Tiefgarage.«

»Hm.« Kathi kratzte sich am Kopf. »Wisst ihr was, ich fahr jetzt zum Norikus.«

»Darf ich mitkommen?«, fragte Uli. »Ich mein, weil ich sie gut kenn und ...«

»Und um ihr das von Pit schonend beizubringen.«

»Ja.«

»Okay, dann hältst du hier die Stellung, Andi.«

»Mach ich. Ich such derweil des Kennzeichen von ihrem Auto raus und stell den Antrag fürs Bewegungsprofil bei den Mautfuzzies.«

Kathi bog in die Norikerstraße ein und lenkte ihren BMW im Schritttempo an den, dem Wohnkomplex vorgelagerten, Geschäften vorbei. Fitness-Studio, Pizzeria und Frisörsalon existierten schon seit Jahrzehnten und erfreuten sich, trotz wechselnder Namen und Pächter, nach wie vor großer Beliebtheit. Nach Fertigstellung der Wasserwelt am Wöhrder See mit der Norikusbucht und der neuen Stadtoase im Jahr 2018, hatten sie einen Boom erlebt und waren modernisiert worden. Kathi und Nikolai joggten regelmäßig am See und nahmen gern eine der leckeren Holzofenpizzen mit nach Hause.

Kathi sah hinüber zu den Parkplätzen. »Alles voll.«

Scheinbar waren ferienbedingt viele Bewohner zu Hause, die über keinen Tiefgaragen-Stellplatz verfügten. Aber auch Spaziergänger, die bei mittlerweile sonnigem Wetter hier flanierten, parkten dort. Das Landschaftsschutzgebiet hatte auch im Winter seinen Reiz und bot Naherholung für jeden Geschmack. Kathi kannte ein paar Geheimtipps in Sachen Parken in den Seitenstraßen, aber jetzt war sie im Einsatz, keine Zeit, lange zu suchen. Sie stellte sich kurzerhand neben die Tiefgarageneinfahrt.

»Brrrrrr, es ist ja immer noch so kalt«, beklagte sie sich, während sie ausstiegen. Die Sonne, die die vom Schnee überzuckerte Winterlandschaft so traumhaft glitzern ließ, täuschte. Es herrschten eisige Temperaturen. Kathi zog den Reißverschluss ihres Anoraks bis nach oben und die Handschuhe an.

»Eigentlich jachd mer bei so ner Kält keinen Hund naus.« Uli stellte den Kragen seiner Lammfelljacke hoch.

Kathi schulterte ihre Umhängetasche und verriegelte den Wagen. Gemeinsam mit Uli warf sie einen Blick zum Wöhrder See. Still und friedlich lag er da. Bis jetzt waren nur die Uferbereiche und die vom vierhundert Meter langen Leitdamm begrenzte Norikus-Bucht zugefroren. Zwischen den bunten Bootshäuschen und dem Bootssteg spielte ein gutes Dutzend lärmende, dick eingepackte Kinder. Ihre Mütter sorgten mit wachsamen Augen dafür, dass sie das dünne Eis des Wasserspielplatzes nicht betraten.

Ein sonores Geräusch näherte sich. Der rote Mini-Elektro-Schneepflug kam direkt neben Kathi und Uli zum Stehen. Ein stämmiger, breitschultriger Mann Ende fünfzig, in einen dicken, khakigrünen Daunenparka eingemummt, sprang aus dem verglasten Cockpit und begann sogleich zu wettern.

»Herrschaften, da könnts fei ned schdeehbleibn, sonst werds abg‘schleppt! Hier gilt die StVO.« Das S zischte er wie eine Schlange und gar nicht fränkisch-soft wie er sonst redete.

»Wissen wir.« Kathi stellte sich und Uli vor. »Starck, Kripo Nürnberg, das ist mein Kollege Sauer.«

Sie zeigten ihre Dienstausweise, die sehr genau beäugt wurden. »Grüß Gott, Frau Kriminalhauptkommissarin, Herr Kriminaloberkommissar.«

Kathi nickte. Na, der nimmts aber genau. »Grüß Gott. Und Sie sind?«

»‘Tschuldigung, Krappmann, Hans. Bin der Hausmasta.«

»Herr Krappmann, wir ermitteln hier und müssten bitte in die Tiefgarage«, sagte Kathi freundlich.

»Kein Brobleem, soll ich sie hinbringen?«

»Ich kenn mich hier aus«, sagte Uli.

»Aber ohne meine Chipcard kommens ned durchs Gitter«, sagte Krappmann. »Gehns schon mal vor, ich fahr schnell des Gerät da weg.«

Die Höhe der Ein- und Ausfahrtszone, durch neonrot und weiß gestreifte Betonpfeiler getrennt, betrug laut Gebotsschild 3,60 Meter. Hoch genug für die Trucks der Müllabfuhr, um die rechts nach der Einfahrt in Reih und Glied stehenden Restmüll-, Bio- und Papierrollcontainer zu leeren. Kathi folgte Uli in den düsteren Betontunnel, der sich nach hinten in Breite und Höhe verjüngte. Ihre dumpf hallenden Schritte muteten an, als betraten sie einen Bergwerksstollen. Ihr Weg endete an einem massiven Stahlgitter, das die gesamte Durchfahrt versperrte. Ein Schild warnte: ›Nur für Hausbewohner mit Owner-Cards und Fahrzeuge max. 2 m Höhe‹. Darüber prangte unübersehbar in Großbuchstaben SCHRITTTEMPO UND LICHT EIN!

Ein lautes Wummern ließ sie und Uli gleichermaßen zusammenfahren. Wie durch Geisterhand und mit einem kreischenden, metallischen Schleifgeräusch öffnete sich das Gitter wie ein riesiges Maul.

Krappmann trat zu ihnen und ließ den Sensor-Key grinsend in der Seitentasche seines Parkas verschwinden. »Ich hoff, Sie sin ned erschroggn.«

»Nein, nein«, schwindelte Kathi. »Danke fürs Öffnen.«

»Soll ich mit neikommen, mir ham hier 600 Schdellplätz.«

»Ich kenn den Weg«, sagte Uli. »Wir müssen zu A 78.«

»Aha, des Audo von der Frau Kleine!«

Kathi staunte Bauklötze. »Das wissen Sie auswendig?«

Der Hausmeister grinste. »Ich kenn fast alle. Des is a Hobby von mir, a bissla Gedächtnistraining.«

Kathi nickte anerkennend. »Kann sein, dass wir noch Fragen an Sie haben, Herr Krappmann. Wo finden wir Sie?«

»Gleich links um die Ecke ist unser Leitstand, da sitzt entweder der Kollege Mayer oder ich. Wenn ich ned da bin, ruft er mich an.«

Im ersten Parkdeck roch es unangenehm nach Abgasen, trotz der modernen Abluftanlage mit überdimensionierten Jet-Ventilatoren. Dank der LED-Beleuchtung, war es hier um Einiges heller als in der Einfahrt, nirgendwo gab es dunkle Ecken. Ein silbergrauer Golf älteren Baujahres, mit dem amtlichen Kennzeichen N-JK 342, stand auf Platz A 78.

»Das ist ihr Auto«, sagte Kathi, als sie es mit den von Andi geschickten Daten verglich.

»Daneben parkt normalerweise der Pit«, erklärte Uli den freien Platz linkerhand.

»Alles knochentrocken, da stand seit gestern keiner.«

Karosserie und Scheiben von Jessicas Golf wiesen einen feinen Schmutzfilm auf. Mit Ausnahme der Stellen an Front und Heck, an denen die Wischer ihr Werk verrichtet hatten. Unter den Reifen standen kleine Wasserpfützen vom getauten Schnee, vermischt mit Streusalz und Rollsplitt. Kathi und Uli sahen ins Innere des verschlossenen Autos. Auf der Rückbank lagen eine Fleecedecke und ein Regenschirm, im Fußraum auf der Beifahrerseite Eiskratzer, Besen und Enteisungs-Spray.

Das nenne ich vorgesorgt, dachte Kathi. Ich muss den Kram auch noch aus dem Keller holen.

Auf dem Weg zum Fahrstuhl sah sie sich weiter um, die Decke interessierte sie besonders. »Kameras, sehr gut.«

Ohne Unterbrechung ging es in die neunzehnte Etage, Pits Wohnung lag im höchsten Gebäude mit zweiundzwanzig. Kathi fragte sich schon immer, wie man freiwillig in so einen Betonbunker ziehen konnte. Sie empfand den Norikus-Komplex als störende Bausünde in einem Naturschutzgebiet. Sie erinnerte sich an Anja, eine Freundin aus der sechsten Klasse, die mit Eltern und Bruder auf knapp achtzig Quadratmeter im halb so hohen Nachbargebäude wohnte. Nicht gerade üppig im Vergleich zu Kathis fünfundzwanzig Quadratmeter großem Zimmer in ihrem Elternhaus in der Ebenseestraße in Mögeldorf, einer renovierten Villa aus der Gründerzeit. Ein eigenes Bad und eine kleine Terrasse auf dem Garagendach hatten auch dazugehört.

Fürs Wohnen im Norikus sprachen die reizvolle Lage am Wöhrder See und die guten Nahverkehrsanbindungen. Mit Bus, S- und Straßenbahn erreichte man in wenigen Minuten den Hauptbahnhof und die Innenstadt. Trotz der freundlichen Innenanstriche lag noch immer der Charme der 1970er Jahre in den Gebäuden mit den nicht zu enden scheinenden Gang-Fluchten und dem kalten Kunstlicht. Wenigstens gab es in jeder Wohnung einen Balkon, in den obersten Etagen sogar Dachterrassen. Man kannte vielleicht seine direkten Nachbarn, sonst herrschte Anonymität, kein Wunder bei knapp zweitausend Bewohnern. Hier lebten Menschen jeder Couleur: Familien, kinderlose Paare, Singles und Rentner. In manchen Appartements gingen Callgirls ihrem Gewerbe nach, natürlich nicht offiziell. Dazu kamen Vierbeiner aller Größen und Rassen.