Positronenfalle - LiLo Seidl - E-Book

Positronenfalle E-Book

LiLo Seidl

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Beschreibung

Dr. König liegt tot im Testlabor bei MECH@TRON, dem größten, deutschen Rüstungsunternehmen. Der Physiker arbeitete mit Positronen - Antimaterie, gezähmt, aber nicht ungefährlich. Ein tragischer Betriebsunfall? Mitnichten! Nürnbergs Top-Kommissarin Kathi Starck ermittelt: Der heimtückische Mord war eine Verdeckungstat für Industriespionage und Bestechung in Millionenhöhe. Nikolai Liebermann, Königs attraktiver Assistent, gerät in Verdacht. Ist sein Alibi wasserdicht? Kathi rotiert, ausgerechnet jetzt verschießt Amor seine Pfeile. Bald gibt es wieder zwei Tote, innerhalb weniger Stunden. Der Killer ist ein Profi, er mordet leise mit Pfeilgift und hat auch Kathi im Visier.

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Ich weiß nicht, welche Waffen im

nächsten Krieg zur Anwendung kommen,

wohl aber, welche im übernächsten:

Pfeil und Bogen.

Albert Einstein (1879-1955)

Inhaltsverzeichnis

Düstere Ein- und Ausblicke

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Bobbsidrohnen

Anhang

DÜSTERE EIN- UND AUSBLICKE

MECH@TRON, Nürnberg, Noris-Gewerbepark Bizarr weit geöffnete, tote, graue Männeraugen starrten an die Decke des Testlabors, das einem Erfinder vom Schlag eines Daniel Düsentrieb allerhöchste Freude bereiten würde. Aus einem Turm von Oszilloskopen und anderen digitalen Messgeräten mündete ein Kabel-Wirrwarr, zu einem halben Dutzend armdicker Stränge gezähmt, in einen grauen Würfel am Boden. An der Wand klebte das scharfe 3D-Farbfoto eines mikroskopisch vergrößerten Risses vom 8. Oktober 2024, genau eine Woche alt, daneben mehrere vergilbte A4-Ausdrucke in Schwarzweiß mit einem ähnlichen Motiv. Unter dem verblassten Leuchtmarker konnte man das von Hand gekritzelte Datum 10.09.2014 gerade noch lesen. Die Menschen die hier arbeiteten, schwelgten scheinbar in Nostalgie.

Dr. Dr. Walter König, so der Name des Toten, lesbar am Gürtel hängenden Betriebsausweis, schien in Sachen Kleidung ebenfalls den Retro-Look vorzuziehen: kariertes Hemd, helle Chino-Hosen und Socken mit klassischem Rautenmuster. Ungewöhnlich war die Wasserlache, in der er lag. Der Inhalt konnte nur von der Mineralwasserflasche stammen, die unter den Konsolentisch gerollt war. Ebenso ungewöhnlich: Die neben seinen Füßen liegenden, ausgetretenen Birkenstock-Pantoletten, eigentlich verbotenes Schuhwerk in einem Hightech-Labor. Ihn musste der Tod plötzlich ereilt haben, vielleicht ein Stromschlag? Gefahrenquellen gab es hier eine Menge.

In der Mitte des 30 Quadratmeter großen und knapp 2,50 Meter hohen Raumes thronte hinter zwei Panzerglastüren eine fast bis an die Decke reichende, mächtige Apparatur bestehend aus einem Konglomerat mattsilbriger Metallzylinder, Würfel und Röhren, in die ebenfalls armdicke Kabelstränge führten. Schwarz-gelbe Aufkleber warnten unübersehbar vor Radioaktivität, Hochspannung und vor achtlosem Zutritt. Diese Anlage nahm in der Grundfläche gut ein Viertel des Raumes ein und wurde von der nur wenige Schritte entfernten Konsole bedient, ausgestattet mit zwei großen, in den Tisch eingelassenen Touch-Panels und zwei High-Performance-LED-Monitoren mit jeweils 27 Zoll Diagonale. Nachtschwarz wirkten sie wie Monolithen im taghellen Kunstlicht. Gegenüber der Bedienkonsole befand sich ein langer Arbeitstisch mit Werkzeug, einem Dutzend kleiner, schwarzer Kunststoff-Boxen, auf denen jeweils ein iQR-Code und ein Schild mit ›Probe‹ klebte, daneben ein Laserscanner und ein E-Mikroskop mit Viewer. Der schlichte Schreibtisch nahe der Tür und der alte Bürostuhl mit dem teilweise abgewetzten Polster nahmen sich im Vergleich mit der Hightech-Anlage geradezu archaisch heraus. Ein aufgeklappter Aktenordner lag auf einigen entrollten Schaltplänen.

Hatte König über diesen Unterlagen gebrütet, bevor er zur Konsole hinüberging, zu deren Füßen er jetzt lag? Was hatte er zuletzt gesehen, kurz vor dem letzten Atemzug? Seine Gesichtszüge ließen auf Erschreckendes schließen. Sah er Bilder von den Gräueln, welche die neuen Waffensysteme seines Arbeitgebers MECH@TRON, Deutschlands führendem Rüstungsproduzenten, anrichten könnten? Noch mehr Tote, noch entsetzlichere, blutigere Kriege als bisher? Sah er Massen zerfetzter, bis zur Unkenntlichkeit verbrannter oder pulverisierter Soldaten auf den Schlachtfeldern, tote Zivilisten zwischen zerbombten Gebäuden, dem Erdboden gleichgemachte Städte und entvölkerte Landstriche? Klebte Blut an seinen Händen, weil er mit seiner Arbeit nicht unwesentlich dazu beitragen würde? War er deswegen unkonzentriert und unachtsam gewesen und hatte die Sicherheitsvorkehrungen missachtet?

Die Bestrebungen der Politiker, Kollateralschäden bei Kampfhandlungen auf einem niedrigen Level zu halten, hielten die meisten Militärs ohnehin für kontraproduktiv. Tote unter der Zivilbevölkerung hatte es schon immer gegeben, sollten im Feindesland ruhig ein paar mehr Mütter mit ihren Kindern draufgehen. Es würde eine halbe bis eine Generation dauern, bis für den Kampf einsetzbare Soldaten herangewachsen wären. Nur ein toter Feind ist ein guter Feind!

Hatten König die geistigen Ergüsse dieser kranken Militärgehirne zu schaffen gemacht? War so etwas wie Moral in ihm erblüht und ihm Selbstmord als einziger Ausweg erschienen? Durch einen Griff zum falschen Schalter, an ein schlecht isoliertes Kabel? Dem Aussehen nach war er etwa Mitte 50, demnach könnten auch eine Midlife Crisis, Zukunftsängste, Burn Out, Depressionen verstärkende Faktoren gewesen sein. Oder hatte er befürchtet, von Jüngeren überrannt zu werden, die berufliche Konkurrenz und den Stress nicht mehr verkraftet, ein plötzlicher Herztod?

1

Eine Hand in royalblauem Latex schloss behutsam Königs Augen. Kriminaltechnikerin Sabine Hoch stand auf und hielt mit ihrem Kollegen Thomas Schneider kurz inne. Das taten sie immer ›danach‹. Ihre Gesichter waren noch hinter Schutzbrille und Mundschutz verborgen, aber durch Sabines Körpergröße von nur 1,56 Metern und die sich deutlich abzeichnenden, weiblichen Rundungen konnte man die beiden in ihren weißen Ganzkörperoveralls gut unterscheiden.

»Hallo, zusammen«, begrüßte Kathi Starck, um Freundlichkeit bemüht, die Spurensucher über das rot-weiße Band hinweg, das den Bereich um den Toten großzügig absperrte.

»Hallo, Kathi«, erwiderte das Duo.

Sieh einer an, Frau Kriminalhauptkommissarin sind auch schon da! Thomas sah zur Digital-Uhr über der Tür. Fünf vor zwölf, Volltreffer! Was hat denn heute so lange gedauert? Sonst ist sie doch auch pünktlich, die Uhr könnte man nach ihr stellen! Aber wenn ich mir ihre sauertöpfische Miene so anschaue, heieiei! Irgendwas geht ihr schon wieder gegen den Strich. Sie ist ja eigentlich ganz nett, aber wenn sie schlechte Laune hat, möchte man ihr weder im Dunkeln noch im Hellen begegnen. Zum Glück sieht man ihr das an und es bedeutet: Leg dich nicht mit mir an, zieh Leine! Beides lag Thomas fern, schließlich mussten sie zusammenarbeiten, also wie üblich alle Fragen möglichst präzise beantworten.

»Gott, ist es hier hell!«, beschwerte sich Kathi über das blendende, weiße Licht der LED-Schienen an der Decke. Als sie erfuhr, dass sie in ein Kellerlabor musste, hatte sie mit einem spärlicher beleuchteten Raum gerechnet. Schon draußen im Flur, hier im ersten Untergeschoss von Bau II, herrschte Tageslicht, was sie ziemlich übertrieben fand. Durch die weißen Wandpaneele und den hellen Bodenbelag schien er wie ein unendlich langer Tunnel, von dem in gewissen Abständen Türen abgingen. Das Polizisten-Duo in ihren dunkelblauen Uniformen und die beiden schwarz gekleideten Security-Mitarbeiter vor der Zugangsschleuse zum Labor wirkten aus der Entfernung wie dunkle Pfosten vor dem sterilen Weiß.

»Glück für uns«, nahm es Thomas gelassen. »So brauchten wir unsere Strahler nicht aufzubauen.« Er schoss noch ein paar Fotos mit der 3D-Kamera und nahm den Mundschutz ab.

»Hat dich der Andi schon informiert?«, erkundigte sich Sabine. ›Der Andi‹, sie sprach von Kathis rechter Hand Kriminaloberkommissar Andreas Steppendorff, der von Beginn an mit am Tatort war.

»Ja, er hat mir vorhin ein paar Infos zugeschickt. Der Tote ist Dr. Walter König, Leiter der Entwicklungsabteilung, und sein Assistent Dr. Liebermann hat ihn gefunden.« Kathi zog Latex-Handschuhe an und beugte sich über die Absperrung. »Wisst ihr schon einen ungefähren Todeszeitpunkt?«

»Etwa halb acht heute früh«, meinte Thomas.

Kathi nickte anerkennend. »Das ist aber ziemlich genau.«

»Laut Zugangskontrolle kann es nur zu dieser Zeit gewesen sein. Als wir herkamen, so um neun, war noch keine Leichenstarre eingetreten.«

»Und die Todesursache?«

»Herzstillstand durch Stromschlag.«

»Komm ruhig näher«, forderte Sabine sie auf. »Wir sind hier fertig.«

»Okay, dann brauch ich keinen Anzug.« Kathi hob das Absperrband an und schlüpfte darunter hindurch.

Sabine ging in die Hocke und zeigte auf die Hand des Toten. »Die Ein- und Austrittsspuren sind eindeutig.« Dann schob sie den Stoff des Hosenbeins etwas hoch und legte die hässlichen, grau-schwarzen Strommarken an Königs Wade frei, die in der Rautenmustersocke verschwanden.

Kathi sah sich die Verletzung genau an, dann fiel ihr Blick auf die Birkenstocks. Der ist ja förmlich aus den Latschen gekippt, dachte sie. Das war keineswegs pietätlos, sie respektierte die Würde eines Toten, ließ sich aber hin und wieder zu solchen Gedanken hinreißen. Meistens blieben sie unausgesprochen, aber sie halfen ihr, sich an Details zu erinnern. Egal ob tot oder lebend, Kathi sah anderen Leuten immer auf die Schuhe, ein schon immer beherzigter Ratschlag ihrer Lieblingsoma Therese Blümlein ›Gepflegtes Schuhwerk ist eine Visitenkarte und weist auf den Charakter seines Trägers hin‹. Normalerweise reichte Kathi ein kurzer Blick von Kopf bis Fuß, um einen ersten Eindruck von einer Person zu gewinnen. Was manche Leute an den Füße trugen war schlichtweg eine Beleidigung: abgewetztes Leder, kaputte Absätze … aber sonst aufgetakelt sein, nach dem Motto ›Oben hui, unten pfui‹. Unmöglich, aber hier typisch Physiker-Nerd. Außerdem entsprachen die Schuhe von Dr. König garantiert nicht den Sicherheitsvorschriften für so ein Labor.

»Ein Stromschlag, hm.« Kathi überlegte und warf einen Blick zu den möglichen Stromquellen. »Und woher?«

Sabine richtete sich wieder auf und wies zur Konsole. »Das linke Panel dort stand unter Strom.«

»Oh!« Erschrocken trat Kathi einen Schritt zurück.

»Keine Sorge, er ist aus.«

»Dann haben Klimaanlage und Licht einen eigenen Stromkreis.«

»Ja, hier gibt es sogar drei voneinander getrennte«, erklärte Thomas. »Klima, Licht, einen für diesen Riesenapparat hinter Glas und einen fürs andere Equipment.« Er bemerkte, dass Kathi das schwarz-gelbe Dreieck an der linken Panzerglastür fixierte. »Ich kann dich beruhigen, Strahlung wurde auch keine freigesetzt.«

Das fehlte gerade noch, das wäre im wahrsten Sinne des Wortes der GAU des Tages! »Okay«, seufzte Kathi erleichtert. »Und wie konnte dieses Panel unter Strom stehen?«

»Siehst du die Flasche?« Sabine wies auf die mit Beweisnummernschild vier versehene Mineralwasserflasche, die unter der Konsole auf dem Boden lag. »Sie ist umgefallen, der Inhalt lief übers Panel und der Rest verteilte sich auf dem Fußboden. Dr. König fiel mitten in die Lache.«

»Ach so, ich dachte er hätte sich eingenässt.« Kathi wunderte das nicht, es kam häufig vor, dass sich bei einem Menschen die Blase im Todeskampf entleerte.

Sabine schüttelte den Kopf. »Das würde man noch riechen und außerdem wäre er um den Hosenstall herum nass. Es ist das Zeug aus der Flasche.«

»Aber wie soll das funktionieren?« Soviel Ahnung von fließendem Strom hatte Kathi, dass noch etwas anderes im Spiel sein musste. »Wasser in dieser Menge kann keinen tödlichen Stromschlag auslösen, man kriegt eine gewischt wie bei nem Elektro-Weidezaun, mehr nicht.«

Sabine nickte. »Stimmt, meine Liebe. Ich sagte auch nichts von Wasser.«

»Kein Wasser, was dann?« Kathi zog eine Augenbraue hoch, sie hasste es, wenn sie Informationen nur scheibchenweise bekam.

»Der pH-Wert liegt unter 1,5. Es wurde definitiv mit einer Säure vermischt, damit es besser leitet, könnte verdünnte Salzsäure sein. Wir prüfen das im Labor genau.«

»Okay, dann hat jemand gepanscht. Gibts brauchbare Fingerabdrücke?«

»An der Flasche fand der Scanner nichts, am Panel nur vom Toten, sonst massig von allen die hier drin arbeiten.«

»Habt ihr die schon abgenommen?«

»War nicht nötig, wir haben die Datei mit den Finger- und Handflächen-Prints von der Security.«

»Verdünnte Salzsäure in einer Wasserflasche.« Kathi schürzte die Lippen. »Dann hatte dieser Dr. Liebermann Recht mit seiner Annahme, König wurde ermordet.« Sie kramte in ihren grauen Zellen krampfhaft nach Erinnerungen an den Physikunterricht im Gymnasium. »Und wie soll der Strom fließen? Wo ist die Verbindung?«

»Der Mörder hat auch das Panel präpariert. Dr. Liebermann sagte, es wurde gestern erst neu eingebaut, das alte hatte einen Defekt.«

»Wie kam er auf das Panel?«

»Damit fährt man dieses Monstrum hinter Glas hoch.«

»Okay, und wann wurde es eingebaut?«

»Gestern Nachmittag, es hat einwandfrei funktioniert. Irgendwie ist es dem Täter gelungen später eine dünne Metallfolie an der Kante anzubringen, die zu einer Starkstromquelle unter der Konsole führt.« Thomas zeigte auf den unauffälligen silberfarbenen Streifen. »Außerdem hat er die Oberfläche eingesprüht, damit der Strom besser fließt, ich tippe auf ein transparentes Kontaktspray.«

»Das habt ihr alles schon rausgefunden? – Respekt!«

»Danke, war nicht so schwer. Das Zeug pappt noch an einer Ecke.«

»Eigentlich ganz simpel«, meinte Kathi.

Sabine nickte. »Simpel, aber wirksam. Der Plan des Täters ging auf. Dr. König will die Anlage hochfahren, stößt an die Flasche, sie kippt um …«

»Oder jemand stößt sie um«, verbesserte Kathi.

»Ja, oder so«, akzeptierte Sabine. »Die Flüssigkeit läuft übers Panel, König will sie wegwischen, was normalerweise nicht gefährlich ist, und PATSCH! kriegt er den Schlag. Exitus! Und kurz darauf taucht Liebermann hier auf.«

»Moooment!« Kathi hob die Hand. »Du hast gesagt, König starb etwa um halb acht. Wann genau kam Dr. Liebermann und wie lange war er hier?«

Thomas sah Sabine fragend an. »Keine Ahnung.«

»Keine Ahnung?« Kathi rollte mit den Augen. »Leute, bitte!«

»Jetzt warte halt mal«, beschwichtigte Thomas sie. »Ich glaube, er sagte zehn nach halb acht. Nachdem er festgestellt hat, dass König tot ist, hat er die Security informiert und ist wieder raus. Als wir mit dem Andi hier angerückt sind, hat der Chef der Security uns hierher begleitet, einer seiner Mitarbeiter, Frau de Boer und Dr. Liebermann haben draußen im Flur gewartet.«

»Waren die alle hier?«

»Ja, ich glaube schon. Sie wollten sich kurz selbst ein Bild machen.«

»Hier gings ja zu wie am Plärrer!«, meckerte Kathi. »Hat Frau de Boer etwas gesagt?«

»Sie hat Dr. Liebermann hier abgestellt, falls wir Fragen zu der ganzen Technik haben und wir können sie jederzeit anrufen. Sie hat dafür gesorgt, dass die Zutrittskontrollen hier ausgeschaltet bleiben, damit wir ungehindert rein- und rauskönnen. Darum stehen auch zwei von ihren Wachleuten draußen.«

»Traut sie den Polizisten nicht?«

»Die haben hier ein strenges Sicherheitskonzept.«

»Ich will die genauen Zeiten, zu denen die drei das Labor heute betreten haben und wieder raus sind, auch die von gestern und die von allen anderen Figuren, die hier ein und ausgehen!« Nach diesem langen Satz musste Kathi kurz Luft holen.

»Schau halt nach, vielleicht hat dir der Andi die Liste schon geschickt!«, schlug ihr ein leicht gereizter Thomas vor.

»Herrgott!«, fluchte Kathi kaum hörbar. »Wer weiß, wie lange die über die Spuren getrampelt sind!« Sie holte ihr Padfone aus der Umhängetasche, die sie vorhin neben dem Schreibtisch abgestellt hatte, und kontrollierte es auf neue Nachrichten. Die von Andi zauberte kurz ein Lächeln auf ihr Gesicht, auf ihn war einfach Verlass. Sie öffnete die Liste mit einem Fingerwisch und studierte die Einträge.

15.10.2024 – 7:24 h – Dr. Dr. Walter König – IN

15.10.2024 – 7:38 h – Dr. N. Liebermann – IN

15.10.2024 – 7:42 h – René Hofbauer – IN

15.10.2024 – 7:43 h – René Hofbauer – OUT

15.10.2024 – 7:44 h – Dr. N. Liebermann – OUT

DOOR LOCKED

»Liebermann war heute Morgen vier Minuten allein.«

»Nicht sehr lange«, meinte Thomas.

»Vier Minuten dürften reichen, um jemanden umzubringen.«

»Verdächtigst du ihn?«

»Er kennt sich hier aus und ist der Einzige, der sich abgesehen von uns und Dr. König länger hier aufgehalten hat, außerdem alleine. Er könnte Handschuhe getragen haben.« Kathi wies mit einem deutlichen Kopfnicken auf die Box auf dem Arbeitstisch.

»Jetzt warte mal den Bericht ab.«

»Hoffen wir, dass die Liste nicht manipuliert ist.«

»Du siehst aber Schwarz heute.«

»Verdammt, da bin ich einmal später dran und …!« Kathi würde am liebsten etwas gegen die Wand donnern. Sie sah sich um, entdeckte aber nichts Zerbrechliches. Musste das ausgerechnet heute passieren!

***

Dabei hatte dieser Dienstag so perfekt begonnen, wie ein Arbeitstag nicht perfekter hätte beginnen können: Nicht verschlafen, in Ruhe mit Milchkaffee und Bambergern gefrühstückt und dabei die NN gelesen, die Nürnberger Nachrichten. Aber nicht online, eine Tageszeitung musste bei Kathi aus Papier sein, sie wollte darin blättern und die Druckfarbe riechen können. Ihr Auto auf dem gemieteten Platz vor dem Haus war nicht zugeparkt und der Verkehr überraschend normal für viertel nach acht, keine Spur von Rush-Hour.

Auf ihrem üblichen Fahrweg von Gleißhammer ins Polizeipräsidium herrschte grüne Welle bis zur ersten roten Ampel am Frauentorgraben. Höhe Opernhaus fuhr ihr ein dämlicher Benz-Fahrer, der seinen AMG-Boliden nicht im Griff hatte, mit Karacho hinten drauf. Er riss den Stoßfänger ihres BMW X3E ab, drückte den Kofferraum ein und der Auspuff hing sozusagen nur noch am Seidenen Faden. Sie fragte sich schon lange, warum solche Autos bei Spritpreisen von 2,88 Euro pro Liter für Superbenzin überhaupt noch gebaut wurden, aber die Bonzen habens ja. Gerechtigkeit muss sein, er lädierte auch seine Front. Typisch Mercedes, jeden erdenklichen technischen Firlefanz im Auto, dann dreht der Fahrer die Musik bis zum Anschlag auf und hört das Signal des Abstandssensors nicht.

Jedenfalls hatte die Pre-Safe-Bremse der Karosse kläglich versagt. Solche Leute sollten lieber auf selbstfahrende Autos umsteigen. Auch keine ideale Lösung, Smart-Bedienfelder, Key-Free-System, intelligente Navis, Einpark-Assistent, IPS, ESP und SPA – schön und gut, aber wenn die Technik den Menschen zu viel abnimmt, verlernen sie das Denken. Die digitale Demenz schritt ohnehin zu schnell voran. Und weil es so schön war, rammte ein weiterer Idiot von Mercedes-Fahrer mit einem ›G‹ älteren Baujahrs und nicht weniger Pferdestärken unter der Haube ihren Unfallgegner von hinten. Wenn, dann richtig! Kathi wusch ihre Hände in Unschuld, sie war nicht zu schnell gefahren und hatte vorschriftsmäßig an der roten Ampel gehalten, selbstredend als Gesetzeshüterin. Ihr Angreifer gab den Fahrfehler sofort zu und wedelte mit seiner Versicherungskarte vor ihrer Nase. Der Fahrer des Geländewagens öffnete beiläufig seine Luxus-Lederbrieftasche und startete den Versuch, es ohne Polizei zu regeln. Er entschuldigte sich kleinlaut, als Kathi ihm ihren Dienstausweis zeigte.

Zum Glück war alles ohne Verletzte abgelaufen, aber auch Blechschäden sind ein großes Ärgernis und zeitraubend: Anruf bei der Verkehrspolizei, warten, der zweite in der Werkstatt wegen des Abschleppwagens, wieder warten, dann der übliche Bürokratismus mit den Polizeikollegen und schließlich der dritte Anruf ins Büro. Andis Nummer war zu ihrer Überraschung aufs Mobiltelefon umgeleitet.

»Allmächd!«, rief er nach ihrem Bericht in ein paar dürren Sätzen. »Des is ja blöd! Aber du brauchst eh ned ins Büro kommen, mir ham einen ungeklärten Todesfall bei MECH@TRON im Norispark.«

»Kann das nicht der Jürgen übernehmen?«

»Naa, der ist krank.«

»Scheiße! – Sorry.«

»Kaa Brobleem«, meinte Andi gedehnt.

»Hier dauerts aber noch einige Zeit.«

»Kommst halt nach. Soll ich dir an Waang schicken?«

»Nein, ich nehm mir ein Taxi.«

»Brauchst die Adresse, ich schick sie dir aufs Pad.«

»Nein, ich weiß wo die sind.«

»Dann schick ich dir alles, was ich sonst an Infos rauskrieg.«

***

Auf Andi konnte Kathi sich immer verlassen. ›Der Andi‹, wie er von allen Kollegen genannt wurde, legte auch nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Seit fast drei Jahren arbeiteten sie als bilaterales Gespann und es funktionierte. Endlich konnte Routine einkehren, denn die anderen beiden Schnösel, die man ihr nach ihrer Rückkehr aus München zugewiesen hatte, wollten eine Frau als Vorgesetzte nicht akzeptieren.

Wie versprochen, hatte Andi ihr die wichtigsten Informationen zum Fall aufs Padfone geschickt. Die ultraflachen und leichten Sechs-Zoll-Geräte, eine geniale Kombination aus Smartphone und Tablet und im täglichen Gebrauch nicht mehr wegzudenken, verfügten über eine 24-Megapixel-Kamera, ein Spezialmikrofon und das Memofeld konnte man mit einem I-Pen beschreiben. Falls man beide Hände nicht frei hatte, sprach man auf die dazugehörige Smartwatch, welche die Daten sofort ans Pad sendete. In der Ausführung für die Polizei gab es zudem ein unverzichtbares Tool: VOICESELECT, eine Spracherkennungs-Software. Aus Zeugenaussagen, am Ort des Geschehens aufgezeichnet, generierte das Programm eine Textdatei. Stressbedingte Veränderungen in der Stimme, zum Beispiel wenn der Zeuge log, wurden registriert, entsprechend farbig markiert und die Datei später mit dem diktierten Protokoll ausgedruckt. Die lästige Schreibarbeit fiel weg.

Während der Fahrt zu MECH@TRON hatte Kathi auf der bequemen Rückbank des Taxis die Dateien von Andi genau studiert, auch die Vita des Mordopfers: Dr. Dr. Walter König, geboren 2.10.1970 in Bonn ledig; Studium der Physik und Chemie an der FWU Bonn, herausragende Doktorarbeiten auf beiden Gebieten. Sie brauchte den wissenschaftlichen Teil nur zu überfliegen, um zu dem Schluss zu kommen, dass er eine Koryphäe in der Teilchenforschung war. Er hatte Forschungs-Stipendien in Finnland absolviert und am Helmholtz-Institut für Strahlen- und Kernphysik in Bonn gearbeitet. Im Alter von 32 Jahren wurde er bereits stellvertretender Leiter der Abteilung Materialforschung, mit 34 habilitierte er in Physik mit dem Thema ›Identifikation atomarer Fehlstellen in Metallen und Halbleitern‹, was ihm eine Professur im Helmholtz-Institut bescherte. 2008 wurde er schließlich Leiter der Abteilung für Materialforschung und sechs Jahre später ging er zu MECH@TRON.

Kathi warf einen Blick auf den Toten und rätselte, was ihn veranlasst haben könnte, nach einer steilen Karriere an einer der renommiertesten Universitäten Europas plötzlich in die Privatwirtschaft zu wechseln. Lockte ihn ein besseres Gehalt? 54 Jahre alt und ledig beschäftigte sie auch. Vielleicht war er ja mit seinem Beruf verheiratet und ein genialer Kauz, wie viele Wissenschaftler. Warum wurde er ermordet und von wem? Hätte dieser Dr. Liebermann ein Motiv?

»Wie hat der Täter verhindert, dass Dr. König aus der Flasche trinkt?«, fragte sie in die Runde und antwortete gleich selbst. »Er muss hier gewesen sein.« Sabine und Thomas sahen sich an, nickten und lauschten weiter. »Er hat sie an der richtigen Stelle platziert, ist mit Absicht daran gestoßen, hat es aber als Versehen abgetan. König langt hin, ta-ta!«

Sabine nickte. »Nachvollziehbar und es ist noch einfacher, wenn Täter und Opfer sich kennen.«

Das bestätigte Kathis Annahme. »Wie Liebermann.«

»Also ich weiß nicht.« Sabine schüttelte den Kopf. »Der macht eigentlich einen ganz netten Eindruck.« Sogar einen sehr netten, fand sie und kam wieder heimlich ins Schwärmen. Er ist so schön groß, hat ne tolle Figur und mit seiner Brille sieht er richtig süß aus, genau mein Typ. Wahrscheinlich hat er mich gar nicht bemerkt, in diesem doofen Overall sehe ich aus wie eine drollige Putte. Der Doc wird auf schlanke 1,70-Blondinen wie Kathi stehen. Dabei kriegen die eh leichter einen ab, Kathi ist eine Ausnahme. Wenn eine mit 42 Single ist, selber schuld, das liegt an ihrer spitzen Zunge. Und welcher Mann steht schon auf so ein toughes Auftreten. Scheinbar nicht mal die Jungs in ihrem Boxclub oder beim Taekwondo.

»Und wenn er nur so nett tut und euch was vorgespielt hat?«, stellte Kathi in den Raum. »Denkt doch mal nach, er tippte von Anfang an auf Mord. Es hätte genauso gut ein Unfall sein können bei dem ganzen elektrischen Zeug hier!«

»Ich glaube, der ist so intelligent und kann eine Situation schnell einschätzen«, meinte Sabine. »Das Panel, die Flüssigkeit – ein Physiker weiß, dass Wasser in dieser Menge keinen tödlichen Stromschlag auslösen kann.«

»Ist Dr. Liebermann vorhin mit dem Andi gegangen?«, wollte Kathi wissen.

»Nein, schon vorher«, sagte Thomas. »Mitten in den Erklärungen ist ihm aufgefallen, dass sein Hosenbein feucht ist.«

Kathi riss die Augen auf. »Wie bitte?«

»Nicht was du denkst, beim Fühlen von Königs Puls hat er in der Pfütze gekniet und es nicht gleich bemerkt. Man hat es kaum gesehen auf der Jeans, aber in unserem Beisein war es ihm scheinbar peinlich. Er hat dran rumgefummelt, dann ist er kreidebleich geworden und musste an die frische Luft.«

Kreidebleich, frische Luft? dachte Kathi. Blödsinn, der wird Dreck am Stecken haben! Ihre Nackenhärchen gingen in Hab-Acht-Stellung. »Herrgott, das erfahre ich jetzt erst!«

»Entschuldigung!«, maulte Thomas und dachte: Frau Kommissarin sind heute aber extrem gereizt! Kein Wunder, dass sie ihre Mitarbeiter so verschleißt. Der Andi ist eine Ausnahme, der hat ein ziemlich dickes Fell und kann ihre Launen ertragen, als Fan des 1. FC Nürnberg ist man leidensfähiger als andere. Den Satz ›Anner, der mit‘m Glubb aufg‘wachsen is, der erträchd alles‹ konnte Thomas auch unterschreiben. Es gab Tage, da kam Kathi gleich nach dem Fußballverein. »Ich bin auch nur ein Mensch«, sagte er schließlich.

»Was ist heute eigentlich los mit dir?«, meldete sich Sabine zu Wort, die sich wie Thomas fragte, welche Laus Kathi heute über die Leber gelaufen war.

»Mir ist heute früh einer hinten drauf!«

»Ach deshalb!«

»War nicht meine Schuld. Tut mir leid, ich wollte meine schlechte Laune nicht an euch auslassen.«

»Schon gut, solange das nicht den ganzen Tag anhält.« Sabine schmunzelte und steckte Thomas an.

Kathi stieß einen tiefen Seufzer aus und sinnierte über Dr. Liebermann. Er war nicht nur der Erste am Tatort gewesen, mit dem von Thomas geschilderten Verhalten rückte er gerade an die Pole Position aller Verdächtigen. Warum wurde er da plötzlich so nervös, befürchtete er sich zu verplappern, lag es am feuchten Hosenbein oder war er mitgenommen vom Tod seines Chefs? Ist das ne Memme, dachte sie. Bei nem Rüstungskonzern arbeiten und keinen Toten sehen können! Mal sehen was er für ein Typ ist. Wahrscheinlich eine untersetzte, schwammige, bleiche Laborratte mit Stirnglatze und Nerd-Brille, der ebenfalls Gesundheitslatschen trägt, dazu als Krönung weiße Tennissocken mit rot-blauem Rand.

Schade, dass Andi kein Foto zum Lebenslauf mitgeschickt hatte: Dr. Nikolai Liebermann, geboren 1.12.1985 in Karaganda/Kasachstan, 1993 Übersiedlung mit den Eltern in die BRD nach Königswinter bei Bonn, 2004 Abitur Note eins, Studium der Physik und der Elektrotechnik an der FWU Bonn, danach Doktorand am Helmholtz Institut für angewandte Physik. 2012 promovierte er in Physik und ging Ende 2013 als wissenschaftlicher Assistent ans Institut für Physik der Uni Halle-Wittenberg. Seit 2018 arbeitet er bei MECH@TRON und ist ledig. – 38 und ledig, vielleicht war der Physiker eines dieser blödstudierten Genies mit Beziehungsphobie, die sich kein Butterbrot schmieren können – Kathi liebte diesen Spruch ihrer Oma – einer, der vielleicht noch nie was mit einer Frau hatte, eine männliche Jungfrau. König war auch ledig und das mit 54, noch schlimmer!

»Kaddi!«, hörte sie plötzlich Andi mit weichem, fränkischem Zungenschlag rufen.

Sie sah auf. »Ja, was gibts?«

»Ich hab den Dr. Liebermann mitg‘bracht.«

Jetzt bin ich gespannt! »Ich komme rüber zu euch.« Kathi schlüpfte wieder unter dem Absperrband hindurch. Bereits während sie auf die beiden Neuankömmlinge zuging, blieb ihr regelrecht die Spucke weg. Von wegen untersetzt und schwammig, neben dem attraktiven, über 1,90 großen, athletisch gebauten Physiker wirkte der drahtige Andi mit seinen 1,78 wie ein Zwerg.

Nikolai Liebermann fuhr sich mit einer Hand durch die dunklen, nackenlangen Locken und sah Kathi entgegen. Die konnte kaum noch ihren Blick von ihm lassen. Ein trendy Siebentagebart zierte sein ebenmäßiges Gesicht, geschätzte sieben, es könnten auch ein bis zwei Tage weniger oder mehr sein. Er trug ein schlichtes, weißes Hemd zu den Jeans – bei so einem Outfit wurde Kathi schon immer schwach – und seine hammermäßig grünen Augen wirkten durch die eckige, schwarze Brille, eine etwas schickere Nerd-Version, geradezu stechend, kurz: ein Traummann!

Kathi schubste ihn von der Verdächtigen-Pole-Position, zog die Latexhandschuhe aus und streckte ihm mit einem freundlich, verklärtem Blick die Hand entgegen. »Hallo, Dr. Liebermann, Katharina Starck, Kripo Nürnberg.« Sie begrüßte ihn mit einem kräftigen Händedruck und bekam eine gewischt. Ob es an den ganzen Gerätschaften hier lag oder an etwas anderem, vermochte sie nicht zu sagen. War da nicht dieses Aufblitzen in seinen Augen?

Der Physiker wirkte gleichermaßen überrascht und zog seine Hand zurück. Das Kribbeln schien er nicht weiter ernst zu nehmen. »Hallo«, sagte er nur, über Kathi hinweg, abgelenkt durch einen neugierigen Blick auf seinen toten Chef.

»Geht es Ihnen wieder besser?«, erkundigte sie sich.

»Ja, ja.«

»Was war denn los?«

Aha, die zwei Michelinmännchen haben mich verpetzt. »Ich musste nur an die frische Luft.«

Kathi beäugte ihn skeptisch. »Frische Luft?«

Natürlich, du dämliche …! Liebermann schluckte den Rindviehfluch hinunter. Was denkt die sich, ich sehe schließlich nicht jeden Tag eine Leiche!

»Verstehe«, sagte Kathi. »Wegen Dr. König. Und wo waren Sie an der frischen Luft?«

»Im Innenhof, von hier den Flur entlang, die Treppe hoch, über das kleine Foyer, dann links. Ist das präzise genug?«

Oh, der nimmt es aber sehr genau! »Natürlich«, sagte Kathi. »Gibt es Zeugen, die Sie dort gesehen haben?«

»Ein paar Raucher, aber deren Namen weiß ich nicht.«

»Ist okay. Und danach sind Sie wieder in ihr Büro, wo Sie mein Kollege abgeholt hat?«

»Ja.« Er nickte und schob seine Brille zur Nasenwurzel.

Jetzt wird er nervös. Kathi musterte ihn. Vielleicht liegts an der Umgebung. Jeder ihrer Kollegen führte die ersten Gespräche mit Zeugen in einem Büro oder in einem anderen geeigneten Raum, nie in unmittelbarer Nähe des Tatorts mit Blick auf den Toten. Sie hielten Kathis Art der Befragung, nicht nach dem üblichen Strickmuster, für unangebracht und pietätlos. Ihre Vorgesetzten tolerierten es, gehörte es doch zu ihren Erfolgsrezepten und ihre Bilanz in Sachen Verhaftungen und geklärter Fälle konnte sich sehen lassen. Sie wollte Liebermanns Reaktion hier und jetzt sehen. Er hatte König gefunden und könnte mit dessen Tod etwas zu tun haben, da musste er schon ein wasserdichtes Alibi vorweisen. Traummann hin oder her, für Kathi wurde er wieder zum Verdächtigen Nummer eins.

»Zu Ihrer Information Dr. Liebermann, ich nehme Ihre Aussagen hiermit auf.« Sie zeigte ihm ihr Padfone.

Er nickte. »Kein Problem.«

»Sie haben der Security gemeldet ›Der König liegt vor dem Thron‹. Was meinten Sie mit Thron?«

»Das stimmt so nicht!«, beschwerte er sich. »Ich sagte Dr. König liegt vor dem Thron.«

Aha, ein Wortklauber! »Entschuldigung, aber das kam dort so an. Und was ist nun dieser Thron, sein Bürostuhl?« Das nahm sie nur an, ihr Kriminologen-Gehirn kombinierte König mit Thron und Thron mit Stuhl. Vielleicht nannte er das abgewetzte Ding so nur aus Spaß.

»Nein, der Thron ist die P.M.P., die Anlage hinter Panzerglas.«

»P.M.P.?«

»Positron Micro Probe«, sagte Liebermann in bestem Oxford-Englisch. »Auf Deutsch: Positronen-Mikrosonde, wir nennen sie Thron.«

»Alles klar.« Diese Wissenschaftler-Eigenartigkeit wollte Kathi nicht mit ihm diskutieren, aber Mikrosonde, Mikro? »Für eine Mikrosonde ist das Ding aber ziemlich groß.«

»Sie wird nun einmal so genannt. ›Das Ding‹, wie Sie es nennen, ist eine Kombination aus einer monoenergetischen Positronenquelle und einem Rasterelektronenmikroskop.«

Kathi schluckte die Brocken hinunter. Allmächd, jetzt wirds technisch! »Aha, Positronen, es geht also um diese winzigen Teilchen. Und das Mikroskop braucht man, um sie besser sehen zu können.«

»Nein, so kann man das nicht sagen. Positronen kann man nicht sehen, im herkömmlichen Sinn. Sie werden ins Mikroskop eingebaut, um einen Antimaterie-Strahl zu erzeugen. Damit führen wir Tests an der Materialprobe durch.«

Andi riss die Augen auf. »Andimadderie, jetzt echt?«

»Natürlich«, tat Liebermann es ab, als wäre es das Alltäglichste. Für seinen Teil traf das ja zu.

»Wie beim WARP-Antrieb in Star Dregg?«

Liebermann sah ihn nicht nur wegen des Fränglisch schräg an, er fand den Vergleich mit einer Hollywood-Erfindung absolut unpassend. »Spezialeffekte fürs Mainstream-Kino.«

Garantiert guckst du dir nur Arthouse-Filme an. Kathi kam zu dem Schluss, dass der Doktor der Physik nicht viel von derart laienhaften Späßchen hielt. Und zum Lachen gehst du in den Keller.

Trekkie Andi ließ nicht locker. »Dann gibts auch transparentes Aluminium?«

»Ja, das gibt es, aber damit arbeiten wir hier nicht.«

Ein staunender Andi nahm sich vor, das später zu recherchieren.

»Zurück zu Antimaterie und Positronen«, meinte Kathi. »Wie funktioniert das?«

»Die erzeugten Positronen werden zunächst in einen Zylinder geleitet, in dem sich Gas unter sehr geringem Druck befindet. Wir verwenden eine spezielle Mischung und kühlen das Ganze bis auf minus 269 Grad Celsius herunter. Sie können sich nicht mehr bewegen, sind wie in einer Falle gefangen.«

»Eine Positronenfalle!«

»Sie wird tatsächlich so genannt.«

»Interessant. Und weiter?«

»Positronen sind die Antiteilchen der Elektronen, treffen beide zusammen, zerstrahlen sie unter Aussendung von Gammaquanten. Die Lebensdauer eines Positrons wird in einem Festkörper von der Dichte der Elektronen darin beeinflusst, das lässt Rückschlüsse auf den Aufbau des untersuchten Materials zu.«

Allmächd, wunderte sich Andi, hat der jetzt ein Gschmarri drauf! Was issn mit dem los, vorhin hat er noch ganz normal g‘redet? Naja, vielleicht liegts an der Kaddi, wär ned des erste Mal, dass einer sie ned mag.

Kathi glaubte zu wissen, was der Physiker meinte und zeigte auf die schwarzen Boxen auf dem Arbeitstisch. »Heißt das, Sie beschießen das Material da drin mit den Positronen?«

»Ja, das Verfahren heißt P.A.L.S.« Auf Kathis und Andis fragende Blicke folgte prompt die Erklärung. »Das ist die Abkürzung für Positron Annihilation Lifetime Spectroscopy, auf Deutsch: Positronenlebensdauer-Spektroskopie.« Das ellenlange Wort kam von Liebermann wie aus der Pistole geschossen.

Fachchinesisch beherrscht er wirklich perfekt, dachte Kathi. »Positronen- was?«

»Positronen-Lebensdauer-Spektroskopie«, wiederholte er etwas langsamer.

Kathi schluckte und zerlegte im Geiste das Wort-Ungetüm in einzelne Silben: Po-si-tro-nen-le-bens-dau-er-spek-trosko-pie, zwölf an der Zahl, das musste sie erst einmal verdauen. Andi schluckte zweimal, kratzte sich am kahlen Kopf und setzte seine Datenbrille auf. Kathi war sicher, dass er sich Informationen zu diesem Positronen-Ding einblenden ließ. Sie mochte diese Brillen nicht, auch wenn sie nicht mehr so klobig aussahen, wie die ersten Modelle. Andi schwor drauf, verfügten die der Polizei neben einem schnellen Internet-Zugang zusätzlich über Gesichtserkennung.

»P.A.L.S. klingt ziemlich futuristisch«, meinte Kathi.

»Dieses Verfahren existiert schon seit Jahren«, erwiderte Liebermann hochnäsig. »Dr. Königs Doktorarbeit von 1996 handelt bereits davon. Mittlerweile sind P.M.P.s State of the Art in der Materialsynthese. Unsere Anlage ist eine der neuesten, für unsere Anforderungen modifiziert und somit einzigartig.«

State of the Art, äffte Kathi ihn gedanklich nach. Er kanns nicht lassen! Physiker-Nerd bleibt Physiker-Nerd. »Und was macht man damit in der Praxis? Aber jetzt bitte allgemein verständlich.«

Zicke!, dachte er. Okay, dann eben die Erklärung für Dummies. »Man macht Materialprüfung bei Leichtmetall-Legierungen, es dient zur Schadensanalyse und -vorhersage, man misst die Rissausbreitung in Flugzeug-Aluminium oder die Ermüdung von Bauteilen in Autos oder Zügen«, leierte er sichtlich gelangweilt herunter.

Und, war das jetzt so schwer? Kathi nickte zufrieden, wunderte sich aber, warum er die Rüstungsindustrie ausschloss. »Alles klar.«

Liebermann blieb skeptisch »Alles klar? Behaupten Sie, Sie hätten das verstanden? Sie erstaunen mich.«

Du Klugscheißer! »Verformungen in Metallen unter Belastung sind keine Böhmischen Dörfer für mich. Ich habe keinen Doktor in Physik, ich bin Polizistin, aber nicht doof!« Die Floskel ›ich bin zwar blond‹ ließ sie bewusst weg.

Andi grinste. Dübbisch Kaddi, aber sie hat schon Recht, so doof wie er glaubt, sin mer ned.

»Tu-tut mir leid«, stammelte Liebermann. »Ich-ich wollte damit nur sagen …« Er seufzte. Gott, was tu ich hier!

Kathi triumphierte. Yeah, hab ich dich aus dem Konzept gebracht! Tja, lieber Dr. Liebermann, blonde Kommissarinnen schießen auch mit Worten. »Schon gut«, tat sie es gönnerhaft ab. »Ich gestehe allerdings, Positronen noch nie in Aktion gesehen zu haben. Aber ich kann mir gut vorstellen wie sie herumwuseln.«

»Positronen wuseln nicht«, wandte der Physiker ein.

Jetzt fängt er schon wieder an! Meine Güte, bist du eine Spaßbremse! Naja, das sagt man ja vielen Wissenschaftlern und Superhirnen nach. »Es war eben laienhaft ausgedrückt!«

Dann wusste er sie zu überraschen. »Nun ja, laienhaft könnte man es Spielplatz der Positronen nennen.« Abermals schob er die Brille zur Nasenwurzel.

Na also, geht doch. Die Spaßbremse nehme ich zurück. »Und im Rasterelektronenmikroskop kann man sie sehen, richtig?«

»Positronen in Aktion kann man nicht wirklich sehen.« Liebermann kratzte sich am bärtigen Kinn und überlegte. »Hm, wie erkläre ich das Laien wie Ihnen am einfachsten?«

Sag doch gleich Dummies! Kathi wurmte es langsam. Warum kann man mit diesem Kerl nicht normal reden? Und warum muss ausgerechnet er so verdammt gut aussehen? Und diese grünen Augen … hach! Nikolai Liebermann entsprach genau ihrem Beuteschema, ein Mann zum Verlieben, unter normalen Umständen, wenn er kein Zeuge in einem Mordfall wäre. Vielleicht steckte doch ein Fünkchen Wahrheit hinter Oma Blümleins Akademiker-Butterbrot-Spruch. Ob das mit der männlichen Jungfrau stimmte, wagte Kathi bei seinem Aussehen zu bezweifeln, früher an der Uni werden ihm die Mädels scharenweise hinterhergelaufen sein. Ob sie auch in seinem Bett landeten, stand auf einem anderen Blatt Papier. Das brachte Kathi kurz zum Schmunzeln. Ernst bleiben, mahnte sie sich, du hast es hier mit Mord zu tun.

»Man hört meist nur ihren letzten Schrei, wenn sie sich mit ihrem Anti-Teilchen, dem Elektron, vernichtet haben«, begann Liebermann seine Erklärungen. »Ganz nach Einstein E=mc2, diese Formel dürfte auch Ihnen geläufig sein.«

Jetzt kommt er uns noch mit Einstein, dieser Angeber! »Ja, die ist mir geläufig. Es bedeutet, gibt ein Körper Strahlung ab, verringert sich seine Masse.«

Damit wusste sie Liebermann zu überraschen. Die hat ja doch was in ihrem hübschen, blonden Köpfchen. »Richtig, die Masse von Anti-Teilchen und Elektron wird in pure Energie verwandelt und diese kann man messen«, fuhr der Physiker in einem weiteren Anfall von Fachchinesisch fort. »Jedes Positron fungiert als nanoskopisches Sonden-Teilchen, mit dem sich einzelne, fehlende Atome in einem Kristallgitter nachweisen lassen. Das wirkt sich auf die Lebensdauer der Positronen aus.«

Von Kristallgittern hatte Kathi auch schon gehört. »Das hat mit der atomaren Struktur von Materialien zu tun, nicht wahr? Löcher im Gitter bedeuten Materialdefekte.«

Wow! Liebermann war baff. Sie ist hübsch und intelligent! Gott, ist das sexy! Eine Traumfrau zum Verlieben, wenn sie keine Polizistin wäre und keine so spitze Zunge hätte. Er seufzte. Mit den Gesetzeshütern stand er auf Kriegsfuß und an eine so selbstbewusste Frau wie Kathi würde er sich nie heranwagen. »Ja, das ist richtig. Den Antimaterie-Strahl benutzen wir, um mikroskopisch kleine Veränderungen im Metall zu finden, die typisch für strukturelles Versagen sind. Die Positronen zeigen uns den genauen Weg zu einer Rissspitze, um nur ein Beispiel zu nennen, dann sehen wir, wie viel dort kaputt ist. Wir testen gerade eine neue Aluminium-Lithium-Legierung. Sie ist extrem leicht, hat eine erhöhte Steifigkeit, verfügt dennoch über ausreichend Elastizität und weist hohe kryogene Haltbarkeit auf.«

Kathi verkniff sich ein Grinsen, jetzt war er voll in seinem Element. »Was soll aus dieser neuen Legierung hergestellt werden?«

»Das darf ich Ihnen nicht verraten, Betriebsgeheimnis.«

»Ach kommen Sie! Wofür ist es?«

»Betriebsgeheimnis«, wiederholte Liebermann und schob zum x-ten Mal seine Brille an die Nasenwurzel.

Das war das dritte Mal, Kathi hatte mitgezählt. Entweder saß das Ding nicht richtig oder er war wieder nervös oder beides. »So geheim kann das nicht sein. Während der letzten Waffenmesse habe ich im Katalog von MECH@TRON über bewaffnete Flugobjekte in Spatzengröße gelesen. Der Trend geht ja bekanntermaßen zu Mikro-Drohnen oder anderen Waffensystemen im Nano-Format.« Das ließ Liebermann kalt, er schwieg beharrlich. Dann eben nicht, dachte Kathi. »Anderes Thema.« Bevor sie ihre Fragen stellte, checkte sie noch einmal die Liste mit den Zutrittsdaten.

15.10.2024 – 7:38 h – Dr. N. Liebermann – IN

15.10.2024 – 7:42 h – René Hofbauer – IN

15.10.2024 – 7:43 h – René Hofbauer – OUT

15.10.2024 – 7:44 h – Dr. N. Liebermann – OUT

DOOR LOCKED

Knapp 30 Minuten geschah nichts.

UNLOCKING DOOR

15.10.2024 – 8:12 h – René Hofbauer – IN

15.10.2024 – 8:13 h – Dr. Susan de Boer – IN

15.10.2024 – 8:14 h – Dr. N. Liebermann – IN

15.10.2024 – 8:15 h – Dr. Susan de Boer – OUT

15.10.2024 – 8:16 h – Dr. N. Liebermann – OUT

15.10.2024 – 8:17 h – René Hofbauer – OUT

DOOR LOCKED

»Um acht Uhr rum hat Hofbauer Frau de Boer und uns angerufen«, sagte Andi, der parallel mitkontrollierte. »Die andern Listen vom Parkhaus und Bau eins hab ich dir vorhin auch g‘schickt.«

»Okay, Danke.« Kathi wandte sich wieder Liebermann zu. »Sie kamen erst nach Dr. König ins Labor, ist das immer so?«

»Nein, wir beginnen normalerweise zusammen, kurz nach halb acht«, sagte er. »Heute war ich etwas später dran, weil ich noch mit Dr. Tüyüc telefoniert habe. Dr. König wusste Bescheid, er wollte inzwischen die Anlage hochfahren.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. »Ich hätte mich beeilen sollen.«

»Wer ist Dr. Tüyüc?«, fragte Kathi.

»Dr. Königs Stellvertreter.«

Andi sah auf. »‘Tschuldigung, wie schreibt man Tüyüc?«

»T, Ü, Y, Ü, C«, buchstabierte Liebermann extra langsam.

»Dobbel-Ü«, meinte Andi. »Alles klar.« Er fischte seinen I-Pen aus der Innentasche seines Trenchcoats und machte sich handschriftliche Notizen auf seinem Padfone, manchmal verstand es seinen Dialekt nicht einwandfrei. »Fast wie bei mir.«

Der Physiker wunderte sich. »Aber Sie heißen doch Steppendorff.«

»Richdich, mit Dobbel-B und Dobbel-F, dobbeld g‘nähd häld besser!«

»Das ist aber eine eigenwillige Interpretation.« O Gott!, dachte Liebermann. Dieser Dialekt ist ja furchtbar! Als Bulle sollte er lieber Hochdeutsch sprechen, dann würde man ihn wenigstens ernst nehmen. Schon mal was von Sprach-Coach gehört?

Kathi schien seine Gedanken zu lesen. Andi und sein geliebtes Fränkisch, wenn sie sich unterhielten war das in Ordnung, aber in nicht Gegenwart eines Zeugen, der astreines Hochdeutsch sprach. Sie war auch geborene Nürnbergerin und ein wenig hörte man immer durch. ›Wenn man wohin geht, spricht man nach der Schrift‹, sagte ihre Oma immer. Und wenn ihr ein Allmächd! rausrutschte, verstand das jeder, nicht nur in Mittel-, Ober- und Unterfranken, das war fränkisch-universal!

***

Als Kathi vor sechs Jahren, nach den beruflichen Stationen München-Kempten-München, wieder in Nürnberg landete, musste sie sich vom gepflegten Oberbayrisch wieder aufs Fränkische umstellen. ›A echte Nämbercherin verlernt des ned‹, sagt man. Keiner braucht sich seines Dialekts zu schämen, solange einen der Gesprächspartner versteht. Mundarterfahren durch ihren Ex-Mann Robert, einem gebürtigen Kemptener, handelte sie stets nach dem Motto ›Lieber nachfragen, bevor es zu Missverständnissen kommt‹. Das Allgäu ist eine wunderschöne Gegend, doch die Sprache tut manchmal den Ohren weh. Aber nicht das Allgäuerische trieb sie 2013 zurück nach München, in Kempten, wohin sie der Liebe wegen gezogen war, konnte sie keine Karriere machen. Robert, der sich gern als Vater von zwei Kindern gesehen hätte, warf ihr puren Egoismus vor. Wie erwartet, funktionierte die Fernbeziehung nicht, Scheidung 2014. Nach einem Jahr Verdauungsprozess stürzte sich Kathi in die Weiterbildung zur Kriminaloberkommissarin. Leider machte ihr am 5. Mai 2016 das Schicksal einen Strich durch die Rechnung: sie erschoss einen flüchtigen Mörder in Notwehr. Ein Trauma, denn es war der Mann, mit dem sie eine kurze Beziehung hatte. Trotz psychologischer Betreuung, sah sie lange Zeit an jeder Ecke einen Schatten, der seine Waffe auf sie richtete. Sie hielt es in ihrer einstigen Traumstadt München nicht mehr aus. Alles schrie nach Tapetenwechsel. 2018 bekam sie eine Stelle in Nürnberg und kehrte in ihre mittlerweile boomende Heimatstadt zurück.

Durch den Wirtschaftsaufschwung hatte sich in der Frankenmetropole ein positiver Wandel vollzogen. Den Vergleich mit München brauchte man nicht mehr zu scheuen, auch ohne Schicki-Mickis und Bussi-Gesellschaft. Ein trendy Nürnberg funktionierte ganz ohne Bajuwarisierung. Man nahm sich den bayerischen Ministerpräsidenten und gebürtigen Nürnberger Dr. Florian C. Hofer als Vorbild, legte die falsche Bescheidenheit ab und machte Schluss mit der mangelhaften Selbstwahrnehmung. ›Wir sind Nürnberger, wir können alles. Wir sind stolz auf unsere Leistungen und reden darüber wie uns der Schnabel gewachsen ist‹, so das Motto.

Die Gegner der schwarzen Alleinherrschaft in Bayern mussten Dr. Hofer, der 2018 den Thron Bayerns erklommen hatte und 2023 wiedergewählt wurde, als bitteren Beigeschmack der steigenden Konjunktur akzeptieren. Er setzte sich für die Metropolregion Nürnberg-Fürth-Erlangen unnachgiebig ein. Dank unermüdlicher Anstrengungen und sinnvoller Investitionen wurde man für das Jahr 2025 sogar zur Kulturhauptstadt Europas auserkoren. Nur die radikalen Free-Franken-Anhänger behielten weiterhin ihre Scheuklappen auf. Für sie bedeutete sogar die weiß-blaue Bayernfahne, die anstelle des rot-weißen, fränkischen Rechens bereits Tage vor den CPU-Parteitagen über der Burg wehte, ein rotes Tuch.

In Dr. Hofers Erfolgen sonnte sich auch seine Partei. Die CPU hatte bei der letzten Landtagswahl eine Traumquote von 68 Prozent erreicht, das beste Ergebnis aller Zeiten, manches Parteimitglied ließ sich zu Luftsprüngen hinreißen. Auch die verstorbenen hätten das sicher gern getan, dabei mit den Engelsflügeln geschlagen und mit den anderen Münchnern im Himmel frohlockt und Halleluja gesungen, bevor sie sich übers Manna beschwert und ihre Forderungen nach einer gescheiten Mass Bier durchgesetzt hätten. Wenn sie im Himmel gelandet wären, sie dürften eher am heißen Höllenstrand schmoren, mit Chili gewürzte Drinks schlürfen und sich schwarz ärgern.

***

Mit einem Hochdeutsch, wie Dr. Liebermann es sprach, konnte weder Fränkisch noch Bayerisch konkurrieren. Für Kathi hörte es sich verdammt sexy an, vor allem wenn er mit Fachausdrücken um sich warf. Er stammte aus Bonn, dort sprach man sicher irgendeinen Dialekt, welcher fiel ihr gerade nicht ein. König war gebürtiger Bonner, erinnerte sie sich. Zur Sicherheit verglich sie die beiden Vitae noch einmal auf dem Pad. Bingo! Es gab Gemeinsamkeiten, das Helmholtz Institut und die FWU, die Jahre stimmten überein. Kennen sich die beiden von dort? Das muss ich ihn später noch fragen, erstmal die Sache mit der Zutrittsliste und Tüyücs Anruf abschließen.

»Weswegen hat Dr. Tüyüc angerufen?«, fragte Kathi.

»Er hatte vergessen, unserer Sekretärin etwas bezüglich der Jour Fixe-Unterlagen zu sagen. Frau Beeskow kommt erst um acht, da musste er bereits in der Klinik sein.«

»Klinik? Ich hoffe nichts Schlimmes!«

»Nein, er lässt sich die Augen lasern.«

Das könntest du auch mal in Angriff nehmen, dachte Kathi. Dann bräuchtest du nicht mehr ständig an deiner Brille fummeln. Wer trägt heutzutage noch so ein Ding? Naja, wenigstens steht sie ihm. »Hat er von zu Hause angerufen?«

»Ja.«

»Und warum gerade Sie?«

»Er weiß, dass ich zu dieser Zeit hier erreichbar bin.«

Das klang glaubhaft, außerdem würde dieser Tüyüc nie seinen Chef anrufen und ihn bitten, der Sekretärin etwas mitzuteilen. »Und nach dem Telefonat sind Sie gleich ins Labor.«

»Vorher habe ich Frau Beeskow ein Memo geschrieben.«

»Erzählen Sie mir bitte wie Sie Dr. König gefunden haben.«

»Das habe ich doch Ihrem Kollegen bereits!«

Kathi hielt ihr Pad hoch. »Ja, und es steht hier drin. Ich will es aber mit eigenen Ohren hören.« Sie vernahm ein Augenrollen bei Liebermann, das schien ihm nicht in den Kram zu passen. Sie erkannte auch den typischen Hoffentlich-sage-ich-jetzt-nichts-Falsches-Blick und freute sich auf jede abweichende Antwort. »Und zwar den Teil nach dem Sicherheits-Check an der ersten Tür.«

Herrgott, soll sie‘s doch nachlesen. Er seufzte gelangweilt. »Also gut, dann eben noch einmal: Über der zweiten Schleusentür brannte das rote Licht. Wenn jemand im Labor ist, leuchtet sie normalerweise grün. Rot bedeutet, dass die Stromzufuhr absichtlich unterbrochen wurde, ein Not-Aus. Deshalb wusste ich, dass etwas nicht stimmt.«

»Wozu dient die Schleuse?«

»Zur Sicherheit und ersten Dekontamination, falls Strahlung ausgetreten ist. Darum darf man sie auch nur einzeln betreten.«

»Woher wussten Sie, dass keine ausgetreten war?«

»Dann wäre ich gar nicht durch die erste Tür gekommen.«

Kathi nickte. »Okay, dann sind die Schotten dicht. – Was dachten Sie, was den Not-Aus ausgelöst haben könnte?«

»Irgendeine Fehlfunktion am Thron. Ich habe Dr. König durch die Glasscheibe auf dem Boden liegen sehen, aber ich musste auf die Türentriegelung warten, das dauert etwas. Dann bin ich zu ihm und …« er schluckte » …und habe seinen Puls gefühlt – nichts, keine Atmung, kein Herzschlag, nichts. Ich glaubte zunächst an einen Infarkt, er hatte ja bereits einen. Erst dann habe ich bemerkt, dass ich in einer Pfütze knie und dass es kein Wasser war, sondern verdünnte Säure.«

»Wie haben Sie das herausgefunden?«

Die kann Fragen stellen! »Na, wie wohl, ich habe einen Finger hineingetaucht und vorsichtig probiert!«

Kathi schluckte. »Ganz schön mutig. – Aber sonst haben Sie nichts angefasst.«

»Nein«, knurrte er. »Trotzdem werden Sie hier überall meine Fingerabdrücke finden, falls Sie das meinen, ich arbeite hier. Heute Morgen habe ich nicht einmal gewagt, Dr. Königs Augen zu schließen. Ich habe die Security angerufen, aber Hofbauer war wegen des Not-Aus-Alarms bereits unterwegs. In der kurzen Zeit, während ich auf ihn wartete, habe ich mich umgesehen. Ich wollte wissen, woher die Flüssigkeit stammt und habe die Flasche auf dem Boden entdeckt. Gestern Abend stand sie noch auf dem Tisch.«

»Und warum dachten Sie an Mord, hätte es kein Unfall sein können?«

»Nein, es waren zu viele Zufälle! Eine Mineralwasserflasche mit verdünnter Säure fällt um und das Zeug fließt über das Panel, damit es unter Strom steht wenn Dr. König die Anlage hochfährt. Das kam mir Spanisch vor, irgendjemand musste daran herumgefummelt haben!«

»Sie sagten zu meinem Kollegen, das Panel wurde gestern erst eingebaut.«

»Richtig.«

»Warum wurde es erneuert?«

»Das alte hatte einen Defekt, es gab Verzögerungen bei den Eingaben. Es wird noch von unseren Technikern überprüft.«

»Haben die das neue Panel eingebaut?«

»Nein, Dr. Tüyüc und ich.«

»Wie lange haben Sie dafür gebraucht?«

»Nicht lange, mit dem Ausbau des defekten keine zehn Minuten. An der Unterseite befindet sich ein Schieber zum Entriegeln, man hebt es heraus, entfernt den Kontaktstecker, schließt diesen ans Neue an und lässt es einrasten. Fertig.«

»Das ist alles?«