8 Starke Krimis September 2025 - Alfred Bekker - E-Book

8 Starke Krimis September 2025 E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Krimis: Grotjahn und der falsche Kapitän (Alfred Bekker) Alain Boulanger und das Pariser Phantom (Henry Rohmer) Kommissar Jörgensen und der tödliche Tausch (Alfred Bekker) Kommissar Jörgensen und der Wahnsinnige (Alfred Bekker) Trevellian und der Bazooka-Killer (Alfred Bekker) Albtraum auf Rügen (Alfred Bekker) Als er zum ersten Mal starb (Ethel Lina White) Fleming Stone und der Fall mit den Federn (Carolyn Wells) Wer steckt hinter dem tödlichen Attentat auf Brian Imperioli? Der Mafioso besaß eine Menge Feinde – und zwei Söhne, die er verstoßen hatte. Da sind aber auch noch alte Rechnungen offen, die in der Zeit des Vietnamkrieges entstanden. Die ErmittlerTrevellian und Tucker müssen sich auf eine Spur konzentrieren. Aber ist das auch die Richtige? Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.

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Seitenzahl: 1286

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alfred Bekker, Henry Rohmer, Carolyn Wells, Ethel Lina White

8 Starke Krimis September 2025

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Inhaltsverzeichnis

8 Starke Krimis September 2025

Copyright

Grotjahn und der falsche Kapitän

Alain Boulanger und das Pariser Phantom: Frankreich Krimi

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Kommissar Jörgensen und der tödliche Tausch

Kommissar Jörgensen und der Wahnsinnige

Trevellian und der Bazooka-Killer

​Albtraum auf Rügen: Ein Insel-Thriller

Als er zum ersten Mal starb: Kriminalroman

Fleming Stone und der Fall mit den Federn: Kriminalroman

landmarks

Titelseite

Cover

Inhaltsverzeichnis

Buchanfang

8 Starke Krimis September 2025

von Alfred Bekker, Henry Rohmer, Carolyn Wells, Ethel Lina White

Dieser Band enthält folgende Krimis:

Grotjahn und der falsche Kapitän (Alfred Bekker)

Alain Boulanger und das Pariser Phantom (Henry Rohmer)

Kommissar Jörgensen und der tödliche Tausch (Alfred Bekker)

Kommissar Jörgensen und der Wahnsinnige (Alfred Bekker)

Trevellian und der Bazooka-Killer (Alfred Bekker)

Albtraum auf Rügen (Alfred Bekker)

Als er zum ersten Mal starb (Ethel Lina White)

Fleming Stone und der Fall mit den Federn (Carolyn Wells)

Wer steckt hinter dem tödlichen Attentat auf Brian Imperioli? Der Mafioso besaß eine Menge Feinde – und zwei Söhne, die er verstoßen hatte. Da sind aber auch noch alte Rechnungen offen, die in der Zeit des Vietnamkrieges entstanden. Die ErmittlerTrevellian und Tucker müssen sich auf eine Spur konzentrieren. Aber ist das auch die Richtige?

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

COVER A.PANADERO

© dieser Ausgabe 2025 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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Grotjahn und der falsche Kapitän

Alfred Bekker

Grotjahn und der falsche Kapitän: Hamburg Krimi

von ALFRED BEKKER

Grotjahn und der falsche Kapitän – Hamburg Krimi von Alfred Bekker

Ein Toter am Hamburger Hafen, eine mysteriöse Ankerbrosche und rätselhafte Funkbefehle: Ermittler Grotjahn und sein Team stehen vor einem Fall, der sie tief in die dunklen Seiten der Hansestadt führt. Zwischen alten Hafenarbeitern, korrupten Stiftungen und geheimnisvollen Symbolen entfaltet sich eine packende Jagd nach dem „Nachtkapitän“, der mit seinen Anhängern das Schicksal der Stadt in der Hand hält.

Atmosphärisch, spannend und voller Hamburg-Flair – Alfred Bekker präsentiert einen modernen Kriminalroman, der die Elbe, die Lichter und das Leben der Stadt lebendig werden lässt. Für Fans von intelligenten Ermittlungen, starken Charakteren und überraschenden Wendungen.

Tauchen Sie ein in die Nacht von Hamburg – und finden Sie heraus, wer wirklich das Steuer in der Hand hält!

Ideal für alle, die Krimis mit Lokalkolorit, Tiefgang und Spannung lieben.

Jetzt bestellen und mit Grotjahn auf Spurensuche gehen!

Glossar – „Grotjahn und der falsche Kapitän: Hamburg Krimi“ (spoilerfrei)

Personen

Grotjahn Ermittler beim BKA, Hauptfigur des Romans. Beobachtend, nachdenklich, mit Hang zu lakonischem Humor.Charlotte Dröhnkamp Kollegin von Grotjahn, ebenfalls Ermittlerin beim BKA. Führungsstark, direkt und analytisch.Sarah Jäger Spurensicherungsexpertin mit scharfem Blick für Details und Muster. Sachlich, manchmal ironisch.Mario Spano Kontaktmannund Ermittler mit guten Beziehungen ins Hamburger Hafenmilieu. Hilft bei Ermittlungen und Befragungen.Murat Özdiler IT- und Funkexperte des Teams. Analysiert digitale Spuren und Funkprotokolle.Koopmann Leitender Ermittler, Chef der Einheit. Ruhig, erfahren, mit Sinn für Taktik.Olli Kracht Ehemaliger Schlepperfahrer, Hafenarbeiter. Verbindet die Ermittler mit dem traditionellen Hafenmilieu.Fenja Brack Geheimnisvolle Frau mit Vergangenheit in der Seefahrt. Spielt eine besondere Rolle im Fall.Arvid Hennigs Schlüsselfigur im Fall, mit Verbindungen zu Hafen und Funk.Lindau Vorstandsvorsitzender der STAU-Stiftung, in die Ermittlungen verwickelt.Dr. Marinus Bentheim Direktor der STAU-Stiftung, dessen Tod den Fall auslöst.Dr. Raban Behrens Jurist mit Verbindungen zu verschiedenen Hamburger Netzwerken.

Begriffe

STAU-Stiftung „Stiftung für Transparenz und Aufklärung in der Urbanistik“ – eine Organisation, die sich mit Stadtentwicklung und Bürgerbeteiligung beschäftigt.Ankerbrosche Silbernes Schmuckstück in Ankerform, zentrales Symbol im Fall. Träger von Gravuren und Codes.Nachtkapitän Geheimnisvoller Name, unter dem ein Unbekannter nachts Einfluss auf den Hafen nimmt.Die VertäutenGruppe von Hafenarbeitern und Traditionalisten, die sich gegen Veränderungen im Hafen stellen.HafenKlarGemeinnütziges Netzwerk, das im Zusammenhang mit den Ankerbroschen und Geldflüssen steht.

Orte

Hamburger Hafen Zentrale Kulisse des Romans, Schauplatz von Ermittlungen, Begegnungen und Verbrechen.Fischmarkt / Pontonanlage Drei Ort des Leichenfunds und Ausgangspunkt der Ermittlungen.Reiherstiegschleuse Wichtiger Hafenbereich, der im Verlauf der Handlung mehrfach eine Rolle spielt.Alter Wall Sitz der STAU-Stiftung, Schauplatz von Befragungen und Nachforschungen.Veddel / Sieldeich Wohnort von Olli Kracht, Verbindung zum Hafenmilieu.Ottensen / Goldschmiede Noack Werkstatt, in der die Ankerbroschen gefertigt wurden.Entenwerder / Kunstponton Ort einer wichtigen Begegnung und Symbol für die Verbindung von Stadt und Wasser.Kehrwiederspitze / Speicherstadt Historischer Ort im Hamburger Hafen, mit symbolischer Bedeutung für die Handlung.Sandtorhafen Ort der öffentlichen Veranstaltungen und zentraler Schauplatz im Finale.HanseaticGuard, HafenCity Security-Firma, die als Unterschlupf und Kontrollpunkt genutzt wird.Süd-Schuppen, Box 14 Lagerort, der im Zusammenhang mit den Ankerbroschen steht.

1

Grotjahn sieht hin.

Die Lichter der Hafenkräne stehen wie stählerne Giraffen in den Himmel.

Er lächelt.

Hamburg bei Nacht ist eine Stadt mit Salz an den Lippen. Der Wind trägt den Geruch von Algen, Diesel, kaltem Eisen. Von der Elbe her kommt ein tiefes, regelmäßiges Atmen, das der Menschenschlag, der hier lebt, für gleichförmig hält. Für Grotjahn ist es immer neu. Er atmet mit. Er steht auf der Promenade der Überseebrücke, Schultern leicht hochgezogen gegen den Wind. Seine Hände ruhen in den Taschen seiner Jacke. Seine Gedanken laufen einfach so.

Eine Touristengruppe lacht. Ein Straßenmusiker spielt Something in the way she moves, aber mit zu viel Vibrato. Keine Beatles. Nicht wirklich. Aber irgendwie passt es. Irgendwie passt in Hamburg immer etwas, das eigentlich nicht passt. Und jedes Mal, wenn der Wind dreht, ist es plötzlich genau richtig.

Er schaut auf sein Handy.

Nicht, weil er auf eine Nachricht wartet.

Nur aus Gewohnheit.

Die Uhr sagt ihm, dass er schon seit zehn Minuten zu lange in die Lichter starrt. Er weiß, was passiert, wenn man zu lange in die Lichter starrt: Der Kopf wird weich, und dann glaubt man plötzlich, dass die Welt eine Melodie hat, die ohne falsche Töne auskommt. Hat sie nicht. Jedenfalls nicht die, in der er lebt.

Er dreht sich um, geht langsam los. Richtung Landungsbrücken. Am anderen Ende schäumt die Elbe in Fährwellen, ein gelbes Licht schneidet Kreise in die Dunkelheit.

Das Summen in der Hosentasche reißt ihn aus dem Denken. Er nimmt ab, noch bevor der Name im Display scharf ist.

„Grotjahn.“

„Hier Koopmann.“

„Chef.“

„Fischmarkt. Pontonanlage drei. Eine Leiche.“

„Was für eine?“

„Nass. Und frisch.“

„Wir sind nicht die Wasserschutzpolizei.“

„Die Wasserschutzpolizei glaubt, dass wir das sein sollten. Und der Leiter vom Kommissariat beißt gleich ins Funkgerät vor lauter Zuständigkeitsmüdigkeit. Also machen Sie es mir leicht und sind in zehn Minuten da, ja?“

„Sie halten mich für einen Zauberer?“

„Nein. Für jemanden, der die Elbphilharmonie links liegen lässt, wenn’s sein muss.“

„Die lasse ich immer links liegen, Chef. Aus Prinzip.“

„Sehr gut. Bis gleich.“

Er legt auf, pfeift eine halbe Taktzeile von Something, bricht ab und geht jetzt schneller. Der Wind hat aufgefrischt. Er hat es eilig, und trotzdem wirkt es, als würde die Stadt ihm einen halben Schritt vorgreifen. Das hat sie immer getan. Hamburg: eine Stadt, die im Zweifelsfall schneller ist als sein Puls.

2

Fischmarkt. Pontonanlage drei. Blaulicht schneidet über nasse Bretter. Ein Boot der Wasserschutzpolizei liegt da, die Motoren sind aus, aber die Maschine tickt nach. Männer in orangefarbenen Anzügen beugen sich über einen Körper. Ein Hafentaucher sitzt seitlich und schält sich aus Neopren. Das Wasser tropft aus dem Kragen, sein Gesicht ist grau vor Kälte. Besser Kälte als Schuld. Du hast nichts verschuldet, sagt man dann. Er nickt trotzdem, als hätte er vor.

„Sonderermittler BKA“, sagt Grotjahn, hält die Marke hin. Niemand fragt, ob er wirklich ist, wer er ist. In solchen Nächten erledigen Marken das Reden für alle.

„Da sind Sie ja endlich“, knurrt ein Mann mit Bauch und Wollmütze, auf der in weißen Buchstaben steht: WSP. „Hauptkommissar Stiller. Wasserschutzpolizei.“

„Grotjahn.“

„Ihre Leute haben angerufen und gesagt, Sie nehmen das.“

„Wir nehmen gar nichts. Wir sehen uns das an.“

„Na, dann sehen Sie mal.“

Der Körper liegt halb aufgerollt, halb ausgerollt. Die Arme sind mit einem dünnen, nassen Seil am Rücken gefesselt, Knoten sauber, Seemannsknoten, sagt Grotjahn’s Kopf, ohne dass er will, dass er es sagt. Die Haut hat diese matte, kalte Farbe von eben erst Tod. Keine lange Zeit im Wasser. Die Haare kleben im Gesicht. Die Augen offen. Mund leicht auf. Ein kleiner silberner Anker steckt am Revers der Jacke, als Brosche. Kein Karnevalsschmuck, eher alt. Am Rand der Brosche ist etwas eingeritzt. Das kann er von hier nicht erkennen.

„Wer hat ihn gefunden?“

„Fischer. Sind draußen im Revier, geben Protokoll. Der Taucher hier hat den Körper gesichert. War nicht tief.“

Grotjahn hockt sich hin. Zwischen Nässe und Holzseten riecht es nach Fluß, nach Öl, nach irgendwas Synthetischem. Er sieht auf die Hände. An den Handgelenken Spuren, die nicht vom Seil stammen. Dünne Schnittverletzungen, parallel, zwei, drei. Er sieht auf den Hals. Da ist ein schmaler Strang-Eindruck, seitlich, nicht frontal. Nicht ertrunken – das flüstert ein Teil von ihm. Er atmet durch den Mund, nicht aus Ekel, sondern weil der Wind jetzt in den Mantel fährt.

„Name?“

„Keine Papiere“, sagt Stiller. „Aber in der Jacke war eine Karte.“

„Visitenkarte?“

„So was in der Art.“

Stiller reicht ihm eine eingetütete Karte. Transparentes Plastik mit Wassertropfen von innen. Grotjahn hebt es ins Licht. Ein Logo darauf: STAU – Stiftung für Transparenz und Aufklärung in der Urbanistik. Darunter: Dr. med. Marinus Bentheim. Direktor.

„Urbanistik und Dr. med.“, sagt Grotjahn. „Klingt nach vielen Spenden und wenig Schlaf.“

„Klingt nach Ärger“, sagt Stiller. „Und ich habe jetzt schon mehr Papierkram als ich in einer Woche ertrage.“

„Dieser Anker hier“, sagt Grotjahn, „haben Sie den gesichert?“

„Noch nicht“, sagt eine Stimme hinter ihm. „Aber ich mache das jetzt.“

Sarah Jäger steht da. Weißer Einteiler, Latexhandschuhe, der Blick der Frau, die felsenfest glaubt, dass die Welt sich in Partikeln und Mustern ordnen lässt, wenn man sie nur richtig ansieht. Sie nickt ihm knapp zu, geht in die Hocke, fährt mit der Pinzette unter die Ankerbrosche, bewegt sie keinen Millimeter, als ob sie Glas wäre. Ihr Assistent streckt ihr eine Schale hin. Sarah legt das Stück fein hinein.

„Das ist kein Modeschmuck“, sagt sie. „Das ist was Altes.“

„Erbstück?“, fragt Stiller.

„Oder Signatur“, sagt Sarah. Sie sieht zu Grotjahn. „Sagen Sie es nicht.“

„Was?“

„Sie wollen sagen: Ach, wieder einer, der ein Markenzeichen braucht. Ein Mörder, der ein Symbol hinterlässt. Tarot, Anker, was kommt als Nächstes? Eine Kuckucksuhr?“

„Ich wollte nichts sagen“, sagt Grotjahn. „Ich wollte denken.“

„Denken gefällt mir. Sprechen später“, sagt Sarah. Sie lächelt leicht, was an ihr immer eher wie ein Hinweis auf Wetterumschwung wirkt als auf gute Laune.

„Wo ist Dröhnkamp?“, fragt Stiller.

„Kommt“, sagt Grotjahn. „Und wenn sie kommt, wird sie Ihnen sagen, dass wir hier niemandem was wegnehmen, sondern nur den Überblick behalten.“

„Wenn’s weiter nichts ist“, sagt Stiller. „Die Presse wird sich morgen früh den Kahn hier teilen. Wenn Sie was pressetaugliches haben…“

„Nichts“, sagt Grotjahn. „Kein Kommentar ist das neue Pressetauglich.“

Der Taucher hustet. Jemand reicht ihm eine Decke. Zwei uniformierte Kollegen sichern den Bereich. Ein Mann mit Kamera macht Fotos, die niemand außerhalb eines Gerichts je wieder ansehen sollte und trotzdem werden sie irgendwann in einer Datei landen, die irgendein Praktikant mit dem falschen Namen versieht und in der Cloud verlegt.

„Ich will die Stiftungsadresse“, sagt Grotjahn und richtet sich auf. „Und die Nummer von Bentheims Handy, falls Sie eine haben.“

„Haben wir. War in der Tasche. Finger weg, sagt die Kollegin, bis sie sagt.“

„Die Kollegin hat recht“, sagt Grotjahn.

Sarah nickt: endlich mal einer, der’s begriffen hat.

Er dreht sich zum Wasser. Ein leises Schmatzen der Wellen gegen die Schwimmkiste. Eine Möwe schreit. Ein Anker. Ein städtischer Stiftungschef. Ein medizinischer Titel. Ein Seemannsknoten, sauber. Und ein Wind, der schneidet.

Das ist der Anfang, denkt er. Und der Anfang in dieser Stadt ist meistens ein Schnitt.

3

Die Adresse der STAU-Stiftung liegt am Alten Wall. Historisches Gemäuer, viel Glas, ein Empfangstresen, der aus Holz sein will und doch aus Schichtstoff ist. Hinter dem Tresen eine junge Frau, rote Lippen, heller Pullover, ein Blick, der auf das Script neben dem Telefon fällt. Sie sagt ihren Satz, bevor sie weiß, dass sie ihn sagt.

„Guten Abend, wir sind leider geschlossen. Termine nur nach—“

„BKA“, sagt Grotjahn und zeigt die Marke. „Wir machen heute eine Ausnahme.“

Die Frau verschluckt den Rest ihres Satzes und senkt den Blick auf die Marke, als müsse sie sich darin spiegeln. „Natürlich. Kann ich—?“

„Wer hat heute mit Dr. Bentheim gesprochen?“

„Heute? Also… Also der Vorstandsvorsitzende, Herr Lindau. Tele… telefonisch.“

„Wo finde ich ihn?“

„Er wohnt— er ist unterwegs. Ich habe nur eine—“

„—Handynummer. Genau die will ich.“

„Ich darf gar—“

„Doch, dürfen Sie. Eine Person ist tot. Er war möglicherweise Ihr Direktor. Und Sie wollen bestimmt nicht die sein, die die Ermittlung verzögert, weil sie sich an die Dienstanweisung für Besucher hält.“

Sie sieht ihn an, als hätte jemand das Wörterbuch der höflichen Antworten geklaut. Dann schreibt sie eine Nummer auf einen Zettel und schiebt ihn ihm hin. Ihre Finger zittern. „Was ist— also— ist Dr. Bentheim…?“

Er sieht sie einen Moment an. Er sagt nichts. Die Wahrheit ohne Worte ist manchmal gnädiger. Er dreht sich um. Auf halbem Weg zur Tür trifft er auf Charlotte Dröhnkamp.

„Sie haben wieder ohne mich angefangen“, sagt sie, als wäre das die Hauptsünde der Weltgeschichte.

„Sie haben die Elbphilharmonie nicht links liegen lassen.“

„Ich bin über den alten Elbtunnel gefahren, Grotjahn. War romantisch, aber doppelt so schnell.“

Er nickt, als hätte sie einen mathematischen Beweis geführt. „Wir brauchen Herrn Lindau. Vorstand. Und wir müssen die Räume von Bentheim sehen.“

„Ich habe den Vorstand informiert. Er kommt“, sagt sie. Ihr Blick gleitet nach links. Ein Glaskasten mit einem Modell: eine Stadt im Maßstab 1:500. Viele weiße Klötze. Ein Kanal, ein Park. Worte auf einer Tafel: Transparenz. Beteiligung. Moderne Stadt. Die Zukunft.

„Es ist nicht so, dass ich keine Ironie vertrage“, sagt sie.

„Die Stadt ist immer ironisch“, sagt Grotjahn. „Man muss nur hinhören, wie sie lacht.“

Die junge Frau hinter dem Tresen sagt: „Herr Lindau. In zehn Minuten.“

„Gut“, sagt Dröhnkamp. „Und jetzt Bentheims Büro.“

Sie gehen durch eine Glasdrehtür. Teppich, der Schritte schluckt. Ein Raum mit Blick auf die Alsterkanäle. Ein Schreibtisch, auf dem nicht viel liegt. Ein Laptop. Ein Füller. Ein Notizbuch mit Gummiband. Ein Poster an der Wand: Ein Hafenkran, in Formen abstrahiert. Darunter: STAU – Wir geben der Stadt Luft.

„Sarah?“

„Schon unterwegs“, sagt eine Stimme aus dem Flur.

„Schön, dass Sie eine Teleportationsfähigkeit entwickelt haben“, sagt Dröhnkamp trocken.

„Ich hatte meinen Tag“, sagt Sarah, steht in der Tür, der Einteiler jetzt halb geöffnet, die Handschuhe neu. „Finger weg vom Notizbuch, Grotjahn.“

„Warum ich?“

„Weil ich Sie kenne.“

Er hebt die Hände, geht ans Fenster. Draußen schiebt ein Barkassenmann sein Boot durchs Dunkel. Von hier sieht Hamburg aus wie ein Plan und nicht wie ein Zufall.

„Was riechen Sie?“, fragt Dröhnkamp, als würde sie einen Hund prüfen.

Er schließt kurz die Augen. „Kaffee. Kalte Asche. Neues Leder. Und ein Parfum. Herb. Nicht süß. Keine Vanille.“

„Keine Frau“, sagt sie.

„Oder eine Frau, die keine Vanille mag“, sagt er.

„Die seltenste Spezies der Stadt“, sagt sie. „Machen Sie Lindau.“

Er ruft die Nummer auf dem Zettel. Eine Männerstimme meldet sich, mittleres Timbre, zu kontrolliert. „Lindau.“

„Sonderermittler Grotjahn, BKA. Wir stehen in Ihrem Haus.“

„Ich weiß. Und ich möchte bitte, dass Sie—“

„—mit mir sprechen. Genau deswegen rufe ich.“

„Ist es wahr?“, sagt Lindau. Er sagt es so, als wäre das Wort Wahrheit auf fünf Silben gewachsen und man müsse jede einzeln anfassen.

„Es ist jemand tot. Wir gehen davon aus, dass es Dr. Marinus Bentheim ist. Eine Identifikation steht aus.“

„Gott. Ich… ich bin in fünf Minuten da.“

„Sie sagten zehn.“

„Ich habe mich beeilt.“

„Tun Sie es weiter.“

Er legt auf. Dröhnkamp sieht ihn an. „Der Mann übt Kontrolle. Das ist sein Beruf. Und es ist sein Reflex.“

„Und das heißt?“

„Wir werden gleich viel hören und wenig gesagt bekommen. Und in der Summe wird es wie eine klare Antwort klingen.“

„Ah. Transparenz“, sagt Grotjahn. „Ich liebe, wenn Dinge tun, was auf dem Poster steht.“

Sein Blick fällt auf das Notizbuch. Sarah hebt die Hand, ohne hinzusehen. Er hebt gleichzeitig seine, entschuldigend. Dröhnkamp geht zum Schreibtisch. Ihr Blick wandert. Sie nimmt die Kanten des Raums in Besitz, ohne die Finger zu benutzen. Das kann sie.

„Was wissen wir über Bentheim?“, fragt Grotjahn leise.

„Er hat früher eine Privatklinik geleitet“, sagt Dröhnkamp. „Dann ein Burn-out. Dann der Wechsel in die Stiftungswelt. Er war ein Gesicht. Ein Gesicht, das man gerne sah. Presse, Bürgerbeteiligung, Debatte. Er war überall, ohne überall zu sein. Verstehen Sie?“

„Er war ein Spiegel“, sagt Grotjahn.

„Genau.“

„Warum hat er Seemannsknoten am Rücken?“

„Das ist die Frage, die mich auch interessiert. Und dieser Anker.“ Sie sieht zu Sarah. „Haben wir was?“

„Noch nicht“, sagt Sarah. „Aber diese Brosche hat eine Gravur. Koordinaten.“

„Was?“

„Das ist keine Gravur zur Zier. Das sind Zahlen. Breitengrad. Längengrad.“

„Und was ist dort?“, fragt Grotjahn.

„Das finde ich raus“, sagt Murat Özdiler durchs Telefon, bevor irgendwer ihn angerufen hat.

„Özdiler, sind Sie eine Laus auf meinem Gerät?“, fragt Dröhnkamp, ohne aufzublicken.

„Ich höre immer mit, wenn es um Zahlen geht, die aussehen, als wollten sie in Google Maps gesteckt werden. Ich melde mich in fünf Minuten.“

„Wenn er das nur halb so schnell hält wie Lindau“, sagt Grotjahn, „haben wir eine Chance, beide gleichzeitig zu begrüßen.“

4

Lindau entpuppt sich als Mann, der das graue Haar so trägt, als habe er es selbst mit einem Faber-Castell-F Stift gezeichnet. Präzise. Er trägt Krawatte, die wie ein Statement wirkt in einer Welt, in der Krawatten Statements sind, die niemand mehr braucht. Seine Brille ist teuer. Sein Blick rechnet.

„Frau—?“

„Dröhnkamp“, sagt Charlotte. „BKA. Dies ist mein Kollege Grotjahn.“

„Mein Beileid“, sagt Lindau. Es klingt, als begrüße er ein Gremium.

„Wissen Sie, wo Dr. Bentheim heute den Tag verbracht hat?“, fragt Dröhnkamp ohne Einleitung.

„Vormittags eine Sitzung mit dem Senat. Mittag mit dem Senator für Stadtentwicklung. Nachmittags— er wollte auf eine Bootstaufe im Hafen. Ein Projekt von uns, ein Ponton für die kulturelle Nutzung. Symbolisch. Er mag Symbole.“

„Fischmarkt. Pontonanlage drei?“, fragt Grotjahn.

„Fünf“, sagt Lindau. „Drei ist—“ Er stockt. „Ist das wichtig?“

„Zur Zeit ist alles wichtig“, sagt Dröhnkamp.

„Hatte Bentheim Feinde?“, fragt Grotjahn.

„Feinde? Wir sind eine Stiftung. Wir arbeiten mit Bürgerinitiativen, mit Senat, mit Wirtschaft—“

„Feinde?“, wiederholt Grotjahn.

Lindau blinzelt. Zum ersten Mal ist da ein klein wenig Nicht-Kontrolle. „Er hat— wir haben natürlich— in—“

„Da ist eine Koordinatengravur in einer Ankerbrosche, die am Körper befestigt war. Sagt Ihnen der Begriff ‚Nachtkapitän‘ etwas?“, fragt Dröhnkamp kühl.

Lindau erstarrt. Es ist nur ein Muskel an der Wange. Aber es ist genug.

„Das ist… ein Begriff aus den Medien“, sagt er schließlich. „Eine— Erfindung. Ein—“

„Eine Zuschreibung“, sagt Grotjahn. „Ein Name für jemanden, der nachts Dinge ordnet, die bei Tag niemand sehen will. Ein Mann, der Regeln macht, die nicht in Gesetzestexten stehen. So was in der Art.“

„Das ist pulp“, sagt Lindau, und der englische Begriff rutscht ihm heraus, als hätte er ihn im Mund gedreht. „Wir sind eine Stiftung. Wir—“

„Herr Lindau“, sagt Dröhnkamp. „Wir finden heraus, ob Sie uns etwas verschweigen. Und wir finden heraus, ob Ihr Stiftungsgeschäft auf der Grenze zwischen Beteiligung und Bestechung balanciert. Das ist nicht Ihr Thema? Gut. Dann erzählen Sie mir, wer Dr. Bentheim gehasst hat.“

„Niemand hasst so jemanden“, sagt Lindau und er meint: Man hasst Konzepte, nicht Gesichter. „Aber— es gab Drohungen. Mails. Briefe.“

„Von wem?“

„Von einer Gruppe, die sich ‚die Vertäuten‘ nennt“, sagt Lindau. „Das ist so eine lose Bewegung von Hafenarbeitern, Traditionalisten— die finden, dass wir… die Hafenstadt verraten. Dass wir… Glashäuser bauen statt Netze flicken.“

„Vertäut“, sagt Grotjahn. „Klingt nach Ankern. Und Knoten.“ Er spürt, wie in seinem Kopf eine Spur entsteht, die noch kein Weg ist.

Sein Telefon summt wieder. „Özdiler.“

„Die Koordinaten gehören zur Kaimauer an der Reiherstiegschleuse“, sagt er. „Wilhelmsburg. Eine der alten. Nicht öffentlich. Sperrgebiet oft. Aber es gibt Lücken. Außerdem— die Gravur hat noch eine zweite Zahlenreihe, winzig. Das ist ein Zeitstempel.“

„Eine Uhrzeit?“

„Heute. 02:10.“

„Und was ist da passiert?“

„Das finde ich raus, wenn ihr mir eine OT genehmigt—“

„—habe ich nie gehört“, sagt Dröhnkamp. „Wir fahren jetzt zur Reiherstiegschleuse.“

„Und ich?“, fragt Lindau, der gemerkt hat, dass er gerade wieder Statist wird.

„Sie bleiben erreichbar“, sagt Dröhnkamp. „Und Sie stellen uns sämtliche Mails und Briefe der Vertäuten zur Verfügung. Und zwar gestern.“

„Ich— das ist juristisch—“

„Gestern“, wiederholt sie.

5

Wilhelmsburg. Reiherstieg. Eine Schleuse, die vom Mondlicht eine Farbe bekommt, die es im Farbfächer nicht gibt. Beton, Eisen, Wasser, die Statik der Dinge, die man nicht freiwillig berührt. Ein Bauzaun mit einem Schild: Betreten verboten. Gefahr. Ein Loch im Zaun. Es riecht nach Schlick und Spätherbst.

„Ich mag Ihre Schuhe“, sagt Grotjahn trocken, als Dröhnkamp durch den Zaun steigt, ohne etwas anzuhaben, was man Schuhe nennt. Es sind Stiefeletten, die Stil haben. Nicht für Schlick gemacht. Egal. Sie macht das. Sie macht immer das.

„Ich mag Ihr Schweigen“, sagt sie. „Kommt so selten vor.“

„Ich spare mich für den Nachtkapitän auf“, sagt er. „Dann rede ich ihm ein Loch in den Bauch.“

Sie stehen an der Kante der Kaimauer. Wasser schimmert. Wo die Koordinaten hinzeigen, ist ein dunkler Fleck im Beton, aus dem Metall ragt. Sarah leuchtet. Murat redet im Ohr. „Kamera. Alte. Schwenk nicht aktiv. Aber die Speicher— wenn die nicht ordentlich gesichert waren—“

„Waren sie nicht“, sagt Sarah, „weil man hier das ganze Geld für Beton ausgegeben hat.“

Eine Leiter ins Dunkel. Eine seitliche Tür, Eisen, rostig. Ein Schloss. Grotjahn geht in die Hocke. „Kann man aufbrechen“, sagt er. „Oder wir klingeln.“

„BKA“, sagt Dröhnkamp. Sie lächelt. Das ist ihr Witz. Er mag ihn.

Er greift in die Tasche, holt ein Werkzeug, das offiziell nicht in BKA-Handtaschen gehört. Er benutzt es. Das Schloss gibt nach. Der Raum, der sich öffnet, ist so groß wie ein Kiosk und so leer wie eine Idee, die nie zu Ende gedacht wurde. Ein Tisch. Ein Stuhl. Ein Haken in der Wand. An dem Haken: ein Stück Schnur, Seide, geflochten. Ein Knoten, der einmal nur fürs Schöne da gewesen sein könnte. Daneben: ein altes Funkgerät, maritimes Band. Ein moderner Konverter am Kabel. Er blinkt.

„Jemand spielt Kapitän“, sagt Grotjahn. „Jemand spricht auf Kanälen, auf denen nachts Schlepper reden.“

„Zeige ich Ihnen was?“, sagt Sarah. „Der Boden. Fußspuren. Zwei verschiedene. Eine schwer, größer als 44. Eine leichter, 39 vielleicht.“

„Ein Mann und eine Frau?“, sagt Grotjahn.

„Oder zwei Männer mit seltsam unterschiedlich kleinen Füßen. Oder ein Mann, der in fremde Schuhe gestiegen ist. Oder—“

„—wir machen daraus jetzt keine Philosophie“, sagt Dröhnkamp. Sie geht zum Funkgerät. Sie fasst es nicht an. Sie beugt sich. Es riecht nach kaltem Metall. „Murat?“

„Ja.“

„Können Sie ins Hafen-Log? Irgendwelche Funkzusammenbrüche heute Nacht? 02:10?“

„Das dauert.“

„Ich weiß. Machen Sie schnell.“

Grotjahn sieht auf den Tisch. Ein Blatt Papier. Keine Schrift, nur Linien. Abdrücke. Jemand hat darauf gezeichnet, dann die Zeichnung mitgenommen. Die Linien sind Druckspuren. Er knipst. Sarah knipst besser. „Das kann man sichtbar machen“, sagt sie. „Vielleicht.“

„Die Vertäuten“, sagt Dröhnkamp. „Wir brauchen einen Namen. Einen, der mehr ist als ein Kollektiv.“

„Hafen ist Familie“, sagt Grotjahn. „Familie redet nicht. Aber es gibt immer jemanden, der redet, weil er eine neue Familie will.“ Er tippt eine Kurzwahl. „Mario?“

„Jupp“, sagt Mario Spano, und man hört die Musik im Hintergrund. Latin. „Ich bin beschäftigt.“

„Mit wem?“

„Mit niemandem, der dich was angeht. Was willst du?“

„Hast du Kontakte zu Hafenarbeitern, die nicht mehr sind, die sie waren?“

„Ich habe Kontakte zu Leuten, die nie waren, die sie sagen, dass sie sind. Zählt das?“

„Eine Gruppe: ‚die Vertäuten‘. Kennst du die?“

„Klar kenn ich die. Eine Bier-und-Ehre Gruppe, die die Hafenromantik in Flaschen verkauft, wenn’s sein muss. Aber Vorsicht, Grotjahn. Manche von denen sind echte Romantiker. Das sind die gefährlichsten.“

„Ich brauche einen Namen. Jemanden, der den Mund aufmacht.“

„Gib mir eine Stunde.“

„Du hast eine halbe.“

„Schenk mir mal was, Alter.“

„Ich schenk dir meine Geduld. Das ist selten.“

„Ich beeil mich“, sagt Mario. Klick.

„Ein Anker“, sagt Dröhnkamp. „Eine Brosche mit Koordinaten. Ein Funkloch nachts. Und ein Stiftungsmann im Wasser.“

„Und ein Name, der nach Heldentod riecht: Nachtkapitän“, sagt Grotjahn. „Ich mag’s nicht. Ist zu hübsch.“

„Hübsch in Hamburg hat immer Rost“, sagt sie.

Ihr Telefon vibriert. „Özdiler.“

„Es gibt um 02:10 eine kurze Störung auf Kanal 12. Schlepperbereich. Eine Stimme hat ‚Fahrt sechs Knoten, Kurs Süd-Südost‘ gesagt. Danach Stille. Und im Log des Schleusendienstes steht: manuelle Öffnung für Wartung. Nichts geplant.“

„Der Nachtkapitän macht Schleusen auf“, sagt Grotjahn. „Schön.“

„Nicht schön“, sagt Dröhnkamp. „Effizient.“

„Ich hab was“, sagt Sarah. „Das Papier. Mit einer Seitenlichtlampe. Da ist eine Skizze. Drei Kästchen. Zahlen. ‚12/6‘ und ‚S-SO‘ und ein… kleines Kreuz. Das Kreuz dort, wo wir stehen.“

„Eine Wegbeschreibung“, sagt Grotjahn.

„Oder ein Spiel“, sagt Sarah. „Oder beides.“

6

Sie sind zurück in der Zentrale, die aussieht wie ein Startup-Büro, wenn man die Luft dort rausgelassen hat und nur noch Ernst übrig bleibt. Murat sitzt vor drei Bildschirmen. Einer zeigt Funkprotokolle. Einer Nagios-artige Diagramme, die man nur versteht, wenn man Murat ist. Einer die ewig triste Oberfläche einer Datenbankabfrage, die alle Karten der Stadt enthält, die man legal oder illegal anzapfen kann. Sarah legt den Anker in eine Schale, die aussieht wie etwas aus einer sehr sorgfältigen Küche. Sie behandelt ihn, als wäre er eine Idee.

„Gravur“, sagt sie. „Neben den Koordinaten noch etwas. Ein Wort. Ein Name.“

„Was?“

„‚Noack‘“, sagt Sarah. „Sehr fein. Vielleicht ein Juwelier. Oder der, der die Gravur gemacht hat. Oder der Besitzer.“

„Noack“, wiederholt Grotjahn. „Hafen? Fischhalle. Noack Fischgroßhandel. Aber das passt nicht.“

„Noack ist auch der Name einer alten Goldschmiede in Ottensen“, sagt Dröhnkamp. „Ich trage manchmal was von denen.“

„Ich bin beeindruckt“, sagt Grotjahn.

„Sie sind leicht zu beeindrucken“, sagt sie.

Murat klopft mit zwei Fingern auf seine Tastatur, als würde er zichte eine Morsebotschaft schicken. „Noack. Gold- und Silberschmied, gegründet 1911, Ottensen. Spezialität: maritime Schmuckstücke. Anker, Steuer, Kompass. Auftragsarbeiten für die Reederei… Achtung. Sie haben vor drei Wochen eine Bestellung bekommen für zehn silberne Ankerbroschen. Gravur inklusive. Auftragsname: Gemeinnütziges Netzwerk HafenKlar.“

„Hafenklar?“, sagt Grotjahn. „Nie gehört.“

„Eine UG, eingetragen vor vier Monaten in der Schanze. Kein Impressum, kein Web. Nur eine Postfachadresse. Zahler: privat. Bar.“

„Der Nachtkapitän zahlt bar“, sagt Dröhnkamp. „Er ist altmodischer als wir dachten.“

„Ich habe deinen Namen“, sagt Mario in der Tür. Er sieht aus, als hätte er seit drei Stunden gelacht und dann aufgehört, als er uns gesehen hat. „Die Vertäuten reden nicht gerne. Aber sie trinken gerne. Und jemand, der gerne trinkt und redet, heißt meistens Olli. In diesem Fall: Olli Kracht. Früher Schlepperfahrer. Heute: arbeitslos. Dem Hafen zu modern. Der Stadt zu alt. Kurzum: sauer.“

„Adresse?“, fragt Dröhnkamp.

„Veddel. Sieldeich. Ein Zimmer, viel Zigaretten. Er war am Reiherstieg. Er hat nicht viel gesagt. Aber er hat gesagt: Der Nachtkapitän benutzt das Funkgerät im Süd-Schuppen. Und: ‚Er trägt Hafen an der Brust.‘“

„An der Brust“, wiederholt Grotjahn. „Das ist der Anker.“

„Chef?“, sagt Dröhnkamp und dreht sich zu Koopmann, der in seinem Glaskäfig steht und gelegentlich so aussieht, als hätte er vergessen wie man schläft und als würde er genau deswegen länger leben. „Wir brauchen für morgen früh Durchsuchungsbeschlüsse. Ottensen, Goldschmied Noack – nur Einsicht in Auftragsdaten, keine Beschlagnahme vorerst. Veddel, Sieldeich, Olli Kracht, wegen Gefahr im Verzug. Und wir wollen das HafenKlar-Postfach.“

„Bekommen Sie“, sagt Koopmann. „Aber vorsichtig. Im Hafen weiß immer jemand früher Bescheid, als wir eine Tür aufmachen können.“

„Wir gehen noch heute Nacht zur Veddel“, sagt Dröhnkamp.

„Ich fahre“, sagt Grotjahn.

„Nein“, sagt sie. „Ich fahre. Wenn Sie fahren, fahren wir in den falschen Schuppen, weil Sie wieder die Lichter angucken.“

„Ich mag Ihre Führungsstärke“, sagt er.

„Und ich mag Ihren Humor genau so lange, bis er im falschen Moment auf die Bühne tritt“, sagt sie. „Bleiben Sie hinter mir. Einmal. Nur dieses eine Mal.“

Sarah hält ihm den Anker hin. „Vorsicht“, sagt sie. „Das Ding ist etwas, das Sie wieder vergessen könnten, wenn Sie es nur als Schmuck sehen. Sehen Sie es als Nachricht.“

„Was sagt es?“, fragt er.

„Dass jemand uns führen will“, sagt sie. „Und dass jemand glaubt, dass wir folgen.“

„Wir folgen“, sagt er. „Aber wir gehen irgendwann einen Schritt schneller, als er denkt.“

„Nachtkapitän“, sagt Murat leise, mehr zu sich als zu ihnen. „Wer zur Hölle nennt sich so?“

„Jemand, der in einer Stadt wie dieser sein will, was der Legende nach fehlte: Ordnung bei Nacht“, sagt Koopmann.

„Oder jemand, der spielen will“, sagt Dröhnkamp. „Wir werden sehen, wie lange er spielt.“

7

Veddel. Sieldeich. Ein Haus, in dem Laminat auf Beton gelegt wurde und der Beton nach oben schlägt, seit Jahren. Es riecht nach Nikotin, nach Kohl, nach dem Fett vom Dönerladen unten und nach dem Leben von Menschen, die keine Wahl mehr haben. Olli Krachts Tür hat ein Namensschild aus Papier. Es ist mit Tesafilm festgeklebt. Jemand hat eine Ecke abgerissen.

„Polizei. BKA!“, ruft Dröhnkamp, klopft, klopft nochmal. Keine Antwort. Mario tritt vor. Er hat etwas in seiner Jacke, das die Tür nicht mag. Die Tür gibt nach. Weil Türen in bestimmten Ecken der Stadt grundsätzlich nachgeben, wenn einer so klopft, dass sie glauben, es hätte keinen Zweck zu bleiben.

Ein Zimmer, eine Matratze, ein Fernseher, ein Tisch. Der Tisch hat Wasserflecken, der Aschenbecher ist voll. Auf dem Tisch: eine Zeitung. Aufgeschlagen auf einer Seite, auf der ein Foto von Dr. Marinus Bentheim ist. Daneben: ein Anker. Silber. Ohne Gravur. Ein anderes. Eine Kopie. Oder eines der zehn.

„Nicht anfassen“, sagt Sarah, die in solchen Situationen zu erscheinen scheint, weil sie immer da ist, wenn man denkt, man müsse jetzt anfassen. Sie hat eine Lampe. Sie leuchtet an die Wand. An der Wand sind Fotos mit Reißzwecken befestigt. Alte Barkassen. Schleppzüge. Ein Schwarzweißfoto, auf dem Männer mit Kappen stehen. Einer in der Mitte trägt eine Brosche. Man kann den Umriss erkennen. Ein Anker.

„Das ist sein Vater“, sagt eine Stimme hinter ihnen. Eine Frau, etwa fünfzig, zu dünn. „Ollis Vater. War auch Schlepper. Hat mal mit dem Senator getrunken. Vor Zeiten.“ „Wer sind Sie?“, fragt Dröhnkamp ruhig. „Nachbarin“, sagt sie. „Ich hab den Schlüssel. Wenn er sich einsperrt. Wegen— naja. Sie wissen schon.“

„Wo ist er?“, fragt Mario.

„War hier. Vorhin. Hat geschrien. Hat gesagt: ‚Die machen alles kaputt.‘ Dann ist er raus. Mit wem? Weiß ich nicht. War einer dabei. Großer. Trittsicher. Auch nachts.“

„Anker an der Brust?“, fragt Grotjahn.

Sie blinzelt. „Was?“ „Nichts“, sagt er. „Danke.“

Er sieht auf die Zeitung. Die Überschrift: „Direktor der STAU-Stiftung vermisst.“ Presse hat die Uhr vorangestellt. Es ist immer so. Neben dem Bild von Bentheim ein Kommentar: „Die Stadt und ihre Führer“. Er liest nicht. Worte sind nicht die richtige Munition in dieser Nacht.

„Wir sind spät“, sagt Dröhnkamp. Es klingt nicht nach Schuld. Es klingt nach Diagnose. „Wir gehen morgen früh zu Noack. Mario, du bringst mir bis dahin den, der mit Olli Kracht gestern am Reiherstieg war.“ „Das ist ein Satz, der sich so anhört, als hätte ich eine Zauberei in der Tasche“, sagt Mario. „Du hast Freundschaft in der Tasche“, sagt sie. „Und die ist manchmal schlimmer.“

„Chef?“, sagt Grotjahn. Er hat die Leitung offen. Koopmann ist Stille am anderen Ende. Die Art Stille, in der jemand wartet und nicht atmet. „Wir haben ein Muster. Broschen, Koordinaten, Funk. Und einen Namen, der uns lächerlich machen will. Und wir haben jemanden, der uns mitführt. Ich will morgen die Schleuse dicht gemacht sehen. Und ich will, dass wir einen Schlepperfahrer haben, der uns die Frequenzen spielt, wie sie in einer Nacht wie dieser gesungen werden.“ „Bekommen Sie“, sagt Koopmann.

„Und schlafen Sie. Drei Stunden. Mehr nicht.“

„Sie schlafen nie“, sagt Grotjahn.

„Ich habe Ihnen das schon mal erklärt“, sagt Koopmann. „Das war die wichtigste Einstellungsvoraussetzung für meine Position.“

Grotjahn legt auf. Er sieht zu Sarah. Sie hält den Anker gegen das Licht. Die Gravur glitzert. Noack. Zahlen. Ein Tropfen Wasser von der Elbe hängt daran, als wäre er kostbar.

„Wissen Sie, was mich nervt?“, sagt Sarah. „Dass jemand so sicher ist, dass wir ihm folgen müssen, dass er uns sogar die Abkürzung zeigt.“ „Vielleicht kann er einfach besser navigieren“, sagt Grotjahn. „Ich navigiere gerne“, sagt sie. „Aber ich hasse es, wenn ich eine Karte in der Hand habe, die ich nicht selbst gezeichnet habe.“

„Komm“, sagt Dröhnkamp. „Wir zeichnen morgen unsere eigene.“ Sie geht zur Tür. Sie dreht sich noch einmal um. „Und hören Sie auf, die Lichter zu betrachten, Grotjahn.“ „Hamburg bei Nacht ist eine wunderschöne Stadt“, sagt er. „Das ist es, was mir Sorgen macht“, sagt sie.

Sie gehen hinaus. Der Flur riecht nach Kohl und Kaffee. Jemand schnarcht hinter einer Tür. Eine Katze streicht vorbei, schwarz und weiß, sieht Grotjahn an, als wüsste sie etwas, das er noch nicht weiß. Er hebt die Hand. Die Katze dreht sich weg.

Die Nacht ist weich geworden. Die Lichter am Hafen sind eine Spur müder. Die Elbe atmet weiter. Und irgendwo sitzt einer und nennt sich Nachtkapitän und wartet darauf, dass jemand anders sein Schiff nimmt.

Grotjahn weiß, wie man an Bord geht. Und er weiß, wie man einen Knoten löst, der zu gut gemacht ist. Oder er lernt es. Bis morgens. Drei Stunden.

8

Morgengrau ist in Hamburg kein Versprechen, sondern eine Aufforderung. Die Luft riecht nach nassem Holz, nach frisch aufgeschnittener Brötchentüte und nach etwas, das man mit dem dritten Kaffee wegbekommt: Restnacht.

„Wenn Sie wach sind, arbeiten Sie besser“, sagt Dröhnkamp und stellt einen dampfenden Pappbecher auf Grotjahns Tisch. „Wenn nicht, trinken Sie trotzdem. Placebo wirkt auch bei Koffein.“

„Ich mag Ihre Fürsorge“, sagt er und nimmt einen Schluck. Es ist zu heiß, zu bitter, genau richtig.

„Noack öffnet um acht“, sagt sie. „Wir sind zu früh. Also nehmen wir uns vorher HafenKlar.“

„Postfach in der Schanze, UG, Barzahler“, sagt Grotjahn. „Also real: jemand, der nicht gefunden werden will, der aber genug Ordnungssinn hat, um die Scheine nach der Nummer zu sortieren.“

„Özdiler?“, ruft sie in den Raum. Murat hebt den Kopf, die Haare stehen in Winkeln, die ein Winkelmesser nicht messen kann.

„Ich habe die Hafenklar-Registrierung gezogen“, sagt er. „Gemacht über eine Gründungsagentur. So eine, die dir alles baut und dann verschwindet. Der Auftraggeber war eine Frau. Falscher Name, aber ich habe die Kamerabilder. Sie hat eine Kappe getragen. Ich habe ihre Ganglinie gezogen…“

„Ihre was?“, fragt Mario, der gerade zur Tür rein kommt und riecht, als hätte er die Nacht in drei Kneipen und zwei Gesprächen verbracht.

„Die Summe aus Schrittlänge, Hüftbewegung, Schulterrotation“, erklärt Murat. „Jeder Mensch geht wie er unterschreibt. Sie war vor zwei Monaten in der Schanze und vor drei Wochen bei Noack.“

„Und?“, fragt Dröhnkamp.

„Ich glaube, es ist dieselbe Frau.“

Sarah steht neben ihm. „Größe?“

„Einsfünfundsiebzig plus minus zwei. Trainiert. Trägt flache Schuhe, wenn sie was erledigt. Keine künstliche Hüftverlagerung. Keine Handtasche. Rucksack. Linksschulter dominiert.“

„Hafen“, sagt Sarah. „Oder jemand, der so tun will.“

„Gesicht?“, fragt Grotjahn.

„Maskiert. Aber ich habe was besseres: die Ankerbroschen. Noack hat die Gravuren mit einer Laserfeinheit gesetzt, die auf Seriennummer schließt. Anders gesagt: jede Brosche hat eine unsichtbare zweite Kennung, nicht nur ‚Noack‘, sondern eine Folge von Mikropunkten. Ich habe zwei gelesen. Der vom Fund am Fischmarkt und der bei Olli. Nummern drei und sieben.“

„Zehn bestellt, zwei identifiziert, bleiben acht“, sagt Mario.

„Und ich habe Olli Kracht“, setzt er nach, als wollte er den Ton wechseln. „Geschnappt am Überseeboulevard. Er wollte in eine Baustelle rein. Hat geschrien, dass er dem Beton zeigen will, was Wasser kann. Er hat Tränen in den Augen. Keine Show.“

„Gut“, sagt Dröhnkamp. „Du fährst Olli ins Präsidium, redest, bis er atmet. Nicht drängen. Wir brauchen Namen, Orte, Wiederholungen. Er weiß, wer neben ihm in der Schleuse stand.“

„Er weiß es. Er will es nicht sagen“, nickt Mario. „Ich kriege ihn hin.“

„Noack“, sagt Dröhnkamp zu Sarah und Grotjahn. „Sie kommen mit. Ich will wissen, wer die Frau ist, die zehn Anker bestellt, die in dieser Stadt plötzlich zu einem Vokabular geworden sind.“

„Und ich?“, fragt Murat.

„Sie sind mein Ohr“, sagt sie. „Funk, Frequenzen, Schleusensteuerungen. Ich will Alarm, wenn heute wieder ein manuelles Öffnen gebucht wird, ohne dass ein Wartungsplan da ist. Und ich will auf meinem Handy vibrieren, wenn irgendwo eine Brosche ‚spricht‘.“

„Die sprechen nicht“, sagt Murat. „Aber ich mache aus allem Telegramm.“

„Chef?“, ruft sie Richtung Glas.

Koopmann steht da, die Hände in den Taschen, als hätte er sie dort verwahrt, damit sie nichts tun, was er nicht vorher gebilligt hat. „Ja?“

„Wir gehen Noack. Mario nimmt Olli. Murat hört. Und wir sichern heute Nacht die Reiherstieg. Zwei Boote. Einer von der Wasserschutz dazu. Und ich will, dass der Senator von der Stadtentwicklung eine Pressemitteilung vorbereitet, die nichts sagt und trotzdem wirkt, als hätten wir alles im Griff.“

„Das kann ich nicht anweisen“, sagt Koopmann.

„Dann rufen Sie ihn an und sagen Sie: Frau Dröhnkamp rät, dass er so tut“, sagt sie.

Koopmanns Mundwinkel zuckt. „Ich rufe ihn an.“

9

Noack, Gold- und Silberschmied, ist so alt, wie das Holz an der Ladentheke. Drinnen riecht es nach Metall, Polierpaste und dem Staub, der von Geschichten stammt. Ein Mann mit weißem Haar und einer Lupe auf der Stirn hebt den Kopf wie eine Schildkröte, die wissen will, ob es sich lohnt, rauszugehen.

„Herr Noack?“, fragt Dröhnkamp und zeigt die Marke.

„Mein Sohn ist der Chef“, sagt er. „Ich bin nur das Gedächtnis.“

„Dann brauchen wir Sie“, sagt Sarah.

Es dauert, bis der Sohn kommt. In der Zeit weiß der Alte viel: dass es die Anker schon immer gab, in guten Zeiten mehr, in schlechten weniger. Dass Seemänner etwas tragen wollen, das nach Heimat aussieht. Dass neue Reiche gerne alte Symbole kaufen.

„Die Bestellung HafenKlar“, sagt Dröhnkamp, als der Sohn da ist. Er hat schwarze Hände vom Polieren und einen Blick, der misstraut, bevor er vertraut.

„Zehn Stück. Silber. Feine Arbeit. Ich weiß.“

„Die Gravur ‚Noack‘ haben Sie gesetzt. Und die Koordinaten?“, fragt Sarah.

„Von uns“, sagt der Sohn. „Gewünscht. Unterschiedlich. Jede Brosche mit anderen. Ich habe gedacht: Was soll der Quatsch. Aber ich habe ihn gemacht.“

„Wer hat bestellt?“, fragt Dröhnkamp.

„Eine Frau. Bezahlt bar. Keine Reaktion. Kein Lächeln. Kein Danke. Sie wusste, was sie will.“

„Beschreibung?“, sagt Grotjahn.

„Kappe. Kurze Haare drunter, glaube ich. Aber schwer zu sagen. Groß. Schlank. Bewegungen wie jemand, der nicht stolpert. Hände: nicht weich.“

„Stimmen mit Murats Ganglinien überein“, murmelt Sarah. „Haben Sie noch etwas von ihr? Verpackung, Fingerabdruck…“

„Ich habe die Tüten weggeschmissen“, sagt der Sohn. „Wissen Sie, wie wenig Platz wir hier haben?“

„Die Koordinaten“, sagt Grotjahn. „Welche?“

Der Sohn holt ein Buch. Nicht digital. Echtes Buch. Er blättert. „Hier. Jede Brosche, eine Nummer, Koordinaten, Datum.“

„Nummer drei: Fischmarkt, Ponton drei“, liest Sarah. „Nummer sieben: Veddel, Sieldeich Ecke Tunnel. Passt. Nummer eins…“

„…Elbpark Entenwerder. Kunstponton“, sagt Grotjahn. „Heute Abend. Eröffnung irgendeiner Installation?“

„Morgen“, sagt der Sohn. „Aber aufgebaut wird heute.“

„Nummer fünf?“, fragt Dröhnkamp.

„Teufelsbrück. Alte Anlegerkante.“

„Zehn?“, fragt Sarah.

„Kehrwiederspitze. Speicherstadt.“

Dröhnkamp atmet ein. „Das ist eine Kette“, sagt sie. „Eine Linie, die eine Geschichte erzählt.“

„Oder eine, die Schiffe lenkt“, sagt Grotjahn. „Wenn du die Funkkanäle beherrschst und die Schleusen, kannst du mit fünf Sätzen eine Fahrt so umlenken, dass ein Ponton an der falschen Seite landet.“

„Oder dass jemand, der im Weg ist, im Weg bleibt“, sagt Sarah.

„Kennen Sie die Frau wieder, wenn Sie sie sehen?“, fragt Dröhnkamp den Sohn.

„Wenn sie nicht wieder ihre Kappe ins Gesicht zieht“, sagt er. „Ich war vierzig Jahre am Werk. Leute kriegst du in die Finger. Und manche bleiben drin.“

„Gut“, sagt Dröhnkamp. „Wir brauchen Ihre Aufzeichnungen als Kopie. Und Ihre Diskretion.“

„Ich rede nicht“, sagt der Alte. „Und wenn ich rede, rede ich nur über Gold.“

„Das tun viele“, sagt Grotjahn. „Nur mit anderen Metallen.“

Als sie wieder auf der Straße stehen, sagt Sarah: „Entenwerder. Heute. Wenn die Frau kommt, dann da.“

„Und wenn sie nicht kommt?“, fragt Grotjahn.

„Dann macht sie es woanders“, sagt Dröhnkamp. „Und wir müssen so tun, als wüssten wir nicht, dass sie das weiß.“

10

Mario sitzt Olli gegenüber wie einer, der gelernt hat, wann es besser ist, die Zunge ans Dach des Mundes zu legen. Olli hat die Hände um einen Becher, der kalt ist. Er tut so, als wäre er warm. Sein Blick fährt hin und her, als fuhr er einen Schlepper in dichtem Nebel.

„Ich will niemanden verraten“, sagt er.

„Ich will, dass du lebst“, sagt Mario. „Und dass die Stadt nicht tut, was andere nachts wollen.“

„Die Stadt?“, Olli lacht. Es ist ein Laut ohne Humor. „Die Stadt sind die, die mich rausgeschmissen haben.“

„Die Stadt ist auch der da draußen, der dir die Zigarette gibt, wenn du keine mehr hast“, sagt Mario. „Der Nachtkapitän ist nicht die Stadt. Der ist ein Typ mit einer Idee. Und Ideen sind gefährlich, wenn sie nur im Kopf von einem sind.“

„Er hat gesagt, er bringt Ordnung zurück“, murmelt Olli. „Er hat gesagt, die Schleusen gehören denen, die sie kennen. Nicht denen, die sie haben.“

„Wie heißt er?“, fragt Mario.

Olli schweigt. Er atmet, als wären seine Rippen zu eng. Dann: „Er heißt nicht so, wie er heißt. Er hat drei Namen. Einer ist für uns. Nachtkapitän. Einer ist für Fremde. Hennigs. Einer ist für sich. Den sagt er keinem.“

„Hennigs“, wiederholt Mario. „Das ist ein Name. Kein guter, kein schlechter. Einfach einer.“

„Er hat die Anker gebracht“, sagt Olli. „Er hat gesagt, wer den Anker an der Brust trägt, ist sicher. Und wer keinen hat, ist im Weg.“

„Wer hat noch so einen Anker?“, fragt Mario. „Namen.“

Olli fährt sich über die Stirn. „Kalle vom Ponton. Hedi. Die, die alle Hedi nennen, aber nicht die Hedi vom Schiff. Eine andere. Jüngere. Und… eine Frau. Die sagt, sie war mal auf Langfahrt. Ich glaub’s ihr.“

„Die Frau mit der Kappe?“, fragt Mario.

Olli nickt. „Die mit dem Gang, der wie ein Seegang ist.“

„Wo finde ich Hennigs?“, fragt Mario.

„Er findet dich“, sagt Olli. „Wenn du ihn finden willst.“

„Tu so, als wolltest du ihn nicht finden“, sagt Mario. „Aber sag’s mir vorher.“

Olli sieht ihn an. Da ist kurz etwas, das die Form von Vertrauen hat, aber noch kein Gewicht. „Ich sag’s dir. Aber wenn ich sterbe, ist es nicht, weil ich geredet hab. Es ist, weil die Schleuse zu ist.“

5

Entenwerder. Der Kunstponton glänzt im grauen Licht, als wäre er gerade aus dem Wasser getaucht. Ein Kran schwenkt, Lasten werden verbracht. Menschen in gelben Westen, die so tun, als wäre alles normal. Das ist ihre Professionalität.

„Sie stehen im Weg“, sagt einer.

„Wir stehen immer im Weg“, sagt Dröhnkamp und zeigt die Marke. „Das ist der Trick.“

Der Goldschmiedesohn ist da. Er steht am Rand, tut so, als würde er die Elbe bewundern. Sarah steht drei Meter weiter, sieht aus, als würde sie sich für die Geometrie der Schweißnähte interessieren. Grotjahn sitzt auf einer Bank, auf der jemand Herz + Herz eingeritzt hat. Er trinkt schlechten Kaffee aus einer Thermoskanne.

„Sie kommt“, sagt der Sohn, ohne die Lippen zu bewegen.

„Links?“, fragt Sarah.

„Rechts. Von der Brücke“, sagt er. „Kappe. Rucksack.“

Grotjahn sieht sie. Murats Ganglinie materialisiert sich in Fleisch und Stoff. Größe, Schultern, die nicht stoßen. Sie bleibt stehen, als hätte jemand einen Punkt auf den Boden gemalt. Sie sieht auf den Ponton. Sie atmet. Und sie berührt etwas an ihrer Brust. Ein Anker. Klein, silbern. Nummer…?

„Ruhig“, sagt Dröhnkamp. „Noch nicht.“

Die Frau dreht sich. Ihr Gesicht ist Schatten. Sie geht zum Brückenkopf. Ein Mann in gelber Weste tritt zu ihr, sagt etwas. Sie lächelt nicht. Sie zeigt etwas in der Hand. Der Mann nickt und geht. Er hätte nein sagen sollen. Er sagt ja.

„Jetzt“, sagt Dröhnkamp.

Sie gehen. Nicht rennend. Entscheidend ist das Tempo. Wer rennt, verrät, dass er nicht weiß, ob er es schafft. Wer geht, sagt: ich bin sowieso da. Grotjahn ist zuerst neben ihr. „Guten Tag“, sagt er. „Schöner Anker.“

Sie dreht den Kopf. Ihre Augen sind grau, als hätten sie das Wasser gespeichert. „Gehen Sie weg“, sagt sie.

„Ich wollte nur fragen, ob Sie bei Noack einkaufen“, sagt er und lächelt mild.

„Gehen Sie weg“, wiederholt sie. Ihre Hand ist an ihrem Rucksack. Nicht am Reißverschluss. Unten. Am Boden.

„Nicht“, sagt Sarah. Sie ist da. Ein Schritt hinter, diagonale Linie. „Nicht, sonst tut es Ihnen weh.“

Die Frau sieht sie an. Eine Sekunde. Zwei. Dann lässt sie den Rucksack los. „Später“, sagt sie. Es ist kein Drohen. Es ist eine Feststellung, die sie selbst überrascht.

„Wie heißen Sie?“, fragt Dröhnkamp.

„Ich heiße heute nicht“, sagt sie. „Ich habe viel zu tun.“

„Sie heißen ‚die mit der Kappe‘“, sagt Grotjahn. „Das ist auch ein Name.“

„Sie hören Funk?“, fragt sie plötzlich. „Sie hören zu, wie wir reden?“

„Wir“, sagt Sarah leise und sieht sie an, als hätte sie etwas erkannt, das nichts mit dem Rucksack zu tun hat.

Die Frau blinzelt. Kurz. Dann lacht sie. Ein Laut, der alles und nichts ist. „Wir sehen uns“, sagt sie und geht. Nicht schnell, nicht langsam. Zwei Männer in gelben Westen stehen im Weg, ohne es zu wissen. Dröhnkamp setzt an. Sarah hebt die Hand. „Nicht“, sagt sie.

„Warum?“, faucht Dröhnkamp.

„Weil sie uns lässt“, sagt Sarah. „Und weil sie gleich reden wird, wenn sie reden will. Nicht, wenn wir wollen.“

„Ich hasse Orakel“, sagt Dröhnkamp.

„Ich mag Seegang“, sagt Sarah.

„Das war’s?“, fragt der Sohn.

„Für den Vormittag“, sagt Grotjahn. Er sieht auf den Ponton. Er stellt sich vor, wie eine Stimme auf Kanal 12 sagt: „Sechs Knoten, Süd-Südost.“ Und wie ein Boot gehorcht, weil es gelernt hat zu gehorchen.

„Chef?“, sagt Dröhnkamp ins Telefon.

„Ja.“

„Wir hatten sie. Sie ist entglitten. Nicht, weil wir zu langsam waren. Weil sie wusste, dass wir gehen.“

„Dann gehen Sie dahin, wo sie glaubt, dass Sie nicht hingehen“, sagt Koopmann.

„Schleuse“, sagt sie.

„Schleuse“, sagt er.

11

Reiherstieg. Es ist Tag. Tag sieht aus wie Nacht, nur mit mehr Geräusch. Ein Mann von der Schleuse steht da und tut so, als würde er eine Leiter zählen. „Ihr da“, sagt er. „Was soll das?“

„BKA“, sagt Dröhnkamp.

„Ja, ja“, sagt er. „Hab ich mir gedacht. War gestern Nacht auch so. Leute, die tun, als wüssten sie was, und nichts sagen. Und dann schreit irgendwo einer: Mach auf.“

„Wer hat geschrien?“, fragt Grotjahn.

„Funk“, sagt er. „Weiß ich, was das für einer ist? Klang wie… als hätte er das gelernt. Einer, der nicht sagt ‚machen Sie mal bitte‘, sondern ‚auf‘.“

„Hennigs?“, fragt Mario, der dazugekommen ist, mit Olli an der Seite, der bleich ist, aber da.

Der Schleusenmann zuckt die Schultern. „Kann sein. Wenn ich einen Hennigs suche, finde ich drei im Telefonbuch. Und keinen im Funk.“

„Heute Nacht machen Sie nicht auf“, sagt Dröhnkamp. „Nur, wenn ich es sage.“

„Und wenn einer mit mehr Sternen als Sie sagt: doch?“, fragt er.

„Dann bilden wir eine Arbeitsgruppe und schreiben einen Bericht“, sagt sie. „Und Sie machen nicht auf.“

Er nickt. „Gut.“ Er sieht Olli an. Es ist ein Blick, der sagt: ich kenne dich. Olli senkt den Kopf.

„Ich habe ihm gesagt, er lebt“, murmelt Mario.

„Er wird es irgendwann glauben“, sagt Dröhnkamp.

„Und bis dahin?“, fragt Grotjahn.

„Bis dahin halten wir ihn davon ab, in eine Baustelle zu laufen“, sagt Mario.

„Ich habe mir die Frequenzen angesehen“, meldet sich Murat über den Lautsprecher des Dienstwagens, der wie immer irgendwo steht, wo er nicht stehen darf. „Kanal 12, 16, 67. Es gibt eine neue Stimme. Unbekanntes Call Sign. ‚Kapitän Nachts‘. Kein Witz. So hat er sich genannt. Zwei Mal. Kurz.“

„Er hat Humor“, sagt Grotjahn.

„Er hat Hybris“, sagt Dröhnkamp.

„Beides die gleiche Wurzel“, sagt Sarah.

„Heute Nacht“, sagt Dröhnkamp. „Stellen wir eine Falle. Aber wir tun so, als wäre es eine Einladung.“

„Wie?“, fragt Mario.

„Wir legen einen Anker an die Brust“, sagt sie. „Grotjahn, Sie mögen doch Schmuck.“

„Ich trage ihn überall mit mir“, sagt er und tippt gegen sein Herz. „Sarkasmus.“

„Kein Sarkasmus“, sagt sie. „Wir hängen Ihnen eine Brosche um. Nummer fünf. Teufelsbrück. Sie zeigen sich. Sie halten sich. Und dann hören Sie, ob er Sie für einen von ihnen hält.“

„Und wenn ja?“, fragt er.

„Dann reden Sie mit ihm. Und wenn nein, dann reden Sie schneller.“

„Wird nett“, sagt er. Er weiß, dass es nicht nett wird. Aber nett ist kein Kriterium.

12

Teufelsbrück am Abend hat etwas von einer Theaterprobe. Die Bühne ist da: der Anleger, die Schiffe, die Menschen, die gehen, als würden sie eine Rolle spielen, die sie nicht kennen, aber schon immer geprobt haben. Grotjahn steht an der Kante. An seiner Brust glänzt ein Anker. Sarah hat ihn ihm angelegt, als wäre er ein Orden. „Wenn Sie sterben“, hat sie gesagt, „ist das nicht meinetwegen.“

„Tröstlich“, hat er gesagt.

„Kanal 12 offen“, sagt Murat ins Ohr. „Ich höre mit.“

„WSP ist bereit“, sagt Stiller. „Zwei Boote, Motoren warm.“

„Nicht zu warm“, sagt Dröhnkamp. „Er riecht das.“

„Wie war noch der Plan?“, fragt Mario.

„Wir tun so, als hätten wir keinen“, sagt sie.

Grotjahn sieht auf die Elbe. Ein Schlepper zieht einen Leichter. Eine Barkasse fährt, als hätte sie Hunger. Menschen stehen und fotografieren Lichter, die in ihrer Linse zu Sternen werden. Er atmet gleichmäßig. Er denkt nicht an Nachtkapitän. Er denkt an Fischbrötchen. Das hilft.

„Kanal 12“, sagt eine Stimme. Klar. Ruhig. „Alle Einheiten im Bereich Teufelsbrück. Achtung auf Anweisung. Fahrt reduzieren auf vier Knoten. Kurs West.“

„Da ist er“, sagt Murat. „Call Sign ‚Kapitän Nachts‘.“

„Nicht reagieren“, sagt Dröhnkamp.

Ein alter Mann neben Grotjahn sagt: „Die reden immer so komisch. Früher hat man ‚Mach mal langsam‘ gesagt.“

„Früher war mehr Wasser“, sagt Grotjahn.

„Können Sie mal rüberkommen?“, sagt die Stimme. Es ist nicht im Funk. Es ist hinter ihm. Er dreht sich nicht. Er dreht den Kopf minimal. Die Frau mit der Kappe steht genau da, wo sie sein sollte, wenn sie nicht da sein sollte. „Schöner Anker“, sagt sie. „Nummer fünf. Teufelsbrück. Ich hätte Sie auf sieben geschätzt.“

„Ich trage, was ich bekomme“, sagt er.

„Heute bekommen Sie nichts“, sagt sie. „Heute geben Sie.“

„Was?“, fragt er.

„Zeit“, sagt sie. „Zehn Minuten. Platz. Und danach vergessen Sie, dass Sie mich gesehen haben.“

„Ich vergesse nichts“, sagt er. „Schon gar nicht, was mich interessiert.“

„Sie interessieren mich“, sagt sie. „Deshalb sind Sie noch nicht nass.“

„Wie heißt er?“, fragt er. „Ihr Kapitän.“

„Er hat keinen Namen“, sagt sie. „Er hat ein Ziel.“

„Ordnung“, sagt er.

„Gerechtigkeit“, sagt sie.

„Das sagen sie alle, bevor sie beginnen, die falschen Leute zu ertränken“, sagt er.

„Sie sind nicht falsch“, sagt sie. „Noch nicht.“

„Und Sie?“, fragt er.

„Ich habe mich falsch gemacht, als ich an Land ging“, sagt sie und lächelt zum ersten Mal. Es macht sie nicht freundlicher.

„Kapitän Nachts an alle“, knistert es in der Luft. „Freigabe Entenwerder. Kurs Süd-Südost. Sechs Knoten. Jetzt.“

„Schleuse?“, zischt Dröhnkamp ins Mikro.

„Bleibt zu“, sagt der Mann an der Schleuse. „Ich peile nicht auf den. Ich peile auf Sie, Frau BKA.“

„Gut“, sagt sie. „Stiller?“

„Boote bereit“, sagt er. „Wir haben einen Leichter, der von der Linie abweicht.“

„Nimm ihn“, sagt sie.

Die Frau mit der Kappe sieht Grotjahn an. „Sie spielen gut“, sagt sie. „Aber wir können besser.“

„Wer ist ‚wir‘?“, fragt er.

„Die, die das Wasser kennen“, sagt sie.

Ein Schrei. Nicht aus der Luft. Aus dem Funk. „Maschinenausfall!“, ruft eine Stimme. „Ruder hart— nichts!“

„Position?“, sagt Dröhnkamp.

„Zwischen Teufelsbrück und Entenwerder“, sagt Murat. „Er treibt. Wenn er weiter so… er drückt gegen…“

„Gegen was?“, fragt Mario.

„Gegen den Kunstponton“, sagt Murat.

„Oh, wie poetisch“, sagt Sarah.

„Stiller!“, sagt Dröhnkamp.

„Schon unterwegs“, sagt er. „Wir ziehen ihn raus.“

Die Frau mit der Kappe sieht in Richtung des Pontons. Ihre Hand zuckt. Sie ist nicht kalt. Sie ist nicht so kalt, wie sie tut. Das ist die Art Mensch, die gefährlich werden kann. Weil Wärme Entscheidungen verwischt.

„Er spielt euch alle“, sagt Grotjahn. „Dich auch. Er lässt dich für ihn sprechen und er lässt dich glauben, dass du sagst, was du willst.“

„Ich sage, was ich will“, sagt sie. „Ich will, dass der Fluss macht, was er kann. Abtragen, was nicht hält.“

„Und wer entscheidet, was hält?“, fragt er.

„Er“, sagt sie. „Weil er weiß.“

„Wer sagt das?“, fragt er.

„Ich“, sagt sie.

„Kapitän Nachts an Schleuse“, sagt die Stimme. Freundlich. Fast höflich. „Öffnen.“

„Blöd gelaufen“, murmelt der Schleusenmann ins eigene Mikro. „Ich öffne nicht.“

„Er wird dir sagen, dass er dich kennt“, sagt Olli leise in Marios Ohr. „Er wird deinen alten Spitznamen sagen.“

Der Funk knistert. „Dieter?“, sagt die Stimme. „Mach’s auf. Wie früher.“

Der Schleusenmann erstarrt. Er atmet. „Ich heiße inzwischen Herr Schröder“, sagt er. „Und ich mache nicht auf.“

„Gut“, sagt Dröhnkamp. Sie atmet gleichzeitig aus. Manchmal ist Gerechtigkeit: dass einer seinen alten Namen hören kann und trotzdem nein sagt.

„Zwei Minuten“, sagt Murat. „Stiller hat den Leichter. Er zieht. Er dreht ihn. Er—“

„—hat ihn“, sagt Sarah, die auf den Fluss sieht und den Moment erkennt, in dem Masse die Seite wechselt.

Die Frau mit der Kappe schließt kurz die Augen. „Heute nicht“, sagt sie. Zu sich. Zu ihm. Zu dem, der spricht. Sie dreht sich, geht. Diesmal hält sie sich nicht auf. Diesmal ist sie wirklich weg.

„Ich habe ein Foto“, sagt Murat. „Zwei. Drei. Gesichtsfragment. Reicht für eine Rasterfahndung in den Meldedaten?“

„Offiziell nicht“, sagt Koopmann. „Aber wir haben ja Murat.“

„Ich bin nur ein normaler IT-Mitarbeiter“, sagt Murat. „Mit überdurchschnittlicher Neugier.“

„Hau raus“, sagt Mario.

„Ich habe eine Übereinstimmung mit einer alten Seefahrtschule“, sagt Murat. „Name: Fenja Brack. Matrosin. Vier Jahre Ostasien. Abgemustert vor drei Jahren. Seitdem: nicht auffindbar. Vielleicht umgezogen, vielleicht getaucht.“

„Brack“, sagt Grotjahn. „Das Meer hat Brackwasser. Das ist nicht lustig, aber mein Kopf macht das automatisch.“

„Ich kann nichts für Ihren Kopf“, sagt Dröhnkamp. „Aber ich kann was für die Nacht tun.“ Sie dreht sich zu Grotjahn. „Sie und ich fahren zu Kehrwieder. Noack sagte: Nummer zehn. Kehrwiederspitze. Wenn ich eine Symbolpolitik gelernt habe, dann die: Der, der sich Nachtkapitän nennt, liebt Orte, die Geschichten haben.“

„Kehr wieder“, sagt Sarah trocken. „Passt.“

„Sie kommen mit“, sagt Dröhnkamp zu ihr. „Ich will Ihre Augen.“

„Ich habe keine Lust, mit Ihnen in der Nacht auf Symbole zu starren“, sagt Sarah.

„Ich mag Sie auch“, sagt Dröhnkamp.

„Danke“, sagt Sarah. Und lächelt. Diesmal echt.

13

Kehrwiederspitze. Speicherstadt. Backstein wie Orgelpfeifen. Wasser, das in Fleeten steht und trotzdem fließt. Der Wind hat gedreht. Es riecht nach Kakao, weil irgendwo eine Kakaorösterei noch arbeitet. Es ist einer dieser sinnlosen Gnade-Momente, die eine Stadt hat, wenn sie vergisst, was sie sonst ist.

„Nummer zehn“, sagt Sarah. „Wenn die Mikrogravur stimmt, ist hier ein Punkt, den jemand ausgesucht hat, weil er will, dass wir ihn sehen.“

„Wir sehen“, sagt Dröhnkamp. „Und wir tun so, als wüssten wir nicht, dass er uns sieht.“

„Ich liebe doppelte Spiegelungen“, sagt Grotjahn. „Man hat doppelt so viel Kopfweh.“

„Da“, sagt Sarah. Sie zeigt auf eine Kante. Ein kleiner Kratzer im Stein. Jemand hat einen Anker geritzt. Klein, unsauber. Keine Kunst. Eine Marke.

„Er spielt auf mehreren Ebenen“, sagt Dröhnkamp. „Er hat Theatralik und Handwerk.“

„Fenja Brack“, sagt Grotjahn leise. „Ich will wissen, wer ihr das erzählt hat. Von Ordnung und Gerechtigkeit. Und von der schönen Nacht.“

„Er“, sagt Dröhnkamp. „Und er wohnt in dieser Stadt. Er ist nicht nur eine Stimme im Funk. Er ist einer, der auf dem Weg zum Bäcker Menschen grüßt. Und der Fenja im Hafen getroffen hat. Und Olli. Und Lindau. Und Bentheim. Und ihnen allen unterschiedliche Geschichten erzählt hat, die zusammen eine Wahrheit ergeben, die nur für ihn gilt.“

„Das ist die Definition von Sekte“, sagt Sarah.

„Oder von Politik“, sagt Grotjahn.

„Was ist der Unterschied?“, fragt Sarah.

„Die Dauer der Pressekonferenz“, sagt er.

„Schluss jetzt“, sagt Dröhnkamp. „Wir warten. Und wenn nichts passiert, dann waren wir da. Das ist manchmal alles.“

Sie warten. Man lernt in diesem Job, dass Warten auch Arbeit ist. Dass man dabei von innen die Schultern hochzieht, ohne es zu merken. Dass man Geräusche ordnet, die kein Mensch ordnen will. Das Klacken einer Kette. Ein Lachen drei Brücken weiter. Die Sirene eines Einsatzwagens, der woanders gebraucht wird. Das Schaben eines Schuhs auf Stein.

„Hören Sie das?“, flüstert Sarah.

„Ja“, sagt Grotjahn. „Ein Funkgerät.“

„Nicht Murat“, sagt sie.

„Nicht Murat“, sagt er.

„Kapitän Nachts an alle“, sagt die Stimme, direkt, nah, fast privat. „Schöne Nacht für die, die wissen. Für die anderen: bleibt im Bett.“

„Ich hasse ihn“, sagt Dröhnkamp. Es ist kein Zorn in ihrer Stimme. Es ist Kälte. „Weil er glaubt, dass Sätze reichen, um die Welt zu bauen.“

„Sätze bauen Boote“, sagt Sarah. „Und manchmal auch Galgen.“

„Der Gehängte“, sagt Grotjahn. „Sie wissen, dass ich Tarot nicht mag.“

„Ich mag Wirklichkeit“, sagt sie.

„Ich auch“, sagt er.

Und in diesem Moment sieht er eine Bewegung. Schatten auf Schatten. Ein Mann lehnt am Pfeiler, als würde er warten. Eine Mütze tief im Gesicht. Kein Anker an der Brust. Kein Zeichen. Nur das Gefühl von jemandem, der zu Hause ist, wo andere sich verlaufen.

„Guten Abend“, sagt Grotjahn und tritt neben ihn. „Schöne Nacht.“

Der Mann dreht den Kopf einen Millimeter. „Für die, die wissen“, sagt er.

„Ich will wissen“, sagt Grotjahn.

„Sie wollen hören“, sagt der Mann. Seine Stimme ist die aus dem Funk, nur ohne Metall. Sie ist warm. Sie ist gefährlich.

„Ich höre schlecht, wenn jemand hinter mir steht“, sagt Grotjahn und dreht sich so, dass die Wand hinter seinem Rücken ist. Dröhnkamp ist zwei Schritte hinter, Sarah einen Schritt versetzt, wie immer.

„Sie sind nicht von hier“, sagt der Mann.

„Ich bin hier genug, um zu wissen, wie tief Wasser ist“, sagt Grotjahn.

„Wasser ist immer tiefer, als man denkt“, sagt der Mann. „Deshalb ertrinken so viele.“

„Und deshalb brauchen Sie jemanden, der ihnen sagt, wann sie schwimmen sollen“, sagt Grotjahn.

„Deshalb brauchen Sie jemanden, der die Strömung kennt“, sagt er. „Sie nennen mich Nachtkapitän. Ich nenne mich Steuer.“

„Ich nenne Sie bald Angeklagter“, sagt Dröhnkamp ruhig.

Er lacht. Es ist ein kleiner, echter Laut. „Eine Frau, die ernst ist“, sagt er. „Ich mag das. Ich mag Sie beide. Weil Sie glauben, dass die Stadt Ihnen gehört. Und weil Sie nicht verstehen, dass sie niemandem gehört. Und deshalb denen, die wissen.“

„Sie haben Bentheim getötet“, sagt Dröhnkamp.

Er neigt den Kopf, als würde er einer Musik lauschen, die nur er hört. „Ich habe ihm geholfen, etwas zu werden, was er nie war: ehrlich“, sagt er.

„Ehrlich tot“, sagt Sarah.

„Sie verstehen nicht“, sagt er. „Aber Sie werden.“

„Oder Sie“, sagt Grotjahn. „Wenn wir Ihnen zuhören. Und wenn Sie zu weit reden.“

„Ich rede, wenn ich will“, sagt er. „Und heute will ich: Entenwerder war ein Test. Teufelsbrück ein Gespräch. Kehrwieder eine Verabredung. Morgen ist ein Urteil.“

„Über wen?“, fragt Dröhnkamp.

„Über die, die die Stadt verkaufen“, sagt er. „Und über die, die sie kaufen. Ich nehme sie in die Mitte. Und dann schaue ich, ob sie schwimmen können.“

„Sag mir den Namen“, sagt Grotjahn. „Damit ich weiß, wen ich retten soll.“

„Sie werden ihn hören“, sagt er. „Im Funk. Sie hören doch zu.“

„Wir hören immer zu“, sagt Murat in Grotjahns Ohr, zu leise, als dass der andere es hören könnte.

„Fenja“, sagt Grotjahn plötzlich. Es ist kein Plan. Es ist ein Wurf. „Sie wird ertrinken, wenn Sie das Spiel zu weit spielen.“

Etwas zieht durch das Gesicht des Mannes, das wie ein Schatten ist. „Fenja schwimmt“, sagt er. „Sie ist Wasser.“

„Jeder ertrinkt, wenn man ihn lange genug drin lässt“, sagt Sarah.

„Nicht jeder“, sagt er. „Manche gehen unter und kommen als Stadt zurück.“

„Poesie ist nett“, sagt Dröhnkamp. „Kommen Sie mit.“

Er lächelt. Es ist nicht arrogant. Es ist bedauernd. „Nicht heute“, sagt er. „Heute lernen Sie nur, dass Sie langsam sind.“

Er stößt sich ab, dreht sich und ist im Schatten, bevor irgendwer ihre Beine daran erinnert hat, dass sie rennen können. Zwei Meter, drei. Eine Ecke. Ein zweiter Schatten, der ihn schluckt.

„Verdammt“, sagt Dröhnkamp. „Ich bin zu alt für Katze und Maus.“

„Sie sind genau im richtigen Alter“, sagt Sarah. „Sie wissen, wann man nicht springt und trotzdem gewinnt.“

„Wir haben seine Stimme“, sagt Murat. „Und sein Atem. Ich kann daraus einen Abdruck ziehen.“

„Mach das“, sagt Dröhnkamp. Sie atmet. „Morgen“, sagt sie, „wird er den Namen sagen. Und wir werden da sein. Vorher—“ Sie sieht zu Grotjahn. „—schlafen Sie. Drei Stunden.“

„Ich habe ein Déjà-vu“, sagt er.

„Ich habe ein Versprechen“, sagt sie. „Wir holen ihn.“

„Und Fenja?“, fragt Sarah leise.

„Holen wir auch“, sagt Dröhnkamp. „Wenn sie geholt werden will.“

Die Stadt atmet. Ein Kahn hupt, als hätte er Humor. Der Wind zieht die Stimme davon, die eben noch gesagt hat, dass morgen ein Urteil ist. Es ist immer so: die Stadt nimmt Worte, verdaut sie und gibt etwas anderes zurück. Manchmal eine Wirkung. Manchmal nur ein Echo.

Grotjahn sieht auf die Wasseroberfläche an der Kehrwiederspitze. Die Wellen schlagen an die Kante. Kehr wieder, sagt der Stein. Er nickt, zu sich, zur Stadt. Er kehrt wieder. Morgen. Mit einem Anker an der Brust und einem Namen im Ohr, der noch nicht gefallen ist.

14

Morgen hat die Art, zu tun, als wäre er neutral. Er ist es nicht. Er nimmt Partei für die, die früh aufstehen, und gegen die, die gestern Nacht noch wach waren. Im HQ riecht es nach Metalltassen und nach dem, was Murat „Serveratem“ nennt.

„Stimme“, sagt Murat, noch bevor jemand fragt. „Ich habe eine Korrelation. Sie werden sie nicht mögen, weil sie plausibel ist.“

„Ich mag Plausibles nicht, bevor ich Kaffee hatte“, sagt Mario und stellt einen Becher ab, der nach Tankstelle schmeckt.

„Sag“, sagt Dröhnkamp.

„Arvid Hennigs. 52. Früher: Lotsenassistent, später: Disponent bei einer privaten Hafenleitstelle. Noch später: raus. Offiziell wegen Umstrukturierung, inoffiziell, weil er besser wusste, wie man Schiffe führt, als die Kapitäne, mit denen er funkte. Er hat einen kleinen Podcast gemacht. Fünf Folgen. ‚Hafen ohne Lüge‘. Drei Hörer, aber einer davon war ich, nachdem ich die Stimmsignatur gegengelegt habe. Es passt. Timbre, Sprechtempo, Atemmuster.“

„Adresse?“, fragt Grotjahn.

„Wohnung in einer ehemaligen Kapitänsvilla in Blankenese. Offiziell. Inoffiziell benutzt er tagsüber einen Raum in der HafenCity. Security-Firma ‚HanseaticGuard‘, Untergeschoss. Da sitzt er vor Kameras und spielt Sicherheit.“

„Er hat Zugang zu Bildnetzen“, sagt Sarah. „Und damit Sichtachsen. Gut.“

„Und er hat Freunde in den Funkstuben“, sagt Mario. „Dieter Schröder hat seinen alten Spitznamen gehört. Das wird niemand aus den Gelben Seiten haben.“

„Urteil“, sagt Dröhnkamp. „Heute. Ort?“

„Sandtorhafen“, sagt Murat. „Pressemitteilung: elf Uhr. Senator für Stadtentwicklung, Lindau von der STAU-Stiftung, zwei Investoren, die neue Wasserpromenade. Reden über Transparenz, Beteiligung, Stadt als Erfahrungsraum.“

„Hennigs hat Humor“, sagt Grotjahn.

„Oder er liebt Symmetrien“, sagt Sarah.

„Wir teilen“, sagt Dröhnkamp. „Mario, du nimmst mit Stiller die Wasserseite. Zwei Boote, verdeckt am Rand. Sarah, du bist am Ponton, als Technikerin. Du siehst, was man mit zwei Handgriffen sehr falsch machen kann. Murat, du bist in den Funkkanälen. Schröder an der Schleuse bleibt bei Nein. Und Sie, Grotjahn—“

„Ich trage einen Anker und lächle in die Kameras“, sagt er.

„Sie sprechen mit Lindau. Sie sagen ihm, dass er ruhig sein soll, wenn die Stadt lauter wird.“

„Chef?“, sagt Dröhnkamp in Richtung Glas.

„Ja“, sagt Koopmann. „Ich habe den Senator. Er tut, was er kann: er spricht. Sagen Sie ihm, dass er es kürzer tun soll.“

„Das ist das Schwerste, was er heute tun wird“, murmelt Mario.

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