8 Wunderbare Liebesgeschichten September 2025 - Kim Gabler - E-Book

8 Wunderbare Liebesgeschichten September 2025 E-Book

Kim Gabler

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Liebesgeschichten: Der Abend, an dem das Meer zuhörte (Kim Gabler) Das Unschuldslamm (Eva Joachimsen) Meine große Liebe - ein Bigamist (Sandy Palmer) Heiße Liebe über den Wolken (Sandy Palmer) Eifersucht hinterm Deich (Fred Wiards) Der beste Mann (Harold MacGrath) Das Aufkommen von Mr. "Shifty" Sullivan (Harold MacGrath) Das Mädchen und der Dichter (Harold MacGrath) Es war ein sonniger Frühlingstag, der mein ganzes Leben veränderte, und er begann ganz unspektakulär. Ich betrat morgens gegen neun die Parfümerie, in der ich arbeitete, kontrollierte mit der Geschäftsführerin die Lagerbestände und nahm noch ein paar Korrekturen an der Dekoration vor. Gestern war zwar ein Dekorateur da gewesen, aber Frau Schäfer, meine Chefin, und ich waren der Meinung, dass dieser Mann seinen Job nicht besonders gut verstand. Ich jedenfalls kletterte ins Schaufenster und nahm noch einige Verschönerungen vor. Draußen war es strahlend schön, und alle Menschen hatten gute Laune. So jedenfalls kam es mir vor. Es war eigentlich gar nicht überraschend, dass auf einmal gegen die Fensterscheibe geklopft wurde und ein gut aussehender Mann mir zulächelte. Dunkle, leicht gewellte Haare, fast schwarze Augen, dazu ein Grübchen am Kinn, das einfach dazu verlockte, geküsst zu werden. Ich lächelte zurück – und es war auch schon um mich geschehen! Mein Herz klopfte ein paar Takte schneller, mein Puls beschleunigte sich. Ganz heiß wurde mir, als der Fremde im nächsten Moment die Parfümerie betrat und sich suchend umschaute.

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Seitenzahl: 385

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Kim Gabler, Eva Joachimsen, Sandy Palmer, Harold MacGrath, Fred Wiards

8 Wunderbare Liebesgeschichten September 2025

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Inhaltsverzeichnis

8 Wunderbare Liebesgeschichten September 2025

Copyright

Der Abend, an dem das Meer zuhörte: Liebesgeschichte

Das Unschuldslamm

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Meine große Liebe – ein Bigamist

Heiße Liebe über den Wolken

Eifersucht hinterm Deich: Ostfrieslandroman

Der beste Mann

Das Aufkommen von Mr. "Shifty" Sullivan

Das Mädchen und der Dichter

landmarks

Titelseite

Cover

Inhaltsverzeichnis

Buchanfang

8 Wunderbare Liebesgeschichten September 2025

Eva Joachimsen, Sandy Palmer, Kim Gabler, Fred Wiards, Harold MacGrath

Dieser Band enthält folgende Liebesgeschichten:

Der Abend, an dem das Meer zuhörte (Kim Gabler)

Das Unschuldslamm (Eva Joachimsen)

Meine große Liebe - ein Bigamist (Sandy Palmer)

Heiße Liebe über den Wolken (Sandy Palmer)

Eifersucht hinterm Deich (Fred Wiards)

Der beste Mann (Harold MacGrath)

Das Aufkommen von Mr. "Shifty" Sullivan (Harold MacGrath)

Das Mädchen und der Dichter (Harold MacGrath)

Es war ein sonniger Frühlingstag, der mein ganzes Leben veränderte, und er begann ganz unspektakulär. Ich betrat morgens gegen neun die Parfümerie, in der ich arbeitete, kontrollierte mit der Geschäftsführerin die Lagerbestände und nahm noch ein paar Korrekturen an der Dekoration vor. Gestern war zwar ein Dekorateur da gewesen, aber Frau Schäfer, meine Chefin, und ich waren der Meinung, dass dieser Mann seinen Job nicht besonders gut verstand.

Ich jedenfalls kletterte ins Schaufenster und nahm noch einige Verschönerungen vor. Draußen war es strahlend schön, und alle Menschen hatten gute Laune. So jedenfalls kam es mir vor.

Es war eigentlich gar nicht überraschend, dass auf einmal gegen die Fensterscheibe geklopft wurde und ein gut aussehender Mann mir zulächelte. Dunkle, leicht gewellte Haare, fast schwarze Augen, dazu ein Grübchen am Kinn, das einfach dazu verlockte, geküsst zu werden.

Ich lächelte zurück – und es war auch schon um mich geschehen! Mein Herz klopfte ein paar Takte schneller, mein Puls beschleunigte sich. Ganz heiß wurde mir, als der Fremde im nächsten Moment die Parfümerie betrat und sich suchend umschaute.

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

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© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Der Abend, an dem das Meer zuhörte: Liebesgeschichte

Kim Gabler

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Der Abend, an dem das Meer zuhörte: Liebesgeschichte

von KIM GABLER

Der Abend hatte die Farbe von Pfirsichhaut und altem Bernstein, als die Sonne hinter der Halbinsel verschwand und das Wasser in ein leuchtendes Band verwandelte. Die Luft roch nach Salz und trocknendem Tang, und irgendwo klapperte ein loses Fensterladenblech im Wind. Das kleine Küstendorf, in dem Lina und Jonas aufgewachsen waren, wusste um die Stunden, in denen die Welt leiser wurde: Man hörte die Teelöffel in den Küchen gegeneinanderschlagen, das Rascheln der Zeitungen auf den Sitzen der Veranden, das Summen der Mücken, das knappe Bellen eines Hundes, den man an jedem Straßenkreuz kannte.

Lina hatte den Tag über in der alten Buchhandlung ihrer Tante ausgeholfen. Als sie den Rollladen hinunterließ, blieb sie noch einen Moment stehen, die Hand auf dem kühlen Metall, als wolle sie die Wärme der Geschichten darin festhalten. Es war ihr letzter Sommer vor dem Umzug. In sechs Wochen sollte sie in die Stadt gehen, um ihren Platz an der Kunsthochschule anzutreten. Das Wissen darum lag wie eine Muschel in ihrer Tasche, schwer und glitzernd zugleich.

Jonas, der seit seinem Abschluss als Schreiner arbeitete, hatte den Hafensteg repariert. Zwei neue Planken, sorgfältig eingepasst, leicht wärmer als das alte Holz, das jahrelang Wind und Wasser getrotzt hatte. Als er das Werkzeug in den Kasten legte, sah er über die Schulter. Der Himmel, dachte er, war heute so klar, dass man glauben konnte, jemand hätte ihn frisch poliert. Er wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn und lächelte ohne besonderen Grund.

Sie waren beide zweiundzwanzig, beide mit den Füßen zwischen Dorfstaub und Meeressand aufgewachsen, beide von der Art, die nachgibt und doch hält, wie die Riffe dort draußen. Sie kannten einander seit der Grundschule, hatten sich auf Pfarrfesten bei Kartoffelsalat über die Tische zugezwinkert, waren im Winter mit roten Nasen die Abhänge hinter der Kirche hinabgerutscht. Zwischen ihnen gab es jene Art von Vertrautheit, die sich aus gemeinsamen Wegen ergibt, und ein Flirren, das sich gelegentlich über die Jahre gelegt hatte wie Pappelblütenstaub über einen stillen Teich.

An diesem Abend, als die Farben sich auf den Wellen wiegaben und die ersten Sterne ihre knappen Augen aufschlugen, entschieden sie, zum Strand zu gehen. Nicht verabredet, so schien es, und doch gab es in dem Lauf ihrer Schritte eine Zielsicherheit, als hätten ihre Füße bereits im Morgengrauen gewusst, wohin sie sie führen würden.

Lina trug ein leichtes Kleid, das ihr bei jedem Windstoß an den Knien kitzelte, und in der Tasche den Schlüssel zur Buchhandlung, eine Muschel und einen Knopf, den sie beim Aufräumen gefunden hatte, klein und aus Perlmutt. Jonas hatte die Uhr abgelegt und nur sein Messer dabeigehabt, wie immer, seit sein Großvater es ihm geschenkt hatte. Das Meer war ein alter Freund, und man geht nicht zu alten Freunden, ohne ein Geschenk mitzubringen, selbst wenn dieses nur die Erinnerung an etwas ist, das man nicht aussprechen will.

Sie trafen am Pfad zusammen, der an den Ginsterbüschen vorbei zum Wasser führte. Zuerst hörten sie einander, das Scharren von Sandalen, das Streifen des Stoffes, dann sahen sie die Umrisse. Für einen Augenblick blieb Lina stehen. Jonas hob die Hand. Es gab kein Bedürfnis nach vielen Worten. Ein Nicken. Ein Lachen, das mehr aus Luft bestand als aus Laut. Und dann gingen sie gemeinsam die letzten Meter hinunter.

Der Strand lag fast leer. Am Horizont stand ein Boot, kaum mehr als eine Skizze. Eine Familie packte weiter links zusammen, Handtücher, Sonnenöl, Sandspielzeug. Ein älterer Mann warf noch ein letztes Mal seine Leine aus. Der Rest war die Weite von Sand und Wasser, die ihnen beiden schon immer ein Zuhause gewesen war, wenn die Welt zurechtgerückt werden musste.

„Schwimmen?“ fragte Jonas, und das Wort stand leicht im Raum, wie ein tanzender Funke.

„Schwimmen“, bestätigte Lina. Sie hörte sich selbst und dachte, wie sich manche Worte nach etwas anfühlen, das man nicht mehr rückgängig machen kann, aber nicht will.

Sie legten ihre Sachen ab, so selbstverständlich, als würden sie eine Jacke für die Nacht über die Stuhllehne im Speisesaal hängen. Mit derselben Unbefangenheit, die man sich nur im Schutz vertrauter Landschaften und Blicke leisten kann, die nichts fordern und nichts nehmen, was nicht gegeben wird. Die Luft war warm auf der Haut, das Licht weich. Sie sprangen über die schmalen Spuren von Strandläufern hinweg, lachten, als der Sand unter ihren Fußsohlen kitzelte, und liefen, bis das Wasser ihre Knöchel, Waden, Knie umspülte.

Das Meer nahm sie mit dieser langsamen, Geduld verströmenden Art in Empfang, die Lina immer an das Gesicht ihrer Tante erinnert hatte, wenn sie beim Lesen eine Lieblingsstelle wiederentdeckte. Jonas tauchte als erster unter, kam prustend wieder hoch und wischte sich die Haare aus der Stirn. Lina ließ sich rücklings tragen, sah den Himmel über sich, der im Zwielicht tief und porenlos wirkte, als könnte man mit dem Finger darauf eine Spur ziehen.

„Weißt du noch, als wir im April gewettet haben, wer länger drinbleibt?“ fragte Jonas und strampelte neben ihr, die Arme wie kleine Räder unter der Oberfläche, die an einem unsichtbaren Gerät drehten.

„Ich hab gewonnen“, entgegnete Lina, und sie hörte, wie das Gras am Rande ihrer Erinnerung wieder frisch wurde, wie die Vogelstimmen von damals plötzlich in ihre Ohren fielen.

„Du hast geschummelt, du hast den Neoprenanzug angelassen.“

„Weil du meine Jacke hattest.“

Sie lachten. Es war ein Lachen, das ihnen aus dem Bauch kroch und das Salz mit sich trug. Lina rollte sich nach vorne und schwamm eine Strecke mit kräftigen Zügen Richtung Boje. Jonas ließ sich treiben, beobachtete, wie das Wasser die kleinen Muscheln am Ufer in den Mund nahm und wieder ausspuckte.

„Ich werde dich vermissen“, sagte er irgendwann, ein Satz, der so plötzlich kam, dass er schwer wurde wie ein Stein, der trotzdem gut in der Hand liegt.

Lina hielt inne. Das Wasser schnalzte an ihren Oberarmen vorbei. „Ich dich auch“, sagte sie. Das war nicht der Platz für Ausflüchte. „Aber du weißt doch, ich muss...“

„Ich weiß.“ Er nickte, obwohl sie es nicht sehen konnte. Er wusste es wirklich, weil er sie kannte wie man die Gezeiten kennt: das Kommen und Gehen, das eine in dem anderen aufgehoben, immer in Bewegung, immer verlässlich. Und doch war da dieses Ziehen, als wäre er selbst ein kleiner, runder Stein, den jemand in die Hosentasche steckt, weil er gut in die Hand passt und man ihn ungern loslässt.

Er schwamm zu ihr, nicht hastig, sondern mit der Gelassenheit von jemandem, der den Weg kennt. Als er neben ihr war, sahen sie einander an. Es war nicht das erste Mal, aber es fühlte sich so an, weil die Dinge, die vorher in ihnen geschlummert hatten, heute wach waren. Sie waren kein Geheimnis mehr, sondern eine Musik, die man nicht abstellen kann, weil sie aus einem selbst kommt.

„Es gibt Momente, die sind wie Pfade im Sand“, sagte Lina leise, halb zu sich, halb zu ihm. „Man kann sie nicht mitnehmen, aber man kann sich daran erinnern, wie es war, als man sie gegangen ist.“

Jonas lächelte. „Dann lass uns einen Pfad machen.“

Sie schwammen zurück, nebeneinander, ohne einander zu berühren, und doch war das Wasser zwischen ihnen warm, als hätte es verstanden, was die beiden noch nicht ganz in Worte fassen konnten. Als sie den flachen Bereich erreichten, in dem die Wellen sich zu knappen weißen Linien aufstellten, lachten sie wieder, sprangen hinein, ließen sich zurückwerfen, stützten sich ab. Einmal stolperte Lina und fiel, Jonas fing sie auf, und für einen Herzschlag, vielleicht zwei, blieb sie in seinen Armen, als wäre dort eine Schale, die exakt für sie gemacht war.

Als sie den Strand erreichten, legten sie sich ins Seichte, ließen die Wellen über sich hinweglaufen. Der Sand haftete an ihnen wie feiner Puder, klebte an Knöcheln und Handflächen, glitzerte im Restlicht. Es gab keine Zuschauer mehr, das laute Leben des Tages hatte sich zurückgezogen. Über ihnen wurden die Sterne mutiger. Irgendwo, kaum hörbar, flüsterte ein Nachtvogel.

„Weißt du“, sagte Jonas, „mein Großvater hat mal gesagt, dass das Meer in der Dämmerung die besten Geschichten erzählt. Man muss nur zuhören.“

„Was erzählt es dir heute?“

Er dachte kurz nach, dann sah er sie an, und in seinem Blick lag etwas, das er bisher meistens versteckt hatte. „Dass ich dich liebe“, sagte er. Es klang nicht geprobt. Es war kein Satz, den er vor dem Spiegel geübt hatte. Es war ein jener Sätze, die kommen, wenn sie kommen, wie Regen, der nicht fragt, ob es passt.

Lina blinzelte. Ihr Mund öffnete sich leicht, als wäre er selber überrascht. Dann ließ sie die Luft aus ihren Lungen entweichen und fühlte, wie etwas in ihr klickte, an die richtige Stelle fiel wie ein Bild in einem Rahmen. „Ich dich auch“, sagte sie. Es war fast ein Flüstern, aber die Worte hatten Gewicht.

Sie setzten sich auf, das Wasser leckte ihnen an den Oberschenkeln, kühl und immer wieder neu. Zwischen ihnen war der Raum eines Atemzugs, vielleicht zweier. Jonas hob die Hand und strich ihr eine nasse Haarsträhne aus der Stirn. Eine Geste, so schlicht, dass man sie übersehen könnte, wenn man nicht wusste, wie viel Zärtlichkeit darin liegen kann. Lina legte ihre Hand auf seine. Ein Vogelruf. Das ferne Klacken einer Boje. Sonst nur sie, der Strand, die Nacht, das Meer, das zuhörte.

Sie standen auf, ohne die Hände voneinander zu lösen, und gingen ein paar Schritte den Strand hinauf, dorthin, wo der Sand trockener war und die Muscheln, kleine Kronen, im Halbdunkel lagen. Sie setzten sich und ruhten, die Körper noch warm vom Schwimmen, die Haut vom Salz leicht gespannt. Für einen Moment sagten sie nichts. Es war nicht nötig, denn alles, was in ihnen war, stand offen wie ein Buch, das man aufgeschlagen unter eine Lampe gelegt hat.

Lina lehnte den Kopf an Jonas' Schulter. Er drehte sich zu ihr, seine Nase streifte ihre Schläfe. Es gab Küssen, die Lärm machen, wie ein Feuerwerk, das alles übertönt. Und es gab Küsse, die sind leise, wie eine Kerze, die den Raum füllt, ohne zu blenden. Ihrer war von der zweiten Art. Er begann, vorsichtig, als würde er ein Wort in einer fremden Sprache sprechen, das er schon immer gekannt hat, und sie antwortete, leicht, als füge sie sich in einen Takt, der schon lange in ihr schlug.

Die Zeit, die die Uhr an der Kirche in dieser Nacht schlug, wenn sie geschlagen hat, ging an ihnen vorbei wie eine ferne Erinnerung. Was blieb, war das Gefühl des Sandes unter ihnen, der entgegen aller Erwartungen nachgab und trug, wie das Meer es vormachte. Was blieb, waren die Hände, die suchten und fanden, ohne etwas wegzunehmen. Was blieb, waren zwei Menschen, die sich, so schien es, zum ersten Mal und gleichzeitig nach einem langen, langen Weg erreichten.

Sie liebten sich, dort, wo die Wellen nur noch flüsterten und die Sterne groß genug waren, um das Dunkel zu durchlöchern. Es geschah nicht mit Hast, nicht mit dem Bedürfnis, eine Leere zu füllen, sondern mit der Wachheit dessen, der weiß, dass jeder Atemzug zählt. Der Strand wurde ihr Raum, das Tuch der Nacht ihr Dach, das Meer ihr Begleiter. Ihre Nähe war ein Gespräch ohne Worte, in dem jede Antwort genau passte.

Später, als die Luft ein wenig kühler wurde und ein feiner Wind vom Wasser her zur Insel herüberwehte, lagen sie nebeneinander. Lina hatte die Augen geschlossen, hörte ihren eigenen Puls in den Ohren und das leise Rauschen, das nie aufhörte. Jonas sah den Himmel an, suchte nach dem Sternbild, das sein Großvater ihm einmal gezeigt hatte, fand es und fühlte, wie das Kind in ihm die Hand hob. Er drehte den Kopf und betrachtete Lina. Ihr Gesicht war weich, die Stirn entspannt, ihre Lippen ruhten, als hätten sie gerade etwas Kostbares gesagt und würden dem Echo zuhören.

„Ich habe Angst“, sagte sie plötzlich, die Augen noch geschlossen.

Er wartete, nicht aus Unsicherheit, sondern weil er wusste, dass Worte Platz brauchen, um ans Licht zu kommen.

„Vor dem Weggehen. Vor dem Ankommen. Davor, dass ich dort alles an mir verliere, was ich hier bin“, sagte sie. Ihre Stimme war nicht bebend, aber sie hatte dieses feine Zittern, das man auch in einer Gitarrensaite sieht, wenn sie angeschlagen wird.

Jonas legte eine Hand auf ihren Bauch, nur so, als Anker. „Du nimmst dich mit“, sagte er. „Und ich bleibe hier. Ich bin nicht weg. Du kannst kommen, wenn du willst, und erzählen. Und wenn du nicht willst, dann weiß ich trotzdem, dass du das alles in dir trägst. Es kommt nicht darauf an, wo du bist. Du bist du.“

Lina öffnete die Augen und drehte den Kopf. „Ich will immer erzählen“, sagte sie. „Aber manche Dinge kann man nur dort erzählen, wo sie passiert sind.“

„Dann speichern wir diesen Ort“, sagte Jonas und schloss die Augen. „Wir speichern den Sand, so wie er heute ist, die Luft, den Geruch nach Salz und Ginster, die Wärme, die gerade noch am Tag hing und jetzt übergeht in Nacht. Wir speichern, wie deine Haare sich anfühlen, wenn sie nass sind, und wie du lachst, wenn du dich über die Wellen ärgerst, die dir über die Knie rollen. Wir speichern, wie wir hier liegen und das Meer tut, als würde es nicht zuhören.“

Lina legte die Hand auf seine Hand, die auf ihrem Bauch lag. „Und wir speichern, wie du Wörter findest, wenn ich meine verliere“, fügte sie hinzu.

Aus der Ferne kam das Hupen eines Zuges. Es war weit genug weg, um nicht zu stören, und nah genug, um daran zu erinnern, dass es Gleise gab, die irgendwohin führten. Das Meer antwortete darauf, indem es einen Moment lauter wurde, als murmele es einverstanden.

„Als wir Kinder waren“, sagte Jonas, „habe ich einmal versucht, das Meer mit in mein Zimmer zu nehmen. Ich habe eine Flasche gefüllt, sie zugeschraubt und ins Regal gestellt. Nach ein paar Wochen roch es fürchterlich, und meine Mutter hat geschimpft. Ich habe die Flasche geöffnet und das Wasser war… irgendwie tot. Ich glaube, manche Dinge kann man nicht einsperren.“

„Manche Dinge muss man immer wieder besuchen“, sagte Lina. „Wie ein Gedicht, das man im Kopf hat und trotzdem liest, weil das Papier die Stimme ersetzt, die man nicht hört.“

„Genau“, sagte Jonas. „Und manche Dinge tragen uns, selbst wenn wir denken, wir tragen sie.“

Sie schwiegen wieder, aber es war ein Schweigen, das gefüllt war wie ein Korb nach der Ernte. Über ihnen zog eine Wolke vorüber und legte einen Schatten auf das Wasser. Das Boot am Horizont hatte sich ein wenig bewegt. Eine Welle, höher als die anderen, kam heran, zog sich zurück, ließ ein neues Muster im Sand zurück. Alles veränderte sich, und alles blieb.

„Denkst du manchmal darüber nach, wie das war, als wir neun waren und die Fischer uns verjagt haben, weil wir die Krebse aus den Körben befreit haben?“ fragte Lina, und schon beim Sprechen wurde ihre Stimme heller.

„Sie haben uns zu Recht verjagt“, sagte Jonas, lachend. „Aber das Geräusch von den Krebsscheren, wenn sie ins Wasser fallen... das habe ich liebgewonnen. Und damals habe ich zum ersten Mal so richtig verstanden, was es heißt, dass man zwischen den Dingen steht. Es gab die Krebse. Es gab die Fischer. Es gab uns. Und irgendwo dazwischen musste die Welt weitergehen.“

„Die Welt“, sagte Lina, „geht immer weiter. Auch wenn wir hier liegen.“

„Vielleicht gerade deshalb“, entgegnete Jonas.

Ihre Finger fanden sich wieder, und die Art, wie sie sich hielten, sagte: Hier. Jetzt. Wir. Drei Worte, die so abgenutzt scheinen, wenn man sie zu oft in die Luft wirft, aber die fest werden, wenn sie von der Hand in die Hand gehen.

Eine Sternschnuppe streifte den Himmel. Jonas hob halb den Arm, als wolle er sie fangen, ließ ihn dann fallen und setzte sich auf. Lina folgte seiner Bewegung, strich sich über den Arm, auf dem feiner Sand klebte. Ihr Blick wanderte über die Linie, in der das Wasser den Himmel traf, eine Linie, die nur von Weitem scharf war.

„Wenn ich gehe“, sagte sie, „will ich, dass du mir schreibst, wann das Licht am Abend genau so ist wie heute. Und du musst die Dinge benennen, damit ich mich erinnern kann: wie die Möwen schreien, wie der Wind in die Tassen auf der Terrasse greift, wie die Katze von Frau Brenner wieder einmal in die Blumenkästen springt.“

„Ich schreibe“, versprach Jonas. „Und du schickst mir die Geräusche der Stadt. Ich will wissen, wie die Straßenbahnen klingen, wie die Nacht dort riecht, ob die Menschen anders lachen.“

„Sie lachen lauter, glaube ich“, sagte Lina. „Oder vielleicht schwätze ich nur so daher. Ich war ja immer nur für Ausstellungen da, nie für die Nacht.“

„Die Nacht“, sagte Jonas, „gibt überall eigene Antworten.“

Sie lehnten sich wieder zurück, und diesmal, als sie sich küssten, fühlten sie dieses Klicken ein weiteres Mal. Nicht mehr als Überraschung, sondern wie die Bestätigung eines Musters, das man zum ersten Mal bewusst und ganz sieht. Sie sprachen nicht über später, nicht in Plänen und Listen, sondern in den kurzen, klaren Sätzen, die die Haut kennt, die das Meer kennt, die der Wind kennt, wenn er durch den Ginster fährt. Es gab keine Zukunft, die sie fürchten oder beschwören mussten. Es gab nur diesen ersten Schritt in eine neue Geschichte, die auf dem alten Sand geschrieben wurde.

Als der Mond über der Halbinsel aufging, dünn und neugierig, stand Lina auf. Sie schüttelte leicht den Kopf, als wolle sie den Rest des Wassers aus den Haaren schütteln, und sah auf Jonas hinunter. „Komm“, sagte sie. „Wir gehen noch einmal hinein.“

Er grinste. „Du wirst wieder behaupten, du seist schneller.“

„Ich bin schneller“, sagte sie und lief los, die Füße hinterließen tiefe Abdrücke, die das nächste Wasser füllen würde. Jonas sprang auf und folgte ihr. Sie stürzten sich in die seidenkalte Fläche, tauchten, kamen wieder hoch, schnappten nach Luft, riefen etwas, das der Wind nahm und ins Dunkel trug, wo es vielleicht aufbewahrt wurde für später.

Sie schwammen nebeneinander, diesmal enger als vorhin, ließen den Rhythmus der anderen Person den eigenen bestimmen. Zwischen ihnen war das Wissen, dass sie etwas begonnen hatten, das nicht mit dem Ende des Abends enden würde, selbst wenn der Morgen in einigen Stunden die Gesichter der Häuser wieder wach küssen und die Bäcker die Öfen öffnen würden. Sie wussten es, ohne es festhalten zu müssen.

Als sie wieder herauskamen, liefen sie langsam den Strand hinauf, die Schritte sanken ein wenig ein, und jedes Mal, wenn sie den Fuß anhoben, blieb eine kleine Kuhle zurück, die sich sogleich wieder mit dunklerem Sand füllte. Sie setzten sich an die Stelle, an der ihre Handtücher lagen, trockneten sich ab, zogen Kleidung über, die sich im ersten Moment kühl anfühlte und dann wärmte.

Lina band sich die Haare zusammen und steckte die Muschel, die sie immer bei sich trug, in die Brusttasche. Jonas nahm sein Messer zur Hand und schnitzte, während sie schwiegen, einen kleinen Pfeil in ein Stück Treibholz. Er hielt es ihr hin. „Für die Richtung“, sagte er.

Sie nahm es, drehte es in den Fingern, fühlte die rauen Kanten. „Für die Richtung“, wiederholte sie.

Sie gingen den Pfad hinauf, der zurück ins Dorf führte. Der Ginster duftete, als wären seine gelben Blüten in der Dunkelheit noch ein bisschen gewachsen. Das Geräusch des Meeres wurde leiser, aber es war noch da, ein Versprechen, das nicht an eine Uhr gebunden war. Als sie an der Biegung ankamen, an der der Weg sich teilte – links zum Hafen, rechts zu den Häusern – blieben sie stehen.

„Morgen?“, fragte Jonas.

„Morgen“, sagte Lina. „Und übermorgen. Und...“ Sie brach ab und lachte. „Ach, du weißt schon. Wir nehmen, was kommt.“

„Wir nehmen, was kommt“, sagte Jonas. Er zog sie an sich, ein kurzer, fester Halt, wie man ihn nur gibt, wenn man weiß, dass er nichts verlangen, aber alles bedeuten darf. Dann lösten sie sich. Er ging nach links, sie nach rechts, jeder in das Stück der Nacht, das ihm gehörte.

Lina blieb, als sie die Haustür hinter sich schloss, noch einen Moment im Flur stehen. In der Küche brannte eine kleine Lampe, das summende Herz der Wohnung. Ihre Tante hatte eine Notiz hinterlassen: Tee ist auf dem Herd. Sie ging hinein, goss sich eine Tasse ein, saß auf die Bank am Fenster und sah hinaus auf die Gasse, in der das Pflaster unregelmäßig war und die Katzen manchmal so taten, als würden sie den Mond fangen. Sie nahm einen Schluck und schloss die Augen. In ihr war der Strand, das Wasser, Jonas’ Wange an ihrer Schläfe, der sandige Geschmack auf ihren Lippen, die Worte, die sie gesagt hatten. Alles war da, und nichts entglitt ihr.

Jonas lag in seinem kleinen Zimmer über der Werkstatt seines Vaters auf dem Rücken. Er hörte durch die offenen Fenster das Knacken der Holzbalken, die vom Tag noch warm waren. Er legte den Arm über die Stirn und atmete tief. In seiner Hand lag das Seil von der Hafenkante, das er irgendwann einmal zur Übung geknotet hatte, einer dieser Knoten, die man blind machen kann, wenn man sie oft genug geübt hat. Er dachte daran, wie manche Dinge nur halten, wenn man ihnen Spiel lässt. Zu fest – und sie reißen. Zu lose – und sie rutschen. Das Leben war vielleicht so. Die Liebe auch. Er lächelte. Morgen, dachte er. Morgen werde ich den Steg wiedersehen und die zwei neuen Planken, und ich werde wissen, dass auch wir etwas Neues eingefügt haben, das sich in das Alte fügt und doch spürbar bleibt, wenn man mit bloßen Füßen darüber geht.

Draußen rollte eine Wolke vor den Mond und wieder weg. Das Dorf atmete. Das Meer hielt Wache, wie immer. Und irgendwo, zwischen Sand und Salz, hing die erste Zeile einer Geschichte, die sie nicht mehr ungeschrieben lassen konnten. Sie hatten sie begonnen, ohne es groß anzukündigen, und das war das Schönste daran: dass sie einfach da war, wie ein Pfad im Sand, der noch feucht ist vom Rückzug der Wellen, deutlich und doch vergänglich, und gerade deshalb wertvoll. Morgen würde die Sonne ihn bleichen, der Wind ihn spielen, und neue Schritte würden kommen. Aber die Erinnerung daran, wie sie ihn gegangen waren, würde bleiben – in ihren Händen, auf ihren Lippen, in der Art, wie sie einander ansahen, wenn sie am Morgen im Bäckerladen auf die Brötchen warteten und der Duft von Mehl und Hefe vor dem Tag hinkroch.

Die Kirche schlug schließlich die Stunde, weich und rund, wie eine Muschel, die man ans Ohr hält. Lina und Jonas hörten sie, jeder in seinem Bett, und lächelten. Ein Anfang, dachten sie, zur gleichen Zeit, ohne es zu wissen. Nur das. Ein Anfang. Und das Meer draußen nickte, eine Welle nach der anderen.

*

Das Licht war so zart geworden, dass jedes Körnchen Sand einen eigenen Schatten zu werfen schien. In der Mulde, die die letzte große Welle hinterlassen hatte, setzte sich Lina neben Jonas, die Knie angezogen, die Arme locker darum gelegt. Das Wasser atmete in langen, ruhigen Zügen, zog sich zurück, kam wieder, wie ein großes Tier, das in der Nähe schlief.

Als Jonas die Hand hob, um ihr die nasse Strähne aus der Stirn zu streichen, spürte sie, wie sein Finger die Linie ihrer Schläfe entlangglitt. Es war eine Geste, in der alles lag: die Jahre, die sie einander kannten, die Sommer, die sie zusammen gezählt hatten, das Unausgesprochene, das am Rand des Abends schon länger saß und aufstand, sobald die Sterne kamen. Sie legte ihre Hand darüber, als wolle sie diesen Augenblick festhalten, ihm die Richtung weisen.

Ihre Lippen fanden einander, zuerst zögernd, ein Auftasten, das mehr Frage war als Antwort. Doch die Frage war leicht, und die Antwort war es auch. Jonas schmeckte das Salz an Linas Mund, das ganz anders schmeckte als das Salz des Meeres; es hatte etwas Warmes, etwas, das an Brot erinnerte, an Sonne auf Haut. Linas Atem strich über seine Wange, und er fühlte, wie die Welt um sie herum sich ein Stück weiter entfernte, ohne zu verschwinden; sie blieb, wie eine entfernte Melodie, die den Ton hält.

Sie rückten näher. Der Sand gab nach, ließ sich von ihren Bewegungen formen, ohne zu fordern. Linas Knie streiften den warmen Hautrand an Jonas’ Hüfte, und die leise Elektrizität dieses Kontakts durchzog sie wie ein Funke, der zugleich anschwillt und beruhigt. Jonas’ Hände suchten keine Eile; sie ruhten an ihren Schulterblättern, zeichneten mit den Daumen kleine Kreise, in denen Wärme aufstieg. Er wartete, lauschte auf das Nicken in ihrem Körper, und als er es spürte—dieses Aufschließen, das nicht in Worten, sondern in einem tieferen, stilleren Ja geschieht—atmete er aus, als sei er an einem bekannten Ufer angekommen.

Lina schloss die Augen und ließ das Rauschen in sich hinein. Das Meer wurde rhythmisch, wie ein Metrum, in das ihre Nähe fiel. Jonas’ Haut war noch von Wasser gekühlt, und wo sie an ihr entlangfuhr, wachte eine Spur auf, die sie mit der flachen Hand nachzeichnete: die Rundung über dem Schlüsselbein, die kleine Vertiefung darunter, wo sich sein Puls zeigte, gleichmäßig und präsent. Zwischen zwei Küssen sagte er ihren Namen, so, dass er anders klang als im Alltag—nicht lauter, nur tiefer, als hätte er ihn aus einer Schublade geholt, die er bisher nicht geöffnet hatte. Als sie seinen Namen sagte, ging ein leichtes Lachen über ihre Lippen, weich und ungebunden, und blieb wie ein heller Faden zwischen ihnen hängen.

Sie ließen sich in die Mulde sinken, die der Wind in den Sand geritzt hatte, und das Tuch der Nacht legte sich über ihre Schultern. Lina spürte die Körnigkeit unter ihren Schulterblättern, und jedes Mal, wenn Jonas sich ein wenig bewegte, raspelte eine zarte Wärme über ihre Haut, die sich angenehm und lebendig anfühlte. Er nahm sich Zeit, als wolle er eine Landkarte zeichnen von etwas, das er schon kannte, aber jetzt zum ersten Mal mit offenen Augen sah. Seine Fingerspitzen glitten die Innenseite ihres Arms hinab, bis zu der Stelle, an der die Adern wie feine Linien unter der Haut verliefen. Sie spürte, wie ihre Atmung tiefer wurde, wie das, was in ihr unruhig gewesen war, eine Richtung bekam.

Lina erwiderte, indem sie mit ihren Händen das Salz von seiner Haut strich. Die Bewegung war behutsam, fast spielerisch, und doch ernst in ihrer Zärtlichkeit. Sie entdeckte die feinen Unterschiede von Wärme und Kühle, die sein Körper vom Meer mitgebracht hatte. Manchmal hielten sie inne, sahen einander an, so nah, dass sich ihre Nasenspitzen berührten, und in diesen kurzen Pausen schob die Welt, die draußen blieb, noch einmal einen kleinen Gruß herein: das gedämpfte Knacken einer Muschel, die unter der nächsten Welle brach, das leise Klatschen einer fernen Boje, der Ruf eines Vogels, der noch etwas mitzuteilen hatte.

Als Lina ihre Stirn an seine legte, fühlte sie, wie sein Lachen in seinem Hals vibrierte. Sein Atem ging ruhiger, und sie passte ihren daran an; zwei Metronome, die sich langsam synchronisieren. Sie flüsterte etwas, das kein Satz war, eher ein Ton, und Jonas antwortete mit einer Berührung, die wie eine Zeile darunter lag. Es gab in der Art, wie sie sich bewegten, keinen Plan, den jemand aufgestellt hatte—nur ein aufmerksames Folgen, ein Aufeinanderhören, das von innen kam.

Das Meer rückte näher, sendete feine, kühle Finger über den Strand. Eine Welle kostete an Linas Ferse, zog sich zurück, als hätte sie verstanden. In der Dämmerung, die sich nun verdichtete, spiegelte der feuchte Sand einen schmalen Mondstreifen, und diese blasse Sichel schien auf ihren Schultern zu ruhen. Jonas küsste die Linie zwischen Linas Hals und Schulter, leicht, als probiere er ein Wort, das man nur flüstern darf, und sie legte die Hand in seinen Nacken, ein sanfter, leitender Griff, in dem Vertrauen lag.

Jede Berührung wurde zu einer kleinen Welt. Der salzige Film, der auf ihrer Haut trocknete, die feinen Härchen, die sich gegen den Wind legten, die Wärme, die an manchen Stellen schon zurückkehrte, an anderen noch vom Wasser kühl gehalten wurde. Die Zärtlichkeit, die sie teilten, war nicht groß in der Geste, sondern reich in der Genauigkeit: ein Daumen an einer Stelle, die sofort antwortete; ein Atemzug, der den anderen trug; die Art, wie sich eine Hand fächerte und die andere Hand wie selbstverständlich ihren Platz darin fand.

Als sie sich enger aneinander legten, durchlief ein sanftes Zittern Linas Körper, keines, das von Kälte kam, eher wie eine Saite, die angeschlagen wird und dann erst zur Ruhe findet, wenn der Ton sich entfaltet hat. Jonas hielt inne, suchte ihren Blick, las in ihm, ob das, was sie taten, richtig war. Sie nickte, kaum merklich, doch es war das deutlichste Zeichen, das er je gesehen hatte. Er lächelte, dieses Lächeln, das er sonst vor dem Spiegel nie hinbekam, weil es nur hier existierte, an diesem Ort, in dieser Nähe.

Der Sand unter ihren Rücken wurde warm, als hielte er ihre Körperwärme fest, ein stiller Zeuge. Über ihnen zog eine Wolke, ließ die Sterne für einen Moment verblassen und gab sie dann wieder frei, und diese kleinen Lichter lagen wie Pollen auf der Dunkelheit. Das Meer, geduldig, trug seinen Takt weiter. Lina hatte das Gefühl, als schlösse etwas in ihr auf, eine Tür, die sich nicht mit einem Schlüssel öffnen ließ, sondern nur mit Zeit und Zuwendung. Als sie Jonas’ Namen noch einmal sagte, wurde er weich in ihrem Mund, rund und vertraut. Er legte die Stirn an ihre und flüsterte etwas, das sie nicht ganz verstand und auch nicht verstehen musste; der Sinn lag in der Wärme seines Atems, in der Nähe, die keinerlei Zweifel ließ.

Sie bewegten sich, als würden sie eine Geschichte schreiben, die beide schon in sich trugen. Es gab ein Auf und Ab, eine langsame Steigerung, die nicht danach fragte, wann etwas „beginnt“ oder „endet“, sondern nur danach, ob es wahr war. In den Zwischenräumen, wenn der Wind in den Ginster griff, hörte man sie atmen, und dieses Atmen war so klar, dass es alles andere überflüssig machte. Es sagte: Hier bin ich. Und das andere antwortete: Ich auch.

Zeit wurde ein weiches Tuch. Es gab keine Minuten, keine Zählung, nur den Bogen, auf dem sie miteinander glitten. Manchmal brach ein Lachen aus ihnen heraus, leise, staunend, wie bei einem Wiedersehen; ein anderes Mal waren sie still, ganz Ohr, ganz Haut, ganz Gegenwart. Die Nähe wurde zu einem Raum, in dem sie beide leichter wurden, ohne an Boden zu verlieren, als ob die Schwerkraft eine Pause machte, damit sie atmen konnten.

Als die Wellen ein wenig näher reichten und ein feiner Schleier von Sprühnebel sie erreichte, schob sich eine kühle Hand unter all die Wärme, und dieser Gegensatz ließ die Empfindungen deutlicher werden, schärfer, wie ein Relief, das mit einem Pinselstrich plötzlich Tiefe bekommt. Jonas spürte, wie sich in ihm etwas löste, nicht als Ausbruch, eher als Öffnung, als dehnte sich ein Raum, der vorher zu eng gewesen war. Lina legte die Hand auf sein Herz, und es antwortete—nicht schneller, nur voller.

Und dann gab es einen Moment, der wie ein Klingen war: ein Innehalten, in dem alles zugleich anwesend war—das Salz, der Sand, das Mondlicht, ihr beider Atem—und der doch nur aus einem Gefühl bestand, das durch sie hindurchstrich wie eine warme Welle. Sie hielten einander fest, nicht um festzuhalten, sondern um zu teilen. Ein trockenes Blatt irgendwo hinter ihnen raschelte, die Boje klackerte, das Meer zeichnete neue Linien, die gleich wieder fortgewischt wurden.

Sie blieben noch eine Weile, nachglühend wie Steine, die den Tag gespeichert haben. Lina legte den Kopf in die Mulde zwischen Jonas’ Schulter und Hals, ein Ort, an dem die Welt klein genug wurde, um darin zu ruhen. Jonas strich ihr über den Rücken, langsam, auf- und ab, bis ihre Atmung wieder das alte, ruhige Maß fand. Sie sagten wenig, und doch war alles ausgesprochen. Als sie den Blick hob, sah sie, wie der Mond eine schmale, helle Straße über das Wasser gelegt hatte, die schimmerte, als könne man darüber gehen. Sie wusste, dass man das nicht konnte. Aber sie wusste auch, dass es Wege gab, die man nur zu zweit betrat.

„Ich bin hier“, sagte er, mehr in ihre Haare als in die Nacht.

„Ich weiß“, antwortete sie. Ihre Stimme war leise und durchsichtig vor Zufriedenheit. Sie fühlte sich vertraut mit der Dunkelheit, die kein Drohen hatte, sondern ein Halten. Und als eine kleine Welle ihre Ferse wieder berührte, dachte sie: So fühlt sich es an, wenn die Welt zustimmt.

Sie saßen schließlich auf, streiften den Sand von der Haut, der an ihnen glitzerte wie feiner Staub, und schwiegen ein letztes Mal lange, auf diese angenehme Weise, in der Schweigen nichts verbirgt, sondern bewahrt. Jonas nahm Linas Hand, und sie spürte die feine Rauheit seiner Fingerkuppen, eine geerdete Zärtlichkeit, die sie mochte. Bevor sie aufstanden, lehnten sie noch einmal Stirn an Stirn, atmeten ein und aus, bis ihre Atemzüge wieder im selben Takt waren.

Dann gingen sie, langsam, Hand in Hand, und hinterließen im Sand eine Spur, die die nächste Flut holen würde. Aber noch war das Wasser weit, und der Mond stand wach über ihnen, wie eine Lampe, die nicht blenden will. In Lina nachhallend war das Rauschen des Meeres und die Wärme der Hände; in Jonas das Gefühl, dass ein Raum in ihm Licht bekommen hatte. Beide wussten sie, ohne es auszusprechen: Das, was geschehen war, würde bleiben, nicht im Sand, nicht in der Luft, sondern dort, wo Erinnerungen zu Hause sind, nah an der Haut, nah am Herzschlag, nah genug, um es wiederzufinden, wenn man die Augen schließt und dem Meer zuhört.

*

Ein Jahr später roch der Hafen wieder nach frischem Teer und sommerwarmen Netzen. Jonas stand am Steg und prüfte die Knoten, die in seinen Händen längst ein eigener Wortschatz waren. Er hatte in den letzten Monaten das alte Bootshaus am Ende der Bucht ausgebessert, die schiefen Bretter geradegezogen, die Fensterrahmen neu verglast. Drinnen hing ein Stück Treibholz über der Tür, in das ein Pfeil geschnitzt war. Er zeigte, wie damals, nicht nach Norden, nicht nach Süden, sondern hinaus – auf das, was dazwischen lag.

Der Brief, den er am Morgen erhalten hatte, war kurz gewesen. Lina schrieb immer noch knapp, wenn es wichtig war. Ich komme. Heute. Später. Mehr nicht. Kein Ausrufungszeichen, keine Erklärungen. Es war genau die richtige Menge an Worten, um seine Brust weit werden zu lassen. Er steckte den Zettel zurück in die Hemdtasche, wo er die Wärme seines Körpers annahm und zu einem Herzschlag mehr wurde.

Als der Bus über die Halbinsel rollte, saß Lina am Fenster und zählte, wie oft das Licht durch die Zypressen auf ihren Arm fiel. Die Stadt hatte sie verschluckt und wieder freigegeben, nicht unbeschadet, aber auch nicht gebrochen. Sie hatte gelernt, den Lärm zu lieben, der an manchen Tagen wie ein mutwilliger Chor über die Straßen ging, und die Nächte, in denen das Neonlicht die Dinge flach und ehrlich machte. Ihre Bilder waren größer geworden, nicht nur in den Maßen. Auf einer Leinwand war ein schmaler, heller Weg über eine Fläche von Blau gelegt, eine Linie, die nichts versprach als Richtung. Wenn sie daran arbeitete, roch ihre Wohnung nach Terpentin und Meer, obwohl weit und breit keines war.

Sie stieg aus, bevor der Bus ins Dorf einfuhr, an dem Pfad, der zum Strand hinunterführte. Auf dem Rücken trug sie eine gerollte Leinwand. Den Restweg ging sie zu Fuß, wie damals, als die Ginsterbüsche den Sommer mit gelbem Atem füllten. Der Sand gab nach unter ihren Schuhen, und als sie den ersten Blick aufs Wasser hatte, hielt sie unwillkürlich an. Das Meer lag da, unbeeindruckt, als hätte es seine Haltung nie verändert – und doch sah sie sofort, dass es ihr anders entgegenkam. Vielleicht, weil sie anders schaute.

Am Rand der Bucht stand Jonas vor dem Bootshaus. Er sah sie, bevor sie ihn sah, und blieb stehen, die Hände im Holzstaub, der ihm die Handlinien ein paar Nuancen heller zeichnete. Als sie näher kam, dachte er, wie sehr die Stadt ihren Gang verändert hatte: Es war noch immer Lina, aber aus dem federnden Schritt war eine ruhige, gebündelte Kraft geworden. Er hob die Hand. Sie hob die ihre. Es war, als würden zwei Fäden, die lange unter der Oberfläche gelaufen waren, wieder an derselben Stelle auftauchen.

„Du bist da“, sagte er, als sie dicht vor ihm stand.

„Ich bin da“, sagte sie. Und weil sie beide wussten, dass zwischen Abwesenheit und Gegenwart ein langer Fluss gelegen hatte, ließen sie das so stehen.

Drinnen im Bootshaus war es kühl. Jonas hatte eine Bank ans Fenster gebaut. Das Glas fing das Licht wie ein stiller See und trug es in den Raum. Lina legte die Rolle auf die Werkbank und band sie auf. Das Bild entrollte sich langsam, wie ein Atemzug, der nach Hause findet. Eine Fläche aus Blau- und Grautönen, und darüber die schmale, helle Linie. Jonas trat einen Schritt näher, hielt sich mit der Hand an der Kante, als ob er sonst in das Bild hinüberfallen könnte.

„Es ist hier“, sagte er leise.

„Es ist dazwischen“, korrigierte sie, und lächelte. „Wie du gesagt hast.“

Sie setzten sich auf die Bank. Draußen riefen die Möwen, und das Salz lag in der Luft wie ein altes Versprechen. Jonas erzählte vom Winter, von den Stürmen, die die Planken schief gezogen hatten, und von Frau Brenners Katze, die jetzt eine Hütte im Hafen für sich beanspruchte. Lina erzählte vom Atelier mit den hohen Fenstern, in das der Abend immer zu früh und die Morgen immer zu spät kamen, und von der Professorin, die gesagt hatte: Man malt nicht, was man sieht. Man malt, was bleibt.

„Was ist geblieben?“ fragte Jonas.

Lina sah auf ihre Hände. „Mehr als ich fürchtete. Weniger als ich hoffte. Exakt genug.“ Sie drehte den Kopf. „Und du?“

Er zuckte mit der Schulter. „Ich habe gelernt, dass Holz manchmal erst loslassen muss, bevor es hält. Ich glaube, Menschen sind auch so.“

Sie lachten. Das Lachen war neu und alt zugleich. Dann schwiegen sie, sahen hinaus. Der Abend begann, fegte einen ersten goldenen Strich über die Wasseroberfläche. Das Meer tat, was es immer tat: Es blieb in Bewegung und blieb da.

„Ich habe nicht entschieden, ob ich bleibe“, sagte Lina plötzlich, als hätte sie sich den Satz aus den Rippen gelöst. „Und ich weiß nicht, ob ich gehen soll. Ich weiß nur, dass ich dieses Bild hier lassen möchte.“ Sie legte die Handfläche auf die Leinwand, sanft, als lege sie sie jemandem auf die Stirn. „Es gehört an diesen Ort.“

Jonas nickte. „Dann hängt es hier. Und wenn du in der Stadt bist, ist dies dein Fenster.“

„Und wenn du hier bist, ist es unser Weg“, sagte sie.

Sie hängten das Bild gemeinsam über die Bank. Es passte, als wäre der Platz dafür schon immer da gewesen. Draußen wurde das Licht weicher, und der Tag legte einen Arm um den Abend, zum Abschied.

Später, als sie den Pfad hinaufgingen, blieb Lina an jener Biegung stehen, an der sich die Wege trennten. Sie holte aus ihrer Tasche etwas Kleines hervor: den Perlmuttknopf, den sie damals in der Buchhandlung gefunden und all die Zeit mitgenommen hatte. Sie legte ihn auf den Pfosten des Wegweisers, wo die Sonne ihn treffen und die Kinder ihn entdecken würden, die auf ihrem Weg zum Strand hinunterrannten. Ein kleines, glänzendes Zeichen dafür, dass Entscheidungen nicht immer endgültig sein mussten, um wahr zu sein.

„Wie lang bleibst du?“ fragte Jonas.

„Lang genug“, antwortete Lina, „um zu wissen, wann ich wiederkomme.“

Er nickte. „Ich schreibe dir, wenn das Licht so ist wie heute.“

„Und ich schicke dir die Geräusche der Stadt“, sagte sie. „Damit du weißt, wie der Regen dort klingt.“

Sie gingen weiter, diesmal nicht auseinander, sondern eine Weile nebeneinander, bis das Dorf sie aufnahm, jeder in sein Stück Abend. In der Nacht trafen sie sich am Strand, nicht um zu wiederholen, was gewesen war, sondern um daneben zu stehen und den Unterschied zu spüren: das Erwachsene in der Zärtlichkeit, das Vertrauen, das sich nicht an die Ränder drängte, sondern in der Mitte Platz nahm. Sie sprachen darüber, sich kein Versprechen zu geben, das größer war als das, was sie tragen konnten. Und gerade darin lag eines, das hielt.

Als der Sommer zu Ende ging, fuhr Lina zurück in die Stadt, mit einer Skizzenmappe voller Notizen und den Taschen voller Muscheln, die sie nicht ausstellte, sondern in Schalen legte, die nur sie kannte. Jonas blieb, wie er es immer gewusst hatte, und stellte ein Schild an das Bootshaus: Offenes Fenster. Man konnte hineingehen, sich auf die Bank setzen und das Bild ansehen, die helle Linie über dem Blau. Man konnte die Wellen zählen oder die Kälte der Scheibe unter der Hand fühlen. Manche ließen ein Wort da, andere nur ihren Atem. Abends, wenn Jonas abschloss, hörte er manchmal Schritte, die stehenblieben. Er lächelte dann und dachte: Das Meer hat wieder zugehört.

Im Herbst kam ein Paket aus der Stadt: eine kleine, runde Lampe, deren Licht nicht blendete. Ein Zettel lag dabei. Für die Nächte, in denen der Mond sich hinter den Wolken versteckt. Unterzeichnet mit einem Pfeil, gezeichnet in dünnen Strichen.

Und irgendwann, an einem Morgen, der klar war wie ein frisch gewaschener Himmel, trafen sie eine Entscheidung, ohne sie laut auszusprechen. Sie würden keine Halbinsel aus dem anderen machen, keinen Hafen, in dem man einläuft und nie wieder ablegt. Sie würden eine Linie sein, schmal und hell, die über zwei Flächen führt, die sich berühren: Land und Wasser, Nähe und Ferne, Bleiben und Gehen. Sie würden darauf gehen, mal mehr hier, mal mehr dort, und das Gleichgewicht nicht in der Ruhe suchen, sondern im Schritt.

Als die Kirche zur vollen Stunde schlug, antwortete das Meer. Nicht lauter als sonst, aber genau im Takt. Lina stand im Atelier, Jonas am Steg, und beide hoben zur selben Zeit den Kopf. Es war, als nickte etwas. Nicht als Ende, nicht als Anfang, sondern als das, was man selten beim Namen nennen kann und doch erkennt, wenn man es hört.

So endete nichts. Und doch fand etwas seinen Platz. Die Geschichte der beiden blieb offen wie die Tür des Bootshauses an warmen Tagen. Jeder, der es betrat, sah die helle Spur auf dem Blau und wusste, ohne zu fragen: Manchmal antwortet das Meer erst am Morgen. Und manchmal reicht das.

Das Unschuldslamm

Roman von Eva Joachimsen

Der Umfang dieses Buchs entspricht 110 Taschenbuchseiten.

Ein Kind allein aufziehen, arbeiten zu gehen und immer für eine Betreuung zu sorgen ist das tägliche Leben von Nadine. Der Zufall will es, dass der Polizist Stefan ihr den Vorschlag macht, Jakob mit zum Handballtraining zu nehmen. Plötzlich bemüht sich auch ihr Ex-Mann um sie und hofft auf eine Rückkehr. Doch seine Besserung macht Nadine misstrauisch, sie traut diesem neu aufgetauchten Verantwortungsbewusstsein nicht so ganz.

1

Nadine trat kräftig in die Pedale. Sie musste sich beeilen, um rechtzeitig im Kindergarten anzukommen. Im Friseursalon wurde es häufig etwas später. Wenn der letzte Kunde gegangen war, musste noch aufgeräumt und saubergemacht werden, und dann hatte sie Probleme, ihren Sohn pünktlich abzuholen.

Im vorigen Jahr hatte eine andere Mutter ihren Sohn Jakob in solchen Fällen mitgenommen. Leider war die Familie nach Süddeutschland gezogen. Inzwischen war Jakob Schulkind und durfte alleine nach Hause gehen. Aber Nadine sorgte sich wegen der Hauptstraße und der vielbefahrenen Kreuzung. Es gab zwar eine Ampel, doch immer wieder übersahen Linksabbieger die Fußgänger. Nadine selbst wäre zweimal fast überfahren worden. Außerdem wusste sie nie, was ihr lebhafter Sprössling in unbewachten Momenten alles anstellte.

Letzte Woche hatte er eine Segelregatta in der Badewanne veranstaltet. Als sie nach Hause kam, klingelten schon die Nachbarn unter ihr, weil es bei ihnen im Badezimmer tropfte. Das Wasser lief am Heizungsrohr entlang durch die Zimmerdecke. Zum Glück wollten Seidels sowieso renovieren und nahmen den Vorfall nicht so ernst. Nadine schickte Jakob zu ihnen, um sich zu entschuldigen und ihnen beim Aufwischen zu helfen. Dass sie ihn dafür mit Schokolade belohnten, fand sie zwar lieb, allerdings pädagogisch nicht besonders wertvoll.

Vor dem Café sprang die Fußgängerampel der kleinen Nebenstraße auf Rot. Nadine fuhr trotzdem weiter. Hier bog nur selten einmal ein Auto ab.

„Das macht sechzig Euro“, sagte eine Männerstimme hinter ihr.

Erschrocken sprang sie vom Fahrrad und blickte den Mann an. Er war groß und breitschultrig mit kurz rasierten blonden Haaren.

„Sie haben Glück, dass ich nicht im Dienst bin. Also bleiben Sie das nächste Mal stehen und warten auf Grün.“

Nadine lächelte schwach und versprach alles. Dann jagte sie weiter zum Kindergarten. Sie stellte ihr Rad in den Ständer und lief, ohne es abzuschließen, gegen den Strom von Eltern und Kinder an. Jakob stand an der Garderobe und trödelte beim Anziehen herum.

„Da bist du ja endlich. Ich wollte schon alleine losgehen“, sagte er.

„Na, das hätte wohl noch etwas gedauert“, meinte Nadine und grinste ihn an. „Du weißt doch, wie knapp es für mich ist.“

Christine, die Erzieherin, räumte ein paar Hausschuhe ins Fach. „Frau Stahmer, Jakob hat Probleme mit den Zehnerübergängen. Das müssen Sie daheim mit ihm üben.“

„Was kann er nicht?“, fragte Nadine begriffsstutzig. Sie hatte Schwierigkeiten, von ihrem Arbeitstag in die Schulwelt zu wechseln.

„Sie haben jetzt angefangen, mit Zahlen, die über Zehn hinausgehen, zu rechnen“, erklärte Christine.

„Ach, Sie meinen, sieben und fünf oder so“, fragte Nadine nach.

„Ja, und da ist Jakob unsicher.“

„Na, ich auch. Er rechnet wirklich merkwürdig. Wir haben es als Kinder ganz anders gemacht. Aber wenn ich es ihm zeige, wie ich es mache, verunsichere ich ihn doch nur viel mehr“, stöhnte Nadine.

Christine lachte. „Alle paar Jahre wird wieder etwas an den Lehrmethoden geändert. Und wir müssen uns darauf einstellen. Das hält uns geistig jung und fit.“

„Dann werde ich es wohl doch noch nach der neuen Art lernen müssen“, stellte Nadine fest und wünschte Christine einen schönen Feierabend.

Auf dem Nachhauseweg berichtete Jakob von seinen Erlebnissen in der Schule und im Hort. Schon aus diesem Grund legte Nadine großen Wert darauf, ihn selbst abzuholen. Waren sie erst einmal daheim, war er mit anderen Dingen beschäftigt und erzählte nichts mehr.

„Wir brauchen Milch, Joghurt und Seife“, erklärte Nadine und schloss ihr Rad am Ständer vor dem Supermarkt an.

Jakob half ihr. Er schob den Einkaufswagen und nahm die Milch aus dem Kühlfach, anschließend durfte er den Joghurt aussuchen. An der Kasse sah er Überraschungseier.

„Mama, ein Ei, nur ein einziges Ei“, bettelte er sofort.

„Nein, Jakob“, sagte Nadine. Jakob schwieg.

„Der ist gut erzogen“, meinte eine ältere Dame hinter ihr.

Nadine strahlte, ihr Sohn wurde nur selten gelobt.

„Die meisten nörgeln so lange herum, bis ihre Eltern schwach werden“, fuhr die Dame fort.

Jakob räumte die Einkäufe auf das Band. Während Nadine bezahlte, brachte er den Wagen weg und gab ihr dann die Münze. Jakob bettelte nie lange, er wusste ganz genau, wie knapp das Geld bei ihnen war. Nadine kam mit ihrem geringen Lohn so gerade eben über die Runden. Schuhe oder andere größere Anschaffungen für Jakob spendierten deshalb häufig ihre Eltern.