A Quiet Man. Ein schweigsamer Mann ist ein gefährlicher Mann. - Tom Wood - E-Book

A Quiet Man. Ein schweigsamer Mann ist ein gefährlicher Mann. E-Book

Tom Wood

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Beschreibung

Ein Victor-Thriller der Extraklasse – Victor zeigt Gefühle. Gefühle, die ihn fast umbringen. Ein Mann kommt in eine Stadt. Unscheinbar. Schweigsam.  Nach einem erfolgreich erledigten Job taucht der Auftragskiller Victor in einem kleinen Motel jenseits der Grenze - in Kanada - unter. Nur ein paar Tage, dann wird er wie ein Geist verschwinden – doch dann ändert eine Begegnung alles.  Victor lernt eine Mutter und ihren Sohn kennen, die ihn an seine eigene schmerzvolle Kindheit erinnern …  Und als die beiden plötzlich wie vom Erdboden verschluckt sind, scheint nur ihn das zu interessieren. Bei seiner Suche gerät Victor mit den Kriminellen der Stadt aneinander. Für sie ist er nur ein schweigsamer Mann, der die falschen Fragen stellt.  Doch Victor bleibt. Und schon bald müssen seine Feinde erkennen: Ein schweigsamer Mann ist ein gefährlicher Mann.  Der actiongeladene, fesselnde und facettenreiche neue "Victor"-Thriller des Bestsellerautors Tom Wood lässt den mysteriösen Auftragsmörder in einer Stadt voller Geheimnisse nach einer verschwundenen Mutter und ihrem Kind suchen – genial und absolut spannend! "Unfassbar unterhaltsam, mit einer explosiven Sogwirkung!" Gregg Hurwitz

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Seitenzahl: 478

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A QUIET MAN

Von Tom Wood

Übersetzt von Noah Sievernich, Gerrit Gebauer und Franca Tödter

AUCH VON TOM WOOD

Codename Tesseract

Berlin Calling Victor (Kurzgeschichte)

Zero Option

Blood Target

Kill Shot

Dark Day

Cold Killing

The Final Hour

Kill For Me

Gone By Dawn – Die Stunde der Vergeltung (Kurzgeschichte)

Als T. W. Ellis

A Knock At The Door

Die Originalausgabe erschien 2021 in Großbritannien unter dem Titel »A Quiet Man (Victor)« bei Sphere, einem Imprint der Little, Brown Book Group, Carmelite House, 50 Victoria Embankment, London EC4Y 0DZ

Dies ist ein fiktives Werk. Alle in diesem Roman dargestellten Personen, Organisationen und Ereignisse sind entweder ein Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet.

Der Inhalt dieses Buchs/E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtlich Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Deutsche Erstausgabe 2023

Copyright der Originalausgabe Copyright © 2021 by Tom Hinshelwood. All rights reserved.

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe:

Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056 Erlangen Covergestaltung: by wayan-design unter Verwendung von Motiven von Depositphotos © aiisha (Valentyna Zhukova), © lightsource (Santalucia Art Inc.), © Funniefarm5 (Steve Collender)

Redaktion: Noah Sievernich

Satz und E-Book-Konvertierung: wayan-design.de

Druck und Bindung: siblog Gmbh, Körnerstraße 68, 04107 Leipzig Printed in Germany

ISBN: 978-3-96154-576-6 (Printausgabe) ISBN: 978-3-96154-677-0 (E-Book)

Für Informationen wende dich an Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056 Erlangen

www.ronin-hoerverlag.de

FÜR MAG

Ein schweigsamer Mann ist ein geduldiger Mann. Er wählt seine Worte mit Bedacht und spricht nur, wenn es etwas zu sagen gibt. Er ist ein Beobachter, ein Zuhörer. Er schenkt Aufmerksamkeit, ohne sie zu suchen, und weiß viel mehr über dich als du über ihn.

Der schweigsame Mann ist ein gefährlicher Mann.

Inhalt

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DANKSAGUNGEN

1

Allein der Sarg kostete mehr als die meisten Autos. Er barg ein inneres Gerüst aus rostfreiem Stahl, das von einer Hülle aus handgeschnitztem Ebenholz bedeckt war. Von Hand poliert, um widerständig gegen die Elemente zu sein. Beschläge aus Messing und Gold. Luft und Feuchtigkeit wurden mit modernster Technik entfernt und durch inertes Gas ersetzt, damit die Atmosphäre im Inneren rein war und es auch bleiben würde, wenn der Sarg hermetisch versiegelt war. Auf weißem Samt ruhend, würde sich der einbalsamierte Körper nicht zersetzen, niemals. Das war das Wichtigste für sie. Das Ebenholz und das Gold waren ihnen egal. Das war nur Beiwerk, nicht mehr. Es durfte kein Zweifel daran bestehen, dass derjenige, der darin lag, für die Ewigkeit dort liegen würde, bis die Welt, das Sonnensystem, in einer unvorstellbaren Zukunft unterging.

Und selbst das war noch zu früh.

Sich selbst gegenüber hatten sie keine solchen Bedenken. Sie hegten nicht den Wunsch, dass ihre sterblichen Überreste nach dem Tod unbefleckt blieben. Das war ein großer Trost für sie, denn es bewies, dass sie sich mehr um andere kümmerten als um sich selbst. Trotz aller gegenteiligen Beweise waren sie in Wirklichkeit gute Menschen.

Sie saßen in der Kathedrale, die karg und kalt wie eine Höhle war, und dachten viel über Selbstlosigkeit und Nächstenliebe nach.

Es ist unmöglich, das nicht zu tun, wenn man von Bildnissen und Wandmalereien, Kruzifixen und Kerzen umgeben ist. So viele Kerzen.

Sie dachten auch viel über ihr eigenes Schicksal und Erbe nach.

Solche Gedanken waren ihnen nicht neu, auch wenn sie verglichen mit den vielen Lektionen langer Leben keinesfalls zu Ende gedacht waren. Und so hatten sie in letzter Zeit ihre gedanklichen Bemühungen noch intensiviert. Mit jeder Woche, in der sie merklich an Gewicht verloren, mit jeder zusätzlichen Stunde, die sie im Bett verbringen mussten, hatten sie darüber nachgedacht und diskutiert, was zu tun sei.

Kein leichter Gedanke, hatten sie früher doch über einen solchen Vorschlag gelacht, sich allein bei dem Gedanken daran angewidert, weil er eine Beleidigung darstellte. Damals.

Nun stritten sie, jeder mit jedem, dabei hatten sie nie gestritten.

Alles hatte sich verändert.

Was für eine Wahl hatten sie denn nun?Manchmal war die einzige Option die am wenigsten schmackhafte.

»Ich weiß, dass wir Vorbehalte haben«, sagte er in einem vorsichtigen Ton. »Aber ich denke, wir sollten es tun. Ich möchte es. Natürlich nur, wenn du damit einverstanden bist. Es muss unsere gemeinsame Entscheidung sein. Was denkst du?«

Sie sagte: »Ich habe den Anruf bereits getätigt.«

2

Ein einsamer Kerl auf einem Angelausflug würde abends wahrscheinlich ein paar Bier in der örtlichen Bar trinken, und genau das hatte Victor auch getan. Nachdem er vom See zum Motel zurückgekehrt war, badete er in der viel zu kleinen Wanne, zog sich um und machte sich dann auf den kurzen Weg entlang des Highways zur Bar. Natürlich hätte er auch mit seinem Truck fahren können, aber er wollte auf dem Rückweg nicht von einer örtlichen Polizeistreife angehalten werden. Auch wenn zwei Bier bei weitem nicht ausreichten, um seine Fahrtüchtigkeit oder andere Fähigkeiten zu beeinträchtigen. Weil diejenigen, die nicht tranken, in allen möglichen Situationen, bei denen Leute aufeinandertrafen, auffielen, war eine hohe Alkoholtoleranz eine Notwendigkeit für einen Mann in seinem Beruf.

Obwohl auch ein Betrunkener theoretisch das tun könnte, was Victor tat. Schließlich wirkte Alkohol bei vielen Mördern als eine Art Treibstoff. Nur dass jene, die ohne zu tanken nicht in Fahrt kamen, nicht die gleiche ansehnliche Entlohnung erhielten.

»Ein Bier«, sagte Victor, als der Barmann ihn nach dem Getränk seiner Wahl fragte.

Der Barmann war Franzose, seinem Akzent nach Pariser, und etwa dreißig Jahre alt. Er hatte in jeder der vorherigen Nächte den Tresen gehütet. Oberflächlich betrachtet, war er ein Zivilist. Aber er hatte bestimmte Merkmale, die auf Victors Bedrohungsradar auftauchten. Der Franzose war im richtigen Alter; nicht zu alt – nicht zu jung. Er hatte die richtige Statur; kräftig und gepflegt, er hatte sogar den richtigen Haarschnitt. Keine richtige Frisur, zu kurz, als dass ein Angreifer ihn hätte packen können. Es war die Art von Haarschnitt, die Victor oft nach einem Job selbst vornahm, um sein Aussehen schnell und effektiv zu verändern. Die Kleidung des Barmanns war locker genug, dass sie die Bewegungsfreiheit nicht einschränkte, aber so wenig wie möglich ausladend, damit er sich nicht an Klinken oder Ähnlichem verfing oder sie gar jemand greifen konnte.

Victor hatte ihn jedoch innerhalb weniger Sekunden nach der ersten Begegnung als harmlos eingestuft. Es war die Art, wie sich der Barmann bewegte. Zu langsam. Sein Rücken war steif und auch seine Schultern waren wenig beweglich. Mangelnde Beweglichkeit bedeutete keine Bedrohung. Jemand, der so unsportlich war, würde sich zurückziehen oder vielleicht einfach einfrieren. Das bedeutete, dass die Kleidung nur Kleidung war. Die Passform war einfach nur bequem. Es bedeutete, dass die Ähnlichkeit des Haarschnitts Zufall war. Wahrscheinlich waren sie selbstgeschnitten und er verzichtete aus Bequemlichkeit auf die Teilnahme am Modischen: einfacher zu pflegen, weniger Zeit vor dem Spiegel, kurz genug, um nach dem Duschen direkt aus der Haustür zu gehen. Das hat nichts mit den taktischen Aspekten des Kampfes oder der Tarnung zu tun.

Nur ein Barmann.

Der überarbeitet aussah, obwohl die Bar beinahe leer war. Außer Victor gab es nur fünf weitere Kunden. Und alle tranken so langsam, dass der Franzose die meiste Zeit damit verbrachte, nichts zu tun zu haben. Aber Victor vermutete, dass er nach einer Nacht, in der er nicht allzu viel geschlafen hatte, den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war. Der Dreck unter seinen Fingernägeln deutete auf handwerkliche Arbeit vor Beginn seiner Schicht in der Bar hin. Vielleicht die Reparatur eines Autos. Vielleicht das Umgraben eines Gartens.

Flaschenbier war Victors Erfahrung nach immer besser als Bier vom Fass. Ein Glas ist als improvisierte Waffe nur dann wirksam, wenn es zuvor zerschlagen wurde. Eine Scherbe kann töten, wenn man sie in den Nacken stößt, ist aber fast nutzlos für alle anderen Angriffe gegen ein Ziel, das auch nur ein bisschen Ahnung hat. Eine Flasche kann ebenfalls zerbrochen werden und ist dann eine deutlich bessere Stichwaffe – dicker und robuster, griffiger. Und sie kann in unbeschädigter Form als Schlagstock verwendet werden. Eine Flasche, die die Schläfe oder den Hirnstamm trifft, kann töten und jemanden mit einem Treffer am Kiefer oder Kinn ausknocken. Sie kann ein Messer abwehren oder die Hand des Angreifers so hart treffen, dass er seine Klinge fallen lässt. Eine Flasche kann bei Bedarf auch als Wurfgeschoss eingesetzt werden, obwohl Victor das noch nie nötig gehabt hatte.

Und er war auch nicht erpicht darauf.

»Ich nehme das Import«, hatte Victor in der ersten Nacht gesagt, als man ihm die Wahl gelassen hatte.

»Trink eins mit«, forderte Victor den Barmann nun auf.

»Merci«, sagte der Franzose. »Das tu ich gern.«

Mit einer Hand holte er zwei Flaschen aus dem Kühler. Zwei Finger legte er um den einen Flaschenhals und zwei um den anderen. Mit der freien Hand drehte er die Verschlüsse ab und stellte eines der Biere für Victor auf die Theke.

»Prost.«

Kein Klirren von Gläsern, sondern ein Anheben von Flaschen.

Unnötige soziale Interaktion war etwas, an dem Victor nicht oft teilnahm – aber in dieser Bar war er nicht Victor. Er war selten Victor. Nur bei der Arbeit, bei Gewalt, war er dieser Mensch. Im Moment war er ein Verkäufer aus Las Vegas, der es liebte, weit weg von zu Hause zu fischen. Dieser Mann war im Urlaub, auch wenn die Reise viel länger dauerte als ursprünglich geplant. Dieser Mann kaufte ab und zu ein Bier für einen anderen. Er machte keine Freunde, aber er konnte freundlich sein. Er war schweigsam, aber nicht stumm.

Das Schweigen war Victor.

Das Bier war in Ordnung, so wie er die meisten Flaschenbiere in Ordnung fand. Ein goldenes Gebräu aus Hopfen; schmeckte ziemlich genau wie jedes andere. Nach Victors Erfahrung waren die Unterschiede gering. Er zog einen Bourbon oder einen Wodka vor. Trotzdem schien es dem Franzosen so gut zu schmecken, dass er annahm, es sei seine Marke der Wahl. Victor hatte ihn aufgrund seiner Herkunft für einen Weinliebhaber gehalten und es gefiel ihm nicht, dass sich seine Vermutung als falsch erwiesen hatte. Er sollte mit seinem Urteil genauer sein. Er musste genauer sein.

Sein Leben hing davon ab.

Der Franzose flüsterte zwischen zwei Schlucken etwas in seiner Muttersprache: »Bien trop bonne pour les lèvres mortelles». Das sollte Victor nicht hören und nicht verstehen, aber er sprach Französisch. Er hatte zwar in letzter Zeit keinen Anlass gehabt, es zu sprechen, und wusste, dass seine Sprachkenntnisse verblassten. Doch noch verstand er die Worte.

Zu gut für sterbliche Lippen.

Für einen Moment hatte er Lust, auf Französisch zu antworten, und seine sprachlichen Muskeln mit einem Muttersprachler spielenzulassen. Er konnte sich die Überraschung des Franzosen vorstellen, denn obwohl französischsprachige Menschen in Kanada keine Seltenheit sind, sind sie in Quebec viel häufiger anzutreffen als hier an der Grenze. Victor konnte sich vorstellen, dass der Barmann nach dieser Überraschung lächeln und antworten würde, weil er sich ebenfalls über die Gelegenheit freute, sich auf Französisch zu unterhalten. Victor überlegte bereits, was er sagen würde, wenn er gefragt würde, wie er die Sprache gelernt hatte. Es war fast ein Reflex, denn er hatte im Laufe der Jahre viele solcher Fragen beantwortet, weil er viele Sprachen sprach.

Der Verkäufer aus Las Vegas hatte vielleicht vor langer Zeit einen Sommer lang in der Provence gelebt. Vielleicht war er als Student mit dem Rucksack durch die Normandie gereist. Oder er hatte mal eine Zeit lang mit einer Freundin aus Marseille zusammengelebt, die nur wenig Englisch gesprochen hatte.

Manchmal, wenn ihm ein wenig waghalsig zumute war, antwortete Victor auf solche Fragen, dass er beruflich viel unterwegs sei, was der Wahrheit entsprach und daher laut Protokoll verboten war. Manchmal gab er sich in solchen Momenten auch als Verkäufer aus, der etwas verkaufte, das niemand wollte, oder sagte, dass er in der Umzugsbranche tätig war, ein Fachmann für Abfallwirtschaft oder etwas ähnlich Albernes. Manchmal lag der einzige Spaß, den er hatte, darin, Risiken einzugehen. Eine Ironie des Schicksals, denn er verbrachte alle anderen wachen Momente damit, jede erdenkliche Gefahr zu entschärfen.

Für einen Mann, der so darauf bedacht ist, am Leben zu bleiben, verhältst du dich manchmal so, als hättest du ‘n Todeswunsch, hatte ein alter Kollege zu ihm gesagt.

Ich gehe nicht gerne Risiken ein, hatte Victor einmal einer Frau erzählt, mit der er geschlafen hatte, obwohl er wusste, dass sie ihn umbringen wollte, aber ab und zu lasse ich mich ein wenig mitreißen, damit ich mich lebendig fühle.

Der Barkeeper war nur ein Barkeeper. Während Victor mit seiner Vorliebe für alkoholische Getränke falschgelegen hatte, wusste er, dass der Franzose ein Zivilist war. Kein Risiko. Keine Gefahr. Es hätte Victor nichts gekostet, ein paar Worte auf Französisch mit ihm zu wechseln, aber Victor blieb schweigsam.

Vielleicht, weil er bereits zu lange mit der Erwiderung gewartet hatte.

Es konnte aber auch mehr dahinterstecken, dachte er. Vielleicht war er es leid mehr zu lügen als einfach unbedacht zu reden. Die geistige Anstrengung, ein Berg von Unwahrheiten, der immer größer wurde, da jede Lüge auf der vorherigen aufbaute.

Konnte es das sein? Hatte er seine Toleranzgrenze für Täuschungen endgültig überschritten?

In jüngster Vergangenheit war ihm ein Wahrheitsserum injiziert worden; er hatte noch nie eine solche Erschöpfung erlebt. Der Zwang, die Wahrheit zu sagen, war überwältigend gewesen. Irgendwie hatte er ihm widerstanden. Dieser Widerstand war nur für eine kurze Zeit nötig gewesen, obwohl er jetzt bezweifelte, dass er noch viel länger hätte durchhalten können. Hatte die Droge die Funktion seines Gehirns unwiderruflich verändert? Hatte sie einen Schalter in seinem Bewusstsein umgelegt, der nicht mehr zurückgesetzt werden konnte?

Er wusste, was er tat. Er wusste, dass es um Selbsterhaltung ging, vielleicht sogar um Verleugnung.

Er war so erschöpft vom Lügen, dass er sich selbst über den Grund dafür belog. Über das Warum.

Wenigstens blieb er in seiner Rolle. Er war ein einsamer Mann in einer Bar, der zu viel Zeit mit Selbstreflexion verbrachte. Das war eine Kardinalsünde für Victor, die gegen die Protokolle verstieß, die er jahrelang perfektioniert hatte, die Protokolle, die ihn länger am Leben gehalten hatten, als er es einst für möglich gehalten hatte. Als er endlich begriffen hatte, dass er zu lange im Gewerbe geblieben war und sich zu sehr in dieses Leben vertieft hatte, um seinen Beruf jemals aufzugeben, hatte er seinen Frieden mit dieser Tatsache und sich selbst geschlossen. Alle Existenz ist endlich. Alles Leben vergänglich. Seines war nicht anders. Die meisten Menschen sterben an Altersschwäche, einige an unglücklichen Krankheiten oder Unfällen, und einige wenige erliegen der Gewalt. War es wichtig, wie er starb? Spielte es eine Rolle, dass er mit Sicherheit ermordet wurde, lange bevor er ein Alter erreichte, in dem eine Herzerkrankung zum Risiko wird oder ein Schlaganfall auftritt? Das Ergebnis wäre dasselbe.

Er würde es ihnen aber nicht leicht machen. Er war kein Defätist und kein Aufgeber. Wenn der letzte Schuss ertönte, würde sein Mörder hart dafür gearbeitet haben. Dieser Mörder würde seinen Ruhm verdienen.

»Worauf wartest du?«, hörte er seine eigene Stimme schließlich laut. Der Barmann hatte es natürlich nicht gehört. Selbst der Fehler, einen echten Gedanken zu äußern, wurde durch den ständigen Willen, unbemerkt zu bleiben, gemildert. Der Barmann glotzte auf den an der Wand hinter ihm montierten Fernseher, obwohl kein Ton aus dem Gerät kam. Die Nachrichten liefen und ein Reporter sprach in die Kamera. Die Meldung hatte die Aufmerksamkeit des Franzosen erregt, denn hinter dem Reporter, der ein ernstes Gesicht machte, blinkten unablässig die Lichter der Rettungsdienste. Die Sendung schnitt zu einer Aufnahme der Skyline von Chicago und dann zu Aufnahmen von Polizisten und Sanitätern.Der Franzose schaute sich in der Bar um und runzelte die Stirn.

Genervt. Auf der Suche.

Er suchte nach der Fernbedienung, wollte die Lautstärke aufdrehen, damit er hören konnte, was der Reporter sagte. Chicago war nah, nur 60 Kilometer südlich.

Es dauerte eine halbe Minute, bis der Barmann die Fernbedienung fand, die er selbst zuvor unter dem Lappen versteckt hatte, den er zum Aufwischen von verschütteten Getränken benutzte, aber da war es schon zu spät. Die Nachrichtensendung war zu Ende. »Merde«, zischte der Franzose enttäuscht. Er drehte sich zu Victor. »Weißt du, was passiert ist?«

Victor, der es leid war zu lügen, nickte.

»Ja«, sagte er. »Es gab einen Mord.«

3

Stille gibt es in vielen Formen. Sie ist nicht immer nur die bloße Abwesenheit von Geräuschen, sondern manchmal auch deren Auslassung. Stille kann das bewusste Zurückhalten von Geräuschen sein und auf diese Weise ist Stille aussagekräftig: Stille spricht mit lauter Stimme.

Die Stille, in die Victor aus der Bar trat, sprach laut und deutlich zu ihm. Sie sagte ihm eine Menge. Sie sagte ihm alles, was er wissen musste.

Die Nacht war kühl. Für Victor war es nicht kalt, aber er konnte seinen Atem im Mondlicht sehen. Die Art von Nacht, in der die Leute ihre Jacken schließen und die Hände so tief es geht, in die Taschen schieben. Victor konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal so eingeschränkt hatte. Zumindest nicht freiwillig. Die Sterne waren wie Nadelstiche in der Schwärze über ihm und der Mond glänzte in einem trüben Silber, das Stahl fließen und Chrom glühen ließ. Von beidem gab es auf dem unebenen Asphalt, der als Parkplatz für die Bar diente, reichlich zu sehen. Das Gebäude lag abgelegen vom Highway, der Parkplatz dazwischen. Keine anderen Gebäude in der Nähe, nur Bäume. Kein ersichtlicher Grund, warum so viele Motorräder hier geparkt waren.

Kein Grund, bis auf einen.

Sie waren keine Sonntagsfahrer. Keine Biker aus der Vorstandsetage. Ihre Chopper waren gut gewartet und dennoch sah man ihnen die vielen Kilometer an, die sie Tag für Tag abrissen. Sie waren keine Freizeitfahrzeuge, sondern primäre Beförderungsmittel. Victor hatte nie ein Motorrad besessen, so wie er auch nie ein Auto besessen hatte. Er hatte schon viele von beidem gestohlen, aber Autos waren ihm lieber. Autos waren anonymer. Ein Mann, der in einem geparkten Auto sitzt, kann beinahe unsichtbar sein. Auf einem Motorrad ist das nicht so einfach, obwohl es für einen Mann seines Berufsstandes andere Vorteile hat: Er ist wendiger, kann schneller fahren und dorthin gelangen, wo ein Auto nicht hinkommt.

Doch Victor zog es immer vor, Aufmerksamkeit zu vermeiden, anstatt ihr zu entkommen.

Nur hier gab es kein Entrinnen. Die neun Biker schauten alle in seine Richtung, weil sie auf ihn warteten. Sie waren seinetwegen hier. Die Chopper bildeten einen groben Halbkreis, der die Ausfahrt zum Highway blockierte und sich über die gesamte Breite des Parkplatzes erstreckte.

Er hatte sie natürlich kommen hören. Das war ein weiterer Nachteil solcher Fahrzeuge. Sie waren immer laut. Keine Chance, sich zu tarnen. Victor hatte sich die Zeit genommen, sein Bier auszutrinken, bevor er nach draußen ging, denn er wollte den französischen Barmann nicht beleidigen, indem er seine Lieblingsmarke vergeudete.

Den Anführer der Biker auszumachen, war nicht weiter schwierig. Nach Victors Erfahrung war immer offensichtlich, wer Anführer war. Nicht immer der Größte, nicht immer derjenige in der Mitte, nicht immer derjenige, der sich vor die anderen stellte, aber immer sprach er zuerst. In einer strengen Hierarchie, in einem Rudel, war der Anführer der Erste, der sich zu erkennen gab.

Victors Blick fand denjenigen, der sich anschickte zu sprechen. Er war der Dünnste, der Schwächste, der Älteste, der, den die anderen mit Respekt ansahen. Er war hochgewachsen, schmal gebaut und hatte feines, langes weißes Haar, das ihm glatt über die Ohren fiel und auf seinen Schultern ruhte wie die Verantwortung, während seine Schädeldecke kahl war. Sein durch den Mond verzogener, langer, spitzer Schatten erstreckte sich bis zu Victor.

Die Schatten der anderen acht taten es ihm nach und bildeten eine konkave Anordnung von gezackten schwarzen Messern, die alle in seine Richtung zeigten.

Die Biker trugen viel Jeans und noch mehr Leder. Einige hatten lange Haare. Einige hatten rasierte Köpfe. Andere trugen Halstücher. Mehr als die Hälfte hatte Bärte. Sie waren unterschiedlich alt, aber keiner war jung. Alle waren sie Männer, alle voll ausgewachsen. Die meisten trugen einige Extrapfunde mit sich herum, aber sie waren stark. Keiner der neun sah so aus, als könnte er mehr als Schläge oder Kopfnüsse verteilen, also brauchte er sich nicht vor Tritten in Acht zu nehmen. Er erwartete auch keine fortgeschrittenen Grappling-Techniken. Wenn sie Profis waren, hatte er keine Chance. Wenn sie wussten, dass er selbst ein Profi war, würden sie Waffen haben. Sie würden bis an die Zähne bewaffnet sein.

Schweigen ist bezeichnend.

Ihr Schweigen verriet Victor, dass sie keine Ahnung hatten, dass er mehr als ein Mann auf einem Angelausflug war. Sie standen einfach nur da und starrten ihn an, weil sie immer noch glaubten, sie seien die Löwen in dieser Asphaltsavanne und er sei ein Gnu. Sie verstanden nicht, dass er der Löwe war und sie die Schakale. In ihrem Rudel waren sie gefährlich, aber jede Sekunde, die sie schweigend dastanden, gab ihm eine Sekunde mehr, um zu planen und zu kalkulieren.

Jede Sekunde des Schweigens vergrößerte seine Chancen davonzukommen und erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass sie diesen Ort in der Horizontalen verlassen würden.

Aber neun war eine unmögliche Zahl.

Um auch nur den Hauch einer Chance zu haben, musste er schnell sein. Er musste schneller sein, als sie es registrieren konnten. Bei der Geschwindigkeit ging es nicht nur um Reflexe, um schnell anspannende Muskelfasern. Geschwindigkeit kann manipuliert werden. Wenn die Distanz verkürzt werden kann, bevor der Schlag ausgeführt wird, dann wird er früher landen und das Ziel hat weniger Zeit zu reagieren, zu blocken, zu kontern oder einfach nur auszuweichen. Die Biker hielten ihre geballten Fäuste an den Seiten, in der Nähe ihrer Hüften. Victor hielt seine Hände vor seinen Bauch, Handfläche an Handfläche. Eine entspannte Pose, eine nachdenkliche Pose. Passiv. Unbedrohlich. Doch seine Hände waren ihrem Ziel viel näher. Sie hatten eine kürzere Strecke zurückzulegen. Sie würden schneller sein.

Aus demselben Grund hielt Victor seinen rechten Fuß etwas weiter hinten als den linken, sein Oberkörper war zum Ausgleich im Uhrzeigersinn gedreht, um die Illusion zu erwecken, dass er im rechten Winkel stand und die Tatsache zu verschleiern, dass er sich in einer Kampfstellung befand. Alles, was er tun musste, war, die Spannung in den Muskeln auf der linken Seite seines Rückens zu lösen. Seine rechte Schulter würde zurückfallen und er würde handeln, lange bevor sie reagieren konnten. Es würde unmenschlich schnell erscheinen, von null auf 160 Kilometer pro Stunde, aber der Motor arbeitete bereits. Er musste nur noch die Handbremse lösen.

Es würde keine Chance geben, sich zu verteidigen. Nicht gegen so viele. Nur verheerende und lähmende Schläge durften eingesetzt werden. Wenn er jemanden traf, musste er ihn so hart treffen, dass er sich nicht mehr erholen konnte. Victor konnte es sich nicht leisten, einen Biker zu Boden zu schicken, nur damit er ein paar Sekunden später wieder aufstand und sich wieder ins Getümmel stürzte. Vielleicht war er dann nicht mehr in Victors Blickfeld und konnte ihn von hinten angreifen, während er sich auf einen anderen konzentrierte. Er konnte sich nicht mit der Abwägung der versehentlichen Tötung eines Menschen, mit den möglichen Folgen und der Einschaltung der Polizei aufhalten.

Tritte nur zu Beginn, wenn sie noch überrascht wären und noch keine Gelegenheit hatten, seine Bewegungen zu berechnen. Auch das Ringen sollte bis zum Ende warten, wenn es weniger Gegner gab. Wenn er einen packte, machte er sich für alle anderen angreifbar. Er konnte sich nicht nur auf die Ellbogen verlassen; sie waren zwar sein bevorzugtes Schlaginstrument, aber er brauchte seine volle Reichweite. Er konnte keine kostbaren Sekundenbruchteile verschwenden, um den zusätzlichen Schritt zu machen. Beschädigte Knöchel waren daher unvermeidlich. Besser, als zu verlieren, besser als mit gebrochenen Rippen und geprellten Wirbeln, fehlenden Zähnen und einem zertrümmerten Augenhöhlenbein oder einem subduralen Hämatom zu enden.

Neun war eine unmögliche Zahl, aber neun waren auch zu viele. Selbst in einem engen Kreis, in dem das Timing perfekt abgestimmt war, waren es zu viele. Es waren mehr als doppelt so viele, wie ihn realistischerweise gleichzeitig angreifen konnten, und keiner von ihnen sah aus, als hätten sie sich besonders viel Mühe gegeben, ihre Bewegungen zu koordinieren. Sobald ihr Anführer sprach, würde auch einer von ihnen den ersten Zug, den ersten Angriff machen.

Dann würden es acht sein.

Das würde einen Effekt haben: einen Schockfaktor, der die anderen lähmen könnte, weil die Ereignisse nicht wie erwartet eintraten. Sicherlich hatten sie eine bereits bestehende Vorstellung, die sich von Anfang an als falsch erweisen würde. Victors Blick schweifte über die Biker. Er sah keine Nervosität, entdeckte kein Zögern. Dies waren harte Männer. Gewalttätige Männer.

Eine solche Lähmung wäre für sie nur von kurzer Dauer.

Das bedeutete, dass Victor zuerst handeln musste. Er konnte nicht auf den ersten Mann warten. Victor selbst musste dieser Mann sein. Er musste sicherstellen, dass der Schock, einen der ihren so schnell zu Boden gehen zu sehen, durch die Überraschung, einen einzelnen Mann zu sehen, der sich gegen unmögliche Hindernisse stemmt, noch vervielfacht wurde.

Zurück zu acht.

Nein, sieben, sah Victor. Der Anführer hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Seine acht Männer hatten die Arme an der Seite oder leicht angehoben, die Hände geballt oder die Finger zur Ablenkung gekrümmt. Die Arme des weißhaarigen Mannes waren nicht zur Verteidigung verschränkt, sondern entspannt. Er war kein Anführer im eigentlichen Sinne. Er führte seine Männer nicht in die Schlacht, er schickte sie.

Sieben war machbarer als neun, aber immer noch zu viel. Zwar würde es nicht lange bei sieben bleiben, denn Victor hatte gelernt, dass man einen Vorteil nie ungenutzt lassen darf. Er würde die Überraschung des ersten Angriffs und den Schock, wenn der erste Mann zu Boden ging, voll ausnutzen, um sich auf den nächsten zu stürzen. Auf den, der ihm am nächsten war.

Dann sechs.

Harte Männer, die keine Angst vor Gewalt haben, wären zu diesem Zeitpunkt schon bereit, sie würden reagieren, aber es würde ihnen noch an Koordination fehlen. Sie hätten ihr Timing immer noch nicht aufeinander abgestimmt. Also ging es wieder um eine ursprüngliche Eröffnung – einer von ihnen griff zuerst an.

Das bedeutete, dass es dann fünf sein würden.

Zu diesem Zeitpunkt wäre Victors Rücken ungeschützt. Bei so vielen Gegnern alle Bedrohungen im Blick zu behalten, war ein Ding der Unmöglichkeit. Der Versuch, dies zu tun, würde ihn nur verlangsamen und ihn in die Defensive statt in die Offensive treiben. Das würde ihnen die Initiative geben und dann wäre es bald vorbei.

Er musste einen Schlag in die Nieren, den Rücken oder auf den Kopf hinnehmen oder einen Würgegriff um seinen Hals. Im Gegenzug würden es dann aber nur noch vier sein.

Vier Mann weniger, das sind fünfzig Prozent weniger, würden die Moral jeder Kampftruppe brechen und jeden halbwegs fähigen Anführer dazu bringen, den Rückzug anzutreten. Doch die Schnelligkeit seiner Aktionen war genauso wichtig wie die Härte seiner Aktionen. Wenn Victor die acht Bedrohungen zu schnell auf vier reduzieren könnte, würde die Moral nie ein Faktor werden. Er würde auf dem Asphalt liegen und zu Brei getreten werden. Seine Geschwindigkeit hätte bedeutet, dass sie keine Zeit zum Nachdenken hätten, keine Zeit zum Zweifeln, keine Zeit, um einen Rückzug als die richtige Entscheidung zu erkennen.

Ein guter Schlag in die Nieren würde wehtun und ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Vielleicht würde er danach Blut urinieren, aber das würde ihn nicht außer Gefecht setzen. Er würde immer noch in der Lage sein zu kämpfen. Keiner der verbleibenden vier würde zu diesem Zeitpunkt noch so schnell zu Boden gehen wie die vorherigen vier. Victor wusste, dass er in den folgenden Sekunden noch einige weitere Treffer würde einstecken müssen, aber das war machbar. Er konnte es schaffen. Es würde schmerzhaft sein, es würde brutal sein, und doch würden die vier, nachdem er den Schlag in die Nieren eingesteckt hatte, sich zu ihren Freunden auf den Boden legen.

Wenn es statt des Schlages ein Würgegriff wäre, hätte er ein Problem. Der Würgegriff selbst machte ihm keine Sorgen. Die Anwendung war schwieriger, als die meisten Leute dachten, und wenn er nicht perfekt ausgeführt wurde, hatte Victor genug Tricks auf Lager, um sicherzustellen, dass die Gefahr, das Bewusstsein zu verlieren, gering war. Das Problem war nur, dass er nicht mit den anderen drei Bikern fertig werden konnte, solange er nicht aus dem Griff entkommen war. Sie könnten ihn schlagen, während er bewegungsunfähig war, oder seine Arme packen, so dass er sich nicht effektiv gegen den Würgegriff wehren könnte. Zu diesem Zeitpunkt wären seine Chancen, bei Bewusstsein zu bleiben, verschwindend gering.

Ein Schlag auf den Hinterkopf, den Hirnstamm, würde ihn in echte Schwierigkeiten bringen. Vielleicht wäre er noch auf den Beinen, aber er würde benommen sein und wie ein Betrunkener kämpfen. Er wäre nicht schnell genug, um jemanden auszuschalten, bevor sie ihn aufhalten könnten, und hätte nicht die Schnelligkeit, um die folgenden Angriffe zu blocken oder ihnen auszuweichen. Sie könnten ihn nach Belieben treffen. Er könnte vielleicht einen anderen zu Boden bringen, aber dann würde auch er zu Boden gehen. Dann würden die Tritte in die Rippen und ins Gesicht einsetzen.

Zuvor musste er jedoch mit den ersten vier fertig werden. Er stellte sich vor, wie er den ersten Biker mit einem Stompkick in zwei Hälften teilt und ihm die Ferse so fest in den Unterleib rammt, dass er sich wahrscheinlich selbst entleeren würde; dann einen Ellbogen auf den nächsten in der Reihe, an die Schläfe, da der Kerl viel kleiner war als Victor. Dann dem nächsten einen Roundhousekick an die Außenseite des nächstgelegenen Knies, der das Gelenk so explosiv nach innen klappt, dass der Biker vor Schmerz ohnmächtig werden würde, bevor er zusammenbräche. Eine Drehung um dreißig Grad, um dem Vierten einen Körpertreffer zu verpassen und dessen Deckung zu erschüttern, bevor er ihm einen zweiten Schlag ins Gesicht verpasst, der die Nase zertrümmert, anstatt auf den Kiefer zu zielen, denn er musste seine Knöchel so lange wie möglich schonen. Vielleicht würde Victor einen der ersten vier mit einem Fersenstempel erledigen, bevor er sich auf die anderen vorbereitete.

Vier Sekunden. Vier weniger. Vier übrig.

Er konnte vieles vorhersagen, er konnte die meisten Eventualitäten abschätzen, aber er wusste nicht, was als Nächstes passieren würde: der Schlag in die Nieren, der Würgegriff oder der Schlag in den Hirnstamm. Zwei bedeuteten eine Niederlage, bedeuteten Schmerzen und Verletzungen und möglicherweise den Tod. Entweder durch Blutungen im Gehirn oder später. Wochen oder Monate oder Jahre später, wenn die Schläge, die Victor hier einstecken musste, bedeuteten, dass er nicht schnell genug oder stark genug war, um den nächsten Profi zu überleben, der ihn wegen eines der vielen Kopfgelder, die auf ihn angesetzt waren, ausfindig machte.

Das waren keine guten Aussichten. Schlimmer als das Werfen einer Münze. Am besten war es, sich in die Bar zurückzuziehen, in die Sicherheit von Zeugen, zu einem Barmann, der beim ersten Anzeichen von Ärger zweifellos die Polizei rufen würde.

Die Anordnung der schwarzen Messer zitterte unruhig. Die Stille, die so laut und vielsagend war, neigte sich dem Ende zu.Es blieb keine Zeit mehr zum Planen und Vorhersagen. Der weißhaarige Anführer sprach zuerst. »Darauf habe ich schon den ganzen Tag gewartet.«

»Du verstehst das falsch«, sagte Victor, als er nach vorne ging und sich auf die Messer warf. »Ich bin es, der auf dich gewartet hat.«

4

DREI TAGE ZUVOR

Natürlich hatte er einen Namen, obwohl Michelle ihn nicht gerne benutzte. Namen waren ironischerweise so unpersönlich. Du könntest ein Hannibal oder ein Alexander sein, aber deine Mitschüler nennen dich Chad. Du hättest Kleopatra oder Elisabeth heißen sollen, aber du wurdest Tina genannt. Das ist nicht gerade fair, oder? Sie verstand diese Ungerechtigkeit, denn sie hätte selbst lieber etwas Größeres gehabt. Michelle war ein guter Name, das akzeptierte sie, aber sie sehnte sich nach etwas mit mehr Silben, etwas Klassischerem. Wenn es im Motel nichts zu tun gab, kritzelte sie Ideen auf und stellte sich vor, wer sie sein sollte, wer sie lieber gewesen wäre. Was wäre wohl anders gelaufen, wenn sie nicht unter dem Rufnamen Chelle aufgewachsen wäre? Hätte sie für sich und Joshua ein besseres Leben als dieses führen können? Eine rhetorische Frage, denn jedes Leben wäre besser gewesen als dieses.

»Ich habe mich gefragt, ob ich das Zimmer wechseln kann.«

Das war zwar nicht alltäglich, aber es kam ab und zu vor. Meistens, weil die Trennwände so dünn waren und die Leute Motelzimmer nicht nur buchten, um darin zu schlafen. Natürlich hatte nie jemand gesagt, dass das der Grund war, warum er das Zimmer wechseln wollte. Die Leute waren zu prüde, wenn es um solche Aktivitäten ging. Für Michelle hatte das nie viel Sinn gemacht, denn jeder tat es und das Überleben der Spezies hing davon ab.

Wenn wir auf diese Erde gekommen sind, um irgendetwas zu tun, dann ist es das.

Sie sagte: »Lassen Sie mich das Hauptbuch prüfen.«

Es war nicht nötig, das Hauptbuch zu prüfen, denn Michelle wusste immer genau, wie viele Zimmer zu welchem Zeitpunkt belegt waren. Auf diese Fähigkeit war sie nicht unbedingt stolz, aber sie hatte sie sich ohne Anstrengung angeeignet. Nun, das Motel war auch nicht gerade das Four Seasons. Es gab insgesamt nur drei Dutzend Zimmer, wenn sie das Zimmer mitzählte, das gerade ausgeräuchert wurde. Außerdem war Nebensaison. Von Oktober bis April war das Motel nie mehr als halb voll.

Sie war eine Optimistin, wie sie feststellte, und das hatte sie bis eben nicht gewusst.

»Lassen Sie mich mal sehen«, wiederholte sie, während sie umblätterte. »Ich glaube, ich kann Ihnen helfen. Gibt es irgendetwas an Ihrem Zimmer, das ich wissen sollte?«, fragte sie mit einem Schimmer in den Augen und einem schiefen Lächeln, denn vielleicht war er anders. Vielleicht würde er sie mit Ehrlichkeit überraschen und sagen: »Das Paar nebenan klingt wie ein Paar brünstiger Elche.«

»Es ist in Ordnung«, versicherte er ihr und deklarierte sich selbst damit als genauso langweilig wie alle anderen. »Aber ich lasse nachts gerne das Fenster offen, damit die Luft rein ist und die Mücken mich auffressen. »

»Sie werden gerade erst geschlüpft sein«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen ein Zimmer geben kann, das ungezieferabweisend ist, tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen. So nobel sind wir nicht. »

Sie sagte das weiterhin mit einem halben Lächeln, damit er wusste, dass sie nur einen Scherz machte. Man musste versuchen, Spaß zu haben, um die Langeweile am Check-in-Schalter zu bekämpfen.

Er nickte, lächelte aber nicht zurück. »Ich denke, ein Zimmer weiter weg vom See könnte helfen.«

»Ich kann Sie auf der anderen Seite des Parkplatzes unterbringen, aber dann sind Sie direkt an der Straße. »

Er zuckte mit den Schultern. »Ich nehme lieber Abgase als Stiche.«

»Sind sie sicher? Vielleicht kann ich ein paar Gardinen finden und vor Ihr Fenster hängen.«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist ein nettes Angebot, aber ich will Ihnen keine Umstände machen.«

»Das ist kein Problem.«

»Ich nehme das Zimmer neben der Straße, bitte.«

Auch sie zuckte mit den Schultern. Wäre es nicht einfacher, das Fenster geschlossen zu halten? Aber sie sagte bloß: »Ihre Entscheidung.«

»Danke.«

Sie holte ihm einen Schlüssel und legte ihn auf den Tresen. Er nahm ihn so sanft und leise weg, dass sie es gar nicht bemerkte. Nur, dass der Schlüssel nicht mehr da war.

Er sagte: »Ich werde meine Sachen rüberbringen und den alten Schlüssel abgeben, sobald ich fertig bin.«

»Es hat keine Eile«, sagte sie, als er ging.

Sie bemerkte, dass er eine seltsame Art hatte, die Rezeption zu verlassen. Er wich vom Tresen zurück und drehte sich erst an der Tür um. Es war nur eine kurze Strecke, höchstens drei Meter, aber das tat er auch, wenn er ankam und Michelle, die die Eigenheiten jedes Gastes in einer inneren Kartei archivierte, um diesen Job wenigstens etwas interessanter zu gestalten, hatte noch nie jemanden gesehen, der sich so verhalten hatte. Wäre sie durch ihre Selbstbeschäftigungsspielchen nicht so aufmerksam und scharfsinnig geworden, wäre ihr das gar nicht aufgefallen.

Es gab noch mehr als das. Das hatte sie auch gesehen. Wenn er von der Rezeption zu seinem Zimmer ging, lief er nicht geradeaus über den Parkplatz, wie es jeder andere tun würde, sondern ging um das Innere des U-förmigen Gebäudes herum. Sie vermutete, dass er empfindlich auf Sonnenlicht reagierte. Vielleicht waren seine Augen deshalb so dunkel. Fast schwarz. Fast so, als gäbe es keine Trennung zwischen Pupille und Iris.

Er kam von jenseits der Grenze – wie viele der Gäste, die das Motel nutzten. Der Huron-See war schließlich nur ein paar hundert Meter entfernt. Amerika war zu Fuß erreichbar, aber er kam aus Nevada. Aus Las Vegas, um genau zu sein. Deshalb war er auch so braungebrannt, vermutete sie. Allerdings passte das nicht zu ihrer Theorie über seine Lichtempfindlichkeit. Es muss also einen anderen Grund geben, warum er nicht den kürzesten Weg zu seinem Zimmer nahm. Vielleicht gehörte er zu den Leuten, die diese komischen Uhren am Handgelenk trugen und besessen davon waren, möglichst viele Schritte am Tag zumachen. Ja, das ergab mehr Sinn. Er hatte einen schlanken, athletischen Körperbau. Ein breiter Rücken, aber eine schmale Taille. Ein Schwimmer oder Kletterer. Wahrscheinlich trainierte er so oft pro Woche, wie Michelle ein Stück Kuchen aß. Sie gab Joshua die Schuld dafür. Seit er gekommen war, um ihre Tage zu verschönern, war sie nicht mehr dieselbe. Es war, als ob ihr Körper nicht akzeptieren wollte, dass sie nicht mehr für zwei essen musste.

Warum hattest du noch nie Lust auf einen Salat?

Sie beobachtete den Gast, während er ging. Zum einen, weil sie nichts anderes zu tun hatte, und zum anderen, weil er nicht schlecht aussah. Ein bisschen ungepflegt für ihren Geschmack. Er könnte eine Rasur und einen besseren Haarschnitt gebrauchen. Sie bevorzugte ihre Männer gepflegt, auch wenn sie irgendwie immer mit dem Gegenteil endete. Sie mochte seine ausgeblichenen Jeans und sein ausgefranstes kariertes Hemd nicht. Wie er wohl aussah, wenn er nicht auf einem Angelausflug war...

Sie fragte sich, ob er jemals in seinem Leben einen Anzug getragen hatte.

Er hatte bisher zwei Tage im Motel verbracht. Nur er. Keine Partnerin und auch kein Angelkumpel. Er ging jeden Morgen früh los, manchmal, bevor die Sonne ganz aufgegangen war, und kam meist erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Sie hatte ihn noch nie mit einem Fang gesehen, aber er hatte eine große Kühlbox, in der er entweder die Fische oder, falls er sie zurückwarf, sein Bier aufbewahrte. Sie hatte noch nie Alkohol an ihm gerochen, also war es wahrscheinlich Ersteres.

Aber was machte er dann mit seinem Fang? Das Motel war nur ein Motel. Im Zimmer gab es keine Kochgelegenheit, und selbst wenn, würde es jetzt schon nach Fisch stinken. Sie schüttelte den Kopf und ärgerte sich über sich selbst, weil sie das Offensichtliche nicht erkannt hatte: Er hatte den Fisch gekocht, bevor er zum Motel zurückkehrte. Wie hieß es doch so schön: Die einfachste Erklärung ist die richtige. Vielleicht war er gar nicht so geheimnisvoll, wie sie dachte; sie wollte glauben, dass er geheimnisvoll war, um dem Tod durch Langeweile zu entgehen.

Bestätigungsvoreingenommenheit in Aktion – darüber hatte sie gelesen. Er war nur ein Mann auf einem Angelausflug. Nicht mehr.

Nicht weniger.

Sie gab all ihren Gästen Spitznamen, eine weitere Methode, ihren Job aufzulockern. Einige wurden häufig verwendet und für mehrere Gäste gleichzeitig genutzt, denn die Menschen sind nicht so einzigartig, wie sie gerne glauben würden. Zu den beliebten Spitznamen gehörten der schmierige Kerl und die nervige Frau, der mürrische Teenager und die verwöhnte Göre. Von Zeit zu Zeit fanden sich all diese Namen in einer einzigen Familie.

Michelle hatte sich schwergetan, einen passenden Namen für diesen besonderen Gast zu finden. Abgesehen von dem kurzen Gespräch, das er vorhin geführt hatte, als er das Zimmer wechseln wollte, und einem ebenso kurzen Gespräch bei seiner Ankunft, hatte er überhaupt nicht mit ihr gesprochen. Das war ungewöhnlich für Alleinreisende, besonders für alleinstehende Männer. Ihnen wurde langweilig und sie waren einsam. Sie fanden Ausreden, um zu flirten oder einfach nur zu plaudern, selbst wenn es nur darum ging, über das Wetter zu reden. Dieser Typ tat so etwas nicht. Sie fragte sich, ob er überhaupt ein Wort zu ihr gesagt hätte, wenn er nicht das Zimmer hätte wechseln wollen. Er war kein Gesprächspartner. Nicht einmal annähernd.

Deshalb beschloss sie, ihn den Quiet Man zu nennen.

5

Der Junge beobachtete Victor jeden Morgen. Am ersten Morgen hatte der Junge vom Büro des Motels aus zugesehen, zwei dicke kleine Handflächen und zehn dicke kleine Finger gegen das Glas gepresst. Am zweiten Morgen stand er ein bisschen näher, draußen auf dem Parkplatz, aber so weit wie möglich von Victors Wagen entfernt. Jetzt, am dritten Morgen, stand er kaum eine Armlänge entfernt, als Victor die Angelrute und die Angelkiste auf die Ladefläche des Trucks legte. Was der Junge so faszinierend fand, hatte Victor noch nicht verstanden. Der Junge schaute schweigend zu, seine Haltung und sein Gesichtsausdruck veränderten sich kaum, aber seine Augen funkelten neugierig. Vielleicht fand der Junge alle Gäste faszinierend. Vielleicht war Victor für ihn nicht anders als alle anderen.

Das Motel war klein, was einer von mehreren Gründen war, warum Victor es ausgewählt hatte, aber nicht der wichtigste. Die Lage war der Hauptgrund. Es bot ihm einfache Zugänge zum See und zum Highway.

Der Vorsommer bedeutete ein halbleeres Motel. Vielleicht war das der Grund, warum der Junge ihn beobachtete. Weniger Gäste bedeuteten weniger Ablenkung für ihn, weniger Leute, die er beobachten konnte. In Ermangelung interessanterer Gäste wurde Victor der Aufmerksamkeit des Jungen würdig.

Nur war der einsame Mann, den Victor auf einem Angelausflug spielte, überhaupt nicht interessant. Das wusste er, denn er tat alles, um uninteressant zu wirken, denn Aufmerksamkeit war so ziemlich das Letzte, was Victor jemals suchte. Er trug langweilige Jeans und ein kariertes Hemd über einem weißen Unterhemd. Seine Outdoor-Schuhe waren plump. Ein Truckerhut aus Nylon verdeckte sein Gesicht. Weder war es glattrasiert noch trug er einen Bart. Er sprach wenig und machte keine Witze, keine aufschlussreichen Kommentare, wenn er den Mund aufmachte. Er tat alles, um nicht aufzufallen, bis hin zu der Art, wie er ging, denn auch der Gang kann viel über eine Person aussagen. Victor achtete darauf, dass er weder langsam noch schnell war, dass er weder in Eile noch träge war, dass er weder arrogant noch schüchtern, weder glücklich noch traurig war.

In keiner Weise interessant. Doch der Junge dachte anders.

Er sagte nichts, also sagte Victor seinerseits nichts zu ihm. Der Junge war etwa einen Meter groß und wog um die achtzig Pfund, das waren so ziemlich die einzigen Details, die Victor mit Sicherheit wusste. Keine Sicherheiten bezüglich des Alters: Vielleicht war er ein großer Sechsjähriger oder ein kleiner Achtjähriger oder ein durchschnittlicher Junge von sieben Jahren. Victor war gut darin, Menschen zu lesen, ihre Stärken und Schwächen zu erkennen und festzustellen, wann sie eine potenzielle Bedrohung darstellen und wann nicht. Kinder waren für ihn ein Rätsel, denn er hatte nie das Bedürfnis gehabt, sie zu verstehen. Seine Kindheit war keine typische gewesen und er erinnerte sich nur an sehr wenig davon.

Zu lange hatte er versucht zu vergessen, woran er sich erinnern konnte – sodass es ihm keine Erkenntnisse oder Erfahrungen bot, auf die er hätte zurückgreifen können.

Der Junge trug eine dickrandige Brille mit noch dickeren Gläsern. Er war nicht nur kurz- oder weitsichtig, sondern hatte insgesamt eine schlechte Sehkraft. Sein Gesichtsausdruck war von unkontrolliertem Blinzeln geprägt, was Victor auf die Vergrößerung der Sonne durch die dicken Gläser zurückführte. Für den Jungen würde es draußen immer hell sein.

Die Brille war schief, die Bügel waren schräg, ja überstrapaziert, weil der Junge einen großen Kopf hatte. Victor war sich nicht sicher, ob er überproportional groß war, denn er wusste, dass Kinder nicht immer im richtigen Verhältnis wuchsen. Der Junge trug eine ausgebeulte Jogginghose und ein T-Shirt mit horizontalen Streifen, die durch den aufgeblähten Bauch gebogen wirkten. Ein Streifen Haut war zwischen dem Saum und der Jogginghose zu sehen. Er trug Schuhe aus gummiartigem Plastik, das Victor nicht auf den ersten Blick erkannte. Zur Belüftung waren in regelmäßigen Abständen kreisförmige Löcher in den Kunststoff gestanzt, so dass er die Maske eines Superhelden auf den Socken des Jungen erkennen konnte. Ob aus einem Comic oder einem Film oder beidem, wusste Victor nicht.

Er kannte den Namen des Jungen, weil die Rezeptionistin Michelle ihn erwähnt hatte, als Victor eingecheckt hatte.

»Mein Sohn Joshua verbringt viel Zeit hier«, sagte sie ihm. »Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn er Ihnen in die Quere kommt, dann sage ich ihm, dass er es lassen soll. Er langweilt sich so oft.«

Joshua schien sich unwohl zu fühlen, wenn Victor ihn direkt ansah, also tat Victor sein Bestes, um es zu vermeiden. Das war nicht immer möglich, denn der Junge, der jetzt selbstbewusster war als in den Tagen zuvor, änderte ständig seine Position, um Victor im Auge zu behalten, während er seine Angelausrüstung packte.

Das gab Victor die Antwort, die ihm zuvor entgangen war: Nicht er war für den Jungen interessant, sondern das, was er tat.

Die Angelrute hätte genauso gut ein Laserschwert sein können.

Der Junge betrachtete es mit der gleichen Verwunderung, die Victor einst gehabt hatte, als er die Züge betrachtete, die am Waisenhaus vorbeifuhren. Güterzüge, die sich ewig langzogen, waren seine Lieblingszüge. So sehr, dass er die Fahrpläne auswendig lernte – er hatte die Zeiten in ein Notizbuch gekritzelt, wenn er einen Zug vorbeifahren sah, um ihn nicht zu verpassen – und zum Fenster rannte, um sie zu beobachten, wann immer er die Gelegenheit dazu hatte. Oft hatte er sich ausgemalt, mit dem Zug zu fliehen, indem er wie ein Cowboy in einem der alten Schwarz-Weiß-Filme, die manchmal gezeigt wurden, wenn die Jungs brav waren, auf die offene Ladefläche eines Waggons sprang. Der Projektor war so laut, dass man ganze Unterhaltungen im Geheimen führen konnte, ungehört und ungestraft von den strengen Nonnen, die keinen Ungehorsam duldeten.

Als Victor es das erste Mal versucht hatte, als er aus Verzweiflung endlich den Mut gefunden hatte, musste er zu seinem Entsetzen feststellen, dass er zu klein, zu schwach und zu langsam war, um auf den Zug zu springen. Er hatte es mehrmals versucht, war aber immer wieder gescheitert und auf den groben Schotter, der die Schienen befestigte, gefallen. Er zerriss sich die Hose, schnitt sich an Händen, Knien und Ellbogen. Er hatte auf dem Gleis gesessen, mit blutender Nase und tränennassen Wangen, während er beobachtete, wie der letzte Waggon in der Ferne kleiner und immer leiser wurde. In dieser zurückkehrenden Stille der Nacht hörte er ein grausames Geräusch, das von den offenen Fenstern seines Schlafsaals kam: die anderen Jungen, die über sein Versagen lachten und spotteten.

Die Angelrute fühlte sich schwer an in Victors Hand. Er merkte, dass er sie so fest umfasste, dass seine Knöchel weiß waren und seine Handfläche von dem Druck seines Griffs schmerzte.

Er drehte den Kopf, um seine Umgebung zu überprüfen, denn er wusste nicht genau, wie lange er in Gedanken versunken war, und sein Blick tastete den Parkplatz, die Fahrzeuge, die Einfahrt zur Autobahn, die Fenster der Zimmer und die Bäume auf der anderen Seite der Autobahn ab. Selbst ein paar Sekunden zielloser Erinnerungsschwelgerei konnten bedeuten, dass er ins Visier eines Zielfernrohrs geraten war.

Keine Bedrohungen. Nur ein kleiner Junge, der sich vor Victors plötzlicher Verwandlung vom Fischer zum Killer fürchtete.

Victor versuchte, Joshua mit einem Lächeln zu versichern, dass er sich keine Sorgen machen müsse, aber der Versuch schlug fehl, so wie Victor es vor all den Jahren nicht geschafft hatte, auf den Zug aufzuspringen.

Er öffnete seinen Angelkasten und nahm einen bunten Köder heraus, den er dem Jungen im hohen Bogen zuwarf. Joshua versuchte nicht, ihn zu fangen, und er prallte von seiner Brust ab und fiel auf den Boden. Er wartete einen Moment, dann beugte er sich vor, um ihn aufzuheben. Er untersuchte ihn mit detektivischem Blick und entdeckte so viele Geheimnisse in dem winzigen Stück Fiberglas, dass er Victor nicht mehr ansah.

In der Zeit, die Victor brauchte, um in sein Zimmer zu gehen und seine Kühlbox und seinen Rucksack zu holen, war Joshua verschwunden. Als er die Sachen auf die Ladefläche des Trucks legte, bemerkte er, dass nicht nur Joshua weg war.

Der Angelkasten war nicht ganz da, wo Victor ihn hingestellt hatte. Als er den Deckel öffnete, sah er, dass in dem kleinen Fach sechs statt sieben Haken waren.

Victor fand Joshua an der Uferpromenade, die dem Motel am nächsten lag. Es gab keinen Weg, aber die Bäume und das Laub waren nicht dicht und machten einen kurzen, angenehmen Spaziergang möglich. Der Junge bemerkte Victors Ankunft nicht. Nur wenige Menschen waren sich Victors Anwesenheit bewusst, es sei denn, er erlaubte ihnen dieses seltene Privileg. Er wollte Joshua aber nicht erschrecken, also sorgte er dafür, dass der Junge ihn erst hören konnte, sobald eine Flucht für ihn unmöglich war.

Als Viktor dann schließlich absichtlich auf einen Ast trat, merkte Joshua nichts davon und Victor stellte fest, dass der Junge nicht nur Probleme mit der Sehkraft, sondern auch mit dem Gehör hatte. Er wusste nicht, ob es sich dabei um normale Begleiterscheinungen seiner Krankheit oder um zusätzliche Beschwerden handelte. Joshua stand am Rande des schmalen Strandes, das Wasser schwappte um die Sohlen seiner Gummischuhe. Er stand mit dem Gesicht zum See, also mit dem Rücken zu Victor.

Um ihn nicht zu erschrecken, entschied Victor, sich neben ihn zu stellen. Erst als er in Joshuas Blickfeld geriet, hörte der Junge auf zu tun, was er tat.

Was bedeutete, dass er sich verkrampfte und in einem scharfen Moment der Überraschung, der Panik, Luft einatmete und seinen Stock fallen ließ.

Es war ein dünnes Stück Holz, das er zweifelsohne vom Waldboden aufgegabelt und während seines Spaziergangs von verschrumpelten Blättern und Überständen befreit hatte. Es war etwa 60 Zentimeter lang, von einem Ende zum anderen.

Victor holte die Rute aus dem Wasser.

Ein Stück Schnur war mit einem groben Knoten an das schmalste Ende des Astes gebunden. Die Schnur war dick, alt und ausgefranst und musste wohl aus dem Müll stammen. Auf jeden Fall war sie nicht für diesen Zweck gemacht worden.

Am Ende der Schnur hing Victors siebter Haken. Er war nicht an die Schnur gebunden worden: Das Loch war viel zu klein, um die Schnur durchzufädeln, also hatte Joshua mit dem Haken selbst die Schnur durchbohrt und ihn ganz hindurchgedrückt, bis die Metallöse sich verkeilt hatte.

»Ich glaube, das ist meiner«, sagte Victor. Der Junge starrte ihn nur an. »Darf ich ihn wohl zurückhaben?«

Joshua war so regungslos, dass Victor nicht sicher war, ob er nicht eine Art Lähmungsanfall ausgelöst hatte.

Victor schüttelte das Wasser vom Stock und wickelte die Schnur in seiner Handfläche auf.

Joshua blieb weiterhin regungslos.

Sorgfältig und langsam führte Victor den Haken durch die Schnur zurück, bis er frei war.

Der Junge protestierte nicht und versuchte auch nicht, ihn aufzuhalten. Er hatte sich immer noch keinen Zentimeter bewegt. Wenn er geblinzelt hatte, war es Victor entgangen.

Er steckte den Haken in eine Außentasche seines karierten Arbeitshemdes.

»Darf ich dir einen Rat geben?«

Joshua antwortete nicht.

Victor fuhr fort: »Das ist etwas, das ich gelernt habe, als ich etwas älter war als du jetzt. Ich habe Dinge genommen, die mir nicht gehörten – genau wie du. Ich glaube nicht, dass ich gierig nach Dingen war, die mir nicht gehörten, also habe ich das Konzept des Besitzes damals wohl einfach nicht verstanden. Unter uns gesagt, ich habe eine etwas unkonventionelle Erziehung genossen, die Regeln der höflichen Gesellschaft galten da nicht in vollem Umfang. Was ich aber gelernt habe, ist, dass offensichtlicher Diebstahl nur unter Diebesfreunden geduldet wird. Wenn du also etwas stehlen willst, dann achte darauf, dass du etwas stiehlst, von dem niemand weiß, dass du es willst.«

Joshua antwortete nicht.

»Oder noch einfacher«, fügte Victor mit einem schiefen Lächeln hinzu, »pass auf, dass du nicht erwischt wirst.

6

Der See war nicht weit vom Motel entfernt – ein paar hundert Meter – aber es dauerte zehn Minuten, um den Truck über den Highway und dann über die Nebenstraßen zu fahren, bis Victor ihn in der Nähe des Ufers parken konnte, wo sein Boot befestigt war.

Ein preiswertes, praktisches Gefährt. Leicht und robust, aber für Victors ästhetischen Geschmack mit seinen Plastikteilen zu modern. Er hätte etwas aus Holz bevorzugt, etwas Zeitloses, aber ein Verkäufer aus Nevada, der auf einer Angelreise weit weg von zu Hause ist, würde nicht solch einen Aufwand betreiben. Er war hier, um zu fischen, um im kalten Süßwasser der großen Seen Hechte, Kleinmaulbarsche und Störe zu fangen. Er ruderte nicht aus Spaß an der Freude, sondern um zu trainieren. Und der einzige Unterschied zwischen Holz und Plastik war für den Mann aus Nevada der Preis.

Über Ausgaben machte sich Victor selten Gedanken. Er war nach allen Maßstäben wohlhabend und wegen einer beträchtlichen Bonuszahlung für einen kürzlich absolvierten Auftrag reicher denn je. Dennoch hatte er nur wenige Gelegenheiten, diesen Wohlstand zu nutzen. Abgesehen von den unvermeidlichen und erheblichen Fixkosten seines Berufes fragte er sich manchmal, warum er noch ein so hohes Honorar verlangte. Er würde nie arm sein, nie hungern, und vielleicht war das der Grund. Vielleicht lag es an all den Nächten, in denen er gebetet hatte, dass der Schlaf ihn vor dem Schmerz eines leeren Bauches bewahren möge, vielleicht an den Tagen, an denen er mit den Fingern über seine Rippen gefahren war und sich vorgestellt hatte, sein Brustkorb sei ein Xylophon. Er hatte wenig, wofür er sein Geld ausgeben konnte, aber es konnte sein, dass es ihm half, einen Teil seiner Vergangenheit zu vergessen. Von all seinen Impulsen war das der stärkste nach dem Überlebenswillen: Er strebte danach, zu vergessen, wer er als Junge gewesen war, als junger Mann, sogar wer er gestern gewesen war. Er sehnte sich danach, nur in der Gegenwart zu leben, ohne Ablenkungen durch unnötige Gedanken, ohne Erinnerungen, mit einem Verstand, der nur aus Instinkt besteht.

Nur blieb da die Frage, warum er so selbstreflektiert war, wo er doch versuchte, alles andere als das zu sein, obwohl das ja auch schon wieder Selbstreflexion war.

Der Wandel war langsam. Evolution braucht Zeit. Victor war nicht immun gegen Erfahrung, gegen Veränderung. Er suchte sie. Er zelebrierte sie.

Nur durch Veränderung überlebte er. Anpassung war Wachstum. Situationen, die er kürzlich unbeschadet überstanden hatte, hätten ihn vor zehn Jahren umgebracht. Gefahren, denen er damals ausgesetzt war und die er heute nicht mehr als Gefahr ansah, hätten den zwanzig Jahre jüngeren Victor getötet, bevor er überhaupt begriffen hätte, dass er in Gefahr war.

Seine größte Bedrohung war nicht ein jüngerer, schnellerer Gegner, sondern ein älterer, bedächtigerer, der Gefahren überlebt hatte, die Victor noch nicht kannte.

Victor lud seine Sachen ein und schob das Boot vom Strand, was einen gewissen Kraftaufwand erforderte, dann sprang er auf das Boot, sobald es vom Sog des Sandes und Schlamms befreit war. Er drehte sich um, setzte sich auf die kleine Bank und nahm ein Ruder in jede Hand.

Hinter ihm, im Süden, teilte die Grenze den See in zwei Hälften. Täglich überquerten Boote den See, Segelschiffe, Fischerboote und ab und zu ein kleines Handelsschiff. Victor würde ein paar Stunden rudern müssen, um die Grenze zu überqueren, und er würde müde und verschwitzt sein, wenn er die USA erreichte. Aber er würde es nicht mit kontrollierenden Agenten zu tun haben, keines seiner Dokumente würde überprüft werden. Er konnte die Sicherheit einer der am stärksten geschützten Grenzen der Welt für den einfachen Preis von Zeit und körperlicher Anstrengung umgehen.

So konnte er unsichtbar nach Chicago kommen und seine Arbeit machen.

7

Victor hatte einmal gelesen, dass Kinder und Psychopathen einander sehr ähnlich sind, weil Empathie erst in der letzten Phase des Gehirnwachstums entwickelt wird und diese in den Zwanzigern liegt. Aber die Menschen sprachen von Psychopathen als Gestörten, obwohl eine solche Persönlichkeit nach Victors Meinung ein evolutionärer Vorteil war, der die Empathie anderer ergänzte und nicht mit ihr konkurrierte. Als die Welt noch nicht zivilisiert war, war der Psychopath der Krieger, der als Erster in die Schlacht zog. Er beschützte den Stamm vor Feinden und kannte kein Erbarmen mit denen, die seiner Sippe Schaden zufügen wollten. In diesem Kontext war Empathie eher egoistisch: Der Homo sapiens konnte die Prüfungen der Wildnis nicht allein überleben. Der Einzelne brauchte den Schutz der anderen. Also mussten sich alle um einander kümmern, um selbst davon profitieren zu können. Nur der Psychopath ohne Empathie konnte wirklich selbstlos sein, und diese Selbstlosigkeit war eine Ressource von unschätzbarem Wert.

In der zivilisierten Welt, die der Psychopath mit geschaffen hatte, wurde ihm jedoch nicht gedankt.

Das bedeutete, dass Victor nie arbeitslos sein würde. Ob Kunde oder Ziel, das war ihm egal.

Er beurteilte andere so, wie er sich selbst beurteilte, und Letzteres hatte er schon vor so langer Zeit aufgegeben, sodass er genauso gut ein anderer Mensch hätte sein können.

Sein Motelzimmer war einfach und zweckmäßig und das Bett bot wenig Komfort. Trotzdem freute er sich darauf. Die knarrenden Federn, die dünne Matratze und die klumpigen Kissen versprachen ihm die dringend benötigte Ruhe.