Kill Shot - Tom Wood - E-Book + Hörbuch

Kill Shot Hörbuch

Tom Wood

4,5

Beschreibung

„Sie haben bisher eine Menge Glück gehabt, Victor, aber trotzdem muss ich zugeben, dass Sie ein gewisses Talent zum Unruhestifter haben.“

„Dass vier Ihrer Leute tot sind und ich noch lebe, hat nichts mit Glück zu tun.“

„Haben Sie sich deshalb bei mir gemeldet? Um anzugeben? Das wäre ein großer Fehler.“

„Ich mache keine Fehler.“

„Ach, tatsächlich?“

Er sagte: „Wollen wir wetten?“

Sie lachte. „Natürlich, warum nicht? Um welchen Einsatz wetten wir?“

„Um Ihr Leben“, sagte Victor.

Victor ist der perfekte Auftragsmörder. Er ist das anonyme Gesicht in der Menge, der Mann, den man nicht wahrnimmt – bis es zu spät ist. Doch nun bittet ihn ein alter Bekannter um Hilfe, und zum ersten Mal besteht Victors Auftrag nicht darin, jemanden zu töten, sondern zu beschützen: die junge Giselle, Stieftochter einer russischen Unterweltgröße. Von seinen Verfolgern gnadenlos durch ganz London gejagt, muss Victor alles riskieren. Und jeder seiner Schritte lockt die Gefahr näher an Giselle, deren Leben er um jeden Preis schützen muss ...

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Zeit:13 Std. 34 min

Sprecher:Carsten Wilhelm

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Buch

Als Aleksandr Norimov den Auftragskiller Victor kontaktiert, wittert dieser zunächst eine Falle. Doch Norimov sucht Victors Hilfe: Der Russe ist es gewohnt, mit Todesdrohungen zu leben, nun allerdings will jemand etwas Wertvolleres als sein Leben: das Leben seiner Stieftochter. Gisele, die mit den Geschäften ihres Vaters nichts zu tun haben will, lebt in London und ist seit einiger Zeit verschwunden. Victor soll sie finden und für ihre Sicherheit sorgen. Doch schon die Suche nach ihr wird für ihn zur tödlichen Bewährungsprobe. Bevor Gisele untertauchte, war sie auf ein Geheimnis gestoßen, das jemand um jeden Preis bewahren muss – und dafür über Leichen geht. Mit seiner Suche nach ihr bringt Victor die Verfolger auf die Spur der jungen Frau. Gemeinsam müssen sie nun versuchen, den Killern zu entkommen. In die blutige Hetzjagd quer durch London schalten sich auch die Polizei und der britische Geheimdienst ein. Doch wer zieht im Hintergrund wirklich die Fäden?

Weitere Informationen zu Tom Wood

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

Tom Wood

Kill Shot

Thriller

Aus dem Englischen

von Leo Strohm

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel

»Better off Dead« bei Sphere,

an imprint of Little, Brown Book Group, London,

und unter dem Titel »No Tomorrow« bei SIGNET,

published by the Penguin Group, New York.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung April 2015

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Tom Hinshelwood

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagfoto: Nik Keevil/Arcangel Images

Redaktion: Gerhard Seidl

AB · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-12626-1

www.goldmann-verlag.de

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Für meine Eltern

Der Preis ist nicht zu hoch

Bonn, Deutschland

Kapitel 1

Heute war nichts als warten angesagt. Manche Dinge lassen sich nicht erzwingen. Geduld und gründliche Vorbereitung, das waren die notwendigen Voraussetzungen für die erfolgreiche Durchführung eines Auftragsmords, auch wenn das Ganze reine Routine war. Solche Aufträge konnten ja nur deswegen Routine sein, weil sie sehr gründlich vorbereitet und sehr geduldig ausgeführt wurden. Wenn man in der Vorbereitung an irgendeiner Stelle pfuschte – wenn man irgendwelche Eventualitäten außer Acht ließ –, dann führte diese Nachlässigkeit zu Fehlern. Und wenn man bei der Durchführung nicht die erforderliche Ruhe und Gewissenhaftigkeit an den Tag legte, führte das ebenfalls zu Fehlern. Aber in diesem besonderen Fall, angesichts der Zielperson, war die strikte Einhaltung dieser beiden Grundregeln nicht nur eine notwendige, sondern eine absolut unumgängliche Voraussetzung.

Es handelte sich um einen Mann Mitte dreißig, vielleicht auch älter oder jünger. Es war sehr schwer zu sagen, da es über ihn so gut wie keine gesicherten Informationen gab, sondern nur Spekulationen und Gerüchte, Mutmaßungen und Hypothesen. Er hatte keinen Namen. Er hatte keine Wohnung. Weder Freunde noch Angehörige. Keine Vorgeschichte. Er war weder Politiker noch Drogenbaron noch Kriegsverbrecher. Er war kein Militär und kein Geheimdienstmitarbeiter – zumindest nicht im aktiven Dienst –, aber ihn als Zivilisten zu bezeichnen wäre auch nicht korrekt gewesen. Das Einzige, was man mit Sicherheit über ihn wusste, war sein Beruf. Er war ein Auftragskiller. Der Mandant hatte ihn als den Killer bezeichnet und ausdrücklich betont, dass er erst vor Kurzem ein anderes Team, das auf ihn angesetzt gewesen war, ins Jenseits befördert hatte. Wenn es ein Buch über die Kunst der professionellen Tötung gegeben hätte, er wäre der Autor gewesen. Aber natürlich existierte ein solches Buch nicht. Ansonsten hätte das Team, das sich gerade anschickte, diesen Mann zu ermorden, jedes einzelne Wort auswendig gewusst.

Er war eine unauffällige Erscheinung. Groß, aber kein Riese. Dunkle Haare, dunkle Augen. Die Frauen im Team waren sich unschlüssig, ob sie ihn attraktiv finden sollten oder nicht. Er trug Anzüge von guter Qualität wie ein Rechtsanwalt oder Banker. Allerdings waren sie alle ein klein wenig zu weit geschnitten. Als sie ihn das erste Mal gesehen hatten, war er glatt rasiert gewesen, aber jetzt hatte er sich einen Dreitagebart zugelegt. Das einzig Besondere an ihm war, dass er das linke Bein ein wenig nachzog. Aber sie waren sich einig, dass die Behinderung nicht so gravierend war, dass sich daraus Kapital schlagen ließe.

Eine Million Euro lag auf einem Treuhandkonto in der Schweiz. Das Geld gehörte ihnen, sobald sie einen Beweis für den Tod des Killers geliefert hatten. Am besten seinen unversehrten Kopf, zumindest jedoch unwiderlegbare Fotos oder Videos.

Sie waren zu viert – zwei Männer und zwei Frauen. Alle aus Skandinavien: zwei aus Dänemark, ein Schwede, eine Finnin. Sie arbeiteten schon seit vielen Jahren zusammen. Immer nur zu viert. Immer nur in dieser Besetzung. Keine Ersatzleute. Entweder alle oder keiner. Sie waren Kollegen, und sie waren Freunde. Das war die einzige Möglichkeit, wie man in dieser Branche so etwas wie Vertrauen aufrechterhalten konnte. Wenn sie nichts zu tun hatten, verbrachten sie auch ihre Freizeit miteinander, wann immer es möglich war. Man traf sich abwechselnd zum Grillen, auf Partys oder um sich Filme anzuschauen. Es hatte auch schon Zeiten gegeben, wo sie mehr als Freunde gewesen waren, aber diese Zeiten waren vorbei. Liebesbeziehungen innerhalb des Teams waren schlecht fürs Geschäft, darauf hatten sie sich irgendwann verständigt. Ihre Aufträge waren gefährliche Angelegenheiten. Irgendwelche Nebenschauplätze konnten sie sich nicht leisten.

Einen Anführer gab es nicht. Sie alle besaßen einzigartige Fähigkeiten und waren den anderen auf ihrem jeweiligen Spezialgebiet eindeutig überlegen. Wenn eine Bombe zum Einsatz kommen sollte, dann übernahm der dänische Sprengstoffexperte das Kommando. Er benannte seine Sprengsätze nach verflossenen Geliebten. Wenn ein Distanzschuss erforderlich war, dann war die Finnin am Zug, da sie die größte Erfahrung im Umgang mit Gewehren besaß. Bei Giftanwendung gab der schwedische Chemiker mit seinem gebieterischen Bariton die Befehle. Und wenn es um die Beschattung einer Zielperson ging, dann hörte alles auf das Kommando der Dänin, die eine hervorragende Schauspielerin war und sich in puncto Beschattungstechniken mit Abstand am besten auskannte. Wenn keines der Teammitglieder einen offensichtlichen Kompetenzvorsprung hatte, dann wurde demokratisch entschieden. Diese Regelung funktionierte reibungslos. Die einzelnen Egos wurden dadurch in Schach gehalten. Die Aufträge wurden reibungslos erledigt. Niemand musste leiden – bis auf die Zielperson. Und auch die nie mehr, als der Auftraggeber verlangte. Die Skandinavier waren keine Sadisten. Es sei denn, sie wurden dafür bezahlt.

Sie waren übereinstimmend zu dem Schluss gekommen, dass sie heute nichts anderes tun konnten als warten. Die Zielperson einzukreisen hatte sich als noch schwieriger erwiesen, als aufgrund ihrer Informationen ohnehin zu erwarten gewesen war. Der Mann hatte zwar keine Ahnung, dass er beschattet wurde, aber seine routinemäßigen Vorsichtsmaßnahmen grenzten schon ans Zwanghafte. Dennoch, das musste man zugeben, war es sehr klug von ihm, so vorzugehen. Denn schließlich waren sie hinter ihm her, und er hatte ihnen bis jetzt keine Gelegenheit geboten zuzuschlagen. Er genoss nicht nur den Ruf eines außergewöhnlich guten Attentäters, sondern erwies sich auch als ausgesprochen schwer zu töten. Eine gute Kombination, da waren sie sich ebenso einig wie in Bezug darauf, dass sie die eine oder andere seiner Vorsichtsmaßnahmen in ihr Repertoire übernehmen wollten, wenn die Sache erledigt war. Man konnte ja nicht ausschließen, dass auch sie eines Tages, so wie er, an das falsche Ende eines Auftragsmords gerieten.

Er war in einem Luxushotel im Stadtzentrum abgestiegen. Es verfügte neben dem Haupteingang noch über drei weitere Ein- und Ausgänge. Natürlich konnten sie, da sie zu viert waren, jeden einzelnen Zugang im Blick behalten, aber dann wären sie, sobald er irgendwo aufgetaucht wäre, zu dünn besetzt gewesen. Er verließ das Hotel nie durch denselben Ausgang und betrat es auch nie zweimal hintereinander auf demselben Weg … bis er es doch tat. Es war vollkommen sinnlos, auch nur zu versuchen, seine Entscheidungen vorherzusagen. Die Finnin, die nicht nur eine ausgebildete Scharfschützin war, sondern auch ein Faible für Statistiken hatte, knallte verärgert ihren Stift auf die Unterlage.

Die Zielperson hatte ein großzügiges Zimmer im zweiten Stock gemietet. Und das Zimmer daneben auch. Dadurch wusste man nie genau, in welchem er schlief. Zumal es zwischen den beiden Zimmern eine Verbindungstür gab. Allem Anschein nach schlief er tagsüber. Zumindest hielt er sich überwiegend tagsüber im Hotel auf. Allerdings ließ sich aus den Zeiten kein regelmäßiger Schlafrhythmus ableiten. Nie war er länger als fünf Stunden in einem seiner Zimmer. Aber auch, wenn er nicht auf dem Zimmer war, hielt er sich oft im Hotel auf, ob nun in der Bar, im Restaurant, im Fitnessstudio oder einfach nur im Foyer, um Zeitung zu lesen. Er ging nie auch nur annähernd zur selben Zeit aus dem Haus und kehrte auch nie zur selben Zeit zurück. Seine einzige erkennbare Angewohnheit war, dass er trotz seiner leichten Gehbehinderung immer die Treppe nahm und nie den Fahrstuhl.

Das Hotel war ohnehin kein geeigneter Ort für das Attentat. Seine Zimmer lagen in der Nähe der Fahrstühle, sodass regelmäßig mit Passanten zu rechnen war. Somit gab es praktisch keine Chance, den Auftrag durchzuführen, ohne dass andere Gäste aufmerksam wurden. Es war nicht leicht, die Ruhe zu bewahren, sich nicht darüber aufzuregen. Sie waren es gewohnt, selbst zu entscheiden, wann und wo sie ihre Aufträge durchführten. Aber in diesem Fall schrieb die Zielperson ihnen zumindest vor, wo sie nicht zuschlagen konnten. Doch sie schluckten ihren Ärger hinunter und sagten sich gegenseitig, dass sie ruhig bleiben mussten. Das waren alles Dinge, mit denen sie gerechnet hatten. Vorbereitung und Geduld.

Auch außerhalb des Hotels schien er keinerlei festgelegten Abläufen zu folgen. Manchmal besorgte er sich bei einem Straßenimbiss fetttriefendes, arterienverstopfendes Fast Food. Dann wieder speiste er in exquisiten und ausgesprochen teuren Restaurants. An einem Nachmittag verbrachte er mehrere Stunden in einem Museum. Am nächsten zog er mit einem Buch unter dem Arm von Café zu Café und blieb nie länger als eine Stunde irgendwo sitzen, manchmal sogar nur wenige Minuten. Und als sie ihn schließlich eindeutig in der Rubrik Einzelgänger abgeheftet hatten, verbrachte er einen ganzen Abend in einer Cocktailbar und flirtete mit mehreren Frauen.

Er hatte kein Handy, suchte jedoch in unregelmäßigen Abständen – so jedenfalls kam es der Finnin vor – Internetcafés oder Münztelefone auf. Aber wenn der dänische Überwachungsspezialist dann denselben Computer oder dasselbe Telefon benutzte, war von den Aktivitäten des Mannes nie auch nur die geringste Spur zu entdecken. Sie fragten sich, ob diese Aktivitäten einer wirklichen Notwendigkeit entsprangen oder ob es einfach nur Ablenkungsmanöver waren für den Fall, dass er beschattet wurde.

»Es funktioniert jedenfalls«, sagte der Schwede.

Sie hatten keine Ahnung, weshalb er überhaupt in diese Stadt gekommen war. Dafür konnte es unzählige Gründe geben. Vielleicht zur Vorbereitung auf einen Job, um die Stadt und das Operationsgebiet etwas näher kennenzulernen. Vielleicht war er auch auf der Flucht und wollte irgendwo untertauchen, wo seine Widersacher ihn nicht finden konnten. Oder lebte er etwa immer so? Sah so sein Alltag aus, wenn er gerade keine Arbeit hatte? Sie waren sich einig, dass das kein Leben war, ganz egal, wie viele zusätzliche Nullen das Bankkonto dadurch bekam. Aber jeden wachen Augenblick in ununterbrochener Alarmbereitschaft zuzubringen? Dann musste man sich eine andere Möglichkeit suchen, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Sie wurden sich wieder einmal dessen bewusst, wie glücklich sie sich schätzen konnten. Schon jetzt freuten sie sich auf den Abschluss dieses Auftrags und ihr nächstes gemütliches Beisammensein. Dieses Mal würde der Schwede der Gastgeber sein, und sie alle mochten seine Frau sehr. Sie war Physiklehrerin, hätte aber auch, wie sie schon oft betont hatten, eine hervorragende professionelle Party-Veranstalterin abgegeben. Das machte den Schweden stolz.

Ein Attentat irgendwo unterwegs war genauso schwierig vorzubereiten wie eines an einem festen Ort. Die Zielperson benutzte Bus, Taxi, U-Bahn und normale Züge, und auch zu Fuß folgte sie keinem erkennbaren Muster. Nicht einmal in Bezug auf die Entfernungen. Einmal ging er fünf Kilometer weit, nur um sich dann in ein Café zu setzen, ein anderes Mal nahm er ein Taxi und stieg zwei Querstraßen weiter wieder aus oder verbrachte eine Stunde in der U-Bahn, nur um danach an derselben Haltestelle auszusteigen, an der er auch eingestiegen war. Ob ihn seine Gehbehinderung dabei irgendwie einschränkte, ließ sich beim besten Willen nicht erkennen.

Im offenen Gelände hielt er sich immer in der Umgebung anderer Menschen auf und vermied es, gerade Wege zu gehen. In schmalen Straßen ging er immer dicht an den Schaufenstern entlang und hielt möglichst großen Abstand zum Bordstein. Nie steckte er die Hände in die Taschen. Und wenn er unterwegs einen Kaffee trank, dann hielt er die Tasse in der linken Hand.

»Damit er die Schusshand immer freihat«, meinte die Finnin.

»Und wenn er beidhändig ist?«, wandte die Dänin nachdenklich ein.

Die Finnin erwiderte: »Die Wahrscheinlichkeit liegt unter einem Prozent. Wir müssen davon ausgehen, dass er die linke Hand benutzt, damit eventuelle Beobachter ihn für einen Linkshänder halten.«

»Gehen wir davon aus, dass er beidhändig ist«, schaltete sich der Däne ein. »Und dass er immer gleich gefährlich ist, egal, mit welcher Hand.«

Die anderen drei nickten.

Sie wechselten täglich das Auto und mieteten sich jeden Morgen einen anderen Transporter. Sie schliefen abwechselnd im Laderaum, während die anderen arbeiteten. Sie hatten viele verschiedene Kleidungsstücke und andere Accessoires dabei, damit er sie nicht erkannte, wenn sie ihn zu Fuß beschatteten. Manchmal ließen sie ihn absichtlich aus den Augen, um nicht aufzufliegen, aber das war einkalkuliert. Kein Risiko eingehen, darüber waren sie sich einig. Sie wussten ja, dass er irgendwann wieder ins Hotel zurückkehren würde, weil der dänische Überwachungsexperte sich in das Buchungssystem des Hotels eingehackt hatte. Sie wussten, wie lange er bleiben wollte, was er für die beiden Zimmer bezahlte, ja sogar, was er beim Zimmerservice bestellte, und dass er um daunenfreies Bettzeug und ein Raucherzimmer gebeten hatte.

»Aber er hat in der ganzen Zeit, seit wir ihn beobachten, nicht eine einzige Zigarette geraucht«, sagte der Schwede.

»Keine voreiligen Schlüsse«, erwiderte die Finnin. »Das einzig Berechenbare an diesem Kerl ist seine Unberechenbarkeit.«

»Das klingt ja fast nach Hochachtung.«

»Stimmt«, sagte sie. »Er ist ein Löwe.«

»Ein Löwe?«

Sie grinste und nickte. »Sein Kopf wird sich bestimmt großartig über meinem Kamin machen.«

Kapitel 2

Zwei Tage später schallte die Stimme der Dänin, die Teil des zweiköpfigen Beschattungsteams war, aus dem Lautsprecher des Funkgeräts im Laderaum des gemieteten Lieferwagens.

»Er kauft Campingausrüstung.«

Der Schwede drückte die Sprechtaste des Funkgeräts und sagte in das Mikrofon: »Was denn genau?«

»Einen Gaskocher, Brennpaste, einen wasserdichten Schlafsack, Spanngurte, Isoliermatten, einen Gehstock … lauter solche Sachen. Ich kann nicht alles sehen, was er sich in den Wagen gepackt hat.«

Die Finnin, die die andere Hälfte des Teams bildete, war nicht mit in das Geschäft gekommen. Ihre auffälligen roten Haare steckten unter einer Perücke. »Auch wetterfeste Kleidung?«

Der Schwede wartete ab, bis die Dänin gefahrlos antworten konnte. Nach einer kurzen Stille sagte sie: »Nicht, soweit ich das erkennen kann. Soll ich näher rangehen?«

»Sicherheitsabstand bewahren«, gab der Schwede zurück. »Das könnte auch ein Trick sein, um eventuelle Beschatter aus der Deckung zu locken. Wir spekulieren nicht. Wir gehen bei diesem Typen keinerlei Risiko ein. Okay?«

»Alles klar.«

Die Finnin sagte: »Ich glaube, er bereitet einen Auftrag vor.«

»Aber wir wissen es nicht«, gab der Schwede zurück.

Sie antwortete sofort, ohne Pause, da sie draußen auf der Straße stand und daher keine Gefahr bestand, dass die Zielperson sie identifizierte. »Er geht doch nicht nur zum Spaß campen. Das weiß ich jedenfalls genau.«

»Wir wissen doch noch gar nicht, ob er überhaupt campen will.«

»Geht das nicht ein bisschen leiser?«, sagte der Däne und drehte sich auf die andere Seite.

Am nächsten Tag wieder das Gleiche: warten. Sie beobachteten, wie er bei einem Markthändler gebrauchte Handys kaufte und in zwei verschiedenen Geschäften sein Guthaben auflud. Die Finnin hatte die Beschattung zu Fuß übernommen. Es machte ihr Spaß, ihn aus der Nähe zu beobachten. Es machte ihr Spaß, ihre eigene Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, bei einer so vorsichtigen Zielperson auszuspielen. Natürlich ging sie dabei kein Risiko ein, egal, wie sehr sie die anderen beeindrucken wollte. Allen voran den Schweden, bei dessen Anblick sie jedes Mal, wenn sie nicht an ihren eigenen Freund oder seine reizende Ehefrau dachte, gleichermaßen Erregung und Enttäuschung empfand.

Die Finnin wollte dieses Mal diejenige sein, die den Schlusspunkt setzte. Nicht unbedingt mit der Tötung des Opfers, aber indem sie dem Team die entscheidende Gelegenheit eröffnete, auf die sie jetzt schon so lange hingearbeitet hatten. Vielleicht führte die Zielperson sie, wenn sie sich nicht abschütteln ließ – wie es den anderen oft genug passiert war –, irgendwohin, wo sie zuschlagen konnten. Oder sie konnte dadurch die eine, entscheidende Information in Erfahrung bringen.

Jedenfalls würden sie ihn nicht einfach auf der Straße abknallen. Das war nicht ihr Stil. Sie wollten auch weiterhin in Freiheit leben und ihr hübsches steuerfreies Einkommen genießen. Normalerweise ließen sie nicht einmal eine Leiche zurück. Die Cocktails des Schweden, bestehend aus Enzymen und Säuren, die Gewebe auflösten, sowie die Bereitschaft der Finnin, das eine oder andere leistungsstarke Elektrowerkzeug zum Einsatz zu bringen, sorgten dafür, dass von ihren Opfern normalerweise nichts mehr übrig blieb, was hätte identifiziert werden können. Sie ließen sich für diese Reinigungsarbeiten extra bezahlen, hätten es aber auch ohne Bezahlung gemacht. Die Finnin ließ die anderen drei nicht spüren, wie viel Freude ihr der Gebrauch von Kreissägen und Bandschleifmaschinen bereitete. Als kleines Mädchen hatte sie ihren Vater oft zur Jagd begleitet und sich immer besonders auf das Ausnehmen der Rentiere gefreut.

Als die Zielperson einen Baumarkt betrat, sah sie sich in der Werkzeugabteilung ein wenig um. Da gab es eine Handkreissäge ihrer Lieblingsmarke im Sonderangebot. Das Sägeblatt hatte einen Durchmesser von hundertneunzig Millimetern, die Leistung lag bei dreizehnhundert Watt. Damit konnte man eine Menge Spaß haben, immer vorausgesetzt, man trug die richtige Schutzkleidung. Wegen der Schweinerei.

»Jetzt hat er einen Schweißbrenner gekauft«, flüsterte sie in ihr Knopflochmikrofon. »Und zwar einen ziemlich guten.«

Die tiefe, wohltönende Stimme des Schweden erklang in ihrem Ohr: »Was hat der Kerl bloß vor? Ich weiß, was du sagen willst: Er bereitet einen Auftrag vor.«

»Vielleicht will er ja irgendwas bauen?«

»Aber was?«, erwiderte der Schwede.

Sie sah, wie die Zielperson am Rand ihres Blickfelds eine Schutzbrille, eine Gasflasche und schwere Schutzhandschuhe auf den Wagen packte. Anschließend kamen noch ein kleiner Dieselgenerator und ein zusammenklappbarer vierrädriger Rollwagen dazu, mit dem er seine Einkäufe transportieren konnte. Beim Bezahlen nahm er sich eine ganze Minute lang Zeit, um mit der deutlich älteren Kassiererin zu flirten. Das Lächeln, das noch lange Zeit auf deren Gesicht lag, sagte der Finnin, dass es ihr gefallen hatte.

Die Finnin folgte der Zielperson nicht nach draußen. Sie teilte dem Schweden mit, was er alles gekauft hatte, dann übernahm der Däne die Beschattung. Er war in einen schicken Büroanzug geschlüpft – das genaue Gegenteil der Jeans und der Lederjacke, die er am Tag zuvor getragen hatte. Obwohl er eindeutig attraktiver war als der Schwede, spielte der Däne in ihren Fantasien keine Rolle. Es fehlte einfach dieses elektrisierende Kribbeln. Die Finnin setzte sich ans Funkgerät, damit der Schwede schlafen konnte, und beobachtete, wie seine Brust sich im Schlafsack hob und senkte.

Während der Däne sie über die Richtungswechsel der Zielperson auf dem Laufenden hielt, lenkte die Dänin den Lieferwagen durch die Stadt, immer mindestens ein, zwei Querstraßen von der Zielperson entfernt, aber immer so nahe, dass sie eine plötzlich sich bietende Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen mussten. Natürlich ergab sich keine einzige solche Gelegenheit, oder besser gesagt, die Zielperson gestattete ihnen keine.

Wie anstrengend muss so ein Leben sein, dachte die Finnin. Wenn man ununterbrochen auf der Hut sein muss, wenn jede einzelne Bewegung genauestens überlegt und mit absoluter Perfektion ausgeführt werden muss. Die Finnin hätte das niemals durchgehalten, und sie war dankbar, dass sie es nicht musste. Sie würde niemals allein arbeiten. Das war der reinste Selbstmord. Zu mehreren war man sicherer. Kein Einzelkämpfer, egal, wie gut er war, konnte es an Effektivität mit einem Team aufnehmen. Und genau das würden sie in diesem Fall wieder unter Beweis stellen.

»Ich glaube, jetzt wird es spannend«, ertönte die Stimme des Dänen aus dem Lautsprecher.

»Lass hören«, erwiderte sie.

»Er ist jetzt in einer von diesen Hallen, wo man Lagerräume mieten kann.«

Die Finnin setzte sich auf. »Interessant.«

»Genau das habe ich auch gedacht. Er steht jetzt schon ziemlich lange beim Empfang.«

»Dann will er sich wahrscheinlich einen Lagerraum mieten.«

»Dann sind wir ja schon wieder einer Meinung«, meinte der Däne. »Warte mal … ja, jetzt geht er hinter einem Angestellten raus. Der hat Schlüssel und Papiere in der Hand. Er bringt ihn zu seinem Lager.« Er konnte seine Aufregung nicht verbergen.

Die Finnin klatschte in die Hände.

»Was ist denn los?«, sagte der Schwede schlaftrunken und richtete sich auf.

Die Finnin lächelte ihn an. Er sah so süß und zerzaust aus. »Könnte sein, dass endlich was passiert.«

Die Dänin nahm sich einen Laptop und hackte sich in das Reservierungssystem der Lagerhalle. Dabei kamen etliche nützliche Informationen ans Tageslicht. Der gemietete Raum hatte ein Volumen von 11,3 Kubikmetern und lag in der Mitte einer ganzen Reihe mit ähnlich großen Einheiten. Insgesamt gab es in der Halle zweihundert solcher Boxen, alle im Erdgeschoss. Sie wurde von einer Kette betrieben und war eher im unteren Preissegment angesiedelt. Die Sicherheitsmaßnahmen waren angemessen, doch nichts Besonderes. Ein paar Kameras, aber jede Menge toter Winkel, weil die Firma nicht mehr Geräte installiert hatte als unbedingt notwendig. Die Zielperson hatte einen Standard-Mietvertrag über zwölf Monate unterzeichnet, und zwar mit einem anderen Namen als dem, den sie im Hotel benutzte.

»Nimm dir mal die Flugpassagierlisten vor«, sagte der Schwede.

Die Dänin machte sich an die Arbeit und erfuhr, dass die Zielperson für den Tag nach ihrer Abreise aus dem Hotel ein Economyticket gebucht hatte.

»Er muss um 11 Uhr auschecken«, sagte sie, »und sein Flug geht erst am nächsten Tag, abends um 19 Uhr. Wenn er zwei Stunden vor Abflug einchecken muss, dann hat er dazwischen genau einunddreißig Stunden Zeit.«

»Zu viel«, murmelte der Schwede.

Die Dänin sagte: »Er will so lange in dem Lagerraum untertauchen. Darum hat er sich die Campingausrüstung besorgt.«

Die Finnin nickte. »Er braucht den Raum, um unauffällig von der Bildfläche zu verschwinden.«

»Aber warum hat er die ganze letzte Woche im Hotel gewohnt, wenn er bloß hier war, um eine sichere Unterkunft herzurichten?«

Die Finnin zuckte mit den Schultern.

Der Schwede schnippte mit den Fingern. »Weil er noch einmal in die Stadt kommt. Er hat hier einen Auftrag zu erledigen. Und zwar einen ziemlich aufwendigen oder einen, der mit einem sehr hohen Risiko verbunden ist. Jedenfalls kann er danach nicht gleich aus der Stadt verschwinden, und in einem Hotel oder einer Pension kann er auch nicht bleiben. Aber jetzt hat er ja diesen Lagerraum, wo er in aller Ruhe abwarten kann, bis die erste Aufregung sich gelegt hat, während die Polizei ihre Zeit damit verschwendet, irgendwelches Hotelpersonal zu befragen.«

»Der Typ ist ja so was von glitschig«, sagte die Dänin.

»Wie ein Aal«, fügte die Finnin beeindruckt hinzu. »Aber in zwei Tagen glitscht er in eine Falle, die er sich selbst gestellt hat.«

»Das klingt ja fast so, als würde er dir leidtun.«

»Stimmt.« Sie lächelte. »Fast.«

Die Zielperson checkte wie geplant aus dem Hotel aus. Sie verfolgten ihn bis zu der Lagerhalle wie schon zweimal zuvor, als er seine diversen Einkäufe dort abgeladen hatte. Dieses Mal ließ er nur einen kleinen Koffer dort, dann ging er wieder weg.

»Keine Sorge«, sagte der Schwede, als er die Enttäuschung der anderen spürte. »Wir wissen ja, dass er wiederkommt.«

»Geduld«, fügte die Finnin hinzu.

»Sollen wir ihm auflauern?«, wollte die Dänin wissen. »Er hat zwar ein spitzenmäßiges Kombinationsschloss vor die Tür gehängt, aber wenn ihr mir ein paar Minuten Zeit lasst, dann kann ich es knacken. Kein Problem.«

»Nein«, erwiderte ihr Landsmann. »Er hat bestimmt alle möglichen Hinweise rund um die Tür platziert, damit er merkt, wenn eingebrochen wird. Wenn wir da eine falsche Staubfluse verschieben, weiß er, dass wir da sind.«

Der Schwede ergänzte: »Und außerdem, will sich irgendjemand freiwillig in einen dunklen, engen Raum sperren lassen, nur um darauf zu warten, dass er irgendwann wieder auftaucht?«

»Also, unter Spaß stelle ich mir was anderes vor«, meinte die Finnin.

Der Schwede lächelte und sagte: »Dann sind wir uns also einig? Wir warten ab. Irgendwann kommt er wieder, um zu schlafen. Er bleibt garantiert nicht dreißig Stunden am Stück wach, wenn es gar nicht notwendig ist.«

»Aber wie kriegen wir den Lagerraum auf, ohne dass er es mitbekommt?«, wollte der Däne jetzt wissen.

»Müssen wir gar nicht«, gab die Finnin zurück. »Wir schleichen uns einfach in die Halle, schön vorsichtig und leise, sodass er uns nicht kommen hört. Und wenn er erst mal in seinem Kabuff liegt, ist er wehrlos, weil er ja von innen nicht abschließen kann. Einer von uns macht das Rolltor auf – dauert vielleicht zwei Sekunden. Die beiden anderen gehen rein, lokalisieren ihn mit den Taschenlampen und blenden ihn, sobald er sich bewegt. Und dann: peng, peng. Fertig ist die Laube.«

»Sehr hübsch«, sagte der Schwede.

Das Lob bescherte ihr ein warmes Gefühl. Sie drehte sich zu den anderen um. »Dann sind wir uns also einig?« Sie hob die Hand. »Wir schlagen in der Lagerhalle zu?«

Die drei anderen hoben ebenfalls die Hand. Einstimmig beschlossen.

»Aber wir sollten jede Kleinigkeit doppelt überprüfen, ob wir wirklich an alles gedacht haben«, sagte der Däne. »Wir müssen uns hundertprozentig sicher sein.«

»Haben wir uns denn jemals mit weniger zufriedengegeben?«

Kapitel 3

Kurz nach Mitternacht setzten sie sich in Bewegung. Der nächtliche Himmel war klar, die Luft warm. Der Däne stellte den Lieferwagen an der Längsseite der Lagerhalle am Straßenrand ab, zwischen zwei Laternen und außerhalb des Sichtfelds der Überwachungskameras, und blieb am Steuer sitzen. Aus der Ferne wirkte das Fahrzeug leer und verlassen. Der Däne sollte den Fluchtwagen fahren, das Gelände überwachen und im Notfall die Verstärkung für die drei in der Lagerhalle bilden. Sie trugen alle einen Knopf im Ohr, damit er sie, falls notwendig, rechtzeitig warnen konnte, aber das war ziemlich unwahrscheinlich. Die Lagerhalle lag in einem ruhigen Industriegebiet. Um diese Zeit hatten alle benachbarten Betriebe geschlossen. Es gab kaum Verkehr, weder Fußgänger noch Fahrzeuge. Die einzigen Menschen in der Nähe waren sie und er.

Die Dänin, die Finnin und der Schwede würden das Attentat genauso durchführen, wie es die Finnin vorgeschlagen hatte – der kräftige Schwede würde so schnell wie möglich den Lagerraum aufbrechen, die Finnin würde schießen, und die Dänin würde das Ganze sichern. Dass die Finnin die Pistole bekommen hatte, lag nicht nur daran, dass sie eine ausgezeichnete Schützin war, sondern auch daran, dass sie deutlich kleiner war als die beiden anderen. Der Schwede konnte mit Handfeuerwaffen eigentlich noch besser umgehen als sie, war aber aufgrund seiner Körpergröße nicht die erste Wahl. Da die Zielperson flach auf dem Boden liegen würde, war es für einen groß gewachsenen Schützen schwieriger, das Ziel anzuvisieren. Und in diesem Fall konnte jeder Sekundenbruchteil den Unterschied zwischen Erfolg und Katastrophe ausmachen. Alle waren mit ihrer jeweiligen Rolle voll und ganz zufrieden. Alle wussten genau, was sie wann zu tun hatten.

Die Zielperson war kurz vor 21 Uhr in ihren Lagerraum zurückgekehrt. Um 22 Uhr hatte das Personal an der Pforte des Lagerhauses seine Sachen zusammengepackt und war nach Hause gegangen. Niemand wusste, wann die Zielperson sich schlafen legen würde, aber sie schätzten, dass sie mit zwei Stunden Wartezeit auf der sicheren Seite waren.

»Er wird es sich bestimmt nicht gemütlich machen und ein gutes Buch lesen«, sagte der Däne. »Er wird so schnell wie möglich wieder loswollen. Wir wissen doch mittlerweile, dass der Typ sich nur ungern länger irgendwo aufhält. Und da drin ist er verwundbar, so viel ist ihm ja auch klar.«

Wenn sie den Kerl erst einmal umgebracht hatten, war der Lagerraum genau der richtige Ort für die Finnin, um mit ihren Elektrowerkzeugen zu spielen. Die Zielperson hatte ja sogar einen Generator gekauft.

»Wie umsichtig«, hatte sie noch gewitzelt.

Sie trugen leichte Schutzwesten unter ihren Jacken und hatten Pistolen mit Schalldämpfer und mehrere Ersatzmagazine eingesteckt. Jedes Teammitglied bevorzugte eine ganz bestimmte Waffe. Sie rechneten zwar nicht mit irgendwelchen dramatischen Ereignissen – zwei Kugeln in den Schädel, fertig, und ganz bestimmt kein längeres Feuergefecht –, aber trotzdem musste man auf alles vorbereitet sein. Auch auf das Unvorstellbare.

Die Dänin näherte sich der Lagerhalle zunächst allein. Sie hatte den Mützenschirm tief in die Stirn gezogen, damit ihr Gesicht nicht zu erkennen war. Die langen Haare steckten unter einer Kapuze. Sie hielt eine Aluminiumleiter in der Hand und hatte sich eine Trittleiter mit Gummibändern auf den Rücken geschnallt – gekauft im selben Geschäft, in dem auch die Zielperson ihre Ausrüstung erworben hatte. Mit schnellen Schritten ging sie auf das Tor zu, das den Zugang zum Gelände versperrte, fuhr die Leiter aus und hängte die Haken am oberen Rand des Tores ein. Die Haken wie auch die Leiterfüße hatten sie mit Schaumstoff umhüllt. Sekunden später war sie hinaufgeklettert und auf die andere Seite gesprungen. Ihre Turnschuhe mit den dicken Sohlen dämpften den Aufprall.

Sie löste den Bolzenschneider vom Gürtel und durchtrennte den Sicherungsriegel, der nur von der Innenseite des Tores her zugänglich war.

Dann stellte sie die Trittleiter – ebenfalls mit Schaumstoff schallgedämpft – an der zuvor ausgemachten Stelle an die Hauswand und besprühte das Objektiv der Überwachungskamera, die auf das Tor gerichtet war, mit schwarzer Farbe.

»Los«, flüsterte sie in ihr Mikrofon.

Die Finnin stieß das Tor auf und lief auf die Lagerhalle zu, dicht gefolgt von dem Schweden. In der Zwischenzeit legte die Dänin mithilfe der Trittleiter noch mehr Kameras lahm. Auch wenn sie gar nicht alles erfassten, sie mussten funktionsunfähig gemacht werden. Kein Risiko. Die Kamera, die sie bei ihrer Torbesteigung beobachtet hatte, war nicht erreichbar, doch hatte sie sich so gut getarnt, dass sie nicht zu identifizieren war. Und weder von der Finnin noch von dem Schweden noch von dem, was sie im Inneren der Halle taten, würde es irgendwelche Aufnahmen geben.

Der Lagerraum der Zielperson befand sich ungefähr in der Mitte einer Reihe mit insgesamt acht Einheiten – vier Einheiten zum vorderen Ende der Halle, drei zum hinteren. Sie nahmen ihre Positionen ein. Die weichen Schuhsohlen sowie ihre wirklich herausragenden Fähigkeiten sorgten dafür, dass das Ganze praktisch geräuschlos vonstattenging. Der Schwede holte ein Richtmikrofon aus dem Rucksack, setzte den Kopfhörer auf und richtete das Mikrofon auf das Rolltor des Lagerraums. Er lauschte kurz und schwenkte das Mikrofon hin und her.

Dann nickte er den beiden anderen zu und sagte lautlos: Er schläft. Er deutete auf die rechte Seite der Tür. Die beiden Frauen erwiderten sein Nicken. Die Finnin huschte nach rechts und nahm die Pistole fest in beide Hände. Zwei Sekunden, um das Tor aufzubrechen, eine weitere, um das Ziel ins Visier zu nehmen. Drei Sekunden. Niemals kann er in der Zeit aufwachen und auf den Angriff reagieren, dachte die Finnin.

Der Schwede legte das Richtmikro auf den Boden, während die Dänin ihre Pistole entsicherte. Es war eine FNP-90 Vollautomatik. Der lange Schalldämpfer saß fest auf dem Lauf. Es war eine Waffe mit brutaler Durchschlagskraft, aber sie war nur als Absicherung gedacht. Die Finnin würde schießen, und zwar mit einer Ruger, Kaliber zweiundzwanzig. Die relativ durchschlagsschwachen Kugeln würden das Opfer auf jeden Fall töten, wenn sie lebenswichtige Organe verletzten – und das würden sie, denn die Finnin war eine erstklassige Schützin –, aber sie würden im Körper beziehungsweise Schädel stecken bleiben. Keine Austrittswunde bedeutete weniger Schweinerei, und weniger Schweinerei bedeutete weniger Indizien. Im Lieferwagen lagen jede Menge Plastikplanen bereit. Die würden sie ausbreiten, bevor die Elektrowerkzeuge ins Spiel kamen. Die P-90 war nur für den Fall gedacht, dass der Schwede das Tor nicht aufbekam, weil es von innen gesichert war. Es war zwar ziemlich unwahrscheinlich, dass das überhaupt möglich war oder dass die Zielperson das gemacht hatte, aber sie wollten nichts dem Zufall überlassen. Falls der Kerl also von innen irgendeinen Schließmechanismus angebracht und der Schwede den Lagerraum nach drei Sekunden noch nicht aufgebrochen hatte, dann würde die Dänin das ganze Magazin der P-90 verballern. Es fasste fünfzig Patronen und war innerhalb weniger Sekunden leer. Selbst unter indirektem Beschuss hatte das Opfer keine Überlebenschance.

Aber es würde eine fürchterliche Schweinerei geben. Darum war das auch lediglich der Plan für den Notfall. Hübsch lautlos und sauber, so hatten sie ihre Morde am liebsten, aber bei einer Zielperson wie dieser hier waren sie auch bereit, die eine oder andere ungewöhnliche Maßnahme in Kauf zu nehmen.

Die Dänin hatte die P-90 jetzt mit beiden Händen gepackt und signalisierte den beiden anderen, dass sie bereit war. Der Schwede schob sich vor, ging in die Knie und legte die Hände an die Tür. Dann nickte er den beiden Frauen zu. Die Finnin knipste die Laser-Zielerfassung und die Stablampe unter dem Lauf ihrer Waffe an.

Die Dänin nahm ihre Waffe in die rechte Hand und hielt drei Finger der Linken hoch. Dann zwei.

Eins.

Kapitel 4

Der Schwede wuchtete das Rolltor auf, kam aus der Hocke in den Stand, streckte die Arme hoch über den Kopf. Das Metall quietschte und schepperte laut. Es dröhnte durch die ganze Halle.

Der Strahl aus der LED-Lampe der Finnin leuchtete ins Innere des Lagerraums und erfasste die Campingausrüstung, die Gasflasche, den Schweißbrenner sowie die Umrisse eines Körpers in einem Schlafsack in der hinteren rechten Ecke.

Der Gemtech-Schalldämpfer und die Unterschallmunition sorgten dafür, dass die Schüsse der Finnin lediglich wie zweimal unterdrücktes Niesen klangen, was schon fünf Meter weiter nicht mehr zu hören war. Der Schlafsack zuckte, als die Kugeln einschlugen.

Sie betrat mit langen Schritten den Lagerraum, die Ruger immer noch auf Augenhöhe, den Lauf auf das am Boden liegende Ziel gerichtet. Sie brauchte eine Bestätigung, dass ihre Schüsse wirklich tödlich gewesen waren.

»Warte«, sagte der Schwede in ihrem Rücken, noch bevor sie nahe genug war, um die Zielperson zu identifizieren.

Sie gehorchte sofort, wunderte sich über seine laute Stimme, hatte jedoch absolutes Vertrauen in die Richtigkeit seiner Anweisung.

»Das ist er nicht«, sagte der Schwede.

Die Finnin konnte von ihrem Standpunkt aus den im Schlafsack liegenden Körper nicht erkennen, also konnte der Schwede das auch nicht.

»Links«, sagte er.

Sie drehte den Kopf. »Was zum …«

Die Wände des Lagerraums bestanden aus Wellblechpaneelen, die bis hinauf an die zweieinhalb Meter hohe flache Decke reichten. Am unteren Rand der linken Wand klaffte ein ein mal ein Meter großes Loch. Das herausgetrennte Blechstück lag daneben auf dem Boden. Mit dem Schweißbrenner herausgetrennt.

»Gib mir Deckung«, sagte der Schwede und glitt ins Innere des Lagerraums.

Die Finnin richtete ihre Waffe auf das Loch in der Wand. Der Strahl ihrer Taschenlampe beleuchtete die vom Schweißbrenner geschwärzten Ränder. Der Schwede trat zweimal kräftig gegen den Schlafsack. Anschließend kniete er sich hin, um nachzusehen.

»Scheiße«, sagte er dann. Der Schlafsack war mit Kissen ausgestopft worden, die einen menschenähnlichen Umriss bildeten. Seine Finger ertasteten etwas Eckiges, Hartes. Ein Handy mit eingeschaltetem Lautsprecher, das eine Aufnahme mit regelmäßigen Atemzügen abspielte.

»Er hat gewusst, dass wir kommen«, sagte der Schwede mit einem Unterton, der leise Furcht verriet. »Er hat auf uns gewartet.«

»Wo ist er?«, fragte die Finnin.

Der Strahl der Taschenlampe fiel durch das Loch ein kleines Stück weit in den benachbarten Lagerraum, der allem Anschein nach leer war.

Der Schwede deutete in diese Richtung. Dann streckte er die linke Hand aus, die Handfläche nach unten gerichtet, und senkte sie, ging dabei in die Knie und bedeutete der Finnin, es ihm nachzutun. Sie folgte seinem Beispiel, sodass der Strahl ihrer Taschenlampe tiefer in den Nachbarraum vordrang, während er hineinsah. Der erste Eindruck bestätigte sich. Der Lagerraum war leer.

»O nein.«

»Was?«, sagte die Finnin. Ihre Stimme klang jetzt lauter und höher als zuvor. »Was ist denn?«

In der hinteren Wand der nächsten Einheit klaffte wieder ein Loch, vor dem ebenfalls das herausgetrennte Blechstück lag. Der Schwede schob sich auf allen vieren ein Stück näher heran und sah, dass sich auch in der dahinterliegenden Einheit dasselbe Bild bot. Und dahinter wieder. Ganz am Ende, hinter dem letzten Loch, war der Schimmer einer Straßenlaterne erkennbar.

Der Schwede sagte: »Du musst die Flanke im Blick behalten«, und sah zu der Dänin auf dem Flur.

Aber da war niemand mehr.

Panik packte ihn, und er riss die Pistole hoch. Die Finnin sah die Bewegung und wirbelte ebenfalls herum. Die Dänin war verschwunden. Sie hatten nicht das Geringste gehört.

»Ganz ruhig«, sagte die Finnin.

Der Schwede schien sie nicht zu hören. »Er hat uns hierhergelockt. Er wollte, dass wir ihm folgen. Scheiße. Scheiße.«

»Ganz ruhig«, wiederholte die Finnin.

»Er hat sich diesen Laden hier ausgesucht, in aller Ruhe, und wir haben ihm dabei zugesehen. Das ist eine gottverdammte Falle.«

Die Finnin widersprach nicht. Sie nahm über ihr Knopflochmikro mit dem Dänen Kontakt auf. »Wir brauchen Verstärkung, sofort.«

Keine Reaktion.

Sie wiederholte ihre Worte.

Der Schwede starrte sie an. »Nicht er auch …«

Da ertönte eine Stimme in ihrem Ohrhörer. Sie gehörte einem Mann, aber nicht dem Dänen, der eigentlich im Lieferwagen auf ihre Rückkehr warten sollte. Die Stimme klang tief und leise. Ruhig. Angst einflößend. »Ich fürchte, es gibt niemanden, der euch zu Hilfe kommen könnte.«

»Du Dreckschwein. Ich werde dich …«

Der Mann fuhr fort: »Es ist nichts Persönliches, aber ich kann euch nicht am Leben lassen. Ich weiß, dass ihr das versteht. Ihr würdet in meiner Situation ganz genauso handeln.«

Die Finnin riss ihren Ohrhörer heraus und zerquetschte ihn unter ihrem Absatz. »Arschloch!«

Der Schwede flüsterte ihr zu: »Wir müssen verschwinden. Sofort.«

»Wie denn? Er wartet da draußen doch bloß auf uns.«

»Er ist beim Wagen. Wenn wir uns beeilen …«

Die Finnin schüttelte den Kopf. »Nein, verdammt. Denk doch mal nach. Gut möglich, dass er Jens schon umgebracht hat, kaum dass wir über das Tor geklettert sind. Dann hat er sich sein Headset geschnappt, und jetzt kann er praktisch überall sein.«

»Was sollen wir dann machen?«

Die Finnin überlegte, dann deutete sie auf das Loch in der Wand des Lagerraums und machte mit Zeige- und Mittelfinger eine Geste, die ihm bedeuten sollte, sich auf den Weg zu machen.

Der Schwede schüttelte den Kopf. »Niemals. Das wäre glatter Selbstmord.«

»Und was schlägst du stattdessen vor?«

Er gab keine Antwort.

Die Finnin schob sich vorsichtig auf das Loch zu.

»Ich gehe da nicht rein«, flüsterte der Schwede.

»Also gut.« Sie deutete auf das geöffnete Rolltor. »Bleib hier und behalte das Tor im Auge, bis ich wieder da bin.«

»Wir können uns jetzt nicht trennen. Genau das will er doch.«

»Aber irgendetwas müssen wir unternehmen. Wenn wir einfach abwarten, dann spielen wir ihm nur in die Karten.«

Er nickte. »Okay.«

»Rauszukriechen und dann von hinten wieder reinzukommen dauert höchstens eine Minute. Wenn ich länger weg bin, dann habe ich es nicht geschafft.«

»Sag das nicht.«

»Hör mir gut zu, bitte. Du wartest hier auf mich, und zwar genau eine Minute lang. Wenn ich bis dahin nicht wieder da bin, hat er mich erwischt. Das ist deine Chance. Dann nimmst du die Beine in die Hand und rennst los. Renn einfach. Er kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein. Du zählst bis sechzig, und bei einundsechzig rennst du um dein Leben. Hast du das verstanden?«

Er nickte und schluckte.

Sie atmete aus und gab ihm einen Kuss auf die Lippen. Er war verwirrt, aber er erwiderte ihren Kuss.

»Komm pünktlich wieder«, sagte er.

Sie wollte sich nicht verspäten. Verspätung bedeutete den Tod.

»Keine Sorge.«

Kapitel 5

Der Boden unter den Ellbogen und Knien der Finnin fühlte sich kalt an. Sie kroch durch das erste Loch in den benachbarten Lagerraum. Er war leer. Sie hielt kurz inne und konnte die hastigen Atemzüge des Schweden hören. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und ihm zugerufen, dass er leise sein solle, aber sie wollte ihre Position nicht preisgeben. Die Zielperson – auch wenn diese Bezeichnung mittlerweile mehr als unpassend geworden war – konnte überall im Gebäude sein. Sicher war nur, dass der Kerl ganz in der Nähe war. Das wusste die Finnin. Sie an seiner Stelle wäre auch ganz in der Nähe gewesen, in Sicht- oder Hörweite. Sie hatte ihn einen Löwen genannt. Und jetzt malte sie sich bildlich aus, wie der Löwe durchs hohe Gras schlich.

Sie kroch durch das nächste Loch. Noch eine Lagereinheit, dann war sie draußen. Die kühle Luft, die über ihre Haut strich, machte ihr noch bewusster, dass ihr Gesicht von einem Schweißfilm bedeckt war. Der Lagerraum war voller muffiger Kartons, randvoll mit Zeitschriften und Büchern. Die Finnin wich ihnen aus.

Der letzte Lagerraum war wieder leer. Sie stieß den Atem aus und kauerte sich vor das Loch, das nach draußen führte. Wenn der Killer sich irgendwo auf die Lauer gelegt hatte, dann hier. Es sei denn, er hatte den Raum mit dem Schweden ins Visier genommen. Die Chancen standen fünfzig zu fünfzig. Wenn ja, dann konnte sie ungefährdet durch diese Öffnung hier schlüpfen. Aber wirkliche Sicherheit gab es erst, wenn es zu spät war. Zumindest für einen von ihnen.

Dreißig Sekunden noch, dann war die Minute vorbei. Wie hatte sie gesagt? Du zählst bis sechzig, und bei einundsechzig rennst du um dein Leben.

Sie hielt inne. Sie musste gar nicht durch die letzte Öffnung kriechen und riskieren, in einen Hinterhalt zu geraten. In weniger als dreißig Sekunden würde der Schwede loslaufen. Und entweder würde er es schaffen oder eben nicht. Im ersten Fall wusste die Finnin, dass der Killer nicht den Lagerraum beobachtete, den er gemietet hatte, sondern diese Öffnung hier. Aber im zweiten Fall war sie hier in Sicherheit, weil der Killer nicht an zwei Orten zugleich sein konnte.

Die Finnin wartete.

Sie wollte nicht, dass er sterben musste. Aber noch weniger wollte sie selbst sterben. Sie atmete flach, um möglichst wenig Geräusch zu verursachen. Sie musste genau hinhören. Sie musste hören, ob der Schwede es schaffte oder nicht. Und hoffte, dass er es nicht schaffte. Tut mir leid, Süßer. Noch zwanzig Sekunden.

Als nur noch zehn Sekunden übrig waren, spannte sie die Muskeln an, machte sich bereit loszustürmen oder, falls es sich so anhörte, als würde der Schwede es schaffen, schnellstmöglich umzukehren und den Rückweg anzutreten. Ob der Schwede zu demselben Schluss gekommen war? Ob er sich auch heimlich wünschte, dass sie sterben sollte, so wie es ihr mit ihm ging?

Bei vier Sekunden hörte sie den Schweden loslaufen. Er hatte zu schnell gezählt. Nicht weiter verwunderlich angesichts der Umstände. Aber vielleicht zählte sie auch zu langsam. Es spielte so oder so keine Rolle.

Sie hörte das Geräusch seiner Sohlen, als er loshetzte, genau wie sie es ihm gesagt hatte. Sie hörte seine hastigen Schritte. Sie stellte sich vor, wie er durch die Türöffnung des Lagerraums stürmte, nach links in Richtung Ausgang abbog, den Gang zwischen den Lagerräumen entlangsprintete, bis er bei der …

Zwei gedämpfte Klack-Geräusche ertönten. Die Schritte verstummten.

Schlecht für den Schweden. Gut für die Finnin.

Sie ging in die Knie, legte sich flach auf den Bauch und krabbelte los. Es war ihr egal, ob sie dabei Lärm machte. Der Killer war schließlich am anderen Ende des Gebäudes, beim Empfang und beim Haupteingang. Er konnte nicht an zwei Stellen zugleich sein.

Sie kroch durch das Loch in der Hauswand nach draußen. Kühle Nachtluft strich über ihre schweißnasse Haut. Es war ein wundervolles Gefühl, aber sie hatte keine Zeit, dieses Gefühl zu genießen. Sie hatte nur diesen einen Augenblick – diesen einen, winzig kleinen Vorsprung –, und den musste sie unbedingt ausnutzen. Sie kam auf die Füße.

Der Killer war auf der einen Seite des Gebäudes und sie auf der anderen. Sie brauchte jetzt nichts weiter zu tun als …

Sie spürte, wie ihr etwas über das Gesicht wischte, flüchtig, überraschend. Dann schlang sich etwas um ihre Kehle. Zog sich fester. Ein Bild blitzte vor ihrem geistigen Auge auf: wie der Killer Gummiseile kaufte.

Sie legten sich als Schlinge um ihren Hals und drückten ihr die Luftröhre zu. Brennender Schmerz und Panik jagten durch ihren Körper. Die Finnin versuchte, die Schlinge zu lösen, ließ die Pistole fallen, wollte ihre Finger unter das Seil schieben, aber es gab keinen Millimeter mehr nach. Dafür war ihr eigenes Körpergewicht verantwortlich – und der Killer, der über ihr auf dem Dach stand und an dem Seil zog.

Ihre Füße suchten krampfhaft nach Halt. Ihr Gesicht lief rot an. Ihre Augen traten aus den Höhlen. Sie wollte etwas sagen, wollte um Gnade flehen, doch über ihre Lippen kam nur ein gurgelndes Pfeifen.

Der Zug der Schlinge presste ihr den Mund zu und sorgte dafür, dass das Seil nicht auf die Halsschlagadern drückte. Ansonsten hätte sie innerhalb weniger Sekunden das Bewusstsein verloren, da das Gehirn nicht mehr mit Blut versorgt worden wäre. So aber wurde sie von dem Gummiseil erstickt. Der Todeskampf dauerte über eine Minute. Ihre Zähne mahlten und brachen. Ihre Lippen wurden blau. Die Kapillaren in ihren Augen platzen.

Schließlich mündete der Sauerstoffmangel in einen euphorischen Zustand der Ruhe und Entspannung. Der Schmerz ließ nach. Die Finnin wehrte sich nicht länger. Und dann bewegte sie sich gar nicht mehr.

Kapitel 6

Victor blieb einen Augenblick lang regungslos stehen und ließ sich die nächtliche Brise über das Gesicht und durch die Haare wehen. Sie fuhr ihm in den Kragen und durch die Ärmel. Kalt, aber gleichzeitig sanft und beschwichtigend. Sein Herzschlag, der von der Anstrengung leicht erhöht gewesen war, nahm allmählich wieder einen langsamen Rhythmus an. Er ließ das Gummiseil los. Der Leichnam sackte zu Boden. Bis auf das leichte Brennen in den Handflächen spürte er nichts. Ohne die dicken Schweißerhandschuhe hätte er mit Sicherheit sowohl Hautpartikel als auch Schweiß an dem Seil hinterlassen. Ein Gummiseil war aufgrund der Dehnbarkeit alles andere als ideal, um jemanden zu erdrosseln, aber durch das geringe Gewicht und die Flexibilität war es sehr gut geeignet, wenn man eine bewegliche Schlinge brauchte. Das Ergebnis war Beweis genug. Die Frau konnte gar nicht toter sein.

Er rollte die gepolsterten Planen zusammen, die er auf dem Dach des Gebäudes ausgebreitet hatte, um beim Hin und Her möglichst wenig Geräusche zu machen, und ließ sich auf das Knie seines unverletzten Beins sinken. Als er wieder in seinem Lagerraum stand, schlüpfte er in die Schuhe und fing an, seine Sachen zu packen. Er hatte gar nicht alles gebraucht, aber je mehr überflüssige Dinge er sich besorgt hatte, desto geringer war die Chance gewesen, dass seine Beschatter dahinterkamen, was genau er damit vorhatte. Nachdem er alles bis auf den wasserfesten Schlafsack auf seinen Rollwagen geladen hatte, schob er ihn durch den Gang nach draußen.

Sie hatten sich einen guten Platz für den Wagen gesucht. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er alles im Laderaum des Lieferwagens verstaut hatte, direkt neben dem toten Fahrer. Victor ließ sich Zeit. Es gab keinen Grund zur Hetze. Schließlich hatten sie freundlicherweise die Überwachungskameras lahmgelegt. Zumal die wenigen Kameras, die es überhaupt gab, auf die Eingänge des Gebäudes gerichtet waren und nicht auf das Dach. Und für das Loch in der Wand hatte er sich eine Stelle ausgesucht, die ebenfalls nicht im Sichtfeld eines Kameraobjektivs lag.

Die äußeren Kanten der Löcher hatte er schon vorher mithilfe des Schneidbrenners entfernt. Dann hatte er die rechteckigen Blechstücke auf die innere Seite der jeweiligen Wand gelegt. Wenn die Frühschicht am nächsten Tag eintraf und sich das aufgebrochene Torschloss sowie die Aufnahmen der Videokameras ansah, dann würde sie – genau wie die herbeigerufene Polizei – von einem Einbruch ausgehen. Anschließend würden sie feststellen, dass sie den Mieter des von dem Diebstahl betroffenen Lagerraums nicht erreichen konnten, und würden schlussfolgern, dass Victor etwas Wertvolles, aber Illegales dort aufbewahrt und darum eine falsche Identität angegeben hatte. Ohne Diebstahlsanzeige würde die Polizei nichts weiter unternehmen, schließlich sah alles danach aus, als hätte ein Ganove – Singular, da auf den Überwachungsaufnahmen nur ein einziger Einbrecher zu sehen war – einem anderen ein Schnippchen geschlagen. Es gab nichts, was den Bullen mehr Freude machte. Schicksal, würden sie sagen und sich ausschütten vor Lachen, so sehr, wie man es nur konnte, wenn man wahre, tiefe Freude empfand.

Jetzt gab es nicht mehr allzu viel aufzuräumen. Den Mann, den er erschossen hatte, brachte er zuerst nach draußen, und zwar eingepackt in den wasserdichten Schlafsack. So ließ er weder Blut noch andere Körperflüssigkeiten zurück. Victor hatte ihn mit einer Unterschall-Zweiundzwanziger erschossen, damit die Kugel im Körper stecken blieb. Austrittswunden waren eine ziemlich eklige Angelegenheit. Er ging davon aus, dass die Rothaarige, die er erwürgt hatte, aus genau demselben Grund eine ähnliche Waffe bei sich gehabt hatte. Das gefiel ihm. Er hatte das Gefühl, als hätte er sie dadurch ein bisschen besser kennengelernt. In Victors Branche gab es nicht viele Möglichkeiten, Beziehungen zu knüpfen, und er empfand eine gewisse Verbundenheit mit dieser Frau, obwohl sie durch den Tod getrennt waren. Vielleicht hatten sie ja noch andere Dinge gemeinsam, abgesehen von der Bewaffnung. Einen ähnlichen Musikgeschmack womöglich. Oder Bücher. Vielleicht mochte sie auch ähnliches Essen wie er. In einem anderen Leben wären sie unter Umständen befreundet gewesen. Vielleicht sogar ein Liebespaar.

Er warf ihre Leiche zu den anderen.

Betreff: Ich brauche deine Hilfe

Sankt Petersburg, Russland

Kapitel 7

Victor schlug die Augen auf und hatte freie Sicht auf die Decke seines Hotelzimmers. Kein Wecker hatte ihn geweckt. Er wurde nie vom Wecker geweckt. Wenn sein Bewusstsein sich einschaltete und die Kontrolle über seinen Körper übernahm, brauchte er alle Sinne. Dabei war das Gehör der wichtigste. Mit den Ohren konnte er jedes Knacken eines Bodenbretts, jedes Wischen einer Schuhsohle über Teppich, jedes Klicken eines Türschlosses und jeden erleichterten Atemzug wahrnehmen – alles Eindrücke, die ihm unter Umständen das Leben retten konnten. Die Ohren konnten einen Gegner bereits wahrnehmen, wenn er noch lange nicht zu sehen war. Das wusste Victor, weil er schon oft dafür bezahlt worden war, jemandes Gegner zu sein, und diese erst durch die Augen auf ihn aufmerksam geworden waren. Aber dann war es jedes Mal schon viel zu spät gewesen. Dann hatte es keine Rolle mehr gespielt.

Aber jetzt hörte er nichts, was Anlass zur Sorge gab. Trotzdem zog er die SIG Sauer aus dem Hosenbund, sah kurz nach, ob sie manipuliert worden war, und behielt sie auch danach in der Hand. Er trug einen marineblauen Anzug und ein weißes Hemd. Die Krawatte steckte zusammengefaltet in einer Tasche. Die Sohlen seiner Oxfordschuhe waren sauber abgewischt, damit sie keinen Schmutz oder andere verräterische Partikel auf dem Bettzeug hinterließen.

Die Vorhänge waren zugezogen und überlappten sich, sodass wirklich nicht das geringste Anzeichen der Außenwelt herein- und genauso wenig nach draußen dringen konnte. Eine Lampe verbreitete warmes orangefarbenes Licht, schließlich waren die Augen seine zweitwichtigste Verteidigungswaffe. Hotelflure waren stets beleuchtet, darum hätte ein Attentäter in einem pechschwarzen Zimmer zunächst einmal Schwierigkeiten gehabt, sich zu orientieren, aber mit technischer Hilfe ließ Nacht sich problemlos in Tag verwandeln. Und wenn Augen, die an die Dunkelheit gewöhnt waren, vom Strahl einer Taschenlampe geblendet wurden, dann waren sie wirklich zu gar nichts mehr nütze.

Das Zimmer hatte drei potenzielle Zugänge: die eigentliche Zimmertür, das Schiebefenster und die Tür zum Badezimmer. Die Zimmertür hatte er abgeschlossen und zusätzlich mit dem Schrank verbarrikadiert. Der war zwar ziemlich schwer und unhandlich, aber er selbst war stark und geduldig, und sein Leben war ihm mehr wert als die Zeit und die Kraft, die es gekostet hatte, den Schrank zu verschieben. Er war höher und breiter als der Türrahmen und bildete daher eine nahezu unüberwindliche Barriere. Er tastete den Bereich um die Schrankfüße herum ab, konnte aber keinerlei Abdrücke feststellen, die darauf hindeuteten, dass er im Lauf der letzten Stunden verschoben worden war. Das Fenster ließ sich maximal fünfzehn Zentimeter weit aufschieben. Ein geübter Einbrecher war sicherlich in der Lage, die Sperre auszuhebeln, um letztendlich hindurchklettern zu können, aber die Vorhänge waren absolut unverändert, und auch das briefmarkengroße Stück Toilettenpapier klebte noch genau da, wo er es angeheftet hatte. Als Nächstes untersuchte er die Badezimmertür. Der dünne Wollfaden, den er über den Spalt zwischen Tür und Rahmen gelegt hatte, war immer noch an Ort und Stelle, ganz unten, knapp über dem Boden, wo er schnell abgefallen und im Teppich verschwunden wäre, aus dem er auch stammte. Früher hatten Victors Kollegen gerne Haare für solche Zwecke benutzt, aber Victor hielt nicht viel davon, DNA-Spuren zu hinterlassen. Darum hatte er auch keinen Speichel genommen, um den Faden festzukleben, sondern einen winzigen Tropfen Duschgel aus einem der Fläschchen, die das Hotel seinen Gästen zur Verfügung stellte.

Das Badezimmerfenster war zwar klein, aber eine zierliche Person hätte durchaus hindurchgepasst. Er selbst hätte am ehesten diesen Weg gewählt. Je größer die Entfernung zur Zielperson, desto geringer die Chance, gehört zu werden, besonders mit einer geschlossenen Tür dazwischen. Victor war zwar nicht zierlich, aber die Dehnübungen, die seit jeher zu seinem Fitnessprogramm gehörten, hatten ihm die Biegsamkeit eines Kunstturners verliehen. Das Fenster wäre jedenfalls kein Problem für ihn gewesen.

Er stellte sich neben die Badezimmertür, knipste mit dem Ellbogen das Licht an, um einen eventuellen Einbrecher, der dort in der Dunkelheit stand und wartete, zu blenden, drückte mit der freien Hand die Klinke herunter, riss die Tür auf und trat mit vorgehaltener Waffe ein. Das Bad war leer, und ein Blick in den Spiegel über dem Waschbecken bestätigte, dass auch hinter der geöffneten Tür niemand stand. Victor ließ die Pistole sinken.

Er war in Sicherheit. Zumindest so lange, bis er das Zimmer verließ.

Er schaute auf die Uhr und stellte fest, dass er etwas mehr als vier Stunden geschlafen hatte. Eine Mischung aus Notwendigkeit, Erfahrung und Training sorgte dafür, dass er nur selten länger als vier Stunden am Stück schlief. Sein Körper brauchte genauso viel Erholung wie jeder andere auch, um wirklich hundertprozentig zu funktionieren, aber er versuchte, so gut es irgend ging, die Erholungsphasen möglichst breit zu streuen. Die meisten Attentäter würden bevorzugt dann zuschlagen, wenn die Zielperson am verwundbarsten war, und das war nun einmal das von langsamen Deltawellen dominierte, traumlose Stadium IV. In diesem Stadium brauchte das Opfer am längsten, um aufzuwachen und wieder zurück ins Bewusstsein zu finden. In der Regel trat dieses Stadium etwa nach der Hälfte des Schlafzyklus ein, vier, fünf Stunden nach dem Einschlafen, in den frühen Morgenstunden. Darum schlief er um diese Zeit nie. Außerdem erhöhte sich dadurch, dass er im Durchschnitt nur vier Stunden am Stück schlief, die Chance, wach zu sein, wenn die meisten Killer den besten Zeitpunkt zum Zuschlagen gekommen sahen.

Victor zog sich aus, dehnte sich und machte seine Übungen. Er ließ die Dusche links liegen – sie würde seine Sinnesorgane viel zu sehr in Anspruch nehmen und die Umgebungsgeräusche ausblenden – und legte sich in die Badewanne. Sie war tief und lang, stand frei im Raum, und er konnte sich darin sehr gut entspannen, ohne die Beine anziehen zu müssen. Gute Hotels hinterließen zwar tiefe Löcher in seinen finanziellen Reserven, aber die Ausgaben lohnten sich fast allein schon deswegen, weil es sich immer sehr angenehm baden ließ.

Das Hotel war ein wunderschönes Gebäude aus der Regency-Epoche mit einer prachtvollen Fassade, hohen Räumen und herrlichen Kronleuchtern. Die Erkundung, die aus Sicherheitsgründen notwendig gewesen war, war ein einziger Genuss gewesen. Und auch die mangelhafte Ausstattung mit Überwachungskameras – vermutlich aus ästhetischen Gründen – war ganz zu seiner Zufriedenheit. Er checkte aus, wechselte ein paar Belanglosigkeiten mit der freundlichen Empfangsdame, um nicht als rüder Gast in Erinnerung zu bleiben, und nahm ein Taxi ins Stadtzentrum.

Beim Betreten der Metrostation dachte er an die unerwartete E-Mail, in der er um Hilfe gebeten worden war. Er nahm die Bahn auf Bahnsteig drei, weil er drei geöffnete Fahrkartenschalter gesehen hatte, stieg nach zwei Haltestellen wieder aus, weil außer ihm noch zwei Personen im Waggon gestanden hatten, und wechselte auf den Bahnsteig Richtung Süden, weil eine Frau ihm auf dem Weg zu den Fahrstühlen zugelächelt hatte.

ENDE DER LESEPROBE