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Vor drei Jahren gelangte Rosalind Courtenay versehentlich aus dem neunzehnten Jahrhundert ins einundzwanzigste, in dem sie seither gefangen ist. Ihr Mann und ihr kleiner Sohn sind in der Vergangenheit geblieben. Jetzt hat sie einen Weg zurück nach Hause gefunden. Das Problem ist jedoch, wie sie ihrem Mann ihre lange Abwesenheit erklären soll. Wird er denken, sie habe ihn verlassen? Hat er wieder geheiratet? Ist er glücklich in seinem neuen Leben? Rosalind beschließt, sich zu verkleiden. Sie hofft, auf diese Weise Antworten auf ihre Fragen zu finden. Durch eine Laune des Schicksals wird sie jedoch für die neue Gouvernante ihres Sohnes gehalten. Rosalind hat fest vor, sich zu offenbaren, sobald August von seiner Geschäftsreise zurückgekehrt ist. Bis dahin will sie ihren Sohn kennenlernen – ein stilles Kind, das aus unerklärlichen Gründen von mehreren Gouvernanten verlassen wurde. Aber auf einmal beginnt es im Haus zu spuken. Rosalind ist endlich wieder da, wo sie hingehört, aber irgendjemand will nicht nur, dass sie verschwindet – er oder sie will ihren Tod.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
A Stitch in Time(Thorne Manor)
A Stitch in Time
A Twist of Fate
A Turn of the Tide
A Castle in the Air
A Rip Through Time
A Rip Through Time
The Poisoner’s Ring
Disturbing the Dead
Death at a Highland Wedding
Hemlock Island / I’ll Be Waiting
The Haunting of Paynes Hollow
Finding Mr. Write / Writing Mr. Wrong
Rockton
Haven’s Rock
Cursed Luck
Cainsville
Otherworld
Nadia Stafford
The Life She Had
Wherever She Goes / Every Step She Takes
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A Twist of Fate: Die Geister von Courtenay Hall © 2025 K.L.A. Fricke Inc.
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »A Twist of Fate«
Autor: Kelley Armstrong
Übersetzung: Sonja Herberth für Literary Queens
Umschlaggestaltung: Cover Couture
Verlag: K.L.A. Fricke Inc
48862 Dexter Line, Sparta, ON, Canada
ISBN: 978-1-997810-08-7
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Über die Autorin
Zwei Dinge tue ich, bevor ich an diesem Abend das Haus verlasse. Zwei Zeitstückchen, die ich in meiner Erinnerungsschatztruhe aufbewahren und immer wieder hervorholen kann.
Nachdem August eingeschlafen ist, schlüpfe ich aus dem Bett und ziehe mir das Reitkleid an, das ich versteckt habe, bevor wir uns hingelegt haben. Er stöhnt und ich halte erschrocken inne, während mein Herz heftig hämmert. Bei einem dumpfen Geräusch hinter mir drehe ich mich um und traue mich kaum zu atmen. Er liegt jetzt auf dem Rücken, die Augen geschlossen, und schläft tief und fest.
Erleichtert atme ich aus. Durch das Fenster sehe ich, dass sich die Wolken verziehen, sodass das Mondlicht auf August fallen kann. Ein Lichtstrahl tänzelt auf seiner nackten Brust und seinem Gesicht. Gedanklich gehe ich drei Jahre in der Zeit zurück. Es ist unsere Hochzeitsnacht, ich betrachte meinen Ehemann und mir stockt der Atem, als das Mondlicht über ihn gleitet.
Ich hätte nie gedacht, dass ich so glücklich sein kann.
Beinahe schäme ich mich für meine Freude, als hätte ich sie nicht verdient. Ich habe auch Angst um sie, will sie in Watte packen, damit sie nicht kaputtgeht.
Wie konnte ich nur so viel Glück haben?
August Courtenay ist der dritte Sohn eines Earls und für eine junge Frau wie mich – mit einem guten Namen, mehr aber auch nicht – hätte unsere Heirat die Krönung meines Lebens sein sollen. Aber seine Familie und sein Vermögen bedeuten mir nichts.
Vielleicht sollte meine Freude also von dem herrühren, was das Mondlicht offenbart – einen Mann mit dem Gesicht und dem Körper eines griechischen Gottes. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich seinen Anblick nicht genießen würde. Doch auch das ist nicht die Quelle meines Glücks.
Wenn überhaupt, dann waren Augusts Reichtum und sein gutes Aussehen unserer Verbindung abträglich, sodass ich anfangs vor seinen Umwerbungsversuchen geflohen bin. Nur eine Närrin fällt auf einen solchen Mann herein. Eine Närrin, die glaubt, sie würde mehr gewinnen als ein paar Nächte voller Leidenschaft und billigen Schmuck für ihren Finger anstelle eines Eherings.
Nein, meine Freude in diesem Moment, als ich neben meinem Bräutigam erwache, ist das Glück, wahre Liebe gefunden zu haben. Liebe von einem Mann, der in meine Tiefen geblickt hat und mich trotz meiner Ecken und Kanten und Eigenheiten liebt. Und ich habe alles in ihm gesehen und liebe ihn ebenfalls.
Ich habe ihn über alle Maßen geliebt. Absolut.
Das war vor drei Jahren. Und jetzt …?
Ich habe eine heimliche Leidenschaft für gruselige Geschichten und ich weiß, wie diese ablaufen sollte. Ein mittelloses Mädchen heiratet einen Engel und findet sich stattdessen an einen Dämon gefesselt wieder. Es gibt nichts Dämonisches an August. Nur etwas Kleines und Verängstigtes, dem ich unbedingt helfen will, aber nicht kann.
Jeder von uns trägt den Schatten des Kindes in sich, das er einmal war, und August ist ein sehr trauriger und einsamer Junge, der überzeugt ist, dass ihn jede Frau, die er liebt, verlassen wird. Man sollte meinen, dass eine Heirat und dann ein Kind seine Angst geheilt hätten, aber je enger wir aneinander gebunden sind, desto ängstlicher wird er. Und diese Angst manifestiert sich in einer Wut und Eifersucht, die mich zu erschrecken begonnen hat.
Ich stelle mir die Braut vor, die vor drei Jahren neben ihrem Mann aufgewacht ist. Ich stelle mir vor, was sie denken würde, wenn sie sich jetzt sehen könnte, wie sie aus dem Bett schlüpft, ihr Reitkleid anzieht und sich darauf vorbereitet, zurück nach Thorne Manor zu reiten und ihren Ehering zu holen, den sie in der Küche zurückgelassen hat, als sie der Haushälterin half, Brot zuzubereiten.
Die Braut würde über ihr zukünftiges Ich lachen. Warum die ganze Mühe? August weiß, dass sie beim Backen geholfen hat. Er würde verstehen, dass sie ihren Ring dabei abgenommen hat. Was sollte er sonst denken? Dass sie ihn für ein Stelldichein mit dem Besitzer von Thorne Manor abgenommen hat – Augusts ältestem und engstem Freund? Wie absurd!
Das ist das Ausmaß der Eifersucht meines Mannes. Die traurige Wahrheit ist, dass ich nichts getan habe, um ihm jemals Anlass zur Sorge zu geben. Ich würde nie etwas tun, da ich immer noch so sehr in ihn verliebt bin wie in unserer Hochzeitsnacht. Dennoch ruht sein wachsamer Blick ständig auf mir, wenn ich mit anderen Männern spreche – sogar mit seinem vertrautesten Freund, der mich nur wie einen lieben Ersatz für die jüngere Schwester behandelt, die er verloren hat.
Und so muss ich aus dem Bett schlüpfen, um durch die Nacht zu reiten und meinen Ehering zu holen, während ich bete – inständig bete –, dass mein Mann nicht aufwacht und merkt, dass ich weg bin.
Ich betrachte August erneut und meine Brust spannt sich an vor Liebe und vor Entschlossenheit, dass wir das überstehen. Das müssen wir. Ich habe diesen wunderbaren Mann an meiner Seite und werde ihn nicht so einfach wieder aufgeben.
Ich verlasse den Raum, um noch eine zweite Sache zu tun, bevor ich davonreite. Unwissentlich schaffe ich eine weitere Erinnerung. Auf Zehenspitzen schleiche ich in das Zimmer neben unserem, wo ich zu einem Kinderbettchen gehe. Unser Sohn, Edmund, schläft genauso fest wie sein Vater.
Ich beuge mich über ihn und atme seinen Geruch ein, seinen milchigen Atem, seine süße Haut. Ich kann nicht widerstehen, mit den Lippen über seinen Kopf zu streichen, der bereits dicht mit den Locken seines Vaters bedeckt ist. Ein leichter Kuss, dann entferne ich mich und flüstere ein Versprechen, dass ich zurück sein werde, bevor er aufwacht.
Es ist nicht einfach, aus dem Haus zu kommen. Es ist der Stammsitz der Courtenays, ein Landhaus, in das in fünf unserer Londoner Stadthäuser passen würden. Da ich in London aufgewachsen bin, hat es mich geschaudert, als August mich zum ersten Mal auf das Anwesen seiner Familie in Yorkshire eingeladen hat. Im Nachhinein hat er gescherzt, dass ich mich erst bei diesem Besuch in ihn verliebt hätte und dass es die Landschaft war, die mein Herz wirklich erobert hat. Das stimmt nicht, aber Courtenay Hall hat eine heftige Leidenschaft für einen Ort entfacht, wie ich sie nie zuvor erlebt habe. Es ist das Anwesen seines ältesten Bruders, doch der Earl verabscheut das Landleben und wir dürfen hier den Sommer verbringen.
Für ein Haus dieser Größe braucht man natürlich Personal und ich muss es so heimlich verlassen, wie ein Einbrecher es betreten würde. Früher waren die Bediensteten daran gewöhnt, dass sich ihre junge Herrin zu einem Mondscheinritt hinausschleicht. Ich bin unter dem Sternenhimmel über die weiten Wiesen und durch die Wälder des Grundstücks galoppiert und keinem einzigen Menschen begegnet, der sich hätte bemüßigt fühlen können, den Hut zu ziehen oder der mein vom Wind zerzaustes Haar mit Argwohn betrachtet hätte. Nach etwa einer Stunde bin ich zurückgekehrt und ins Bett gekrochen, trunken von Mondlicht und Freiheit, und August spürte die Kühle meines Körpers, drehte sich auf die Seite und begrüßte mich mit einem Liebesspiel.
Vergangenen Monat, kurz nachdem wir auf dem Landgut angekommen waren, habe ich mich für einen Ausritt davongeschlichen und August ist mir gefolgt. Er hat sich im Schatten gehalten, und als ich ihn entdeckt habe, hat er beteuert, er sei nur um meine Sicherheit besorgt gewesen. Wäre das der Fall gewesen, hätte er es gesagt und wäre mit mir geritten. Nein, er ist mir gefolgt.
Ich fürchte mich zwar nicht davor, vom Personal erwischt zu werden, aber ich fürchte mich davor, dass es meinen Mondscheinritt August gegenüber erwähnt. Doch ich bin geübt im Herausschleichen und schon bald sitze ich auf meinem Pferd und reite aus dem Anwesen, ohne dass jemand es bemerkt hätte.
Thorne Manor liegt leider nicht hinter dem nächsten Hügel oder der nächsten Senke. Es ist fast sieben Meilen entfernt. Ich bin froh, dass ich einen jungen und gesunden Wallach habe und dass die Straßen um diese Zeit leer sind.
Als ich mich dem Dorf High Thornesbury nähere, höre ich den Klang von Stimmen im Wind. Betrunkene Männer. Ich umrunde das Dorf in einem ruhigeren Tempo und lasse dann mein Pferd den Hügel hinauf zum Herrenhaus galoppieren.
Es ist dunkel und leer. William hat in London etwas zu erledigen und so hat August darauf bestanden, dass er unsere Kutsche nimmt. Ja, ein Lord, insbesondere einer mit Williams Einkommen, sollte seine eigene Kutsche haben, aber unser William ist noch exzentrischer als ich. Was das Hauspersonal angeht, so hat er nur seine betagte Haushälterin und seinen Stallknecht. Er hat ihnen zwei Nächte frei gegeben, damit sie bei ihren erwachsenen Kindern in High Thornesbury sein können.
Ich stelle mein Pferd nicht in den Stall. Ich werde es vor dem Ritt zurück kurz striegeln. Vorläufig lasse ich den Wallach an der Wassertränke stehen und schlüpfe dann durch die Küchentür, die sich nicht richtig schließen lässt und nur durch ein gewisses Anheben und Ziehen geöffnet werden kann.
Mein Ziel ist weniger als zehn Schritte von der Tür entfernt, wo ich der Haushälterin, Mrs. Shaw, geholfen habe. Backen ist meine Leidenschaft. Es war auch meine Rettung, nachdem meine Eltern gestorben waren und ihre drei Töchter mit einem komfortablen Zuhause und einem kleinen Einkommen, aber ohne Geld, das sie in eine Ehe hätten einbringen können, zurückgelassen worden waren. Als Älteste habe ich es als meine Aufgabe angesehen, für meine Schwestern zu sorgen. Es gab einen einfachen und akzeptablen Weg: einen von mehreren reichen Verehrern heiraten. Oder einen schwierigen und skandalösen: meine eigene Bäckerei zu eröffnen. Natürlich habe ich mich für Letzteres entschieden.
Mein Ehering ist noch genau da, wo ich ihn hingelegt habe, hinter einem Behälter mit Mehl. Ich streife ihn über meinen Finger, als über mir ein Schrei ertönt, und zucke zusammen, wobei meine Reitstiefel auf dem Küchenboden ausrutschen.
Mit großen Augen drücke ich mich in den Schatten, als etwas auf den Boden über mir poltert. Ich halte den Atem an und schätze den Abstand zwischen mir und der Tür ein. Ein weiteres Klopfen ertönt und ich wende mich stattdessen einem von der Decke hängenden Fleischerbeil zu.
Ich sollte weglaufen. Das wäre das Vernünftigste in dieser Situation. Doch ich muss immer wieder an diesen Schrei denken. Es war ein hoher Schrei, wie der einer verängstigten Frau.
William ist weg und die meisten in High Thornesbury wissen das sicherlich. Wie viele wissen auch von der kaputten Küchentür? Bei einem Mann mit Williams Ruf würde man denken, dass er nicht sonderlich vertrauensselig ist. Oder vielleicht erwartet er, dass gerade dieser Ruf Eindringlinge fernhält.
Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Kein Einbruch, sondern ein Mann, der eine Frau in dieses leere Haus gelockt hat.
Ich berühre kurz den Griff des Beils, wende mich dann aber von einer so scharfen und unhandlichen Waffe ab. Stattdessen nehme ich einen Schürhaken von der Feuerstelle. Dann gehe ich leise zur Treppe.
Auf halbem Weg nach oben ertönt erneut ein Geräusch, das mich innehalten lässt, und mein Verstand ringt darum zu ermitteln, was ich da gehört haben könnte. Es ist hohl und eindringlich, halb jaulend und halb klagend, und lässt mir die Nackenhaare zu Berge stehen.
Ich gehe langsamer die Stufen hinauf, den Schürhaken fest mit beiden Händen haltend, den Blick angestrengt, um in der nahen Dunkelheit sehen zu können.
Ich erreiche das obere Stockwerk und das Geräusch wird leiser, eindringlich und trostlos. Daraufhin schlucke ich und gehe weiter, bis ich eine offene Tür erreiche. Mondlicht durchflutet den kleinen Raum. Ein Kinderzimmer, doch ich bin oft genug in diesem Haus gewesen, um zu wissen, dass es Williams Zimmer ist. Das Schlafgemach seiner Kindheit, das er unerklärlicherweise unbedingt behalten wollte.
Das Geräusch ertönt wieder, aber es ist niemand zu sehen. Es scheint von der Nähe des Bettes gekommen zu sein. Liegt vielleicht jemand auf dem Boden darunter und ist verletzt? Ich umklammere den Schürhaken fester und gehe zwei Schritte, wende mich dann aber der Truhe am Fußende von Williams Bett zu. Eine Aufbewahrungstruhe.
Höre ich da ein gefangenes Kind?
Den Schürhaken immer noch in der Hand haltend, hebe ich den schweren Deckel der Truhe hoch und sehe darin ein jämmerlich miauendes Kätzchen.
»Wer hat dich da reingesteckt?«, flüstere ich und will gerade den Deckel ganz hochheben, als …
Die Truhe verschwindet. In der einen Sekunde halte ich den halb geöffneten Deckel fest und starre ein Kätzchen an, und in der nächsten verschwindet der Deckel und lässt mich taumeln. Ich stolpere nach vorn und halte mich am Fußende des Bettes fest.
Dann drücke ich mich wieder hoch und schüttle den Kopf, während ich mich weiterhin an etwas klammere.
Ans Fußende eines Bettes, das nicht mehr das von William ist.
Das Bett ist lediglich ein leerer Rahmen, der zur Seite gekippt ist, in einem Raum, der stinkt, da er nicht benutzt wird. Der Mond scheint durch ein Fenster ohne Vorhänge.
Ich sehe mich um. Vom Grundriss her ist es dasselbe Zimmer, aber in seiner Einrichtung völlig anders. Es gibt ein schmales Bettgestell und eine seltsame weiß gestrichene Kommode. An einer Seite steht ein Waschtisch mit Behältern, die alle mit sehr viel Staub bedeckt sind.
Ich gehe zum Waschtisch und hebe einen hoch. Das Material sieht aus wie rotes Glas, ist jedoch anders als alles, was ich je gesehen habe, leicht und mit glänzendem, bedrucktem Papier überzogen, das mit der Zeit verblasst ist. In großen Buchstaben steht darauf Sonnencreme. Das Bild … Ist das eine Fotografie einer jungen Frau?
Ich drehe den Behälter ins Licht und lasse ihn beinahe fallen. Auf der Fotografie ist eine nackte Frau zu sehen. Ich starre sie blinzelnd an. Nein, sie ist nicht völlig unbekleidet, könnte es aber genauso gut sein, denn sie trägt lediglich blaue Stofffetzen über ihren Brüsten und ihrem Unterleib. Sie steht an einem Strand und hält eine Art Kugel in der Hand. Ich kann nur entsetzt und fasziniert hinstarren.
Behutsam stelle ich den Behälter ab und nehme einen zylinderförmigen aus demselben seltsamen Material in die Hand. Er trägt die Aufschrift Dr. Pepper. Eine Art Heilmittel also. Ich öffne den Verschluss und enthülle ein süßlich riechendes Getränk. Ein dritter Behälter ist weiß und hat einen leuchtend rosa Deckel. Auf dem Hochglanzpapier sind Lippen und Herzen abgebildet. Die Aufschrift besagt Teen Spirit und verkündet, dass es sich um ein Deodorant handelt. Ein Deodorant? Ich habe schon von so etwas gehört. Damit kann man den Geruch von Dung überdecken.
Offensichtlich schlafe ich. Ich habe nur geträumt, dass ich aufgewacht und nach Thorne Manor geritten bin. Zwar war ich noch nie ein fantasievoller Mensch – meine Schwester ist die Schriftstellerin –, aber in diesem Traum ist anscheinend meine latente Kreativität zum Vorschein gekommen.
Ich stelle das Deodorant ab und verlasse den Raum. Es siehttatsächlich wie Thorne Manor aus. Gemälde säumen den Korridor, aber es ist zu dunkel, um sie erkennen zu können und ich halte nicht inne, um genauer hinzusehen. Unten schlägt eine Uhr die Stunde. Es ist unverkennbar dieselbe Standuhr.
Ich erreiche die Eingangstür. Auch sie ist unverändert. Zumindest scheint es so, bis ich eine merkwürdige Verriegelungsvorrichtung über dem Türknauf bemerke. Als ich den Griff drehe, gleitet ein Metallbolzen zurück. Der Türknauf selbst hat sich auch verändert, aber nach ein paar Versuchen lässt sich die Tür mit einem Klicken öffnen.
Ich ziehe die schwere Holztür auf und blicke auf einen Vorgarten, der so wild und überwuchert ist, dass Mister Shaw Herzversagen bekommen würde. Ich gehe eine Treppe hinunter zu einem Weg, der jetzt zu den Ställen führt, statt am Haus vorbei.
Mein Pferd ist nirgends zu sehen, aber ich erwarte es auch nicht mehr. Es handelt sich eindeutig um einen Traum und ich erforsche ihn aus Neugierde. Wenn ich aufwache, werde ich August eine schöne Geschichte erzählen können.
Sollteich ihm überhaupt davon erzählen? Was, wenn er sich fragt, warum ich von Thorne Manor geträumt habe? Mein Herz klopft. Wird es jetzt für immer so sein? Ich kann nicht einmal meine Träume mit meinem Mann teilen, weil ich befürchte, dass er etwas Unerwünschtes hineininterpretieren könnte?
Nein, wir werden dies überwinden. Es mag einige Zeit dauern, aber er wird sehen, dass er keinen Grund zur Eifersucht hat.
Ich überquere die Wiese und finde eine breitere Straße als in meiner Erinnerung. Am Fuße des Hügels erstrahlt High Thornesbury in einem unheimlichen Licht, das eine Kuppel über das Dorf wirft.
Fasziniert hebe ich meine Röcke hoch und gehe den Hügel hinunter. Es ist kein kurzer Spaziergang. Und es ist auch kein interessanter Weg. Alles scheint genau so zu sein, wie ich es in Erinnerung habe, bis ich um eine Ecke biege und einen metallenen Wegweiser entdecke. Er scheint vor einer scharfen Kurve zu warnen, was mich zum Lachen bringt. Jeder Narr kann die Kurve sehen. Es ist ja nicht so, dass ein Pferd um die Ecke kommt und die Kurve nicht wahrnimmt.
In der Ferne blökt ein Schaf, und eine Kuh antwortet. Ich lächle. Wenigstens das hat sich nicht geändert. Auch nicht die Brombeeren am Straßenrand, die bereits dicht mit roten Beeren bedeckt sind, die sich innerhalb eines weiteren Monats schwarz und süß färben werden. Die Luft riecht nach Heidekraut, nach dem Duft des Moors. Da ist noch etwas anderes, ein beißender Geruch, den ich nicht kenne, aber der des Heidekrauts überwiegt, zusammen mit dem weniger angenehmen Geruch von Schafskot.
Ich bin fast am Fuß des Hügels angelangt, als es donnert. Ich schaue nach oben, aber der Nachthimmel ist klar. Der Mond und die Sterne leuchten hell. Das Geräusch kommt immer näher und klingt wie das Knurren eines wilden Tieres. Ich taumle zurück, als aus dem Nichts Lichter auftauchen, zwei blendend helle Kugeln, die schneller auf mich zukommen als ein Pferd im vollen Galopp.
Es ist natürlich meine Fantasie. Eine neue Fantasie aus meinem Traum. Nach diesem ersten Schreckensmoment halte ich meine Füße an Ort und Stelle, entschlossen zu sehen, was mein Geist sich ausgedacht hat. Ich bin neugierig. Ja, das ist eine seltsame Reaktion auf eine Kreatur, die knurrend auf mich zustürmt. Aber ich will sie sehen. Ich möchte August eine Geschichte erzählen. Und auch meiner Schwester Miranda, die sie vielleicht zu einem kleinen Roman inspirieren könnte.
Im letzten Moment zerbricht meine Entschlossenheit. Diese Kreatur – ein tiefliegender, kutschengroßer Schatten – stürmt mit dämonischer Geschwindigkeit auf mich zu. Ihre Lichtkugeln blenden mich und eine leise Stimme in mir flüstert: »Was, wenn es kein Traum ist?« Ich werfe mich zur Seite und kämpfe mich durch ein Gewirr aus Hecken und Brombeeren, als die Bestie schreiend zum Stehen kommt.
Durch die dornigen Ranken hindurch beobachte ich, wie die Bestie Flügel ausbreitet, die zwei Männer ausspucken. Derjenige, der mir am nächsten ist, trägt eine blaue Hose, die so eng sitzt wie eine Reithose. Außerdem ein Hemd ohne Kragen, Ärmel, Knöpfe und keine Krawatte. Er sieht aus wie ein Landstreicher, unrasiert und mit wildem, ungeschnittenem Haar.
»Was denn?« Sein schattenhafter Begleiter wirft die Arme hoch. »Halten wir jetzt wegen Halluzinationen an?« In seiner Stimme schwingt der Yorkshire-Akzent mit, aber er ist nicht ganz richtig.
»Ich habe eine junge Frau auf der Straße gesehen«, sagt der andere. »Eine Blondine in einem blauen Kleid.«
Der erste Mann gluckst. »Wie die, die dich heute hat abblitzen lassen? Hast ein Bier zu viel getrunken und jetzt siehst du sie überall?«
»Das war ein lila Kleid. Dieses hier war blau. Ein langes, altmodisches Kleid.«
Sein Begleiter schnappt nach Luft. »O mein Gott, du hast sie gesehen!«
»Wen?«
»Die Geisterfrau des Moors.« Die schattenhafte Gestalt fuchtelt mit den Händen. »Buuuh! Sie ist gekommen, um dich zu holen!« Die Gestalt geht zurück in die Bestie. »Steig wieder in das verdammte Auto oder du gehst zu Fuß nach Hause!«
Der andere Mann kehrt zurück und die Bestie stürmt brüllend davon. Ich sehe ihr nach … und eile davon.
Ich renne zurück nach Thorne Manor, die Treppe hinauf in das seltsame, leere Zimmer, wo ich darauf warte aufzuwachen.
Aber ich wache nicht auf. Irgendwann schlafe ich stattdessen ein und verfalle in einen unruhigen Traum, in dem ich das Weinen meines Sohnes höre und ihn nicht finden kann. Dann wache ich auf und finde mich auf dem Boden dieses Schlafzimmers wieder, in einem Haus, das Thorne Manor ist und doch wiederum nicht.
Ich gehe der Sache nach. Das ist alles, was ich tun kann, außer mich schluchzend in eine Ecke zu verkriechen, was kaum eine Lösung wäre. Das Haus ist leer. Schon lange leer, obwohl die Einrichtung darauf schließen lässt, dass es nicht verlassen wurde. Und diese Einrichtungsgegenstände … sind so fremdartig wie das Haus selbst, vertraut und unbekannt zugleich.
Die Küche ist voll von Geräten, die ich nicht kenne und deren Zweck ich nicht ergründen kann. Außerdem enthält sie solche, die mir so vertraut sind, sodass ich sie wie Talismane streichle, die mich nach Hause bringen werden. Im ganzen Haus gibt es Dinge, die ich kenne, und solche, die ich nicht kenne. Irgendwie ist das schlimmer, als wenn es mir völlig fremd wäre. Es ist, als sähe ich ein Porträt meiner Eltern, das ihnen nicht ganz ähnlich sieht und mich mit Trauer, Sehnsucht und Frustration quält.
Ich finde Wasser und Essen und denke einen Tag und eine Nacht lang über meine Situation nach, bevor ich zu dem einzig logischen Schluss komme. Ich bin durch die Zeit gereist.
Später werde ich darüber lachen, wie lange ich gebraucht habe, um zu begreifen, was für jeden modernen Erdenbewohner offensichtlich ist. Zeitreisen sind so tief in moderne Erzählungen eingebettet, dass sie fast schon ein Klischee sind. Doch ich komme aus einer Welt, in der H. G. Wells und seine Zeitmaschine noch nicht geboren wurden. Ich habe sowohl Rip Van Winkle als auch Eine Weihnachtsgeschichte gelesen, in denen das Konzept des Zeitreisens gestreift wird, aber das ist nicht das, was ich erlebe.
Und doch bin ich in gewisser Weise mit dem Konzept in Berührung gekommen, was vielleicht das Einzige ist, was mich davon abhält zu denken, ich sei verrückt geworden.
Es war in meinen Flitterwochen. August und ich waren auf einem Schiff auf dem Weg nach Italien. Es war unser zweiter Tag dieser Reise und wir hatten unsere Kabine nur zum Essen verlassen. An diesem Morgen lagen wir nackt auf unserem Bett und die Meeresbrise wehte durch das offene Bullauge. Ich bemerkte, wie unglaublich es war, dass wir innerhalb weniger Tage nach Rom reisen konnten, und sinnierte darüber, wie viel schneller es wohl für unsere Urenkel wäre.
»Du solltest William danach fragen«, sagte August, schnitt einen Apfel in der Mitte durch und reichte mir eine Hälfte. »Ich glaube, er hat vielleicht ein geheimes Wissen über die Zukunft.«
»Es sieht ganz danach aus, bei seinem Talent für Investitionen.«
»Keineswegs ein Talent. Wie ich schon sagte, es ist geheimes Wissen.« Er rutschte näher und flüsterte mir ins Ohr, als wären wir nicht allein in unserer Kabine: »Ich glaube, er kannte einmal ein Mädchen aus der Zukunft.«
Daraufhin lachte ich unsicher. »Aus der Zukunft?«
Er rollte sich auf den Rücken. »In dem Sommer, als wir fünfzehn waren, war er unglaublich abgelenkt und hatte kaum noch Zeit für mich.«
»Keine Zeit für dich? Oder für deinen jugendlichen Unfug?«
»Unfug? Stimmt, ich war ein Schlingel und habe mich in verschiedene ungute Situationen gebracht.«
»Ungute Situationen«, murmelte ich. »Das ist ein Ausdruck, den ich noch nie gehört habe, wenn es um den Intimbereich einer Dame geht.«
Er verschluckte sich an einem Bissen Apfel und hustete ihn aus. Dann entgegnete er, mit einem Finger wedelnd: »Ich war ein sehr anständiger junger Mann, Rosie, der sich für sein Ehebett aufgespart hat.«
Das brachte mich so sehr zum Lachen, dass jemand an unsere Tür klopfte, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. August versicherte ihm, dass es uns gut ging.
»William hat also deine Gesellschaft gemieden«, sagte ich. »In jenem Sommer warst du damit beschäftigt, dich in ungute Situationen zu bringen, und er wollte sich dir nicht anschließen.«
August schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht auf deinen Köder eingehen, sondern sage nur, dass du kein gutes Bild über meine Jugend hast. William hat mich also verschmäht und da ich ein wenig eifersüchtig bin …«
Ich räusperte mich.
Er warf mir einen Blick zu. »Na gut. Sehr eifersüchtig. Ein Mann muss einen Makel haben, und das ist eben meiner.«
»Einen Makel?«
»Andere haben mehr. Ich habe nur einen.« Er hustete, um sein eigenes Lachen zu unterdrücken. »Und so, um meine Geschichte fortzusetzen, wurde ich eifersüchtig und habe beschlossen, den Grund für seine Ablenkung zu erfahren. Es war ein Mädchen.«
Ich keuchte. »Wahrhaftig? Ein junger Mann, der von einer jungen Frau abgelenkt wird. Was für eine Wendung in dieser Geschichte!«
Er klopfte mit einem Finger auf meinen nackten Po. »Du spottest, aber William war nicht ich und ich hatte nie erlebt, dass er mehr als leichtes Interesse am schönen Geschlecht gezeigt hätte. Und doch war er ganz hingerissen von einer heimlichen Liebe. Noch bemerkenswerter war das Mädchen selbst, das sich auf die seltsamste Weise gekleidet und gesprochen hat.«
»Weil sie«, ich packte ihn am Arm, die Augen spöttisch geweitet, »aus der Zukunft gekommen ist!«
»Nein, zuerst dachte ich, sie könnte Französin sein. Oder Amerikanerin. Oder vielleicht eine Elfe aus seinem geliebten Moor. Nach jenem Sommer ist William in düstere Grübeleien verfallen und mir wurde klar, dass die Affäre ein unglückliches Ende genommen haben muss. Also habe ich beschlossen, ihn nicht mehr mit seiner geheimnisvollen drallen Brünetten zu necken. Dann, Jahre später, als seine Mutter gestorben war und er gemerkt hatte, dass die Familienkasse fast leer war, hat er begonnen, in neumodische Ideen zu investieren, die zum Scheitern verurteilt schienen.«
»Doch sie hatten Erfolg und so hat er die Familienkasse bis zum Überlaufen gefüllt. Und das ist irgendwie ein Beweis dafür, dass dieses Mädchen aus der Zukunft gekommen ist …?«
»Sie hat ihm Informationen überdie Zukunft gegeben. Über Erfindungen, die noch kommen werden.«
»William Thorne hat sich also in ein Mädchen aus der Zukunft verliebt, das ihm zwar das Herz gebrochen, aber geheimes Wissen über ihre Hochkultur mit ihm geteilt hat.« Ich schaute ihn an. »Bist du sicher, dass sie keine Französin war?«
Er lachte und zog mich zu sich, um mich zu küssen. Und das war das Ende des Gesprächs, denn wir setzten unsere Flitterwochen fort und vergaßen prompt alles andere.
Ich lasse immer noch nicht Augusts Spekulationen als offensichtliche Antwort gelten. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt der Geschichte, der mich dazu zwingt, darüber nachzudenken.
August hat die Möglichkeit, durch die Zeit zu reisen, nicht nur als hypothetische Möglichkeit angesprochen. Er hat von William Thorne erzählt, der auf Thorne Manor ein seltsames Mädchen kennengelernt hat. Ein Mädchen mit seltsamer Kleidung und seltsamer Ausdrucksweise, das William versteckt gehalten hat. Ein Mädchen, von dem August glaubte, es sei durch die Zeit gereist.
Ein Mädchen, das durch die Zeit nach Thorne Manor gekommen ist. Dort habe ich eine Truhe geöffnet und bin in das staubige und verlassene Schlafzimmer eines Mädchens gestolpert.
In diesem Moment erinnere ich mich an das Kätzchen. Ich kehre ins Schlafzimmer zurück und erkenne im Tageslicht deutlich winzige Katzenspuren auf dem staubigen Boden. Spuren, die bis zum Fußende des Bettes führen, und dann verschwinden.
Ein Kätzchen aus der Zukunft, das irgendwie durch die Zeit gereist ist und in einer Truhe gefangen wurde, die es in seiner Welt nicht gibt. Es schreit um Hilfe und ich komme angerannt, nur um in die andere Richtung durch die Zeit zu reisen.
Das ist sowohl völlig vernünftig als auch völlig lächerlich. Doch wenn es Zeitreisen gibt, ist es vielleicht wie mit der Hefe – eine unerklärliche, aber nachgewiesene chemische Reaktion. Man füge die Hefe den richtigen Zutaten hinzu, mische sie in der richtigen Umgebung und schon kann man Teig auf magische Weise aufgehen lassen. Wenn man einem Haus ein Portal verpasst und die richtigen Umstände hinzufügt, kann man durch die Zeit reisen.
Irgendjemand hat in grauer Vorzeit entdeckt, dass Hefe den Teig aufgehen lässt. Schon Jahrhunderte vorher haben Menschen ungesäuertes Brot gegessen. Ist es nicht möglich, dass ich selbst eine Entdeckung gemacht habe? Eine, die vor mir von einem Mädchen gemacht wurde, das einen Jungen aus einer anderen Zeit kennengelernt und sich in ihn verliebt hat und dann in seine eigene Zeit zurückgekehrt ist?
Die Lösung ist also offensichtlich. Die Umstände wiederherstellen und zu meinem Mann und meinem Kind zurückkehren.
Ich setze mich an die Stelle, die genau zu meinen staubfreien Fußabdrücken passt. Und dort stehe ich, während die Uhr unten vier Mal schlägt.
Ich bin angekommen, kurz bevor die Standuhr drei Uhr morgens geschlagen hat. Vielleicht ist das Timing also der Schlüssel. In dieser Nacht stehe ich von eins bis fünf Uhr an dieser Stelle. Das wiederhole ich eine Woche lang jede Nacht. Dann denke ich, dass vielleicht der Mond eine Rolle spielt, und warte, bis er sich im gleichen Abschnitt des Zyklus befindet, und versuche es erneut.
Ich trage dasselbe Kleid. Ich stelle mich hin, als würde ich eine unsichtbare Truhe öffnen. Ich halte meine Mimik so, als ob ich ein Kätzchen sehen würde. Nichts funktioniert.
Sechs Wochen lang versuche ich, nach Hause zu kommen. Wenn ich etwas zu essen brauche, gehe ich auf Nahrungssuche oder überfalle nachts die Gärten der Dörfer. Tage und Wochen kommen und gehen. Ich aber stecke in einem leeren Haus fest, weine mich in den Schlaf, träume von meinem Mann und meinem Kind und werde zu einem bloßen Schatten meiner selbst.
Ich bin hier und das Kätzchen kommt nicht zurück. Und als sechs Wochen vergangen sind, beginne ich zu verstehen, was das bedeutet.
Ich kann nicht nach Hause zurückkehren.
Das lässt mir zwei Möglichkeiten. Mit der Sehnsucht verblassen und in den Wahnsinn abdriften, während ich in diesem leeren Haus bleibe. Oder ich kann mir hier ein Leben aufbauen. Eines, in dem ich die Hoffnung nie aufgebe, in dem ich nie aufhöre, mich um die Rückkehr zu meiner Familie zu bemühen.
Ich bleibe, bis der zweite Wechsel der Mondphase mich ebenfalls nicht nach Hause bringt. Dann trockne ich meine Tränen und verlasse Thorne Manor.
Ich bin zwar nicht die Schriftstellerin in der Familie, aber ich könnte einen ganzen Roman über mein erstes Jahr im einundzwanzigsten Jahrhundert schreiben. Es wäre eine Abenteuergeschichte, ein Krimi, eine Tragödie, eine Farce und bisweilen auch eine Horrorgeschichte.
Auf schreckliche Weise ist es der frühe Tod meiner Eltern, der es mir ermöglicht, in dieser neuen Welt zu überleben. Wir mögen wenig Geld gehabt haben, aber unsere Eltern haben dafür gesorgt, dass es ihren Töchtern an nichts fehlt. Unsere Mutter hat uns unterrichtet. Unser Vater hat Nachhilfelehrer eingestellt, wenn wir das nötige Kleingeld hatten. In der Küche hatte ich freie Hand, auch wenn ich ein kleines Vermögen an Zutaten ruiniert habe, um neue Rezepte zu testen.
Wir wurden auch in anderer Hinsicht verwöhnt. Die Verwandten atmeten erleichtert auf, als ich mich dem heiratsfähigen Alter näherte. Hier lag eindeutig die Lösung für die finanziellen Sorgen meiner Eltern. Ich mochte ein seltsames Mädchen sein, aber verliebte junge Männer verfassten bereits Oden über meine zarte Schönheit. Ich könnte bald verheiratet werden, und zwar mit einem wohlhabenden Gentleman, der seine Großzügigkeit auch auf meine Schwestern ausdehnen und ihnen helfen würde, eine ebenso gute Partie zu machen.
Ein vernünftiger Plan. Aber wenn meine Eltern vernünftige Menschen gewesen wären, wären ihre Töchter nicht ohne Mitgift geblieben. Meine Eltern waren keine Dummköpfe. Sie waren auch nicht verschwenderisch. Sie waren etwas, das in der Gesellschaft noch weniger akzeptiert wurde. Romantiker.
Mein Vater war der zweite Sohn eines Baronets, dessen einzige Chance, ein Leben als Gentleman zu führen, darin bestand, entweder eine gute Ehe zu führen oder Karriere zu machen. Stattdessen wurde er Arzt und heiratete die Tochter seines Mentors. Er war zwar ein hervorragender Doktor, teilte aber die Wohltätigkeit seiner Frau und bestand – wie ihr Vater – darauf, den Patienten nur das in Rechnung zu stellen, was sie sich leisten konnten. Wir waren alles andere als mittellos, aber meine Schwestern und ich waren oft die einzigen Mädchen auf einer Party, die die Mode der vergangenen Saison trugen. Schlimmer noch, wir schämten uns nicht im Geringsten dafür.
Meine Eltern hatten aus Liebe geheiratet und haben eine glückliche Ehe geführt, und das sollte auch meine Mitgift sein: die Freiheit, den Mann meiner Wahl zu heiraten. Und damit hatte ich es absolut nicht eilig.
Hätten sie bis zu meiner Hochzeit gelebt, wäre ich direkt von ihrem Haus in das meines Mannes gezogen und hätte mir nie Gedanken über die unzähligen Dinge machen müssen, die ein unabhängiges Leben mit sich bringt. Wäre ich diese Frau gewesen, hätte ich mein erstes Jahr im einundzwanzigsten Jahrhundert wohl kaum überlebt. Stattdessen hatte ich meine Eltern verloren, als ich neunzehn war, allein und unverheiratet, mit zwei jüngeren Schwestern, für die ich sorgen musste.
Selbst mit dieser Erfahrung fühle ich mich in dieser neuen Welt wie ein Baby, das seine ersten Gehversuche macht, das jeden Schritt mit Sorgfalt und Bedacht setzt und ständig seine Umgebung bewertet und analysiert. Ich nehme an, es gibt Babys, die sich furchtlos auf den Weg machen und die Beulen und blauen Flecken als Teil des Prozesses hinnehmen. Ich überlege, überlege und überlege dann noch mehr.
Das erste Jahr ist ein quälend langsamer Prozess des Lernens über meine neue Welt. Monatelang plündere ich Gärten, während ich herausfinde, wie ich am besten und sichersten eine Arbeit finden kann. Ich lebe weitere Monate in Schuppen, bis ich das Geld und das Wissen habe, um ein Zimmer zu mieten. Andere würden sich schneller bewegen, aber meine sorgfältige Planung ermöglicht dafür einen leichten Übergang. Ich mache keine Fehler, die mich zu einem Außenseiter machen. Fehler, die mich vielleicht in eine psychiatrische Anstalt gebracht hätten.
Ich integriere mich. Das ist das Wort, das für Neuankömmlinge in einem Land verwendet wird, und das ist es, was ich tue. Langsame und vorsichtige Integration, während ich mir immer wieder einrede, dass es nur vorübergehend ist.
Ich kehre jeden Monat nach Thorne Manor zurück, und zwar bei der richtigen Mondphase. Mit jedem Fehlschlag verstärke ich meine Abwehrkräfte gegen die Verzweiflung, bis zu dem Tag, an dem ich dort ankomme und das Haus bewohnt vorfinde. Als ich das sehe, zerbricht etwas in mir. Eigentlich war es keine Überraschung. Ich habe bemerkt, dass ein Hausmeister im vergangenen Monat alles vorbereitet hat. Es ist nicht einmal ein unüberwindbares Hindernis. Die neue Besitzerin hat die Schlösser nicht ausgewechselt und ich habe einen Schlüssel nachmachen lassen, den ich in einer Küchenschublade gefunden habe. Doch während das Haus in seine neue Lebensphase eintritt, zieht es das Leichentuch von einem Spiegel zurück, den ich sorgfältig verdeckt gehalten habe, und weigert sich, die Realität anzuerkennen, die sich darin spiegelt. Die Realität, dass ich in meinem eigenen Leben nicht vorankomme. Dass zwei Jahre vergangen sind und ich meinem Zuhause nicht näher gekommen bin als in jener ersten Nacht.
Dieser Spiegel zeigt auch eine zwei Jahre ältere Frau. Eine Mutter mit einem Sohn, der jetzt drei Jahre alt sein wird. Eine Ehefrau mit einem Ehemann, der …
Ich habe mich so sehr bemüht, diesen Satz nicht zu beenden. Mich nicht zu fragen, was August vermutet, was mit mir passiert sein könnte. Ich habe mir eingeredet, dass die Zeit in ihrer Welt vielleicht stehen geblieben ist, und wenn ich zurückkehre, wird es immer noch dieselbe Nacht sein. Meine Jahre in der Ferne werden ein Abenteuer gewesen sein, an dem ich gewachsen bin und bei dem ich so viel gelernt habe. Ich werde nicht mehr die junge Braut sein, die von Augusts Eifersucht eingeschüchtert und verwirrt ist, sondern eine Frau des einundzwanzigsten Jahrhunderts mit den Fähigkeiten und dem Selbstvertrauen, das Problem zu lösen. Um meine Ehe zu retten, ohne mich dabei zu verlieren.
Eine schöne Fantasie. Und die Realität? Die Realität ist, dass mein Gefühl mir sagt, dass die Zeit in dieser Welt nicht stehen geblieben ist. Mein kleiner Sohn ist jetzt ein kleiner Junge und hat höchstwahrscheinlich keine Erinnerung an mich. Mein Mann wird denken, ich sei weggelaufen, hätte ihn verlassen und dass seine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden seien.
Ich habe mich geweigert, mich diesen Dingen zu stellen, weil sie eine alles verzehrende Panik in mir auslösen. Mein Sohn hat mich vergessen, mein Mann schmäht und hasst mich, und ich kann nichts dagegen tun.
Ist August weitergezogen? Hat er eine neue Frau für sich und eine Mutter für Edmund gefunden? Der Gedanke löst Empörung aus. Seine Frau ist am Leben! Edmunds Mutter ist am Leben! Doch wenn ich in der kalten Dunkelheit der Nacht darüber nachdenke, muss ich mich einer ebenso kalten und dunklen Wahrheit stellen. Ich hoffe beinahe, dass August weitergezogen ist. Um seinetwillen. Um Edmunds willen.
Ich möchte nicht, dass sie für immer um mich trauern. Ich will nicht, dass dieser Platz in ihrem Leben für immer unbesetzt bleibt. Wenn ich nicht nach Hause zurückkehren kann, möchte ich, dass August eine Frau gefunden hat, die ihn glücklicher macht, als ich es getan habe. Eine Frau, die seine Dämonen zum Schweigen bringen kann. Eine Frau, die meinen Sohn wie ihren eigenen lieben wird.
Und was bedeutet das für mich? Bleibt die Frau im Spiegel für immer eingefroren? Alternd, aber in dieser Welt gefangen? Atmend und existierend, aber niemals wirklich lebendig? Allein und einsam? Etwas, das ich August niemals wünschen würde?
Ist es Zeit für mich weiterzuziehen? Es wird mehr als ein Jahr vergehen, bis ich bereit bin, diese Frage zu beantworten.
* * *
Dies ist das vierte Jahr. Mein Sohn ist gerade fünf geworden. Mein Mann wird bald vierzig. Ich selbst habe meinen einunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Ich bin im einundzwanzigsten Jahrhundert und werde es vermutlich nie wieder verlassen können. Fast bin ich bereit, dies schonungslos anzuerkennen. Ich bin in meiner Bäckerei und blicke auf einen Mann, der Teil meiner Zukunft in dieser Zeit werden könnte.
Vielleicht aber auch nicht. Beides scheint gleich wahrscheinlich. Ich kenne ihn nicht sonderlich gut. Möglicherweise stellen wir fest, dass wir nicht zusammenpassen. Aber es geht nicht so sehr um diesen Mann, sondern vielmehr darum, diesenSchritt zu tun.
Acht Worte. »Möchtest du später einen Tee mit mir trinken?« Selbst wenn nichts daraus wird, erkenne ich mit diesen Worten an, dass ich vielleicht nie wieder zu August und Edmund zurückkehren werde.
Der Mann – Noah – hat keine Ahnung, worüber ich nachdenke. Er tut so, als wolle er zwei Macarons auswählen. Seit über einem Monat kommt er jeden Nachmittag um genau dreizehn Uhr vorbei, um Macarons für seinen Nachmittagstee zu kaufen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt isst. Als er das erste Mal gekommen ist, um Süßigkeiten für seine Mutter zu holen, hat er erklärt, dass er selbst nicht viel von Gebäck hält. Das war offenbar, bevor er meine Macarons probiert hat.
Es sind ganz anständige Macarons. Allerdings nicht mein bestes Gebäck. Die zarten Mandelplätzchen mit Ganache liegen derzeit im Trend – und ich mache sie gut genug. Meine kleine Bäckerei hat Preise für meine Canelés und meine Marmeladentörtchen gewonnen, aber die Touristen wollen Macarons – und Noah offenbar auch. Er ist sich nur nie sicher, welche Geschmacksrichtung er haben möchte. Das ist eine Ausrede, um zu verweilen und mit mir zu plaudern. Es macht mir nichts aus, denn er ist ein ausgezeichneter Gesprächspartner.
Erinnern mich seine Besuche an Augusts Werben? Daran, wie mein Mann auf der Suche nach einem Geschenk in meinen Laden gekommen ist – natürlich für eine Geliebte – und ihn fast eine Stunde später mit einem Korb voller Gebäck verlassen hat, das nicht für seine Geliebte bestimmt war? Vergleiche ich Augusts Besuche mit denen von Noah und stelle fest, dass Letztere nicht mithalten können? Anregende Gespräche, gewiss, aber ohne den Charme, den Esprit und die schier überwältigende Präsenz von August, die mich schließlich überzeugt hatten.
Es ist nicht das Gleiche. Und ich will auch nicht, dass es das ist. Ich sehe Noah an, einen gut aussehenden, geschiedenen Fünfunddreißigjährigen mit einem sicheren Bürojob, einer eigenen Wohnung und einem freundlichen Auftreten, und ich weiß, sollte ich diesen Schritt machen wollen, wäre er der richtige Typ Mann dafür. Er ist sicher.
Ich möchte nicht behaupten, dass er langweilig ist. Das werde ich nicht. Auf einer Skala von eins bis zehn, wobei eine Eins tödlich langweilig ist, kommt Noah auf eine ganz respektable Sieben. Es ist nicht seine Schuld, dass August eine Zwölf war, und wenn ich ganz ehrlich bin und mich an die Turbulenzen und den Herzschmerz unseres letzten gemeinsamen Jahres erinnere, wäre ich auf lange Sicht vielleicht mit einer Sieben glücklicher. Genauso wie August, der, falls er eine neue Liebe gefunden hat, hoffentlich nun mit jemandem zusammen ist, der konventioneller ist und seine Eifersucht auf eine Weise besänftigen kann, wie ich es nicht konnte.
Noah beugt sich über den Tresen. Sein dunkles Haar fällt nach vorn, während er durch die Glasvitrine auf die bunten Macarons darin blickt. »Sie sind alle zu gut, Rosie. Das ist ja das Problem.«
»Ich sollte von jedem eines vorschlagen, aber ich bin eine schlechte Verkäuferin.«
Er lächelt. »Und so sehr sich mein Magen darüber freuen würde, meine Taille würde es nicht. Du solltest ab jetzt nur noch zwei Sorten pro Tag anbieten, damit ich mich nicht entscheiden muss.«
»Ist es das, was du willst?«, frage ich. »Zwei auswählen und dann wieder gehen?«
Rosalind Courtenay, flirtet Ihr etwa?
Ja, das tue ich, und als Noah den Kopf hebt, um meinem funkelnden Blick zu begegnen, verfärben sich seine Wangen. »Nein, im Grunde genommen möchte ich das ganz und gar nicht.«
Ich warte darauf, dass er mehr sagt. Er tut es nicht. Sein Blick wandert zu dem Ehering an meinem Finger. Zwar weiß er, dass ich Witwe bin, aber solange ich diesen Ring trage, respektiert er meinen Kummer. Wenn ein Schritt gemacht werden soll, dann muss ich ihn machen.
Wir sprechen stattdessen über die Lokalpolitik und ein bevorstehendes Festival, auf dem ich einen Stand haben werde. Ich überlege, was ich dort zusätzlich zu den Macarons verkaufen soll, und frage ihn um Rat. Wir unterhalten uns, bis sich eine Schlange bildet und meine Verkäuferin mir einen Blick zuwirft, der mich höflich um Hilfe bittet. Noah sieht es und entscheidet sich rasch, rücksichtsvoll wie immer.
Er ist kaum aus der Tür, als ich meine Entscheidung treffe. Ich werde ihn zum Tee einladen. Heute. Jetzt.
Ich bediene noch schnell einen Kunden, entschuldige mich dann bei meiner Assistentin und verspreche, mich zu beeilen. Ohne Schürze gehe ich durch die Hintertür und laufe durch die enge Gasse, um ihn abzufangen.
Er bewegt sich schnell. Seine große und schlaksige Gestalt schlängelt sich gekonnt durch die Menschenmengen in den Shambles. Touristen. Ich verdanke ihnen meinen Erfolg. Sosehr meine Backwaren auch gelobt werden mögen, es sind mein zentraler Standort und die Touristen, die es mir ermöglichen, die Miete für meinen kleinen Laden und meine Wohnung zu bezahlen. Und doch muss ich leider zugeben, bisweilen vor mich hin gemurmelt zu haben, dass das Fehlen von Touristenhorden eine Sache war, die im neunzehnten Jahrhundert definitiv besser war.
Dank seiner Größe und in seinem schnittigen Anzug bahnt sich Noah leicht einen Weg durch die Menschenmassen. Ich bin eine einen Meter fünfundfünfzig große, schlanke Blondine in einem Sommerkleid. Niemand macht mir Platz. Niemand nimmt mich überhaupt wahr. Nun ja, einige Männer schon, leider, aber nicht, um mir aus dem Weg zu gehen.
Ich schlängele mich durch die Menge, als das Kreischen eines Kindes meine Aufmerksamkeit erregt. Kinder – vor allem junge und besonders glückliche – haben immer diese Wirkung auf mich. Ich bin wie ein Jagdhund, der einen Wildvogel hört. Alles, was ich gerade tue, wird sofort unterbrochen, als ob dieser freudige Schrei irgendwie von meinem Sohn stammen könnte.
Dieses Mal ist es nicht einmal ein Junge. Es ist ein Mädchen von vielleicht achtzehn Monaten. Es hat in einem Schaufenster ein buntes Spielzeug entdeckt und sich fast aus den Armen ihres Vaters befreit, um es sich zu schnappen. Das bringt mich zum Lächeln, auch wenn mich ein Schauer durchfährt.
Ich will mich gerade abwenden, als die Stimme des Vaters das Gerede der Touristen durchbricht.
»Ja, ja, Amelia, das ist ein Spielzeug. Ein wunderschönes noch dazu und wir werden es uns genauer ansehen, sobald deine Mutter mir diese magische Bäckerei gezeigt hat, die offenbar noch magischer ist als all die anderen, die sie anbetet.«
Das Erste, was mir auffällt, ist der Name. Amelia. Ich habe ihn schon immer gemocht. Dann fällt mir der Tonfall des Mannes auf. Er ist seltsam förmlich. Andererseits auch wieder nicht. Fast wie eine Verspottung der Ausdrucksweise meiner eigenen Welt. Wie ein Schauspieler, der mit dieser vertraut ist und sie für einen humorvollen Effekt nutzt. Beides würde jedoch nicht meine Aufmerksamkeit erregen, wäre da nicht noch eine weitere Sache.
Diese Stimme.
Ich kenne sie. Langsam drehe ich mich um und flüstere: »William?«
Die Figur des Mannes, der vor dem Spielzeugladen steht, entspricht der von William Thorne. Gekleidet ist er natürlich so, wie ich Lord Thorne nie gesehen habe – in ein legeres Hemd und eine Hose, außerdem hat er eine zebragestreifte Babytasche über einer Schulter –, aber er ist groß und breitschultrig mit dunklem Haar, das sich im Nacken kräuselt. Und die Frau neben ihm, seitlich von mir abgewandt?
Ich erinnere mich an Augusts Worte in jener Nacht in unserer Kabine.
Also habe ich beschlossen, ihn nicht mehr mit seiner geheimnisvollen drallen Brünetten zu necken.
Die Frau bei William ist groß, hat kastanienbraune Locken und eine kurvenreiche Figur. Sie ist außerdem schwanger, und obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen kann, lässt mich ihre Figur an etwas denken. Sie gibt ihrem Mann einen Klaps auf den Arm.
»Wenn du dich über meine Vorliebe für Bäckereien lustig machen willst, William, solltest du vielleicht nicht jeden Abend Leckereien in die Wohnung bringen.«
»Lustig machen? Habe ich mich lustig gemacht? Nein, niemals. Ich gönne dir deine Leidenschaft für Gebäck gern. Ich wünsche mir nur, dass die magischste aller magischen Bäckereien, wenn du sie entdeckst, an einem anderen Ort als hier zu finden ist.«
Er dreht sich um und blickt eindringlich die schmale Kopfsteinpflasterstraße mit ihren niedlichen Geschäften und den Scharen von Touristen entlang. Ich muss lächeln, als er erschaudert. Seine Begleiterin verdreht die Augen. Ihre Antwort wird von vorbeigehenden Schülern in Harry-Potter-Roben verschluckt, die »Expelliarmus!« rufen.
Erst als die Schüler vorbeigegangen sind, bemerke ich, dass William sich umgedreht hat. Dass ich sein Gesicht sehe, und dass es ohne jeden Zweifel sein Gesicht ist. Und die Frau bei ihm ist sein Mädchen aus der Zukunft.
Letzteres mag eine wilde Vermutung sein. Schließlich ist dralle Brünette kaum eine ungewöhnliche Beschreibung. Doch als ich jetzt ihr Gesicht sehe, bin ich für einen Moment zurück im Thorne Manor des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Ich habe zwar zwei Monate dort gelebt, aber dem Haus selbst nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Besonders nicht den Gegenständen, die ein Haus zu einem Zuhause machen. Den Büchern in den Regalen, den Bildern an den Wänden, den Unterlagen auf dem Schreibtisch. Sie alle haben mich daran erinnert, dass ich in fremdes Eigentum, in den privatesten Bereich eines anderen eingedrungen war. Doch als ich in das Gesicht der Frau blicke, kann ich nicht leugnen, dass ich es schon einmal gesehen habe. Ein altes Foto auf Thorne Manor, das ein junges Mädchen mit seinen Eltern zeigt, alle in moderner Kleidung.
Diese Frau war einst ein Mädchen, das eine Verbindung zu Thorne Manor hatte. Eine Verwandte derer, denen es in der Gegenwart gehört hat. So hat sie William kennengelernt und ist durch die Zeit gereist, um mit ihm einen Sommer als Teenager zu verbringen.
Mehr als das: Ich kenne sie. Nicht das Mädchen, sondern die Frau. Ich sehe ihr Gesicht in voller Größe und erkenne sie blitzschnell. Sie ist in der vergangenen Woche dreimal in meine Bäckerei gekommen. Bei den letzten beiden Gelegenheiten haben wir uns unterhalten, aber schon beim ersten Mal ist sie mir aufgefallen.
Ich kann sie mir vorstellen, wie sie in meinem Laden steht und die Auslage für das Gebäck betrachtet, ihre Tochter auf der Hüfte. Sie ist mir aufgefallen, nicht weil sie schön oder ungewöhnlich war. Nein, weil sie glücklich war. Eine Mutter, die vielleicht fast ein Jahrzehnt älter ist als ich, mit einem Baby auf der einen Hüfte und einem weiteren in ihrem Bauch. Eine Mutter, die vor Zufriedenheit und Freude gestrahlt hat. Als ich sie gesehen habe, habe ich mich nach hinten zurückgezogen. Als ich das tat, sind sich unsere Blicke begegnet. Ihre Augen haben sich geweitet und ich dachte, es lag daran, dass ich mich zurückgezogen habe.
Als sie zwei Tage später wiedergekommen ist, wollte ich sie unbedingt bedienen und habe mich für meine erste Reaktion geschämt. Sie hat mir Fragen in einem Akzent gestellt, den ich fälschlicherweise für amerikanisch gehalten habe. Im Laufe unseres Gesprächs habe ich erfahren, dass sie eine Geschichtsprofessorin aus Toronto ist, verheiratet mit einem Engländer. Sie haben ein Sommerhaus in North Yorkshire, aber ihr Mann ist wegen eines Reitturniers in York und sie verbringen die Woche in einer Ferienwohnung.
Als sie gestern gekommen ist, musste ich lächeln und habe mich über den Vorwand gefreut, mit ihr zu plaudern. Ich habe ihr sogar meine Karte angeboten und gesagt, dass die Bäckerei in ganz Yorkshire liefert. Eigentlich stimmt das gar nicht, aber ich hatte das Bedürfnis, ihr das vorzuschlagen. Mir ist klar geworden, dass ich einen sehr wichtigen Teil eines befriedigenden Lebens ausgelassen habe: Gesellschaft. Danach habe ich gesucht, ob mit dieser Frau oder mit Noah. Kleine Schritte auf dem Weg zu einem erfüllteren Leben.
Jetzt, wo ich die Frau mit William sehe, weiß ich genau, warum sich ihre Augen am ersten Tag geweitet haben. Warum sie noch zweimal zurückgekommen ist und unbedingt mit mir sprechen wollte.
Sie weiß, wer ich bin.
Sie hat ein Porträt oder ein Foto von mir in meiner Welt gesehen. Ihr Mann war Augusts bester Freund. Sie würde wissen, dass seine Frau verschwunden ist, und sie könnte sogar meinen früheren Beruf kennen. Eines Tages betritt sie eine Bäckerei in York, und wen sieht sie da? Sie traut ihren Augen nicht, im wahrsten Sinne des Wortes, und so kommt sie noch zweimal und unterhält sich mit mir, während sich die Puzzleteile in ihrem Kopf zusammensetzen. Als sie zu dem Schluss kommt, dass ich tatsächlich Rosalind Courtenay bin, bringt sie William zur Bestätigung mit.
Ich beobachte sie. Ihr Gesicht ist William zugewandt und er strahlt so sehr wie sie. Tränen steigen mir in die Augen. Ich könnte mich nicht mehr für ihn freuen. Er ist ein lieber Freund und ein guter Mensch, aber stets hat ihn eine gewisse Traurigkeit umgeben. Jetzt ist sie verschwunden und William strahlt vor Freude. Ich möchte zu ihm laufen und meine Arme um seinen Hals werfen.
William. Liebster William. Ich bin es. Rosalind.
Doch meine Füße bewegen sich nicht. Ich starre nur und der Moment der Freude, ihn zu sehen, gefriert in meinem Bauch, während eine Träne über meine Wange kullert.
William.
Ich möchte zu dir rennen. Mich dir an den Hals werfen. Dich und deine schöne neue Frau um Hilfe anflehen. Du bist hier, in meiner Welt, und du kannst mich nach Hause bringen.
Sag mir, dass du mich nach Hause bringen kannst.
Was, wenn er das nicht kann? Was, wenn auch er hier gefangen ist? Aber für ihn wäre das ein Segen. Er hat hier eine Frau. Er hat eine Tochter, und ein weiteres Kind ist unterwegs. Er hat sein Haus und sogar seine geliebten Pferde. Sicherlich fehlt August ihm sehr, aber ansonsten bindet ihn nichts an diese andere Welt.
