Aargauer Grauen - Ina Haller - E-Book
NEUHEIT

Aargauer Grauen E-Book

Ina Haller

0,0

Beschreibung

Andrina ermittelt in ihrem exotischsten Fall. Unheimlich, spannend und voller Überraschungen. Ein Mann wird leblos in seiner Wohnung aufgefunden. Die Polizei geht von einem Herzinfarkt aus, doch dann werden an der Leiche seltsame Bissspuren entdeckt. Andrina und ihr Mann Enrico, in dessen Pharmaunternehmen das Opfer tätig war, stellen Nachforschungen an und stoßen schon bald auf die ungewöhnliche Mordwaffe: eine hochgiftige Spinne aus Australien. Kurz darauf verschwinden Betäubungsmittel aus Enricos Firma, und Andrina wird klar, dass auch sie selbst und ihre Familie in tödlicher Gefahr schweben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 388

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Ina Haller lebt mit ihrer Familie im Kanton Aargau, Schweiz. Nach dem Abitur studierte sie Geologie. Seit der Geburt ihrer drei Kinder ist sie »Vollzeit-Familienmanagerin« und Autorin. Zu ihrem Repertoire gehören Kriminalromane sowie Kurz- und Kindergeschichten.

www.facebook.com/autorininahaller

www.instagram.com/ina.haller.autorin/

www.inahaller.ch

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ebenso sind die Orte, an denen die Verbrechen stattfinden, nur Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich Rezepte und ein Glossar.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: arcangel.com/Karina Vegas

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-110-2

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Für Becca – härzleche Dank für die inspirierende Gschpröch

Prolog

»Es tut mir leid.«

Er hielt mir die Hand hin, die ich aber nicht ergriff. Stattdessen starrte ich ihn an. Sein Gesicht war fahl, und er stand da, als könnte er sich nicht aufrecht halten.

Er war ein guter Schauspieler, das musste ich ihm lassen. Jeder, der nicht Bescheid wusste, würde diesem Mistkerl die Qualen und innere Zerrissenheit abkaufen, die er zur Schau stellte. Aber ich wusste es besser.

Ich warf meiner Mutter einen Seitenblick zu. Sie stand mit durchgestrecktem Rücken neben mir, als habe sie einen Stock verschluckt. Nichts war von dem quirligen kleinen Energiebündel übrig geblieben. In der vergangenen Woche war sie um Jahre gealtert. Sie sah hager und zerbrechlich aus und machte den Anschein, als könnte ein leichter Windhauch sie umwehen. Das schwarze, wadenlange Kleid verstärkte diesen Eindruck.

Mein Blick wanderte und blieb an dem viereckigen Loch hängen. Die Urne konnte ich von meinem Standort nicht sehen, aber ich wusste, dass sie in dem Grab lag. Erst vor wenigen Minuten hatte ich eine weiße Rose in das Loch geworfen und meine Mutter gestützt, als ihre Knie nachzugeben drohten.

Er behielt die Hand ausgestreckt. Seinen flehenden Blick konnte ich fast nicht ertragen.

Du Schwein, hätte ich ihm am liebsten entgegengeschrien. Mörder!

Nach wie vor konnte ich mir nicht verzeihen, mich so in ihm getäuscht zu haben.

Ich riss mich zusammen, da ich kein Aufsehen erregen wollte. Ich hatte keine handfesten Beweise gegen ihn, obwohl ich mir seiner Schuld sicher war.

Meiner Mutter wäre es am wenigsten dienlich, wenn ich die Kontrolle verlöre. Das konnte ich ihr nicht antun.

Ich presste die Zähne aufeinander und ergriff seine Hand.

Seine Erleichterung war deutlich. »Danke«, sagte er kaum hörbar.

»Ich habe zu danken, dass du gekommen bist«, zwang ich mich zu sagen.

»Bitte lass mich wissen, wenn ich etwas für dich – euch tun kann. Immerhin war er … mein bester Freund.«

Von wegen bester Freund – verlogener ging es nicht. Dieser Glaube hatte meinem Vater das Leben gekostet.

Ich schaute ihm nach, wie er sich entfernte. Zuerst war der Gang schlurfend, wurde aber federnder, je näher er dem Ausgang kam. Beim schmiedeeisernen Tor war es, als würde er vor Erleichterung über den Boden schweben.

Wieso kam er ungeschoren davon? Das durfte nicht sein. Doch es fehlten die Beweise.

»Kommt er nachher nicht mit zum Essen?«, fragte meine Mutter so leise, dass es beinahe vom Rascheln des Laubes übertönt wurde.

Er drückt sich, lag mir zuvorderst auf der Zunge. »Ich denke nicht«, sagte ich stattdessen laut.

»Lass uns gehen«, flüsterte sie. »Die Leute warten.«

Der Leichenschmaus. Warum sie darauf bestanden hatte, konnte ich nicht nachvollziehen.

»Dein Vater hätte es sich gewünscht«, hatte sie mir erklärt. Ich teilte die Meinung nicht, hatte es aber dabei belassen.

Ich legte den Arm um meine Mutter, warf einen letzten Blick zum Grab und führte sie den gleichen Weg zum Ausgang, den er eben genommen hatte.

Sein Wagen war verschwunden. Feigling. Gleichzeitig nahm ein Entschluss in meinem Kopf Gestalt an. Wenn es die Polizei nicht schaffte, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, würde ich das tun. Zwar wusste ich nicht, wie, aber ich war mir sicher, mir würde etwas Passendes einfallen.

EINS

»Der Preis ist überrissen«, sagte Andrina, als sie mit Enrico das Geschäft verlassen hatte und sie gemeinsam zu seinem Auto gingen.

Anfang Woche hatte ihre fast dreißigjährige Waschmaschine ihren Dienst quittiert. Eine Reparatur wäre teurer als eine Neuanschaffung, hatte der Monteur erklärt. Enrico hatte einen Beratungstermin für heute Donnerstagabend abmachen können.

Das passte gut, da Andrina dienstags und donnerstags im Cleve-Verlag war, in dem sie als Lektorin arbeitete. Den Rest ihres Fünfzig-Prozent-Pensums erledigte sie im Homeoffice.

Enrico und Andrina hatten sich um kurz vor sechzehn Uhr in der Stadt verabredet.

»Das, was er angeboten hat, hat mich nicht überzeugt«, sagte Enrico und holte den Autoschlüssel hervor. Statt den Motor zu starten, trommelte er mit den Fingern auf das Steuerrad.

»Was ist?«, fragte Andrina.

»Wann müssen wir Rebecca abholen?«

»Heute gar nicht. Sie übernachtet bei Seraina.«

Wenn Andrina ihre Verlagstage hatte, kümmerte sich ihre Schwester Seraina um Andrinas und Enricos zweieinhalbjährige Tochter. Andrina war froh um diese Unterstützung. Heute löste Seraina das längst überfällige Versprechen ein, dass Rebecca bei ihr über Nacht bleiben durfte.

»Richtig«, sagte Enrico. »So haben wir unseren freien Abend.«

»Genau. Es hat mit der Reservation beim Chinesen geklappt.« Andrina schaute auf die Uhr. »Um halb acht müssen wir dort sein, also in drei Stunden.«

Nach wie vor startete er nicht den Wagen, sondern drehte sich um und schaute auf die Rückbank.

»Was ist los?«, wiederholte Andrina.

»Gregor Hartmann ist krank.«

Als sie am Mittag miteinander telefoniert hatten, hatte Enrico es erwähnt. Den Finanzchef von Enricos Pharmaunternehmen JuraMed musste eine üble Grippe erwischt haben.

»Ausgerechnet zum dümmsten Zeitpunkt«, hatte Enrico gesagt. Etwas stimmte mit dem Monatsabschluss beim Wareneinsatz nicht, und Gregor hatte realisiert, dass der Fehler bereits im Halbjahresabschluss unbemerkt geblieben war. Was falsch war, hatten sie bisher nicht finden können. Gregor hatte in der E-Mail, mit der er Enrico informiert hatte, gebeten, ihm den Laptop zu bringen. Er würde von zu Hause aus arbeiten.

»Ja?«, fragte Andrina, da Enrico nichts weiter sagte.

»Ursprünglich wollte ich Fadrina darum bitten, habe es aber vergessen. Als es mir wieder einfiel, war sie schon weg. Sie musste am Nachmittag früher gehen. Nun muss ich den Job übernehmen.« Er deutete auf die Rückbank.

Andrina bemerkte die zweite Tasche. »Dafür ist Zeit genug«, sagte sie.

Fünf Minuten später fuhren sie über die Kettenbrücke. Nein, dachte Andrina. Die Steinbrücke war der Ersatz für die alte Kettenbrücke und hieß Pont Neuf. Beim Kreisel nahmen sie die zweite Ausfahrt und bogen vor dem Feuerwehrdepot in das Aarepark-Quartier ab.

»Darfst du hier parken?« Andrina schaute auf die gelbe Markierung.

»Gregor hat mir gesagt, ich dürfe hier das Auto abstellen. Sonst müsste ich zahlen.« Er zeigte auf den Parkautomaten. »Möchtest du warten oder mitkommen?« Enrico griff nach der Laptoptasche.

»Ich komme rasch mit.«

Andrina und Enrico stiegen aus und gingen an dem Veloparkplatz im überdachten Bereich vorbei. Sie bogen in einen schmalen Weg ein und gingen zur Siedlung mit den dreistöckigen grauen Häusern. Zwischen den parallel angeordneten Hausreihen hatte es einen Rasen oder einen Kiesplatz mit Pingpong-Tischen und Schaukeln. Hecken bildeten einen Sichtschutz zu den Sitzplätzen im Parterre.

Andrina lief hinter Enrico zu einem Hauseingang. Von hier aus hatte sie Sicht auf die Aare und die Altstadt mit der Stadtkirche am gegenüberliegenden Ufer.

Die Glastür wurde von einem grauhaarigen Mann von innen aufgestoßen, und er trat zur Seite.

Andrina folgte Enrico in den ersten Stock. Vor der einen Wohnungstür stand eine schwarz gekleidete, hagere Frau, die kleiner als Andrina war. Sie streckte die Hand zur Klingel aus, schüttelte den Kopf und zog sie zurück, ohne auf den Knopf gedrückt zu haben. Einige Sekunden später wiederholte sie das Prozedere.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Enrico.

Die Frau fuhr herum.

»Was wollen Sie von Gregor Hartmann?«, fragte Enrico, als die Frau nichts sagte und ihn anstarrte.

»Er hat das Gemüse nicht reingenommen«, sagte sie und zeigte auf einen Papiersack, der auf der Fußmatte stand. »Er hat mich gestern gefragt, ob ich ihm heute Gemüse und Eier vom Hof mitbringen könne, an dem ich regelmäßig frische Produkte kaufe. Aber der Sack steht nach wie vor so da, wie ich ihn heute am frühen Nachmittag hingestellt hatte. Vielleicht ist Gregor noch nicht nach Hause gekommen.«

Andrina und Enrico schauten einander fragend an.

»Wer sind Sie?« Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust. Misstrauen hatte den Schrecken und die Verwunderung abgelöst.

Enrico stellte Andrina und sich vor und erklärte, warum sie gekommen waren.

»Das sieht Gregor ähnlich«, sagte die Frau. »Obwohl er krank ist, will er sich nicht schonen. Ich bin Lucia Widmer«, sie reichte Andrina und Enrico die Hand, »die Nachbarin.« Sie wies auf die gegenüberliegende Tür. »Das passt nicht zu ihm. Er hätte mir Bescheid gegeben, wenn er krank ist«, sagte sie.

»Kennen Sie Gregor gut?«, fragte Enrico.

Die Wangen der Frau färbten sich rosa. »Ja, nein. Wir unternehmen hin und wieder etwas zusammen. Wissen Sie, mein Mann ist vor vier Jahren früh – zu früh – gestorben, und Gregor hatte diese unschöne Trennung von seiner Frau. Das hat uns … zusammengeschweißt.«

Enricos Mundwinkel zuckten. Andrina bemühte sich um einen nichtssagenden Gesichtsausdruck.

»Wir waren verabredet. Ich wollte uns zur Feier des Tages etwas Feines kochen.«

»Er öffnet nicht?« Enrico zeigte auf die Tür.

»Nein. Ich mache mir Sorgen.« Lucia Widmer klopfte gegen die Tür. »Gregor?«

»Ist die Tür vielleicht offen?«, fragte Enrico.

»Nein. Aber ich habe seinen Schlüssel – wenn er nicht da ist. Damit ich Pflanzen gießen und den Briefkasten leeren kann.«

Wieso behielt sie den Schlüssel, wenn Gregor nicht in den Ferien war?

»Ich wollte aber nicht einfach reingehen.«

»Ich denke, das ist ein Notfall«, sagte Enrico.

Notfall, dachte Andrina. War das nicht übertrieben? Es konnte einen simplen Grund geben, weswegen er die Tür nicht öffnete oder das Telefon nicht abnahm: Er könnte schlafen, um sich auszukurieren. Auf der anderen Seite würden sie sich Vorwürfe machen, sollte er ernsthafter erkrankt sein und sie hätten nichts unternommen.

Lucia Widmer holte einen Schlüsselbund hervor, an dem vier oder fünf Schlüssel waren. Nervös spielten ihre Finger mit den einzelnen.

»Okay«, sagte sie.

»Gregor?«, rief sie, als sie die Wohnungstür geöffnet hatte. »Ich bin es.«

Keine Antwort.

Zögernd machte sie einen Schritt ins Innere und rief nochmals seinen Namen.

Andrina kam sich wie ein Eindringling vor, als sie hinter Enrico und Lucia die Wohnung betrat. Sie blieben in dem kleinen Entrée stehen. Obwohl aufgrund des Nebelwetters die Dämmerung bereits eingesetzt hatte, brannte kein Licht.

Lucia Widmer schaltete das Licht ein.

»Gregor?«, rief sie zum vierten Mal.

Auch dieses Mal kam keine Antwort.

Von ihrem Standort aus hatte Andrina einen direkten Blick ins Wohnzimmer, das wie der Eingangsbereich mit schwarzen Bodenplatten belegt war. Einer der drei Spots der Deckenlampe war darauf gerichtet. Sie erkannte im Wohnzimmer einen Teil eines hellgrauen Sofas und eines Glastischchens. An den weißen Wänden hingen wie neben der Garderobe, vor der Andrina stand, abstrakte farbenfrohe Bilder. Zu Andrinas Linken war eine Tür, hinter der sie das Gästebad vermutete.

Der Korridor führte ein Stück geradeaus, bevor er einen Knick machte.

»Gregor?«, rief Lucia Widmer von Neuem. »Ich bin es.«

Stille. Nicht einmal ihr Atmen war zu hören. Es war, als hielten alle gleichzeitig die Luft an.

»Vielleicht ist er nicht da«, sagte Enrico.

»Wo sollte er sein? Immerhin waren wir verabredet, und Ihrer Angabe zufolge ist er krank und konnte daher nicht zur Arbeit gehen. Da wird er kaum unterwegs sein.« Lucia Widmer klang entrüstet. Sie bog um die Ecke – zielgerichtet.

Enrico schien ähnlich unschlüssig wie Andrina zu sein. Er trat zur Tür, die ins Wohnzimmer führte, schaltete das Licht ein und schaute sich um. Andrina betrachtete eins der Bilder. Es war in Rot-, Gelb- und Blautönen gehalten. Schwarze Flecken waren unregelmäßig über die Leinwand verteilt. In dem für Andrina wirr anmutenden Muster konnte sie nicht erkennen, was das Bild darstellen sollte. Sie trat näher heran. Ein ungefähr ein Zentimeter großer rot-schwarzer Punkt bewegte sich über die Fläche, und Andrina zwinkerte. Der Punkt setzte den Weg vom linken zum rechten Bildrand fort. Nun erkannte Andrina, dass es sich um eine Spinne handelte, die über die Fläche krabbelte. Sie rümpfte die Nase und wich einen Schritt zurück. Die Spinne war stehen geblieben, und es war Andrina, als starrte diese sie an.

Andrina wandte sich dem nächsten Gemälde zu. Moment mal. Sie drehte sich zum ersten Bild zurück. Das konnte nicht sein. Vorsichtig beugte sie sich vor.

»Enrico, kannst du bitte herkommen?«

Enrico stieß sich vom Türrahmen ab, gegen den er sich gelehnt hatte.

Ein Schrei ließ sie zusammenfahren.

»Das war Frau Widmer«, sagte Enrico und eilte in die Richtung, in die Lucia Widmer vorhin verschwunden war. Andrina folgte ihm.

Lucia Widmer stolperte aus einem Raum heraus und verlor das Gleichgewicht. Knapp konnte Enrico sie auffangen. Sie klammerte sich an ihm fest. Schluchzer schüttelten ihren Körper.

»Ich habe geahnt, dass etwas nicht stimmt«, stammelte sie.

»Was ist …«, setzte Enrico an.

»Dort.« Sie löste sich von Enrico, stützte sich an der Wand ab und deutete in den Raum.

Andrina erblickte Gregor Hartmann auf dem Bett. Er lag auf dem Rücken und starrte mit aufgerissenen Augen zur Decke. Der Mund war wie zu einem Schrei geöffnet. Die Bettdecke war zur Hälfte auf den Boden gerutscht. Die andere Hälfte lag über ihm ausgebreitet. Mit den Händen hatte er sich daran festgekrallt.

Enrico trat ans Bett, legte die Finger gegen Gregors Hals und verharrte in dieser Position eine für Andrina erscheinende Ewigkeit. Als er aufschaute, war die gesamte Farbe aus seinem Gesicht gewichen.

Lucia Widmer stierte auf das Glas, das Andrina vor sie auf den Küchentisch stellte.

Sie hatten in Gregors Küche auf die Polizei gewartet. Die beiden Beamten waren wenig später eingetroffen, nachdem Enrico den Notruf gewählt hatte. Sie hatten kurz mit ihnen gesprochen und sie danach gebeten, die Wohnung zu verlassen, sich aber für Fragen zur Verfügung zu halten.

Sie waren in Lucia Widmers Wohnung gegangen. Enrico stand vor der halbhohen Küchenanrichte, die den offenen Küchenbereich vom Wohnzimmerteil abtrennte, und schaute auf einen imaginären Punkt an der Wand.

Gregor muss einen Herzinfarkt gehabt haben, dachte Andrina. Enrico hatte die Vermutung geäußert, Gregor sei schon länger tot. »Seine Haut war klamm und kalt«, hatte er Andrina zugeflüstert.

Lucia Widmers Schluchzer waren abgeebbt, und Stille hatte sie abgelöst. Mit der Stille kam Andrina weniger zurecht als mit der aufgelösten Frau.

Verstohlen musterte Andrina Küche und Wohnzimmer. Wie in Gregors Wohnung hatte es schwarze, längliche Bodenplatten. Die Wände waren beige gestrichen, wobei der Braunton der Wand hinter dem Tischchen mit dem Fernseher dunkler war.

Die beiden Wohnungen schienen gleich unterteilt zu sein.

Lucia Widmers Küchenmöbel waren ländlich rustikal und weiß lasiert, was zur übrigen Einrichtung in Andrinas Augen nicht passte. Die Küche erinnerte Andrina an ein Bauernhaus in Norddeutschland, in dem Enrico und sie bei einer Rundreise einmal übernachtet hatten. Die Wohnzimmereinrichtung dagegen war modern gehalten und machte einen kühlen Eindruck.

Alles war blitzblank geputzt. Auf der dunklen Anrichte standen ein Wasserkocher und eine Kaffeemaschine. Eine Schüssel mit grünem Salat befand sich davor, und auf dem Herd waren ein Topf und eine Bratpfanne. Ein Holzbrett mit geschnittenen Zwiebeln, ein Teller, auf dem zwei Steaks lagen, und eine Schüssel mit getrockneten Pilzen standen daneben. Lucia Widmer hatte offenbar mit den Vorbereitungen für das Nachtessen begonnen.

Wieso war sie während der Vorbereitungen zu Gregor gegangen? Andrina hätte das erst getan, wenn er nicht zum verabredeten Zeitpunkt gekommen wäre. Oder wollte er früher kommen, und hatten sie vorgehabt, gemeinsam zu kochen?

»Herr Bianchi?«, kam eine Männerstimme aus dem Entrée. »Frau Widmer?«

Lucia Widmer zuckte zusammen und bemühte sich, langsam aufzustehen.

»Ich übernehme das«, sagte Enrico und verließ die Küche.

Personen, die leise miteinander sprachen, waren zu hören. »Einige Fragen …«, meinte Andrina herauszuhören. Die Stimmen entfernten sich, und neue Stille setzte ein, die nur vom Brummen des Kühlschranks gestört wurde.

Andrina führte Lucia Widmer zu einem Sessel. Sie beugte sich vor und nahm deren Hände. Sie waren eiskalt.

Lucia Widmer rührte sich nach wie vor nicht, und Andrina wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte.

»Ich hätte früher nachschauen sollen«, sagte Lucia Widmer unvermittelt. »Den ganzen Tag hatte ich das Gefühl, es stimme etwas nicht. Warum habe ich nicht darauf gehört?« Sie holte zitternd Luft.

Fieberhaft überlegte Andrina, was sie darauf erwidern sollte. Mehr, als Lucia Widmers Hände zu halten, fiel ihr nicht ein, und sie verwünschte sich für die Hilflosigkeit.

»Ich selbst habe mich heute auch nicht gut gefühlt und bin nicht zur Arbeit gegangen. Absagen wollte ich unser gemeinsames Essen trotzdem nicht. Während ich im Bett lag, ist er gestorben, und ich habe nichts davon mitbekommen.« Ihre Finger schlossen sich fester um Andrinas Hände. »Wieso stirbt er einfach? Gregor war kerngesund«, fuhr Lucia Widmer fort. »Er trieb regelmäßig Sport und hat bei einigen Marathons mitgemacht. Beim letzten Hallwilerseelauf hat er zweieinhalb Stunden gebraucht.«

Das hatte Enrico einmal erwähnt. Andrina überlegte, ob Gregor Hartmann es übertrieben hatte.

»Gestern Morgen habe ich ihn zum letzten Mal gesehen, als ich zur Arbeit ging. Wir sind uns im Treppenhaus begegnet. Da ging es ihm wunderbar. Auch als wir nach dem Mittag kurz telefoniert haben. Da bat er mich, heute das Gemüse und die Eier mitzubringen. Gleichzeitig haben wir uns für heute Abend verabredet.« Sie löste eine Hand aus Andrinas und wischte sich über die Augenwinkel. »Wieso habe ich nichts bemerkt?«

Weil er dir nicht zeigen wollte, nicht fit zu sein. Hätte Gregor geahnt, wie es enden würde, wäre er zum Arzt gegangen, war Andrina überzeugt.

»Warum tut er mir das an und macht sich wie Hans aus dem Staub?«

Andrina brauchte einen Augenblick, bis sie begriff, dass Lucia Widmer von ihrem verstorbenen Mann sprechen musste.

»Kaum bin ich so weit, um …« Sie presste die Hände vor das Gesicht und schluchzte auf.

Andrina fühlte sich zunehmend hilfloser.

Es klopfte am Türrahmen. In der Tür, die zum Entrée führte, stand eine Polizistin. Eine zweite Frau erschien hinter ihr. Aufgrund der Kleidung musste es sich um eine Sanitäterin handeln.

»Ich möchte mit Frau Widmer sprechen«, sagte die Beamtin.

Ob Lucia Widmer brauchbare Hinweise liefern konnte, bezweifelte Andrina. Sie kam der Bitte der Beamtin nach und verließ das Wohnzimmer.

Andrina fand Enrico und einen Polizeibeamten im Treppenhaus vor. Bevor sie die Wohnungstür hinter sich schloss, hörte sie Stimmengemurmel.

»Das wäre es fürs Erste.« Der Beamte reichte Enrico die Hand. »Bitte halten Sie sich weiterhin zur Verfügung«, sagte er und wandte sich der Treppe zu.

***

»Hast du keinen Hunger?«, fragte Enrico.

»Wieso?«

»Du sortierst das Essen nur auf deinem Teller hin und her. Dabei liebst du Chinesisch. Und Ente erst recht.«

Sie hatten beschlossen, die Reservation beim »China House« in der Laurenzenvorstadt in Aarau nicht zu stornieren.

»Pekingente muss vorbestellt werden, und es wäre dem Wirt gegenüber unfair«, hatte Enrico gesagt. »Wir können gut eine Ablenkung brauchen.«

Sie waren direkt hergefahren und um zwanzig vor acht Uhr eingetroffen.

»Das Essen ist fein, aber ich habe keinen Appetit«, sagte Andrina.

»Dir ist wie mir die Sache mit Gregor auf den Magen geschlagen.«

»Ja.«

»Vielleicht war das Nachtessen …« Er brach ab, als die Kellnerin fragte, ob sie noch etwas wünschten. Andrina bestellte einen weiteren Jasmintee.

»Ich überlege die ganze Zeit, welche Anzeichen ich übersehen habe, dass es Gregor nicht gut ging, komme aber zu keinem Schluss«, sagte Enrico. »Gestern hat er nur erwähnt, nicht ganz fit zu sein und eine Erkältung sei vermutlich im Anzug. Ich gebe zu, überrascht gewesen zu sein, als ich heute Morgen seine E-Mail las. Ich denke, er hat selbst nichts geahnt, und er wäre nicht der Erste, den ein Schlaganfall oder Herzinfarkt überrumpelt hat.«

»Ist ein Herzinfarkt die bestätigte Todesursache?«

»Nein, es ist meine Vermutung, die ich dem Beamten ebenfalls mitgeteilt habe. Was soll es sonst sein?«

»Die Polizisten haben sich nicht dazu geäußert?«, hakte Andrina nach.

»Was der Amtsarzt festgestellt hat, hat man mir nicht gesagt. Ich habe gehört, wie ein Beamter einem anderen gesagt hat, Gregor solle in die Rechtsmedizin gebracht werden, damit eine Obduktion durchgeführt werden kann.«

»Eine Obduktion?«, fragte Andrina. »Die wird nur durchgeführt, wenn der Amtsarzt den Verdacht hat, beim Tod sei etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen.«

»Woher weißt du das?«

Die Kellnerin kehrte mit einer Kanne mit frischem Jasmintee zurück. Andrina wartete, bis sie ihn vor ihr hingestellt hatte, bevor sie antwortete: »Marco hat mir das einmal erklärt. Sollte der Amtsarzt einen natürlichen Grund als Todesursache feststellen, wird der Totenschein ausgestellt. Sollte aber ein Verdacht bestehen, es habe jemand nachgeholfen, muss die Leiche in die Rechtsmedizin, und die Ermittlungen werden aufgenommen.«

»Nun ist einiges klar.« Enrico schaute an Andrina vorbei. »Eigentlich hätte ich selbst darauf kommen können, weil so viele Beamte vor Ort waren, als wir wegfuhren. Genauso ergeben die Fragen, die mir dieser Polizist gestellt hat, einen neuen Sinn.«

»Was hat er dich gefragt?«

»Ob mir in den letzten Tagen etwas an Gregor aufgefallen sei. Ich bezog das auf die Gesundheit und nicht auf sein Verhalten.«

»Und wie ist deine Antwort, wenn du die Fragen der Beamten unter diesem Aspekt betrachtest?«

»Nicht anders. Er war wie immer. Locker und zu Scherzen aufgelegt. Nichts schien ihn zu bedrücken. Genauso machte er keinen unsteten Eindruck.«

Andrina ließ es sich durch den Kopf gehen. »Hast du etwas an Gregor bemerkt, das auf eine nicht natürliche Todesursache zurückzuführen sein könnte, als du ihm den Puls gefühlt hast?«

»Ich bin kein Arzt.«

»Hatte er zum Beispiel Würgemale?«, fuhr Andrina unbeirrt fort.

»Wie kommst du ausgerechnet auf das?«

»Ich meine irgendwas, das dir ins Auge gesprungen ist?«

»Ich habe keine blauen Striemen oder Abdrücke am Hals gesehen.«

Andrinas Handy klingelte. »Max Wagner«, sagte sie. »Wenn meine Befürchtungen richtig sind, hat definitiv das Team Leib und Leben die Ermittlungen aufgenommen.«

»Kannst du bitte morgen Vormittag ins Polizeikommando kommen?«, fragte Wagner, nachdem Andrina das Gespräch entgegengenommen hatte.

Sie machte mit ihm eine Uhrzeit ab.

»Ist dein Mann in der Nähe?«, fragte Wagner.

»Er sitzt mir gegenüber.« Andrina reichte Enrico das Handy.

»Ich komme zusammen mit Andrina«, sagte Enrico, nachdem er kurz gelauscht hat.

Andrina starrte auf ihren Teller. Übelkeit gesellte sich zum verdorbenen Appetit.

ZWEI

Enrico und Andrina betraten das Polizeikommando. Enrico meldete sie beim Eingang an.

»Bitte warten Sie dort«, sagte die Beamtin und deutete zu einem Tischchen, um das vier schwarze Stühle standen.

Andrina schaute durch die gläserne Schiebetür und erkannte Max Wagner, der auf sie zukam. Er begrüßte sie und bat sie mitzukommen. Andrina und Enrico folgten ihm die Treppe nach oben.

Vor einer Tür blieb er stehen und strich über seine grauen Haarstoppeln, was einen gehetzten Eindruck machte. »Ich muss gleich los. Daher werden Silvan Brogli und Samuel Häusermann die Befragungen durchführen.«

Nur knapp konnte Andrina ein Aufstöhnen unterdrücken, als sie Broglis Namen hörte. Das hatte passieren müssen. Wie sie wusste, war das Team von Leib und Leben gerade reduziert. Corina Burkhard hatte nach ihrem unrühmlichen Verhalten bei den Ermittlungen Anfang Jahr gekündigt und war somit einer Entlassung zuvorgekommen.

Zusätzlich fehlte Susanna Marioni. Seit einem Monat, also seit September, war sie krankgeschrieben. Nachdem sie nicht mehr daran geglaubt hatte, war sie schwanger geworden und erwartete Zwillinge. Wenn Andrina das richtig im Kopf hatte, war Susanna im siebten Monat. Die Schwangerschaft verlief nicht komplikationsfrei, und Susanna musste häufig liegen. Sie hatte Andrina erzählt, Wagner, der Chef der Abteilung Leib und Leben, habe bisher weder einen Ersatz noch eine Vertretung gefunden.

Wagner öffnete die Tür und bat Andrina, dort zu warten. Enrico sollte mit ihm kommen. Das würde länger dauern, befürchtete sie.

Zum Glück hatte ihre Nachbarin Ruth Bischofsberger angeboten, auf Rebecca aufzupassen. Seraina konnte nicht einspringen, da der Terminkalender ihrer Physiopraxis heute Vormittag voll war.

»Wir machen einen langen Spaziergang. Danach kann sie mit Fara spielen«, hatte Ruth erklärt.

Rebecca liebte die Appenzeller Hündin über alles und war begeistert von diesem Vorschlag gewesen.

Andrina setzte sich an den Tisch und versuchte, die Nervosität in Schach zu halten.

Nach Wagners Anruf gestern hatten sie überlegt, wieso die Polizei einen gewaltsamen Tod vermutete. Sie hatten diskutiert, wer einen Grund haben konnte, Gregor Hartmann etwas anzutun. Enrico war die Mitarbeiter bei JuraMed durchgegangen. Niemand hegte seines Wissens einen Groll gegen Gregor. Im Gegenteil, sein Team schätzte ihn als fairen Chef, der zwar einiges verlangte, aber stets freundlich mit den Leuten umging. Das Gleiche galt für die Mitarbeiter, die regelmäßig mit ihm zu tun hatten.

Wie es im privaten Umfeld aussah, konnte Enrico nicht sagen, da Gregor so gut wie gar nicht darüber gesprochen hatte.

Es klopfte, und die Tür öffnete sich. Andrina seufzte innerlich, als sie Broglis rundliche, gedrungene Gestalt erblickte. Sie war zwiegespalten gewesen. Auf der einen Seite hatte sie gehofft, nicht Brogli, sondern Samuel Häusermann würde sie befragen. In dem Fall wäre Brogli zu Enrico gegangen, was ebenso keine Alternative war. Der Mann hatte aus einem unerklärlichen Grund etwas gegen Andrina und Enrico. Wieso das so war, hatte Andrina bisher nicht herausgefunden.

Das graue, ohnehin lichte Haar war dünner geworden und klebte am Kopf. Sein Gesicht war gerötet, und auf der Stirn erkannte Andrina einzelne Schweißtropfen. Er schnaufte, als er die Tür hinter sich schloss und auf Andrina zukam. Hatte er sich beeilt?

»Frau Kaufmann –«

»Bianchi«, fuhr Andrina dazwischen. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, warum er sich nicht merken konnte, dass sie seit über einem Jahr mit Enrico verheiratet war. Sie ließ es lieber bleiben, weil sie nicht sicher war, ob es Vergesslichkeit oder Provokation war. Diese Frage hätte zudem für Spannungen gleich von Anfang an gesorgt.

Brogli ließ sich auf einen Stuhl Andrina gegenüber fallen und holte ein Stofftaschentuch hervor, mit dem er sich über die Stirn wischte.

»Vielen Dank für Ihr Kommen«, begann er.

Brogli bedankte sich. Bei ihr? Es gab tatsächlich Wunder. Bei früheren Zusammentreffen war er ihr stets unfreundlich begegnet und hatte Andrina das Gefühl vermittelt, grundsätzlich schuldig zu sein.

Andrina setzte ein Lächeln auf. Von der Freundlichkeit, die sie ihm nie zugetraut hätte, würde sie sich nicht um den Finger wickeln lassen. Im Gegenteil, sie war doppelt auf der Hut.

»Ich gehe davon aus, Max Wagner hat Ihnen gesagt, weshalb Sie hier sind.«

»Ja, wegen Gregor Hartmann.«

»Sie scheinen eine besondere Gabe zu besitzen, immer am Ort eines Verbrechens zu sein.«

Das süffisante Grinsen passte eher zu dem Brogli, den Andrina kannte. Sie ging nicht auf die Konfrontation ein und schwieg.

»Es war Anfang Jahr, wenn ich mich richtig erinnere, als Sie das letzte Mal in Schwierigkeiten steckten«, fuhr Brogli fort.

Erneut sagte Andrina nichts. Stattdessen wurde ihr bewusst, was Brogli eben gesagt hatte. Ort eines Verbrechens. Es war also definitiv Mord bei Gregor Hartmann?

Brogli öffnete die Mappe, die er vor sich auf den Tisch gelegt hatte, und holte einen Block und einen Stift hervor.

»Sie sind gestern nicht eingehend befragt worden«, sagte Brogli. Andrina machte eine Schärfe in seiner Stimme aus. »Ein Versäumnis der Kollegen. Könnten Sie bitte berichten, wie Sie Herrn Hartmann vorgefunden haben?« Das klang geschäftsmäßig neutral. Der Unterton war verschwunden, was Andrina abermals erstaunte.

Sie berichtete, wie Enrico den Laptop zu Gregor Hartmann bringen wollte, weil dieser ihn darum gebeten hatte. Sie fuhr fort, wie sie zu dessen Wohnung gefahren waren und Lucia Widmer angetroffen hatten. Zu ihrem Erstaunen ließ Brogli sie ohne Unterbrechung ausreden. Nachdem sie geendet hatte, schwieg er. Mit dem Ende des Stiftes klopfte er auf die Tischplatte.

»Wie gut kennen Sie Herrn Hartmann?«, fragte er.

»Nicht gut. Ich bin ihm einige Male an Anlässen beim Pharmaunternehmen meines Mannes begegnet und weiß sonst nur das, was Enrico mir erzählt hat.«

»Sie können daher nicht beurteilen, wie zuverlässig Herr Hartmann war?«

Was war das für eine seltsame Frage? Was hatte das mit seinem Tod zu tun? Ging Brogli davon aus, Gregor habe die Krankheit nur vorgetäuscht? Doch warum war er tot?

»Ich persönlich kann das nicht beurteilen«, beantwortete Andrina die Frage. »Ich kann nur sagen, dass mein Mann ihn schätzte und für zuverlässig hielt. Gregor Hartmann machte nach Enricos Angaben einen guten Job.«

»Er hat die Finanzen erstklassig im Griff«, hatte Enrico mehr als einmal gesagt. »Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn tun würde. Seine Einstellung war mehr als ein Glücksgriff.«

»Wie haben Sie Herrn Hartmann erlebt, wenn Sie mit ihm zu tun hatten?«, fragte Brogli.

»Freundlich. Er hatte eine lockere Art und war mir sympathisch.«

»Was wissen Sie aus seinem privaten Umfeld?«

»Nur das, was mein Mann mir erzählt hat. Er war geschieden und lebte allein.«

»War die Wohnungstür offen?«, fragte Brogli, und Andrina benötigte einige Sekunden, bis sie mit dem Themenwechsel zurechtkam.

»Nein. Frau Widmer hatte einen Schlüssel. Da wir uns Sorgen machten, beschlossen wir, diesen zu benutzen.«

»Ist Ihnen etwas aufgefallen, als Sie die Wohnung betraten?«

»Da ich nie vorher drin war, kann ich nicht sagen, ob etwas anders war. Für mich sah alles normal aus.«

»Was meinen Sie mit ›normal‹?«

»Im Entrée war alles ordentlich. Die Jacken hingen an der Garderobe, und die Schuhe waren darunter aufgereiht. Ich habe dort gewartet und war nur bei der Schlafzimmertür.«

»Es gab nichts, das Ihnen seltsam erschien?«

»Nein – doch, da war diese seltsame Spinne«, fiel Andrina ein. Seit der Entdeckung von Gregors Leiche hatte sie nicht mehr daran gedacht.

»Welche Spinne?«

»Sie saß auf dem Gemälde neben der Garderobe.«

»Was soll an einer Spinne seltsam sein? Auch Sie werden sicher den einen oder anderen Untermieter im Haus haben. Wie sah sie aus?«

»Schwarz, und sie –«

»Schwarz ist nicht ungewöhnlich bei einer Spinne. Wie groß war sie?«

»Ungefähr einen Zentimeter Durchmesser, wenn man die Beine weglässt.«

Brogli brach in schallendes Gelächter aus. »In meiner Wohnung habe ich größere angetroffen und mich nicht darüber gewundert. Erst gestern habe ich eine im Wohnzimmer entdeckt und rausgeschmissen. Eine von den neuen, diese Nosferatu-Spinne, die sogar ich nicht als ideale Untermieterin empfinde. Aber bei einer kleinen schwarzen, also bitte.«

»Darf ich bitte ausreden«, zischte Andrina.

Das war der Brogli, den sie bisher kennengelernt hatte. Seine Belustigung nahm zu, aber er hielt den Mund. In seinen Augen funkelte es.

»Bei dieser Spinne handelt es sich um eine Redback spider, die –«

»Können wir uns darauf einigen, Deutsch miteinander zu sprechen«, unterbrach Brogli sie schneidend.

Nicht aufregen, ermahnte Andrina sich. Er kann kein Englisch, dachte sie und verspürte Genugtuung.

»Auf Deutsch heißt sie Rotrückenspinne. Sie ist nicht wie die Nosferatu aufgrund des Klimawandels vom Mittelmeerraum eingewandert. Die Rotrückenspinne ist in Australien heimisch und gehört zu den giftigsten Spinnen.«

»Eine australische Spinne im Aargau? Das wird immer besser. Phantasie ist in Ihrem Job bei diesem Verlag nützlich, aber im Alltag sollten Sie diese zurückhalten.« Broglis Belustigung war zurück. »Frau Kaufmann, eine australische Spinne hat bei unseren Temperaturen keine Überlebenschancen. Klimaerwärmung hin, Klimaerwärmung her.«

Ganz ruhig, ermahnte Andrina sich erneut. »Das heißt nichts. Sie kann in einem Terrarium leben.«

»Wollen Sie behaupten, Herr Hartmann hatte sein Haustier nicht im Griff, es ist ausgebüxt, und er ist an dem Biss gestorben, als er es einfangen wollte?« Er hob die Hand, als Andrina zu einer Antwort ansetzte. »In seiner Wohnung gibt es kein Terrarium. Herr Hartmann hatte keine Haustiere – weder exotische noch normale wie Hund, Katze oder Fisch.«

»In diesem Fall muss es einen anderen Grund haben. Jemand könnte sie …«

»… in der Wohnung ausgesetzt haben? Sie müssen selbst zugeben, wie bizarr sich das anhört.« Er beugte sich vor. »Ich wiederhole es gerne, halten Sie Ihre Phantasien im Zaum, Frau Kaufmann. Ich bin hier, um Hinweise zum plötzlichen Tod von Herrn Hartmann zu erhalten, und nicht, um meine Zeit mit abenteuerlichen Geschichten zu vergeuden wie der, die Sie mir gerade auftischen.«

Andrina holte Luft, aber abermals kam ihr Brogli zuvor. »Wollen Sie mir weismachen, Sie kennen sich mit Spinnen aus? Ausgerechnet Sie? Wenn ich Ihre Reaktion richtig interpretiere, kann ich davon ausgehen, diese Tiere gehören nicht zu Ihren Favoritenlebewesen.«

***

»In dem Punkt, dass du nicht gerade der große Spinnenfan bist, muss ich Herrn Brogli recht geben«, sagte Enrico. »Du musst zugeben, wie sonderbar es klingt, was du ihm erzählt hast: eine australische Spinne in einer Aargauer Wohnung.« Enrico klappte den Geschirrspüler zu und lehnte sich gegen die Anrichte.

»Ich weiß, was ich gesehen habe«, rief Andrina. »Ich gebe zu, hätte sich die Spinne nicht bewegt, hätte ich sie nicht bemerkt. Sie passte farblich perfekt zu diesem Bild.«

»Warum hast du sie mir nicht gezeigt?«

»Das Auffinden von Gregors Leiche kam dazwischen. In dem Trubel hinterher habe ich nicht mehr daran gedacht.«

»Ich war nie in Australien. Wie sieht diese Spinne aus?«

Andrina holte ihr Handy und kehrte in die Küche zurück. Sie lehnte sich neben ihn gegen die Anrichte und reichte ihm das Handy.

»Die sieht recht hübsch aus.«

»Hübsch?« Entsetzt schaute Andrina ihn an.

»Sie ist nicht so haarig wie andere, und dieser glänzende schwarze Körper mit dem roten Flecken auf dem Rücken hat etwas.«

»Das ist Geschmackssache«, brummte Andrina.

»Wie giftig ist sie?«

Andrina versuchte sich zu erinnern, was der Guide damals erklärt hatte. Ihre Reise lag fast fünfzehn Jahre zurück. Als sie fünfundzwanzig gewesen war, war sie mit einer Freundin für einen Monat durch Australien gereist. Sie hatten einen Wagen gemietet und machten auf ihrer Rundreise einen Stopp beim Uluru. Der Guide berichtete, dass der Berg für die Ureinwohner ein Heiligtum und in ihrem Glauben das Zuhause der mystischen Regenbogenschlange, der Hüterin des Wasserschatzes der Aborigines, sei, als ein Mann aus der Touristengruppe die Spinne entdeckte. Der Guide hatte es sich nicht nehmen lassen, einen Exkurs über die Schwarze Witwe zu machen, der eindrücklich gewesen war.

Andrina berichtete, wo die Spinne vorkam und was sie von ihrem Verhalten wusste.

»Bei dem Gift handelt es sich um ein starkes Nervengift. Es kann auch für Menschen gefährlich werden. Symptome sind unter anderem starke Schmerzen und Lähmungen. Man muss nicht daran sterben, falls aber das Atemzentrum von den Lähmungen betroffen ist, wird es kritisch. Genauso kann es gefährlich sein, wenn man allergisch darauf reagiert, und besonders für Kinder oder Personen, die gesundheitlich angeschlagen sind, kann so ein Biss tödlich enden.« Andrina hielt inne und überlegte, was der Guide zusätzlich erklärt hatte. »Generell wirkt das Gift nicht allzu schnell. Man hat genügend Zeit, zu einem Arzt zu gehen, wenn ich mich richtig erinnere. Soweit ich weiß, gibt es ein Gegengift. Meistens sind es Unfälle, wenn man gebissen wird. Die Rotrückenspinne ist nicht angriffslustig, sondern ein stiller Mitbewohner. Ich hatte einmal das Vergnügen in einer Buschdusche. Wenn du sie in Ruhe lässt, tut sie das auch. Das Problem ist, dass sie überall sein kann – im Briefkasten, im Schuh oder unter der WC-Brille. Auf dem WC passieren die häufigsten Unfälle.«

»Auf dem WC?«

»Du solltest grundsätzlich unter der WC-Brille nachschauen, bevor du es dir auf dem stillen Örtchen gemütlich machst. Aber, wie gesagt, ein Biss ist wohl schmerzhaft, doch nicht unbedingt tödlich.«

»Ein Spinnenbiss in den Hintern. Tolle Vorstellung.« Enricos Mundwinkel zuckten, aber er wurde gleich wieder ernst. »Das heißt, Gregor muss nicht an einem Spinnenbiss gestorben sein?«

»Nicht unbedingt.«

»Wenn ich dich eben richtig verstanden habe, nennt man die Rotrückenspinne auch Schwarze Witwe. Wieso?«

»Sie gehört zu den Schwarzen Witwen. Den Namen verdankt sie dem Verhalten des Weibchens, das nach der Begattung das Männchen frisst.«

»Das klingt nicht gerade sympathisch.« Enrico betrachtete abermals das Bild auf Andrinas Handy. »Allerdings gehört diese Spinne offensichtlich nicht zu den Standardmitbewohnern eines Schweizer Haushaltes, und es wäre interessant zu wissen, wieso sie in Gregors Wohnung ist. Er hält keine exotischen Tiere. Er hat überhaupt keine Haustiere. Er ist gegen Hunde- und Katzenhaare allergisch.«

Damit bestätigte er das, was Brogli gesagt hatte. »Vielleicht hat ein anderer Bewohner im Haus eine.«

»Du meinst, sie ist abgehauen und in Gregors Wohnung gekrabbelt?« Enrico neigte den Kopf von rechts nach links. Es arbeitete eindeutig in seinem Kopf. »Okay, es gibt genügend Leute, die eine Spinne halten, aber das sind meistens Taranteln.«

»Das muss nichts heißen.«

»Kann man so eine australische Spinne in einer Tierhandlung kaufen?«, fragte Enrico.

»Woher soll ich das wissen? Falls man keine auf legalem Weg organisieren kann, ist mit krimineller Energie einiges möglich. Oder Gregor hat sie aus Versehen aus den Ferien mitgebracht«, erwiderte Andrina. »Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand ein ungewolltes Mitbringsel aus den Ferien im Gepäck hat.«

»Gregor war in den letzten Wochen nicht in den Ferien und erst recht nicht in Australien.« Enrico gab Andrina das Handy zurück und stieß sich von der Anrichte ab.

Andrina folgte ihm ins Wohnzimmer.

»Jemand anderer aus dem Haus oder ein Besucher kann sie bei Gregor eingeschleppt haben. Das ist aber der Job der Polizei, das herauszufinden.«

»Dazu müssten sie die Ermittlungen in diese Richtung aufnehmen, was aber so schnell nicht geschehen wird. Mich wurmt es, weil Brogli mir nicht glauben will.« Andrina setzte sich auf das Sofa, während Enrico den Schwedenofen einfeuerte. »Dieser Typ ist eine Zumutung für die Menschheit und obendrein inkompetent. Max hätte ihn zusammen mit Corina Burkhard in die Wüste schicken sollen.«

»Sie haben schon ein Personaldefizit und können es sich nicht erlauben, auf eine Person mehr in ihrem Team zu verzichten.«

»Lieber keinen, als jemand, der unfähig ist. Jeder andere wäre der Sache nachgegangen.«

»Vielleicht tut er das, wenn er sich deine Aussage durch den Kopf gehen lässt.«

»Nicht Brogli.«

»Etwas anderes. Weiß man, woran Gregor gestorben ist? Es muss einen Grund für das hartnäckige Nachfragen geben. Ich gehe davon aus, einen Spinnenbiss hätte der Rechtsmediziner entdeckt.«

Hätte er das wirklich?, fragte Andrina sich und überlegte, wie groß so ein Biss war, kam aber zu keinem Schluss. Eine Hautreaktion an der entsprechenden Stelle würde erkennbar sein. Allerdings hing die Ausprägung davon ab, wie lange Gregor nach dem Biss noch gelebt hatte.

»Mir hat niemand etwas zur Todesursache gesagt«, erwiderte sie.

»Mir auch nicht. Als ich gehen durfte, habe ich nur gehört, wie ein Beamter einem anderen gesagt hat, die Spurensicherung in der Wohnung sei abgeschlossen, und man solle Gregors Tochter Bescheid geben, sie sei freigegeben.« Er setzte sich zu Andrina auf das Sofa. »Wenn du dir ganz sicher bist, dass es diese australische Schwarze Witwe war, die du gesehen hast, würde ich Max Wagner anrufen. Aber wie gesagt nur, wenn du ganz sicher bist und es keine Täuschung aufgrund des bunten Gemäldes war. Falls sie sich als harmlose Schweizer Otto Normalspinne entpuppt, wird er nicht begeistert über deine Einmischung sein.«

Andrina rief sich das Bild vor Augen. Wie sie die schwarze Spinne bemerkt hatte, die sich über die Fläche bewegte. Hatte sie sich aufgrund der Farbkomposition des Bildes täuschen lassen?

DREI

»Vielen Dank, dass du auf Rebecca aufpasst.«

»Das mache ich gerne. Immerhin beschäftigt sie André.« Gabi nahm die Tasche mit den Kleinkindutensilien, die Andrina ihr hinhielt. Rebecca war in der Wohnung verschwunden, und Andrina hörte ihr und Andrés Lachen.

»Ist es dir wirklich nicht zu viel?«, fragte Andrina. Sie zeigte auf Kartons, die im Entrée standen. Gabi war vor einem Monat in diesen Block in der Nähe vom Lindenfeld umgezogen.

Der Vermieter der alten Wohnung hatte beschlossen, diese zu renovieren. Im Anschluss hatte er den Mietzins um fünfhundert Franken erhöht. Gabi war nicht bereit, diesen Wucher zu akzeptieren, und war schweren Herzens umgezogen. Sie war noch nicht dazu gekommen, alle Kartons auszupacken.

»Alles gut«, antwortete Gabi. »Wann bist du zurück? In ungefähr drei Stunden muss ich mit André los.«

»In einer, höchstens zwei Stunden bin ich locker zurück. Ich bin nachher mit Susanna verabredet.«

Gabis Neugier war greifbar, aber Andrina blieb bei ihrem Vorhaben, sie vorerst nicht einzuweihen. Sie wollte sicher sein. Das gesamte Wochenende hatte sie nachgedacht, ob sie sich getäuscht hatte und es eine harmlose Hausspinne gewesen war. Unsicherheit hatte sich mit der Überzeugung abgewechselt, es sei eine Rotrückenspinne, die sie gesehen hatte. Sie brauchte Gewissheit und wollte sich später keine Vorwürfe machen, nicht gehandelt zu haben.

Inzwischen kannte sie Brogli genügend gut und wusste, er würde ihrem Hinweis nicht nachgehen und das Team von Leib und Leben nicht einweihen. Andrina war zum Schluss gekommen, sich nochmals vergewissern zu müssen. Eine bessere Idee hatte sie nicht.

Obwohl sie es als unwahrscheinlich einstufte, hoffte Andrina, die Spinne in der Nähe des Bildes anzutreffen. Sollte sie die Spinne nicht finden, würde sie es wohl oder übel auf sich beruhen lassen müssen.

Lucia Widmer hatte einen Schlüssel zu Gregor Hartmanns Wohnung. Andrina hoffte, sie überzeugen zu können, einen Blick in die Wohnung werfen zu dürfen.

Glücklicherweise schien sie nichts dagegen zu haben, als Andrina anrief und fragte, ob sie spontan vorbeikommen dürfe.

Es hatte zu nieseln begonnen, und Andrina eilte mit eingezogenem Kopf zu ihrem Wagen. Sie rutschte auf den Fahrersitz und lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze. Was war das auf einmal? Warum drehte sich alles? Schweiß brach aus. Beim besten Willen konnte sie nicht gebrauchen, krank zu werden. Oder lag es an der Aufregung? Andrina verspürte kein Bedürfnis, auf Spinnenjagd zu gehen. Aber es musste sein. Übelkeit gesellte sich zum Schwindel und der Hitzewallung.

Andrina konzentrierte sich auf ihren Atemrhythmus, und der Schwindel sowie die Übelkeit ebbten ab. Sie startete den Motor und erreichte knapp zehn Minuten später den Aarepark.

Die Haustür war nicht abgeschlossen, als Andrina dagegenstieß. Sie lief die Treppe hoch in den ersten Stock.

Wie vor vier Tagen trug Lucia Widmer einen schwarzen Pullover und schwarze Jeans. Ihre Augen waren gerötet, und sie sah blass aus.

»Danke, dass ich spontan vorbeikommen durfte«, sagte Andrina.

»Ich bin über jede Ablenkung froh.« Lucia Widmer bat Andrina in die Wohnung und führte sie ins Wohnzimmer. Es sah wie am Donnerstag aus. Ein beiges Sofa stand vor dem Fenster, und gegenüber waren zwei farblich dazu passende Sessel. Auf dem dunklen Salontisch befand sich ein Topf mit einer Grünpflanze. Auf der anderen Seite des Raumes vor der halbhohen Küchenanrichte stand ein hellbrauner, länglicher Esstisch mit vier ebenfalls beigen Stühlen. An den Wänden hingen verschiedene Schwarz-Weiß-Fotografien, die Andrina das letzte Mal nicht beachtet hatte.

Andrina trat an eine heran. In einem kunstvoll gewobenen Spinnennetz hingen Wassertropfen, die in der Sonne glänzten. Das Netz war in der Mitte scharf und wurde nach außen unscharf. Im Hintergrund erkannte Andrina verschwommene Wolken am Himmel.

»Die Bilder habe ich gemacht«, sagte Lucia.

»Sind Sie Fotografin?«

»Nicht direkt.« Mit der Hand wies sie zum Sofa. »Es ist ein Hobby, das mir ein kleines Sackgeld einbringt. Sich in diesem Umfeld zu behaupten ist nicht einfach, und ich könnte davon nicht leben. Leider. Ich arbeite zu sechzig Prozent beim Zivilstandsamt in Aarau.«

Andrina nahm das Angebot für einen Kaffee an, setzte sich und schaute aus dem Fenster. Schöne Aussicht. Direkt auf den Fluss und die Altstadt. Der Nebel hatte sich weitestgehend gelichtet. Die Sonne schien durch den Dunst und verbreitete mit dem sich bunt verfärbenden Laub der Bäume ein weiches goldenes Licht.

Aus der Küche hinter sich hörte sie das Zischen einer Kaffeemaschine, die zum Leben erweckt wurde, und das Geklapper von Tassen. Lucia kehrte mit einem Tablett, auf dem zwei Tassen standen, und einer Schale mit Gebäck zurück. Sie stellte alles auf das Tischchen.

»Wie geht es Ihnen?«

»Lass uns Du sagen«, erwiderte Lucia Widmer zu Andrinas Erstaunen.

»Gerne, ich bin Andrina.« Ihr war diese plötzliche Vertrautheit nicht recht, das Duzen war für sie zu schnell gegangen. Sie hatte Lucia letzte Woche zum ersten Mal gesehen, und das in einer ungewöhnlichen und nicht erfreulichen Situation. Aber sie wollte Lucia nicht vor den Kopf stoßen und reichte ihr über den Tisch die Hand.

»Ich fühle mich dumpf«, sagte Lucia. »Weißt du, ich habe mir endlich einen Ruck gegeben, nach dem Tod meines Mannes wieder jemanden an mich heranzulassen.« Sie blinzelte und beugte sich rasch vor. Umständlich nahm sie ein Sablé. »Als ich vor einem Jahr hier einzog, hat Gregor mir bei verschiedenen Dingen geholfen. Besonders bei den Sachen, die handwerkliches Geschick verlangten. Er war freundlich und zuvorkommend, ohne aufdringlich zu wirken. Ich habe ihm erklärt, nicht offen für eine neue Beziehung zu sein. Er hat es akzeptiert, war dennoch für mich da, wenn ich etwas brauchte. Es war klar, der Schritt musste von mir kommen. Vor einer oder zwei Wochen sind wir zusammengekommen.« Sie biss in den Keks, kaute heftig und fuhr mit dem Zeigefinger über die Augenwinkel.

Andrina wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte und wie sie das Gespräch auf die Spinne und auf die Bitte lenken konnte, in die Wohnung gehen zu können.

Lucia richtete sich auf. »Entschuldige. Ich nehme an, du bist aus einem anderen Grund gekommen, als dir mein Klagen anzuhören.«

»Ich wollte schauen, wie es dir geht. Letzten Donnerstag war es ein abrupter Abgang, nachdem die Polizistin gekommen war.«

Lucia senkte abermals den Kopf. »Als ob Gregors Tod nicht schlimm genug ist, müssen sie diese Fragen stellen. Und wozu das Ganze? Es ändert nichts an der Tatsache, dass er einsam gestorben ist. Ich stelle mir das schrecklich vor, wenn man allein ist, keine Hilfe holen kann und merkt, wie es dem Ende zugeht. Ich hoffe, es war nicht so, wie ich mir das Szenario ausmale, und er ist im Schlaf gestorben.«

War er wirklich im Schlaf gestorben, und war der Aufwand übertrieben, den die Polizei betrieb? »Welche Fragen meinst du?«

»Was Gregor für ein Mensch war. Ob mir in den letzten Tagen etwas an ihm aufgefallen sei. Ob er über gesundheitliche Beschwerden geklagt habe. Wieso stellen sie diese Fragen? Er hatte einen Herzinfarkt. Warum sollte er sonst sterben – allein in seiner Wohnung? Ist es normal, dass sich die Polizei so engagiert, wenn jemand gestorben ist?«

»Wenn sie oder der Amtsarzt Hinweise auf Fremdeinwirken finden, ja«, wiederholte Andrina das vorsichtig, was sie Enrico bereits gesagt hatte.

Lucia wurde blass. »Heißt das … Gregor … Auf diese Idee wäre ich nie … Er sollte … Wer sollte bei ihm gewesen sein? Die Wohnungstür war abgeschlossen.« Sie stand auf, trat zum Fenster und starrte hinaus.

Schweigen stellte sich ein und zog sich in die Länge. Andrina überlegte, wie sie es brechen konnte, während sie Lucias verkrampfte Körperhaltung musterte. Gleichzeitig verfluchte sie sich, nicht behutsamer vorgegangen zu sein.

»Nun ergeben die ganzen Fragen Sinn«, beendete Lucia das Schweigen. »Mir leuchtet nicht ein, wieso sie glauben, jemand habe Gregor etwas angetan.« Sie stand nach wie vor mit durchgestrecktem Rücken vor dem Fenster und stützte sich mit der Hand an der Wand ab. Sekunden verstrichen, und Andrina verwünschte sich abermals für ihr mangelndes Feingefühl.

»Wieso weißt du so genau Bescheid? Bist du Polizistin?«, fragte Lucia fast nicht hörbar.

»Nein, aber ich war eine Zeit lang mit einem Ermittler zusammen.«

»Du kennst die also, die in Gregors Wohnung ein und aus gegangen sind?« Lucia drehte sich langsam um.

Sie war blasser als vorhin. Die schwarze Kleidung verstärkte das gespenstische Aussehen.

»Nicht alle. Ich war mit Marco Feller von der Abteilung Leib und Leben befreundet.«

»Dunkle Haare und blaue Augen?«

»Ja.«

»Das war der, der mich am Freitag befragt hat. Eigentlich war er nett.«