Liestal in Flammen - Ina Haller - E-Book
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Liestal in Flammen E-Book

Ina Haller

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Beschreibung

Ein neuer packender Krimi von Bestsellerautorin Ina Haller. Samanthas Chefin wird ermordet in ihrem Haus aufgefunden. Kurz darauf werden Brandanschläge im Umfeld der Toten verübt. Haben Unstimmigkeiten zwischen ihr und ihrem Bruder zu einem verhängnisvollen Familienstreit geführt? Als Zeugenaussagen darauf hinweisen, dass Samantha selbst mit den Verbrechen in Verbindung steht, gerät sie nicht nur ins Visier der Kantonspolizei, sondern auch in das des wahren Täters.

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Ina Haller lebt mit ihrer Familie im Kanton Aargau, Schweiz. Nach dem Abitur studierte sie Geologie. Seit der Geburt ihrer drei Kinder ist sie «Vollzeit-Familienmanagerin» und Autorin. Zu ihrem Repertoire gehören Kriminalromane sowie Kurz- und Kindergeschichten.

www.facebook.com/autorininahaller

www.instagram.com/ina.haller.autorin/

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ebenso sind die Orte, an denen die Verbrechen stattfinden, nur Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und realen Handlungen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich Rezepte und ein Glossar.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv pixabay.com/Bishnu Sarangi

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-033-4

Originalausgabe

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Prolog

Es war beinahe zu einfach, wie sich Dinge manchmal von selbst ergaben und der Zufall ihm in die Hände spielte.

In Liestal hatte er es geschafft, ihm aus dem Weg zu gehen, aber in Meran waren sie einander gleich am ersten Tag seiner Ferien begegnet. Ganz zufällig war die Begegnung nicht, musste er einräumen. Nachdem er erfahren hatte, dass sein Bruder sich ebenfalls in der Stadt aufhielt, war es ein Leichtes gewesen, ein unverhofftes Aufeinandertreffen zu inszenieren.

Sein Bruder hatte sich nicht verändert. Was sich genauso nicht verändert hatte, war die Wut, die seit fünf Jahren in ihm gärte. Besonders nach den jüngsten Entwicklungen, von denen er zufällig vor drei Wochen in der Basler Zeitung gelesen hatte, hatte sich der Wunsch nach Rache verstärkt. Er war fast unerträglich geworden.

Nach anfänglichem Misstrauen hatte sein Bruder ihm geglaubt, dass es Zeit für einen Neuanfang sei. Nach kurzem Zögern hatte er eingewilligt, als er ihn zu einem Nachtessen im «Knödelglück» eingeladen hatte. Es hatte sich gelohnt. Nicht nur wegen des Menüs, obwohl er zugeben musste, dass die Kastaniensuppe, die Spareribs und die Marillenknödel zum Dessert dem Abend durchaus eine unvergessliche Note verliehen.

«Haben die Herrschaften einen weiteren Wunsch?», fragte der Kellner, als er die Teller abräumte. Sein Bruder bestellte einen Grappa. Er hatte bereits dem Wein ordentlich zugesprochen und leerte den Grappa in einem Zug.

Er selbst lehnte ab, da er einen klaren Kopf behalten musste.

«Ich übernehme das», sagte sein Bruder, als es ans Zahlen ging. Die Aussprache war schleppend und seine Augen glasig. «Wir bleiben in Kontakt», fügte er an, als er ihm zum Abschied auf die Schulter klopfte.

«Ganz bestimmt.» Er schaute ihm nach, wie er zum WC wankte, und trat aus dem Restaurant. Kühle schlug ihm entgegen, und er fröstelte, was seine Sinne schärfte. Inzwischen war es dunkel. Er steckte sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die Luft. Langsam spazierte er den Tappeinerweg Richtung Pulverturm. Warum brauchte sein Bruder so lange? War er auf dem WC eingeschlafen? So wichtig, wie es war, das «Knödelglück» getrennt zu verlassen, so wichtig war es, dass sein Bruder bald nachkam.

Hinter sich hörte er Schritte auf dem Kiesweg. Rasch nahm er einen tiefen Zug, warf die Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem Fussballen aus.

«Musst du in die gleiche Richtung?», fragte sein Bruder. «Das hast du nicht gesagt.»

«Ich dachte, ich mache einen Verdauungsspaziergang, da ich zu viel gegessen habe.»

«So wie ich.» Er lachte laut. Zu laut.

«Soll ich dich nachher mit dem Auto mitnehmen?»

«Nicht nötig. Trotzdem danke für dein Angebot.»

Er fluchte innerlich. Der Plan schien nicht aufzugehen. Seine Nervosität wurde grösser. Verstohlen schaute er sich um. Es war ein riskantes Unterfangen, aber er hatte keine andere Wahl. Diese Chance konnte und durfte er sich nicht entgehen lassen.

Sie gingen am Pulverturm vorbei und folgten dem Tappeinerweg. Der Kies knirschte unter ihren Schuhsohlen. Niemand kam ihnen entgegen. Sein Bruder blieb stehen und schwankte leicht. Er deutete mit einer ausladenden Geste auf Meran, das sich zu ihren Füssen ausbreitete.

«Wunderschön.» Er legte den Kopf in den Nacken und streckte die Arme aus.

Jetzt war die Gelegenheit. Nach wie vor war keiner zu sehen. Ein gezielter Schlag gegen den Kehlkopf. Ein Schmerz durchzuckte seine Handkante. Sein Bruder schaffte es nur, einen Überraschungslaut auszustossen, bevor er zusammensackte. Röchelnd lag er am Boden. Die Hände gegen den Hals gepresst. Die Todesangst in seinen Augen konnte er selbst in dem schummrigen Licht der Laterne neben dem Weg erkennen.

Stimmen näherten sich. Ausgerechnet jetzt.

Er griff unter die Achseln seines Bruders und zog ihn zum Kräutergarten. Er duckte sich hinter einem Busch, als ein Mann und eine Frau in sein Blickfeld kamen. Die beiden blieben stehen und küssten sich. Der Mann strich mit den Händen über den Körper der Frau. Sie schmiegte sich an ihn, als er über ihre Brust fuhr.

Hoffentlich bogen die beiden nicht zum Garten ab – auf der Suche nach einem geeigneten Platz für eine schnelle Nummer.

Sein Bruder gab ein Stöhnen von sich. Fest drückte er seine Hand auf dessen Mund. Nach einer gefühlten Ewigkeit lösten der Mann und die Frau sich. Sie spazierten kichernd Richtung Pulverturm und verschwanden.

Das war knapp gewesen. Sein Bruder röchelte immer noch. Offenbar hatte er nicht richtig getroffen. Er legte ihm die Hände um den Hals und drückte mit den Daumen zu. Sein Bruder wand sich hin und her. Seine Hände umfassten seine Arme, und die Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in seine Haut. Er erhöhte den Druck, und nach endlosen Sekunden wurden die Bewegungen schwächer, bis sie aufhörten.

Er kontrollierte den Puls. Kein Pochen. Geschafft! Rasch schob er seinen Bruder unter den Busch und huschte zurück auf den Tappeinerweg. Keine Person weit und breit. Auch von dem Liebespärchen war nichts zu sehen.

Er zwang sich, gemächlich weiterzugehen, bog in den Tirolersteig und folgte den Treppenstufen abwärts. Keiner kam ihm entgegen. Das Glück schien es gut mit ihm zu meinen.

Bevor er die Stadtpfarrkirche Sankt Nikolaus erreichte, nahm er die graue Perücke ab und riss den grauen Bart herunter. Beides steckte er zusammen mit der Brille in einen Plastiksack, den er aus seiner Jackentasche holte. Sollte ihn jemand gesehen haben oder der Kellner befragt werden, würden sich alle an einen grauhaarigen Mann erinnern. Kurz erwog er, alles gleich zu entsorgen, überlegte es sich aber anders.

«Du bist richtig grau geworden», hatte sein Bruder bei der ersten Begegnung gesagt und gelacht.

«Dafür habe ich mehr Haare auf dem Kopf als du», hatte er gekontert. Es war mühsam gewesen, in der Gegenwart seines Bruders die ganze Zeit mit Perücke und Brille herumzulaufen. Die Perücke hatte gejuckt. Er hatte sich zusammenreissen müssen, nicht zu kratzen, damit sie nicht verrutschte. Aber es war wichtig, falls es eine detaillierte Personenbeschreibung gab.

An der Kirche bog er rechts ab. In den Lauben hatte es vereinzelt Leute, aber niemand beachtete ihn. Er steckte die Hände in die Manteltaschen und bemühte sich, entspannt weiterzuschlendern.

Er hatte es geschafft. Der Anfang war getan. Endlich. Warum stellte sich kein Hochgefühl ein? Es war zu schnell gegangen, lieferte er sich die Antwort selbst. Sein Bruder hatte nicht lange leiden müssen, und er selbst hatte es nicht auskosten können. Bei den anderen musste er anders vorgehen. Und er wusste auch schon, wie.

EINS

«Ist das eine Affenhitze», sagte Christian.

Mit ihm teilte Samantha sich das Büro. Christian war Verkäufer bei dem kleinen Liestaler Unternehmen Amry Cosmetics, in dem Samantha seit eineinhalb Jahren als Qualitätsverantwortliche arbeitete.

«Und das Ende Juni. Zum Glück ist morgen Wochenende.»

«Du sagst es», erwiderte Samantha. Sie nahm eine grosse Haarklammer, die neben der Tastatur lag, und steckte ihre langen schwarzen Haare hoch.

Die Temperaturen, die momentan vorherrschten, waren jenen in Indien ähnlich, als sie das letzte Mal ihre leibliche Schwester Ranjana dort besucht hatte.

«Was ist denn mit dir passiert?», rief Christian.

Samantha deutete irritiert auf sich.

«Er meint mich», sagte Jasmin, und Samantha drehte sich zur Tür. Sie hatte nicht bemerkt, wie Jasmin Hofer den Raum betreten hatte. Jasmin war für das Marketing zuständig.

«Das nenne ich einen Sonnenbrand vom Feinsten. Du siehst wie eine Tomate aus.»

«Blödmann.» Jasmin streckte ihm die Zunge heraus. «Ich habe es mir gestern nach Feierabend mit einem Buch in der Badi gemütlich gemacht. Dummerweise bin ich in der Sonne eingeschlafen. Die eine Stunde hat ausgereicht.» Sie tippte mit den Fingerspitzen gegen das Gesicht. «Es tut richtig weh. Hinzu kommt die Hitze, die einheizt. Es fühlt sich an, als würde ich glühen. Ich brauche eine Abkühlung.» Sie griff nach einem Block, der auf Samanthas Pult lag, und fächerte sich Luft zu.

«Wie wäre es mit einem Glacé?», fragte Samantha.

«Das Eisfach ist leer», sagte Christian.

«Nicht mehr. Soweit ich weiss, hat Franz es mit Glacé aufgefüllt», erwiderte Jasmin.

Samantha folgte den beiden in die Küche.

«Tatsächlich», rief Christian erfreut. «Franz ist ein Engel.»

Franz Ammann, der Eigentümer des kleinen Familienunternehmens Amry Cosmetics, sorgte seit Beginn der Hitzewelle dafür, dass der Glacévorrat nicht ausging. Alle Mitarbeiter schätzten ihn, und auch Samantha war um diesen Chef froh.

«Schoggi, Vanille, Kaffee oder Erdbeere?», fragte Christian.

Jasmin und Samantha wählten Schokolade, während Christian ein Vanillecornet nahm.

Jasmin strich ihre kinnlangen dunkelblonden Haare aus dem Gesicht und hielt das Cornet einige Sekunden gegen ihre Wange, bevor sie es auspackte.

«Du auch?», fragte Christian Emma, die den Kopf zur Küche hereinstreckte.

«Lieber nicht. Ich habe in diesem Sommer bereits zu viel Glacé gegessen.» Die Laborantin mit den kurzen blonden Locken strich über ihren fülligen Bauch. «Habt ihr Franz gesehen?»

«Der ist heute nicht da. Geheimmission.» Christian zwinkerte ihr mit einem Auge zu.

In den letzten Wochen war Franz wiederholt abwesend gewesen. Es ginge um Geschäftliches, hatte er nur erklärt, und war den Nachfragen der Mitarbeiter ausgewichen. Nicht nur ausgewichen, er war sogar ungehalten geworden, als Christian einmal hartnäckig nachgebohrt hatte. Keiner wusste, was dies zu bedeuten hatte. Seither vermieden alle das Thema. Die allgemeine Verunsicherung blieb ebenfalls unausgesprochen. Samantha hatte ein ungutes Gefühl.

Letzte Woche waren zwei Männer zu Besuch gekommen, und Franz’ Schwester Annemarie Ryser war ebenfalls da gewesen, was aussergewöhnlich war. Annemarie Ryser hatte sich seit ihrer Krebsdiagnose weitestgehend aus dem Unternehmen zurückgezogen. Die vier hatten ihre Besprechung hinter verschlossener Tür durchgeführt, was Samanthas ungutes Gefühl verstärkt hatte.

Sie hatte das schon einmal erlebt, als sie bei AarePharm in Egerkingen gearbeitet hatte. Das Unternehmen war anschliessend an einen amerikanischen Grosskonzern verkauft worden. Wie teilweise mühsam sich der Alltag als Tochtergesellschaft eines Grosskonzerns gestaltete, erfuhr sie von ihrem Freund Joel, der bei AarePharm in der Geschäftsleitung war.

Samantha hoffte, Franz Ammann hege keinen ähnlichen Plan.

Sie kehrte in ihr Büro zurück und setzte sich ans Pult. In der einen Hand hielt sie das Cornet, während sie mit der anderen eine E-Mail tippte.

Es klopfte an der Tür, und Annemarie Ryser streckte den Kopf herein.

«Hallo, ihr zwei», sagte sie. Das klang gestresst. Die Therapien hatten deutliche Spuren bei ihr hinterlassen. Die Falten in ihrem Gesicht schienen noch tiefer, sie sah hagerer aus als sonst, und ihre Augen wirkten riesig hinter den Brillengläsern. Die grauen, kurz geschnittenen Haare standen wirr vom Kopf ab. «Wisst ihr, wo mein Bruder ist?»

Christian schien ähnlich irritiert zu sein wie Samantha, weil Annemarie hier auftauchte.

«Er ist vor einer Stunde losgezogen, um dich zu treffen», sagte er.

«Eben nicht», rief Annemarie.

«Wie bitte?»

«Wir waren zum Mittagessen verabredet, und er ist nicht gekommen. Vermutlich hat er es vergessen.» Unterdrückte Wut schwang in ihrer Stimme mit.

«Nein», sagte Samantha. «Er war knapp dran, als er losgefahren ist.» Knapp war untertrieben. Der Aufbruch hatte überstürzt gewirkt.

«Ich habe mehrmals versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen, aber er nimmt nicht ab.»

Samantha und Christian sahen einander an. Das passte nicht zu Franz. Wenn er etwas nicht ausstehen konnte, waren es Unzuverlässigkeit und Unpünktlichkeit.

«Uns hat er keinen Bescheid gegeben, es sei etwas dazwischengekommen», sagte Christian. «Er ist, wie gesagt, vor einer Stunde los.»

Annemarie Ryser zog sich einen Stuhl heran und liess sich darauffallen. Ihr Gesicht war blass, und auf ihrer Stirn glänzten Schweisstropfen. Sie holte ihr Handy hervor und wählte eine Nummer. «Die ganze Zeit schaltet sich die Combox ein», flüsterte sie. «Es muss etwas passiert sein.»

***

«Das klingt, als habe Franz Ammann sich in Luft aufgelöst», sagte Joel. Das Abendlicht brachte den Kastanienton in seinen Haaren zum Leuchten.

Sie assen auf dem überdachten Bereich der Terrasse zu Nacht, da es leicht regnete.

«Oder als habe sich eine Erdspalte aufgetan und ihn verschluckt. Auch seine Schwester ist unauffindbar.»

«Hast du sie nicht erreicht?»

Nachdem Annemarie Ryser bei Amry keine Erklärung für Franz’ Verbleib gefunden hatte, war sie aufgebrochen, mit dem Versprechen, sich später zu melden.

Zunächst waren alle Mitarbeiter davon ausgegangen, es handle sich um ein Missverständnis zwischen den beiden, wo sie sich treffen wollten. Jeder rechnete damit, Franz werde kurz nach vierzehn Uhr zurückkehren, wie er angekündigt hatte. Das war nicht geschehen, und sogar Christian hatte sich besorgt gezeigt.

Auch als Christian versucht hatte, ihn anzurufen, hatte sich jeweils nur die Combox gemeldet. Das Gleiche galt für Annemarie.

Als Samantha Feierabend gemacht hatte, hatte sie Annemaries Portemonnaie auf ihrem Pult entdeckt. Sie musste es dort hingelegt haben, als sie ihr Handy hervorgeholt hatte. Samantha hatte abermals versucht, sie telefonisch zu erreichen, aber landete immer auf der Combox. Dieses Mal bat sie um einen Rückruf.

«Inzwischen mache ich mir ernsthaft Sorgen», sagte Samantha.

«Du kannst nichts machen.»

«Ich versuche es noch einmal.» Sie nahm ihr Handy in die Hand und liess es vor Schreck beinahe fallen, als es klingelte.

«Offenbar ist wenigstens Annemarie wiederaufgetaucht», sagte Joel und deutete auf das Display.

«Du hast versucht, mich zu erreichen?», fragte Annemarie. Sie klang atemlos, als sei sie gerannt.

«Ja. Du hast dein Portemonnaie bei mir im Büro liegen gelassen.»

«Und ich habe es wie verrückt gesucht. Ich schaue, dass ich es heute holen kann, da dort alles von der ID über Kreditkarten bis zu Geld drin ist. Alles Dinge, die ich über das Wochenende brauche.» Sie sprach immer schneller, und Samantha hatte Mühe, sie zu verstehen.

«Ich kann es dir gerne bringen.»

«Würdest du das tun? Das würde einiges vereinfachen.»

«Das ist kein Problem. Ist Franz wiederaufgetaucht?»

«Ja.»

«Wo war er?»

«Das ist zu kompliziert. Nur dies: Es ist eine riesige Katastrophe.»

Das Navi forderte Samantha auf, rechts in die Sichternstrasse abzubiegen, nachdem sie die Unterführung beim Bahnhof passiert hatte. Sie zweigte schräg links in die Munzachstrasse ab und erreichte kurz darauf nach nochmaligem Abbiegen Annemaries Haus. Die Fahrt von Joels Haus, das sich am Liestaler Stadtrand Richtung Seltisberg befand, hatte nicht einmal zehn Minuten gedauert.

Samantha erkannte Annemaries Volvo in der Einfahrt. Sie parkte in der blauen Zone davor und legte die Parkscheibe hinter die Frontscheibe.

Sie blieb sitzen und musterte das Haus und die Umgebung. Das Quartier wurde von älteren Häusern dominiert, die teilweise einen grossen Garten mit hohen Bäumen und Hecken hatten, die keine ungehinderte Sicht zu den Häusern zuliessen. Auch Annemaries Haus war älteren Baudatums und der Garten von einer Hecke umgeben. Die Blätter der grossen Birke und der Eiche bewegten sich im leichten Wind.

Samantha war sich nicht bewusst gewesen, dass Annemarie so nah bei Amry Cosmetics wohnte.

Soweit Samantha wusste, lebte Annemarie seit der Scheidung von ihrem Mann vor beinahe zwanzig Jahren hier. Zum Erstaunen aller hatte sie seinen Namen behalten. Ihre fünfundzwanzigjährige Tochter Cornelia, die sie allein aufgezogen hatte, wohnte nicht mehr zu Hause, sondern mit ihrem Freund in Basel.

Alles machte einen friedlichen Eindruck. Von der Katastrophe, von der Annemarie gesprochen hatte, war nichts zu spüren. Was sie damit gemeint hatte, hatte Samantha nicht nachfragen können, da Annemarie sie nicht zu Wort hatte kommen lassen. Sie hatte sich nochmals bedankt und das Gespräch rasch beendet.

Samantha stieg aus. Es hatte aufgehört zu regnen, aber es fühlte sich weiterhin wie in einem Hammam an und erinnerte Samantha an Mumbai. Nur war die Luft mit dem Duft verschiedener Blüten anstatt mit Abgasen geschwängert wie in der indischen Metropole.

Sie ging über den Plattenweg auf das Haus zu. Zu beiden Seiten erstreckte sich ein buntes Blütenmeer und zeugte von Annemaries Leidenschaft. Die Blüten in verschiedenen Rot- und Blautönen hingen regenschwer nach unten und berührten beinahe den Boden.

Annemarie öffnete die Haustür, bevor Samantha sie erreicht hatte.

«Vielen Dank, dass du extra hergefahren bist», sagte sie. «Möchtest du reinkommen?»

«Ich möchte dich nicht lange behelligen.»

«Tust du nicht.» Annemarie trat zurück und deutete mit der Hand ins Innere.

«Was ist mit Franz?»

«Er ist hier.»

Hier? In dem Fall hat sich alles geklärt, dachte Samantha erleichtert. Wo war jetzt die Katastrophe?

Mit der Hand forderte Annemarie Samantha auf, ihr zu folgen.

Der Korridor ging in ein grosses helles Wohnzimmer über. Die Kühle, die von den weissen Steinplatten ausging, empfand Samantha als angenehm. Die Wände des Zimmers waren in einem hellen Apricotton gestrichen. Schwarz-Weiss-Fotografien hingen an der Wand über einem Buffet. Die Fotos mussten von Annemarie stammen. Franz hatte einmal erzählt, Fotografieren sei neben Gärtnern Annemaries Leidenschaft.

Eine Bewegung auf der linken Seite vor dem Terrassenfenster zog Samanthas Aufmerksamkeit auf sich. Den Mann, der sich vom Sofa erhob, erkannte Samantha erst auf den zweiten Blick.

«Himmel, Franz», stiess sie hervor. «Was ist mit dir passiert?»

Franz Ammann verzog seinen Mund zu einem Lächeln, was schmerzvoll aussah. Auf seiner Stirn hatte er einige blutverkrustete Kratzer, und ein Auge war blau unterlaufen. Reste von Blutkruste hingen in den grauen, gekrausten Haaren und im Vollbart, die ihm normalerweise das Aussehen eines Teddybären verliehen. Heute sah er aber eher wie eine Figur aus einem Gruselfilm aus. Den rechten Arm trug er in einer Schlinge, und er hinkte leicht, als er auf Samantha zukam.

«Was ist mit dir passiert?», wiederholte sie, da sie keine Antwort erhalten hatte.

«Ich hatte einen Unfall», sagte er und setzte sich, nachdem er Samantha die linke Hand gereicht hatte. «Auf dem Weg zu dem Mittagessen mit Annemarie hat mich ein anderer Autofahrer überholt und geschnitten, als er auf die reguläre Fahrbahn zurückwechselte. Ich habe die Kontrolle über meinen Wagen verloren und durfte einen Ausflug zum Spital machen.» Das sollte wohl heiter klingen, aber es misslang.

«Wenn man bedenkt, wie dein Auto aussieht, ist es kaum zu glauben, dass du noch lebst und nur diese paar Kratzer abbekommen hast.» Annemarie stellte drei Gläser und einen Krug mit Wasser auf den Tisch. «Wobei ich es nachlässig von dir finde, über das Wochenende nicht im Spital bleiben zu wollen.»

«Was soll ich dort?», rief Franz. «Zu Hause erhole ich mich besser.»

«Ja, ja. Ich weiss, Diskussionen sind zwecklos. Mir ist nicht wohl, wenn du allein zu Hause bist.»

«Allein?», fragte Samantha.

«Meine Frau ist mit ihren Freundinnen nach Barcelona geflogen. Weiberwochenende.» Er trank einen Schluck Wasser. «Und meine Tochter übernachtet bei einer Freundin.»

«Was ist mit dem anderen Fahrer?», fragte Samantha.

«Er hat Fahrerflucht begangen. Zum Glück gab es Zeugen, und die Polizei konnte ihn bereits ausfindig machen», sagte Franz.

«Wenigstens sind das gute Neuigkeiten.» Samantha wusste nicht, was auf Fahrerflucht stand, aber sie war sich sicher, er würde eine saftige Strafe bekommen.

«Es gibt ein kleines Problem», sagte Annemarie.

«Er hat ein Problem, nehme ich an», erwiderte Samantha.

«Das Auto passt nicht zu dem Kontrollschild.»

Verständnislos schaute Samantha von Franz zu Annemarie.

«Das Kontrollschild gehört zu einem VW, der angeblich zu diesem Zeitpunkt in einem Carport stand. Sein Besitzer weilt in Griechenland in den Ferien.»

«Offenbar nicht, da er Franz abgedrängt hat», sagte Samantha. «Oder hat eine andere Person den Wagen gefahren?»

«Das scheint nicht der Fall zu sein. Das Schild ist jetzt auch wieder dort.»

«Also hat der Zeuge sich bei der Wiedergabe des Kennzeichens geirrt.»

«Das hat er nicht», sagte Franz. «Er stand am Strassenrand und wollte einen Anruf tätigen, als es passierte. Er war so geistesgegenwärtig und hat mit dem Handy ein Foto geschossen.»

«Das Foto ist verschwommen, aber man kann einen hellen SUV mit diesem Kennzeichen erkennen», fügte Annemarie an.

Samanthas Verwirrung nahm zu. Wollte Franz damit sagen, der Unfallverursacher hatte das Kennzeichen «ausgeliehen» und später zurückgebracht? Warum? Um Franz von der Strasse abzudrängen? Das war zu weit hergeholt.

Es gab eine andere Möglichkeit. «Handelt es sich um eine Wechselnummer?», fragte Samantha.

«Das wurde überprüft. Nein.»

Wer kam auf die Idee, ein Autokennzeichen von einem fremden Wagen zu nehmen, damit durch die Gegend zu fahren und es anschliessend zurückzubringen? Das musste auffallen.

«Hat die Polizei die Nachbarn des Wagenbesitzers, der in den Ferien ist, befragt?»

«Keiner hat etwas bemerkt – weder heute noch in den vergangenen Tagen. Von den befragten Personen in der Nachbarschaft fährt keiner einen hellen SUV.»

Ein Handy klingelte, und Annemarie erhob sich. «Felix Schneider», sagte sie und verliess den Raum.

«Unser Notar war nicht begeistert, weil wir ihn versetzt haben.»

«Welcher Notar?», platzte Samantha heraus. «Wollt ihr Amry Cosmetics verkaufen?»

«Nein.»

Samantha versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen.

«Es tut mir leid, wenn wir dich beunruhigen.»

«Nicht nur mich. Es sind alle am Rätseln, was los ist.»

«Und ich dachte, keiner merkt etwas. Annemarie wollte es erst bekannt geben, wenn alles unterschrieben ist.»

«Das ist richtig, und das will ich weiterhin», kam es von der Tür.

«Und ich möchte nicht die Beunruhigung und die Gerüchte weiter schüren. Annemarie möchte sich aus dem Geschäft zurückziehen. Einen Teil der Aktien überträgt sie auf ihre Tochter, die anderen kaufe ich ihr ab. Damit es korrekt abgewickelt wird, benötigen wir einen Notar.»

«So eindeutig, wie es scheint, ist es nicht.» Annemaries Mund wurde zu einem schmalen Strich. «Wir müssen gewisse Dinge definieren und Unklarheiten beseitigen. Ich bitte dich, diese Information vertraulich zu behandeln», sagte sie zu Samantha.

Franz setzte zu einer Erwiderung an, aber Annemarie fuhr fort: «Am Montagnachmittag können wir zum Notar», wandte sie sich an ihren Bruder.

Es dunkelte ein, als Samantha nach Hause kam. Stille empfing sie, als sie die Haustür öffnete. Im Wohnzimmer und in der Küche brannte kein Licht. Samantha wunderte sich, wo Joel hingegangen war, zumal die Haustür nicht abgeschlossen war. Samantha lief nach oben. Dort war alles dunkel. Sie kehrte ins Erdgeschoss zurück und überlegte, was sie abgemacht hatten, bevor sie zu Annemarie aufgebrochen war. «Ich mache mir einen gemütlichen Abend», hatte er zum Abschied gesagt.

Er ist spazieren gegangen, versuchte Samantha sich zu beruhigen. Wieso war die Haustür nicht abgeschlossen? Sie betrat das Wohnzimmer und bemerkte, wie sich der Vorhang vor der Terrassentür in dem leichten Luftzug bauschte.

Samantha fand Joel auf der Terrasse. Er sass im Liegestuhl. Sein Kopf war zur Seite geneigt, und auf seinem Bauch lag ein aufgeschlagenes Buch. Beinahe hätte sie vor Erleichterung laut aufgelacht.

Du musst nicht immer gleich das Schlimmste vermuten, dachte sie und nahm vorsichtig das Buch. Nicht einfach, überlegte sie weiter. Bei allem, was in den letzten Jahren passiert war. Sie legte es auf den Tisch.

Joel schlug die Augen auf. «Sammy?» Er richtete sich auf. «Ich muss eingeschlafen sein.»

«Offensichtlich. Ist das Buch so langweilig?»

«Eigentlich nicht. Es war eine anstrengende Woche. Konntest du das Portemonnaie abliefern?»

«Ja.» Samantha setzte sich auf den zweiten Liegestuhl, klappte aber die Lehne nicht nach hinten.

«Gibt es Neues zum Verbleib von Franz?»

«Ja», sagte Samantha abermals und berichtete von Franz’ Unfall.

«Das kommt leider häufiger vor, als man denkt», sagte Joel, nachdem sie geendet hatte. «Zum Glück ist es glimpflich ausgegangen.»

«Er sah wie Frankenstein persönlich aus.»

«Immerhin konnte er aus dem Spital entlassen werden. Was ich seltsamer finde, ist die Sache mit dem Kennzeichen. Warum wurde es gestohlen oder ‹ausgeliehen›? Wollte der Fahrer einen Einbruch oder einen Banküberfall begehen und hat vorgesorgt, falls jemand das Kennzeichen notieren würde? Allerdings würde ich an seiner Stelle keinen auffälligen Fahrstil an den Tag legen.»

Das Gleiche hatte Samantha sich auf der Heimfahrt überlegt.

«Und ich würde das Kennzeichen im Anschluss entsorgen und nicht mehr zurückbringen.»

Bevor Samantha von Annemarie gegangen war, war das Gespräch zum Unfall gedriftet.

«Das mit den Kennzeichen ist der Polizei ein grosses Rätsel», hatte Franz gesagt.

«Kann man anhand des Fahrzeugtyps herausfinden, wer der Besitzer des hellen SUV ist?», fragte Samantha.

«Ich denke, das wird schwer werden», erwiderte Joel. «Derartige Fahrzeuge gibt es viele. Es kann sich um ein Auto handeln, das nicht gemeldet ist und die meiste Zeit in einer Garage steht.»

«Das würde zumindest erklären, weshalb sich der Fahrer ein Kennzeichen ausleiht.»

ZWEI

Samantha parkte. Sie lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze und schloss die Augen.

Die vergangene Nacht hatte sie miserabel geschlafen. Nach der kurzfristigen Abkühlung am Samstag waren die Temperaturen gestern Sonntag wieder angestiegen. Eine neue Tropennacht lag hinter ihnen, wie Meteo in den Morgennachrichten verkündet hatte.

Samantha musterte sich im Rückspiegel. Es war ihr nicht anzusehen, wie müde sie war. Sie sah wie immer aus: brauner Teint, der für eine Inderin untypisch hell war. Leuchtend grüne Augen und schwarze, dichte Haare, die sie heute hochgesteckt trug.

Sie unterdrückte ein Gähnen und stieg aus. Das Rauschen des Verkehrs von der Umfahrungsstrasse hinter dem Lärmschutz begleitete sie, als sie durch das Schildareal lief. Sie betrat das Gebäude, in dem Amry Cosmetics seine Räumlichkeiten hatte. Samantha ging an der Tür vorbei, die zu dem Bereich führte, den sie alle den Labortrakt nannten, und lief die Treppe in den ersten Stock zu den Büroräumen hoch. Der anthrazitfarbene Teppich dämpfte ihre Schritte. Es war still. Das war ungewöhnlich. War sie heute etwa die Erste? Dabei war es Viertel nach acht Uhr.

Samantha lief an Franz’ Büro vorbei und blieb erstaunt stehen. Über einem der Displays, das schräg zur Tür zeigte, schwirrten bunte Symbole. Hatte er vergessen, den Computer auszuschalten, als er am Freitagmittag das Büro verlassen hatte? Nicht vergessen, korrigierte sie sich. Er hatte nach dem Treffen mit Annemarie zurückkommen wollen.

«Guten Morgen, Samantha.»

Erschrocken fuhr sie herum. Franz sah aus wie am Freitag. Die Schürfwunden auf der Stirn waren aber verkrustet, und das blaue Auge hatte die Farbe zu einem dunklen Lila mit Grünschattierungen am Rand gewechselt. Wie nach einer Schlägerei, dachte sie.

«Stimmt was nicht?», fragte er.

Samantha wurde sich bewusst, ihn mit offenem Mund anzustarren. «Mit dir hätte ich am wenigsten gerechnet», sagte sie.

«Wegen dieser kleinen Blessuren?» Er berührte mit den Fingerspitzen die Kratzer auf der Stirn. «Es ist gut, dich zu sehen. Dann können wir gleich die Anforderungen besprechen, die der neue Lieferant für Guar Gum erfüllen muss.»

Sie brauchten einen neuen Lieferanten für das Guarkernmehl, das sie als Verdickungsmittel und Stabilisator in Shampoos und Cremen einsetzen wollten und das aus dem Samen der aus Indien stammenden Guarpflanze gewonnen wurde. Es verlieh der Haut ein glattes und weiches Aussehen.

So dringend fand Samantha diese Besprechung nicht.

«Bist du nicht krankgeschrieben?», fragte sie, als sie ihm in sein Büro folgte.

«Theoretisch bin ich das für eine Woche. Praktisch habe ich anderes beschlossen. Ich sehe schlimmer aus, als ich mich fühle.» Franz schloss die Glastür und setzte sich an den kleinen viereckigen Tisch, an dem vier Stühle standen. Er deutete auf den Stuhl gegenüber.

Dominik und Emma tauchten auf dem Gang auf und hoben die Hand zum Gruss, bevor sie weitergingen. Franz’ Aussehen hatten sie offenbar nicht realisiert. Genauso schien Franz’ Anwesenheit für sie selbstverständlich zu sein, was Samantha nach dem Wirbel vom Freitag verwunderte. Sie hätte nachgefragt.

«Entschuldige, wenn ich dich überfalle. Aber ich bin froh, wenn wir das erledigen können, bevor ich nachher mit Annemarie unterwegs bin. Wie gesagt, ich möchte sicher sein, dass unsere Produkte den Anforderungen von Deutschland und Österreich genügen, wenn wir uns weiter in die D-A-CH-Region ausdehnen. Dazu muss die Qualität der Rohstoffe stimmen, besonders derer, die wir aus China und Indien beziehen.» Er zwinkerte Samantha zu.

Sie hatte angeregt, Lieferanten ausserhalb der Schweiz zu berücksichtigen. Ein Vorteil war der günstigere Preis der Rohstoffe, und die Qualität der Produkte stand der der europäischen Lieferanten in nichts nach. Franz hatte gezögert, aber Samantha hatte ihn überzeugen können, zumindest Muster anzufordern. Er war angenehm überrascht von der Qualität gewesen und hatte grünes Licht gegeben, weitere Schritte einzuleiten. Samantha hatte eine kleine Menge Guar Gum bestellt, damit Emma im Labor einige Tests durchführen konnte. Diese waren bisher zufriedenstellend verlaufen.

«Die Qualität von allen vier ist gut. Wobei dieser hier heraussticht.» Er tippte auf ein Blatt, als sein Handy klingelte.

«Das ist Cornelia», sagte er. «Darf ich das Gespräch annehmen? Es wird um heute Nachmittag gehen.»

«Selbstverständlich», sagte Samantha und zog die Blätter zu sich heran.

«Was?», rief Franz und sprang auf. Sogleich sank er zurück auf seinen Stuhl. Sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, und sein Atem ging stossweise.

«Ist alles in –», setzte Samantha an, brach aber ab, als Franz eine heftige Handbewegung machte.

«Bist du sicher?», stiess er hervor. «Ja, ich komme sofort.» Er liess das Handy sinken und starrte Samantha an. Aber er schien sie nicht wahrzunehmen.

«Was ist passiert?», fragte Samantha.

Ein Ruck ging durch seinen Körper.

«Meine Schwester ist tot», sagte er kaum hörbar. Sein Gesicht hatte von dem Weiss zu einem ungesunden Grauton gewechselt.

«Wie bitte?» Samantha glaubte sich verhört zu haben.

«Das kann nicht sein», flüsterte er. «Gestern Vormittag haben wir telefoniert. Da schien alles in Ordnung zu sein. Ich muss los.» Er sprang auf und blieb mit dem Fuss am Stuhlbein hängen. Er strauchelte, und Samantha konnte ihn knapp auffangen.

«Danke.» Er humpelte zur Tür. Dort drehte er sich um, schwankte und stützte sich am Türrahmen ab. Schweisstropfen sammelten sich auf der Stirn.

Er reichte Samantha den Autoschlüssel. «Ich bin nicht fahrtauglich. Kannst du mich bitte hinfahren?»

Samantha bremste und hielt am Strassenrand. In Annemaries Einfahrt parkte ein dunkelroter Wagen mit einem Kennzeichen aus Basel-Stadt. Davor stand quer ein Wagen der Kantonspolizei Basel-Landschaft. Hinter dem Wagen befand sich ein silbriger Hyundai, gegen den Jan Nussbaum von der Kantonspolizei Baselland lehnte und telefonierte. Hatte er ein neues Auto? Und was machte er hier?

Samantha beobachtete Nussbaum. Der schlanke, drahtig gebaute Mann schien in das Gespräch vertieft zu sein.

Aus dem Haus trat ein Mann in einem weissen Ganzkörperanzug. Samanthas Herzschlag beschleunigte sich. Spurensicherung? Was hatte das zu bedeuten?

Er streifte die Kapuze vom Kopf, und Samantha erkannte Lorenz Bühler aus Nussbaums Team. Er ging zu Nussbaum, der aufschaute. Gleich darauf bemerkte er Samantha. Er sagte etwas zu Bühler und kam auf sie zu. Dabei bewegte er sich geschmeidig wie eine Raubkatze, die ihre Beute im Visier hatte. Samantha liess das Fenster auf der Fahrerseite herunter.

«Frau Kälin?» Nussbaum beugte sich zu ihr herunter. «Was machen Sie hier?» Sein Ärger war spürbar.

Samantha deutete auf Franz, der steif neben ihr sass und aus dem Fenster starrte. «Er bat mich, ihn zu fahren.»

Nussbaum hob eine Augenbraue.

Franz reagierte weiterhin nicht. Es war, als habe er Nussbaum nicht wahrgenommen. Bühler gesellte sich zu ihnen. Wie bei früheren Begegnungen mit ihm war Samantha über seine Ausstrahlung erstaunt. Der Mann Mitte fünfzig hatte volle dunkelblonde Haare. Im Kontrast dazu stand ein weisser Vollbart, und er trug eine Brille mit goldenem Rahmen.

«Franz Ammann ist der Bruder von Annemarie Ryser», fühlte Samantha sich genötigt zu sagen.

«Sie kennen sie?» Er deutete auf das Haus.

«Sie ist Miteigentümerin von Amry Cosmetics.»

«Das Unternehmen, für das Sie arbeiten?» Nussbaum sah aus, als sortiere er Puzzleteile im Kopf.

«Herr Ammann bat mich, ihn zu fahren, nachdem Frau Rysers Tochter ihn angerufen und ihn über den Tod ihrer Mutter informiert hatte.»

Erneut schien Nussbaum seine Gedanken zu sortieren. «Ich würde gerne mit Ihnen sprechen», sagte er unvermittelt.

Nachdem Samantha geparkt hatte, ging Bühler mit Franz zum Haus. Nussbaum öffnete die Beifahrertür seines Hyundai und forderte Samantha auf, Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich auf den Fahrersitz. Ein Mann zog sich einen weissen Schutzanzug über und betrat das Haus.

Warum wurde das Haus wie ein Tatort behandelt, fragte Samantha sich. Bedeutete es, Annemarie war gewaltsam umgekommen? Nicht unbedingt. Bei einem unvorhergesehenen Todesfall warf die Polizei ein Auge darauf, ob es sich um einen nicht natürlichen Tod handelte. Gab es bei Annemarie Hinweise in diese Richtung? Hatte sie Suizid begangen? Gerade hatte sie eine neue Krebstherapie hinter sich, und die Ärzte hatten vorsichtigen Optimismus verbreitet. Nahm man sich danach das Leben?

«Haben Sie einen neuen Wagen?», fragte Nussbaum.

Samantha brauchte einen Moment, bis sie mit diesem Einstieg in das Gespräch zurechtkam.

«Nein. Das ist Annemaries Wagen.»

Nussbaum setzte sich kerzengerade auf. «Wieso fahren Sie Annemarie Rysers Auto?» Die Schärfe in seiner Stimme erschreckte Samantha, und sie kam sich vor, als habe sie sich eines Vergehens schuldig gemacht.

«Franz Ammann sagte, er sei nicht fahrtauglich und –», setzte sie abermals an.

«Warum hat er den Wagen seiner Schwester?», fuhr Nussbaum dazwischen. «Ist er heute damit selbst gefahren? Mit dem Arm in der Schlinge?»

«Das Auto hat Automatikgetriebe», erwiderte Samantha, obwohl sie es ebenfalls unverantwortlich von Franz fand, einarmig gefahren zu sein.

«Wieso hat er das Auto?», unterbrach Nussbaum sie erneut.

«Sie hat ihm den Wagen ausgeliehen, da sein Auto nach dem Unfall vom Freitag Schrott ist. Da Frau Ryser den Wagen vorerst nicht brauchte, hat sie ihn ihm überlassen. Das ist zumindest das, was mir Franz erklärt hat.»

Die Falten auf Nussbaums Stirn glätteten sich. Er stieg aus und hielt einen Beamten, der gerade vorbeiging, am Arm fest. Samantha konnte nur Bruchstücke der Anweisung verstehen, aber die reichten aus. Annemaries Wagen sollte von der Spurensicherung untersucht werden. Samantha fühlte sich zunehmend unwohl. Es würden Spuren von ihr zu finden sein. Das Gleiche galt für das Haus.

Nussbaum stieg zurück in den Wagen und holte sein Notizbuch hervor. «Wissen Sie, ob Herr Ammann den Wagen gleich am Freitag genommen hat?»

«Das müssen Sie ihn selbst fragen.»

Nussbaum lehnte sich nach hinten und trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Es musste sich um einen gewaltsamen Tod handeln, dachte Samantha.

«Wie gut kennen Sie Annemarie Ryser?», fuhr Nussbaum fort.

«Nicht so gut. Sie war wegen ihrer Krankheit selten bei Amry.»

«Wann hatten Sie zuletzt Kontakt mit ihr?»

«Letzten Freitag. Ich war hier, um –» Samantha brach ab.

«Im Haus?», fragte Nussbaum.

«Ja.»

Lange schaute er sie an. Deutlich konnte Samantha sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete.

«Wie passt das dazu, Frau Ryser nicht so gut zu kennen?»

Samantha faltete die Hände und legte sie auf ihre Oberschenkel. Sie starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe, als sie davon berichtete, was sie über den Unfall von Franz wusste und wie sie das Portemonnaie zurückgebracht hatte.

Nussbaum sagte nichts. Das Schweigen dehnte sich aus.

Wo war Franz? Vermutlich wurde er wie sie befragt. Aber wo und von wem?

«Wo waren Sie überall im Haus?»

«Im Entrée und im Wohnzimmer.»

Nussbaum machte einige Notizen. «Als Sie am Freitag gegangen sind, blieb Herr Ammann bei seiner Schwester. Ist das richtig?»

«Er ist nicht gleichzeitig mit mir gegangen. Wie lange er geblieben ist, kann ich Ihnen nicht sagen.»

«Wie stufen Sie das Verhältnis zwischen Franz Ammann und seiner Schwester ein?»

Stand Franz etwa unter Mordverdacht? «Sie hatten ein herzliches Verhältnis. Franz war besorgt um seine Schwester.» Stimmte das oder übertrieb sie? Wenn sie die beiden zusammen gesehen hatte, waren sie sachlich miteinander umgegangen. Aber Annemaries Besorgnis am Freitag um ihren Bruder schien echt und nicht gespielt gewesen zu sein. Das traf auch auf den Abend zu, als sie bei Annemarie zu Hause gewesen war. Doch hiess das automatisch, die beiden hatten ein herzliches Verhältnis?

«Gab es in der letzten Zeit einen Vorfall?», fragte Nussbaum weiter.

«Meinen Sie zwischen Franz und seiner Schwester?»

«Entweder das oder allgemein.»

«Weder noch.»

Abermals fragte Samantha sich, ob diese Aussage stimmte. Sie versuchte sich zu erinnern, wie Franz üblicherweise über seine Schwester gesprochen hatte. Normal – weder herzlich noch mit Groll. Samantha dachte daran, wie Franz ihr erklärt hatte, Annemarie wolle Anteile an ihn übertragen, da sie sich aus gesundheitlichen Gründen aus der Firma zurückziehen wolle. Kurz hatte etwas in ihren Augen aufgeblitzt, das Samantha nicht beachtet hatte, ihr aber nun in den Sinn kam. Der verkniffene Ausdruck in ihrem Gesicht war keine Sekunde später verschwunden gewesen. Interpretierte sie zu viel hinein, wenn sie annahm, Annemarie war mit dem nicht einverstanden gewesen? Die Übertragung der Aktien konnte nur funktionieren, wenn beide Seiten dem zustimmten, und der Prozess schien weit fortgeschritten zu sein, wenn sie bereits letzte Besprechungen beim Notar hatten. Warum wollte Annemarie ihren Anteil Franz übertragen? War nur ihr Gesundheitszustand der Grund, gab es Differenzen in der Firma, oder hatte Franz sie dazu genötigt? Samantha erschrak über ihre Gedanken. Lass das. Keine Mutmassungen, sondern berichte nur über deinen Eindruck.

«Offenbar gab es etwas», sagte Nussbaum.

«Davon weiss ich nichts. Ob es Schwierigkeiten zwischen den beiden gab, müssen Sie Franz fragen.»

Samantha hielt Nussbaums Blick stand. Sie wollte bestimmt nicht den Verdacht auf Franz lenken. Es war an Franz, die Polizei über die Geschäftsübertragung zu informieren.

Die Gedanken in Samanthas Kopf drehten sich weiter. Ging es nur um eine Geschäftsübertragung, oder hatte der Termin beim Notar einen anderen Grund? Hör auf damit.

«Wie ist Annemarie gestorben?», fragte Samantha.

Anstatt darauf einzugehen, neigte Nussbaum den Kopf zur Seite. Das reichte Samantha als Bestätigung. Annemaries Tod war nicht auf die Krebserkrankung zurückzuführen.

***

«Bitte nehmen Sie Platz und warten Sie hier», sagte die blonde Beamtin und deutete in den Raum.

Nach dem Gespräch hatte Nussbaum Samantha gebeten, ihre Fingerabdrücke abzugeben.

«Wir möchten gerne Ihre aussortieren. Sobald der Fall gelöst ist, werden sie gelöscht», hatte er erklärt.

Widerwillig hatte Samantha zugestimmt. Als sie gefragt hatte, wann sie zum Polizeiposten Gutsmatte kommen solle, hatte Nussbaum geantwortet: «Am besten sofort.»

Er war mit Samantha zum Polizeiposten gefahren und hatte sie der Beamtin übergeben. Obwohl sie sich freundlich gegenüber Samantha verhalten hatte, war Samantha sich wie eine Verbrecherin vorgekommen. Das Gefühl verstärkte sich, da die Beamtin sie zu dem Sitzungszimmer, in dem sie bereits früher einmal gewesen war, gebracht hatte. Warum musste sie bleiben?

Samantha lehnte etwas zu trinken ab und blieb vor dem dunklen Tisch stehen. Die Beamtin hatte die Tür geschlossen. Vom Korridor war Stimmengemurmel zu hören. Schritte näherten sich und entfernten sich gleich darauf. Danach war es still. Samanthas Nervosität nahm zu. Was wollten sie von ihr? Sie hatte alles gesagt, was sie wusste, und alles gemacht, worum sie gebeten worden war. Sie trat an das Fenster und schaute auf die Rheinstrasse. Ein blauer Wagen bremste scharf und hupte, als ein Velofahrer unverhofft zur Strassenmitte schwenkte. Der Velofahrer zeigte dem Autofahrer den Mittelfinger, überquerte die Gegenfahrbahn und verschwand Richtung römisch-katholische Kirche Bruder Klaus.

Es klopfte an der Tür, und Nussbaum betrat den Raum. Er machte eine Geste zum Tisch und setzte sich Samantha gegenüber.

«Vielen Dank für die unkomplizierte Abwicklung», sagte er.

Was blieb mir anderes übrig, dachte sie. Sie schwieg.

«Ich habe ein oder zwei Fragen an Sie», fuhr Nussbaum fort. «Wenn ich das richtig verstanden habe, hat Herr Ammann den Anruf zum Tod seiner Schwester erhalten, als Sie bei ihm waren.»

Samantha nickte.

«Wie verhielt er sich vor dem Anruf?»

«Normal. Das heisst, er war leicht gestresst, weil er die Sache mit dem neuen Rohstoff erledigt haben wollte.»

«Frau Ryser und Herr Ammann hatten später am Tag abgemacht. Ist das korrekt?»

«Ja, sofern ich das richtig verstanden habe.» Behauptete jemand anderes? Samantha sah keinen Grund, an Franz’ Aussage zu zweifeln.

«Wie war sein Verhalten, als er den Anruf erhielt?»

Samantha schaute ihn fragend an.

«Wirkte er überrascht oder …» Es klopfte, und ein Beamter streckte den Kopf herein.

«Nicht jetzt», fuhr Nussbaum ihn an.

Der Mann hob entschuldigend eine Hand und zog sich zurück.

«Er war überrumpelt», sagte Samantha.

«Es erschien Ihnen nicht inszeniert?»

«Überhaupt nicht!» Wie konnte Nussbaum dies denken? Er muss das fragen, dachte sie gleich darauf.

«Kennen Sie Frau Rysers Tochter Cornelia?»

«Nicht persönlich.»

«Sondern?»

«Auf Annemaries Pult stehen Fotos. Auf einem davon ist sie abgebildet.»

«Auf Frau Rysers Pult? Ich dachte, sie habe sich aus dem Unternehmen zurückgezogen.»

«Sie ist hin und wieder da und hat ihr Büro behalten.»

«Ihre Tochter haben Sie nie im Unternehmen gesehen, wenn ich Sie richtig verstehe?»

«Das ist richtig.»

«Danke. Das ist es für den Augenblick.» Er stand auf. «Ich bringe Sie nach unten.»

Erstaunt über das abrupte Ende des Gesprächs blieb Samantha einige Sekunden sitzen, bevor sie sich erhob. Sie folgte Nussbaum vor das Gebäude.

«Wenn Ihnen etwas einfällt, lassen Sie es mich bitte wissen», sagte er und reichte Samantha die Hand.

Erleichtert, entlassen zu sein, ging Samantha zu Fuss die Rheinstrasse entlang und erreichte das Schildareal zehn Minuten später. Bevor sie Amry Cosmetics betrat, hielt sie inne.

Ein weisser SUV stand von einem anderen Auto halb verdeckt vor einem der Gebäude.

***

«Soll ich Herrn Nussbaum über den weissen Geländewagen informieren?», fragte Samantha und schöpfte vom Salat. «Oder bin ich zu hysterisch?»

«Weisse SUVs gibt es viele», erwiderte Joel und nahm vom Brot.

Sie sassen auf der Terrasse. Ein Wind wehte und verdrängte die Hitze des Tages.

«Kannst du sagen, welche Marke es war, oder Angaben zum Nummernschild machen?»

«Weder noch.» Samantha ärgerte sich, ihre Sinne nicht beieinandergehabt und zu langsam reagiert zu haben. Sie hatte auf den Wagen gestarrt, in dem ein Mann gesessen war. Er hatte zurückgestarrt. Zumindest war es Samantha so vorgekommen. Nach einigen Sekunden hatte der Fahrer den Motor gestartet. Er hatte Gas gegeben und war mit quietschenden Reifen an ihr vorbeigefahren. Bevor sie auf die Idee kam, sich die Marke und das Kennzeichen zu merken, war der Wagen rechts in die Rheinstrasse abgebogen. Sie wusste nur, dass das Kennzeichen mit BS angefangen hatte.

«In dem Fall wird es ihm nichts nützen. Hast du diesen Wagen bereits früher einmal auf dem Areal gesehen?»

Wenn sie das wüsste. «Ich achte nicht auf die Autos, die dort geparkt sind.»

«Was weisst du von dem SUV, der Franz abgedrängt hat?»

«Er ist weiss.» Das stimmte nicht. «Heller Wagen» hatte es geheissen. Das war nicht gleichbedeutend mit weiss. Er konnte silbern oder beige gewesen sein.

«Und sonst?»

«Er war mit gestohlenen, Pardon, ausgeliehenen Kennzeichen unterwegs.»

«Weiter?»

«Nichts weiter.»

«Du hast also keinen richtigen Vergleich. Die einzige Möglichkeit herauszufinden, ob das der gleiche Wagen ist, wäre das Kennzeichen gewesen.» Er hielt inne. «Oder auch nicht. Das am Freitag war nur ausgeliehen und wurde zurückgebracht.» Joel legte das Besteck auf den Teller und lehnte sich zurück. «Alles, was du tun kannst, ist, die Augen offen zu halten, ob du den Wagen noch mal auf dem Areal siehst.»

Zu diesem Schluss war Samantha selbst gekommen. Es frustrierte sie, es ausgesprochen zu hören.

«Worüber du Nussbaum informieren solltest, ist die Sache mit der Geschäftsübertragung.»

«Das ist Franz’ Sache. Offiziell weiss ich davon nichts.»

«Du weisst nicht, was dahintersteht. Das kann viele potenzielle Reibereien beinhalten.»

«Du hast recht. Ich kenne die Hintergründe nicht. Gerüchte möchte ich nicht in die Welt setzen.»

Joel stellte die Teller zusammen und stand auf. Samantha folgte ihm in die Küche.

«Mir wäre es lieber, ich wüsste nichts davon. Ich wollte Franz nicht mehr in den Fokus der Ermittlungen rücken, als er ohnehin bereits ist.»

«Er könnte durchaus dahinterstecken.»

«Das glaubst du selbst nicht.»

«Ich möchte damit sagen, ich finde es logisch, wenn Herr Nussbaum und sein Team ihn genauer im Auge behalten. Viele Verbrechen geschehen im familiären Umfeld.»

«Es ist nicht sicher, ob Annemarie eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Sie wurde tot in ihrem Haus aufgefunden. Bei einem unerwarteten Todesfall schaut die Polizei genauer hin.»

«Was gut so ist. Hoffen wir, dass sie ihrer Krebserkrankung erlegen ist und niemand nachgeholfen hat.»

Das konnte Samantha immer weniger glauben. Allerdings wusste sie nicht, wie Annemaries gesundheitlicher Zustand gewesen war. Sie konnte sich vorstellen, welche Belastung eine solche Krankheit bedeutete – körperlich wie psychisch. War es Annemarie zu viel geworden? Samantha kam zur Überzeugung, sie habe sich selbst das Leben genommen. Wieso hatte sie nicht damit gewartet, bis die Geschäftsübertragung über die Bühne gegangen war?

DREI

Verflixter Wecker, dachte Samantha und eilte über den Parkplatz zu Amry Cosmetics.

«Guten Morgen», sagte Christian, als sie sich ausser Atem auf ihren Stuhl plumpsen liess. «Oder soll ich besser Guten Tag sagen?»

«Lass mich in Ruhe», knurrte Samantha und schaltete ihren Computer ein.

«Ist wohl spät geworden», fuhr Christian fort.

«Ist es nicht. Der Wecker hat versagt.»

«Die älteste Ausrede der Welt …»

Samantha richtete sich auf und funkelte Christian über den Bildschirm an.

Er hob entschuldigend die Hände. «Reg dich nicht auf. Franz hat dich gesucht», sagte er und wandte sich seinem Bildschirm zu. «Dreimal war er schon hier.»

Oh nein.

Samantha eilte zu Franz’ Büro. Es war leer. Aber er musste im Haus sein, wenn Samantha die bunten Symbole, die über den Bildschirm flimmerten, richtig deutete.

«Hast du Franz gesehen?», fragte sie Dominik, der gerade mit einem Aktenordner unter dem Arm aus seinem Büro kam.

«Er ist hier irgendwo», erwiderte er und unterstrich seine Antwort mit einer ausladenden Geste. «Wenn ich du wäre, würde ich ihm aus dem Weg gehen. Er hat eine miserable Laune. Aber das hätte ich an seiner Stelle auch.» Pfeifend verschwand er im Treppenhaus.