Liestaler Gold - Ina Haller - E-Book

Liestaler Gold E-Book

Ina Haller

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Beschreibung

Neue meisterhafte Spannung von Bestsellerautorin Ina Haller. Samanthas Nachbarin Josefina wird brutal ermordet – das Haus ist verwüstet, im Keller werden mysteriöse Spuren einer Grabung entdeckt. Samantha will ergründen, was passiert ist, doch statt auf Antworten stösst sie nur auf weitere Ungereimtheiten: Der Ex-Freund der Toten verstrickt sich in Widersprüche, und auch in Josefinas Vergangenheit tun sich Abgründe auf. Dann wird der Vater des Opfers tot aufgefunden, und auf einmal steht Samantha selbst im Fadenkreuz der Ermittler.

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Ina Haller lebt mit ihrer Familie im Kanton Aargau, Schweiz. Nach dem Abitur studierte sie Geologie. Seit der Geburt ihrer drei Kinder ist sie «Vollzeit-Familienmanagerin» und Autorin. Zu ihrem Repertoire gehören Kriminalromane sowie Kurz- und Kindergeschichten.

www.inahaller.ch

www.facebook.com/autorininahaller

www.instagram.com/ina.haller.autorin

www.twitter.com/IHaller_Autorin

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich Rezepte und ein Glossar.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus Sturrax/Pixabay.com, Ron Rev Fenomeno/Pixabay

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-907-5

Originalausgabe

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Für Pascalina

Prolog

Sie sprechen Schweizerdeutsch, dachte er und versuchte, die Information in seinem Kopf abzuspeichern. Das war schwierig angesichts der Panik, die ihn zu ersticken drohte.

Du musst dich konzentrieren, damit du der Polizei so viele Details wie möglich sagen kannst. Falls du hier lebend herauskommst … Eine neue Woge der Panik brach über ihn herein.

«Wo ist der Schlüssel?», herrschte ihn der Grössere der beiden an.

«Ich –»

Der kleinere Korpulente nahm das Messer in die Hand und schlug mit der Seite auf seine Handinnenfläche. Die Augen, das Einzige, das die Maske freiliess, waren zu schmalen Schlitzen verengt.

«In der rechten Gesässtasche», flüsterte er.

Grob wurde er auf die Seite gedreht und die auf dem Rücken gefesselten Hände weggeschoben. Der Grosse zerrte den Schlüssel aus der Hosentasche heraus.

Der Mann liess von ihm ab und verschwand in den hinteren Raum. Zielgerichtet. Alles andere liess er links liegen. Dabei hatte das, was sich in diesem Raum befand, bereits einen immensen Wert. Sie verfügten offenbar über Insiderwissen.

Er verfluchte sich, weil er diesen Auftrag angenommen hatte. Damals hatte alles so verlockend ausgesehen. Der in Aussicht gestellte Gewinn hatte seine Bedenken in den Hintergrund gedrängt. Mit diesem einen Auftrag hätte er einen Umsatz gemacht, den er normalerweise in drei Jahren erzielte.

Wer konnte davon wissen? Viele, kam ihm in den Sinn.

Anfangs war er vorsichtig gewesen. Das Material hatte er über mehrere Wochen versetzt geliefert erhalten. Bewusst, um kein Aufsehen zu erregen. Bis ihm alles zu Kopf gestiegen war.

Er bereute es, damit geprahlt zu haben. Sogar verschiedene Zeitungen hatten über ihn berichtet. Die ideale Werbung, hatte er gedacht. Das hatte er nun davon. Ihm hätte klar sein müssen, nicht nur einen positiven Effekt zu erreichen. Die beiden konnten jeder sein. Kollegen, jemand von der Konkurrenz oder jemand, der die Zeitung gelesen hatte.

Er versuchte die beiden Männer einzuordnen.

Egal, wie er sich anstrengte, es kam ihm keiner in den Sinn, der sich hinter der Maske verbergen konnte. Kurz blitzte eine Idee auf, aber ehe er den Gedanken ausformuliert hatte, war er verschwunden. Das Gleiche galt für die Stimmen der beiden. Er hatte sie früher schon einmal gehört. Nur, wann war das gewesen? Und zuordnen konnte er sie nicht.

Der Korpulente lehnte sich lässig gegen den Tisch und behielt ihn im Auge.

Fieberhaft überlegte er, wie es ihm gelingen könnte, an den Alarmschalter zu kommen. Aussichtslos, wenn ihm sein Leben lieb war. Die zwei Meter zum Tisch schienen unüberwindbar.

Warum hatte er sich darauf eingelassen? Er hätte wissen müssen, dass mit dem neuen potenziellen Kunden etwas nicht stimmen konnte, wenn er auf einen Termin nach einundzwanzig Uhr bestand.

Wieder hörte er die sonore Stimme: «Ich kann nicht früher, da ich in dieser Woche Spätdienst habe. Da aber der Geburtstag meiner Mutter am nächsten Wochenende ist, wäre ich froh, wenn Sie eine Ausnahme machen würden.»

Der Grosse kehrte zurück. So wie er die Tasche hielt, hatte er offenbar Erfolg gehabt.

Ein Schmerz breitete sich in seinem Inneren aus. War Überfall in seiner Versicherungspolice inbegriffen? Eigentlich sollte es das, aber er befürchtete, die Versicherung werde nach einem Ausweg suchen, damit sie nicht zahlen musste. Es wäre nicht das erste Mal.

«Gehen wir», sagte der Grosse und drehte sich um. Dabei blieb er mit der Maske an dem Kleiderhaken hängen. Sie riss und entblösste das Gesicht.

«Du?», stiess er fassungslos hervor.

«Verdammt!»

Der Korpulente reagierte sofort. Mit einer Schnelligkeit, die er dem untersetzten Mann nicht zugetraut hatte, war dieser bei ihm und riss seinen Kopf nach hinten. Keine Sekunde später folgte ein Brennen an der Kehle. Der Schrei endete in einem Blubbern. Sein Herzschlag schnellte hoch, sofern das überhaupt noch möglich war, und mit jedem Schlag sprudelte sein Leben aus ihm heraus.

Das Letzte, zu dem er fähig war, war, das Bild seiner Frau und seiner beiden Söhne vor seinem inneren Auge heraufzubeschwören, bevor er in endgültiger Dunkelheit versank.

EINS

«Ich glaube, wir haben alles», sagte Samantha und betrachtete prüfend den gedeckten Tisch. Normalerweise war sie nicht der Typ für grossartige Dekorationen an Festtagen wie Ostern oder Weihnachten. Aber sie musste zugeben, es hatte ihr Spass gemacht, den Tisch schön herzurichten. Sie hatte einen kleinen Strauss aus Zweigen eines Korkenzieherhaselnussbusches auf den Tisch gestellt und mit Holzeiern geschmückt. Gefärbte Eier und welche aus Schokolade hatte sie auf dem Tisch verteilt. Vor den Tellern, auf denen sie je einen Hasen aus dunkler Schokolade platziert hatte, befanden sich kleine Töpfe, die mit Osterglocken bepflanzt waren.

Samantha schnitt zwei Stücke vom Zopf ab, den sie gestern Abend gebacken hatte. Joel öffnete die Proseccoflasche.

«Ein Sektfrühstück wäre eine feine Sache», hatte er gestern erklärt, als er zu Samanthas Verwunderung eine Flasche in den Kühlschrank gestellt hatte.

Zudem wartete er mit Räucherlachs auf. Samantha hatte überlegt, was es ausser Ostern zu feiern gab, war aber zu keinem Schluss gekommen.

«Setz dich», sagte Joel. «Ich mache den Cappuccino.»

Samantha liess sich auf einem Stuhl nieder und wandte ihr Gesicht der Sonne zu. An Ostern draussen frühstücken zu können kam nicht häufig vor, und sie empfand es heute als Privileg. Es war erstaunlich mild für Anfang April. Meteo Schweiz hatte einen Prachtstag von knapp über zwanzig Grad versprochen.

Am Mittag waren sie bei Joels Eltern eingeladen. Joels Schwester Simona würde mit ihrer Familie ebenfalls kommen. Samantha hatte für Simonas fast zweijährigen Sohn Nico ein Osternest vorbereitet, das sie im Garten verstecken wollte.

Kaffeeduft stieg in Samanthas Nase, und sie öffnete die Augen. Joel stellte die Tassen auf den Tisch und setzte sich. Die Sonne brachte den Kastanienton in seinen Haaren zum Leuchten. Manch einer würde ihn um diese Haarfarbe beneiden. Er goss den Schaumwein in die Gläser.

«Auf ein Jahr bei Amry Cosmetics», sagte er und stiess gegen Samanthas Glas.

«Das Jubiläum ist erst in drei Wochen», erwiderte sie.

«Macht nichts.» Joel gab Samantha einen Kuss.

War es wirklich ein Jahr her, seitdem Samantha bei dem kleinen Familienbetrieb in Liestal angefangen hatte? Der Firma, die vorwiegend Bodylotionen, Gesichts- und Sonnencremen sowie Hautreinigungsprodukte herstellte? Amry Cosmetics war vor zehn Jahren von Franz Ammann und Annemarie Ryser gegründet worden. Sie hatte sich inzwischen zurückgezogen und die Firma ihrem Bruder überlassen.

Heute beschäftigte der Betrieb zehn Mitarbeiter. Samantha gefiel an ihrem Job, dass sie zur Allrounderin wurde und nicht nur wie bei dem um einiges grösseren Pharmaunternehmen ­AarePharm für die Qualitätssicherung zuständig war.

Franz Ammann legte grossen Wert auf die Natürlichkeit und Nachhaltigkeit seiner Produkte. Auch das gefiel Samantha. Franz war zudem ein angenehmer Chef, obwohl es sich für Samantha weiterhin seltsam anfühlte, direkt dem Eigentümer unterstellt zu sein.

Samantha hatte bei AarePharm gekündigt, nachdem sie und ihr Vorgesetzter Joel ein Paar geworden waren. Diese Konstellation war ihr nicht als vorteilhaft erschienen, und rückblickend war die Entscheidung zu gehen richtig gewesen.

Bei Amry Cosmetics war sie nicht nur für die Sicherung der Qualität der Rohstoffe zuständig, sondern für alles, was mit Qualität und Sicherheit zu tun hatte, und sie arbeitete an der Entwicklung und Verbesserung der Cremen und Lotionen mit.

Joel setzte sich ihr gegenüber und schaute sie lange an. Es war, als wisse er nicht, was er als Nächstes sagen wollte. Er griff nach einem Stück Zopf und nahm eine Lachstranche.

«Du bist die meiste Zeit in Liestal …», sagte er kauend.

«Ja?» Samantha hielt in der Bewegung inne. Der Löffel mit dem Milchschaum verharrte auf halbem Weg zum Mund.

«… und so gut wie gar nicht mehr in Lenzburg», fuhr Joel fort.

Es musste Gedankenübertragung sein. Ihr war es vorgestern bewusst geworden, als Christa Ott, die mit ihrem Mann die Wohnung unter Samanthas bewohnte, anrief und fragte, was sie mit der Post machen solle, die sich angesammelt hatte. Seit zwei Wochen war sie nicht mehr in ihrer Wohnung gewesen.

Seitdem sie in Liestal arbeitete, war es immer öfter vorgekommen, dass sie am Abend nicht mehr nach Lenzburg gefahren war. Ein schleichender Prozess. Mit dem Auto war es zwar nur eine Dreiviertelstunde, was machbar war, aber regelmässig steckte sie im Stau. Zugfahren hatte sie ebenfalls ausprobiert. Einmal in der Stunde gab es einen durchgehenden Zug. Meistens musste sie jedoch in Olten umsteigen, was sie mit der Zeit als mühsam empfand.

«Das heisst, du wohnst eigentlich mehr hier.» Ein Lächeln umspielte seine Lippen, und auf einmal war Samantha klar, worauf er hinauswollte.

War sie dazu bereit? Eigentlich ja, musste sie zugeben. Wenn sie sagte, ich fahre nach Hause, hatte sie in der Regel Joels Haus vor Augen und nicht mehr ihre kleine Wohnung in der Lenzburger Altstadt. Trotzdem hatte sie Mühe, sich von ihrer gemütlichen Wohnung zu trennen.

Joel neigte den Kopf zur Seite, als wolle er sie auffordern zu sagen: «Okay, ich ziehe ganz zu dir.»

Bevor Samantha antworten konnte, erklang ein markerschütternder Schrei.

Erschrocken starrten Joel und Samantha einander an. Joel fing sich als Erster. Er rannte um das Haus herum. Samantha folgte ihm einige Sekunden später und fragte sich, warum Joel annahm, der Schrei käme von dieser Seite.

Sie erreichte die Strasse und stellte sich neben Joel, der unschlüssig nach rechts und links schaute.

Ein neuer Schrei, der nach «Hilfe» klang. Dieses Mal konnte Samantha die Richtung zuordnen, aus der er kam. Sie folgte Joel die Treppe entlang zu dem Einfamilienhaus hoch, das sich seinem gegenüber befand.

Die Haustür wurde aufgerissen, und ein älterer Mann torkelte heraus. Sie hatte ihn noch nie gesehen.

Er stolperte auf sie zu, verfehlte eine Stufe und verlor das Gleichgewicht. Knapp konnte Joel ihn auffangen.

«Kurt, was ist passiert?»

«Josefina», stiess er hervor.

«Was ist mit ihr?», fragte Joel.

«Josefina», wiederholte der Mann und schaute zum Haus. Seine Beine gaben nach, und Joel liess ihn sich vorsichtig auf eine Stufe setzen.

Aus dem Haus neben Josefinas traten ein Mann und eine Frau: Rita und Oliver Marti. Sie liefen zu ihnen. Rita umfasste ihren inzwischen voluminösen Bauch. Sie musste im sechsten Schwangerschaftsmonat sein, wenn Samantha das richtig in Erinnerung hatte. Sie ging vor dem Mann in die Hocke.

«Bleibt ihr bitte bei Josefinas Vater», sagte Joel. Samantha folgte ihm zum Haus.

Die Haustür war angelehnt. Samantha betrat hinter Joel einen düster wirkenden Gang. Stille umfing sie, und Samantha hatte das Gefühl, sie würden in eine andere Welt eintauchen. Wären nicht die Jacken an der Garderobe und die Schuhe darunter gewesen, hätte man das Haus für unbewohnt halten können.

«Josefina?», rief Joel.

Keine Antwort.

«Josefina? Wir sind es. Joel und Sammy.»

Stille.

«Schaust du oben nach?», fragte Joel.

Anstelle einer Antwort eilte Samantha die Treppe in den ersten Stock hoch. Die Türen zu den vier Zimmern waren angelehnt.

«Josefina?», sagte Samantha und klopfte gegen eine der Türen. Da sie keine Antwort bekam, stiess sie die Tür ganz auf und erschrak. In dem Schlafzimmer herrschte ein einziges Chaos. Bettdecke und Kissen lagen am Boden und waren aufgeschlitzt worden. Das Gleiche galt für die Matratze. Die Schranktüren waren offen und die Kleider herausgerissen worden. Der Inhalt der beiden Nachttischchen war über den Boden verteilt.

«Josefina!», rief Samantha und lief zum nächsten Zimmer, das offenbar das Arbeitszimmer war. Hier bot sich das gleiche Bild der Verwüstung.

Samantha rannte weiter. Das nächste Zimmer war zu ihrem Erstaunen leer. Die vierte Tür führte ins Badezimmer. Wie im Schlaf- und Arbeitszimmer herrschte hier Unordnung. Der Inhalt des Spiegelschranks lag auf dem Boden. Vor dem WC lag eine zerbrochene Parfümflasche. Süsslicher Duft hatte sich im Raum verbreitet und verursachte Samantha Übelkeit.

Sie hob den Kopf und schrie auf, als sie eine Person im Spiegel sah. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, dass die hellhäutige Inderin mit den dichten schwarzen, zu einem Rossschwanz gebundenen Haaren und den weit aufgerissenen grünen Augen sie selbst war.

Josefina. Wo war sie? War sie entführt worden? War das Chaos im oberen Stock auf einen Kampf zurückzuführen? Hatte Kurt Dobler den Täter überrascht? War der Täter im Haus?

Wo?

Unten?

Joel!

Bitte nicht.

«Sammy?»

Samantha erschrak.

«Sammy?», kam es erneut. Das war Joel.

Die Starre wich aus Samantha, und sie rannte die Treppe nach unten.

«Das totale Chaos.» Joel erwartete sie unten an der Treppe. «Hast du Josefina gefunden?»

Samantha schüttelte den Kopf. «Wir müssen die Polizei rufen», stiess sie hervor.

Das Knarren einer Tür liess sie gleichzeitig herumfahren. Die Tür, die in den Keller führen musste, schwang ein Stück auf. Offenbar aufgrund eines Luftzugs. Das Ganze wirkte wie eine inszenierte Einladung.

«Vorher schauen wir im Keller nach.»

«Nein.» Samantha hielt ihn am Arm fest.

«Sie könnte die Treppe hinuntergestürzt und verletzt liegen geblieben sein.»

«Wie erklärst du dir das Chaos? Derjenige, der dafür verantwortlich ist, könnte unten warten.»

Joel zögerte. «Nein», sagte er nach einigen Sekunden bestimmt. «Sollte Kurt ihn überrascht haben, wird er das Weite gesucht haben.» Joel verschwand im Keller.

Samantha teilte seine Meinung nicht. Sie drängte die Angst in den Hintergrund und folgte Joel die enge Treppe nach unten. Sie gelangte in einen kleinen fensterlosen Raum, von dem zwei Türen abgingen. Die Deckenlampe verbreitete schummriges Licht.

«Joel?»

Sein Kopf tauchte in der Tür auf, die in den Raum geradeaus führte. Samantha folgte ihm und fand sich in einer Waschküche wieder. Wenigstens hatte es hier ein Fenster, und durch den Schacht drang Tageslicht herein. Neben dem Fenster stand ein Wäscheturm. Die Tür der Waschmaschine war geöffnet, und ein Lappen lag darüber ausgebreitet. Die vom Trockner war geschlossen. Pullover, Hosen und T-Shirts hingen auf der Leine. Alles machte einen normalen Eindruck.

Joel schob die Kleidungsstücke zur Seite, und Samantha bemerkte am Ende des Raumes eine weitere Tür. Licht schimmerte unter der Tür durch.

«Josefina?», rief Joel.

Keine Antwort.

Joel stiess gegen die Tür. Sie liess sich nur ein kleines Stück öffnen, als ob sich jemand in dem Raum verschanzt hätte und die Tür zuhielte.

«Wir sind es nur, Sammy und Joel», sagte er erneut.

Samantha fasste seinen Arm, aber er ignorierte sie und drückte fester gegen die Tür. Es gelang ihm, sie ein Stück weiter zu öffnen, sodass er den Kopf durch den Spalt schieben konnte.

«Scheisse!»

Er warf sich fest gegen die Tür, die nachgab. Joel stolperte in den Raum. Samantha erkannte Steine als typischen Bodenbelag von Naturkellern älterer Häuser. Sie linste hinein, aber Joel versperrte ihr den Blick. Samantha quetschte sich an ihm vorbei und erblickte Beine, die vor der Tür lagen und diese blockiert haben mussten.

Die Frau lag auf dem Bauch. Ihr Oberkörper war zwischen den Regalen eingeklemmt. Um sie herum lagen Konfitürengläser auf dem Boden verteilt, von denen einige zerbrochen waren. Von Samanthas Standpunkt aus gesehen, befand sich der Kopf im Schatten. Doch sie konnte die dunkelrote Farbe, die die blonden Haare durchtränkt hatte, gut erkennen.

Joel zwängte sich neben die Frau und tastete nach dem Puls. Sekunden verstrichen, die Samantha wie eine Ewigkeit vorkamen.

«Sie ist tot», flüsterte er.

***

Jan Nussbaum von der Kantonspolizei Basel-Landschaft zog einen Stuhl heran und setzte sich an den Terrassentisch.

Samantha hatte ihn vor über einem Jahr zum letzten Mal gesehen. Obwohl er sich ihr gegenüber freundlich verhalten hatte, hatte sie nicht das Bedürfnis gehabt, ihn je wiederzutreffen.

Verstohlen musterte sie ihn. Der drahtig gebaute Mann Mitte vierzig hatte sich nicht verändert. Seine dunkelblonden Haare standen wirr vom Kopf ab, als sei er gerade aufgestanden. Dafür machten seine blaugrauen Augen einen hellwachen Eindruck, und der Blick war abwechselnd auf Samantha und auf Joel gerichtet.

Er schob einige der Schokoladeneier auf die Seite, die sich dabei verformten.

Geschmolzen, dachte Samantha. Wie die Schokoladenhasen. Nur anhand der Ohren konnte man noch erkennen, was die Schokoladenmasse einmal gewesen war. Kein Wunder, sie lagen seit dem versuchten Frühstück in der prallen Sonne.

Wenigstens hatte Samantha es geschafft, den Lachs in den Kühlschrank zu bringen, während sie auf das Eintreffen der Polizei gewartet hatten. Samantha war froh gewesen, dass Rita und Oliver Josefinas Vater mit zu sich genommen hatten und Samantha sich zurückziehen konnte. Joel hatte vor Josefinas Haus gewartet, bis die Beamten eingetroffen waren.

«Bitte schildern Sie mir aus Ihrer Sicht, wie Sie Josefina Dobler gefunden haben.»

«Nicht wir haben sie gefunden, sondern ihr Vater», korrigierte Joel.

Samantha war froh, dass er die Beantwortung der Fragen übernahm. Er berichtete von dem Schrei und wie sie Kurt Dobler angetroffen hatten, als er aus dem Haus getorkelt war.

«Warum haben Sie nicht sofort die Polizei alarmiert?»

Samantha war sich nicht sicher, ob sie einen Vorwurf zwischen den Zeilen heraushörte. Nussbaums Gesicht war neutral.

«Aus Kurt haben wir kein Wort herausgebracht, was passiert war. Ich dachte, Josefina sei verletzt. Mit dem, was ich – wir», er schaute in Samanthas Richtung, «vorgefunden haben, hatte ich nicht gerechnet.»

«Haben Sie etwas angefasst oder verändert, als Sie nach Frau Dobler gesucht haben?»

«Nein», antwortete Joel.

«Die Türen, als ich sie geöffnet habe», sagte Samantha.

«Stimmt, das habe ich auch. Und ich habe nach dem Puls getastet», fügte Joel hinzu.

«Die Position der Leiche haben Sie nicht verändert?»

«Nicht wissentlich. Nachdem ich sie berührt hatte, wusste ich sofort, dass sie nicht mehr lebt. Ihre Haut war kalt und …» Er schaute Samantha entschuldigend an. Offenbar musste sie entsetzt aussehen. Ihr wurde übel. Reiss dich zusammen, dachte sie.

«Was haben Sie von gestern Abend bis heute Morgen gemacht?»

Wollte er etwa ein Alibi?

Joel lehnte sich nach hinten und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Frage gefiel ihm offenbar genauso wenig wie Samantha. Kurz führte er aus, wie sie nach dem Nachtessen einen Spaziergang gemacht hatten, die Nacht über nicht fortgewesen waren, ausgeschlafen hatten und auf der Terrasse frühstücken wollten. Nussbaum machte einige Notizen, nachdem Joel geendet hatte.

«Ist Ihnen am Morgen oder in der vergangenen Nacht etwas aufgefallen?», fragte Nussbaum weiter.

«Nein», antwortete Joel und schaute erneut in Samanthas Richtung. Zu mehr, als den Kopf zu schütteln, war sie nicht fähig.

«Hat Frau Dobler sich in der letzten Zeit seltsam verhalten? War sie zum Beispiel ängstlich?»

«Ich habe sie länger nicht mehr gesehen», sagte Joel.

«Was meinen Sie mit ‹länger›?»

«Vor einer oder zwei Wochen habe ich sie auf der Strasse getroffen. Wir haben uns gegrüsst. Sie kam gerade vom Einkaufen nach Hause und trug alles ins Haus.»

Er wusste so genau, was sie bei ihrem letzten Treffen getan hatte, wunderte Samantha sich.

«Ihr Papiersack ist gerissen, und alles ist auf den Boden gefallen. Ein Apfel ist bis vor meine Füsse gerollt. Ich habe ihr beim Zusammensammeln geholfen.» Das klang, als müsse Joel sich verteidigen.

«Im Haus waren Sie nicht?»

«Ich hatte ihr angeboten, beim Hineintragen zu helfen, aber sie hatte abgewunken und sich bedankt.»

Nussbaum machte eine weitere Notiz und schaute Samantha an. Es gehörte dazu, sich Stichworte zu der Befragung zu notieren. Dennoch machte es sie nervös, weil sie das Gefühl hatte, er schrieb jedes Detail auf.

Nussbaums Blick war weiterhin auf sie gerichtet, und seine Frage war deutlich.

«Ich weiss nicht, wann ich ihr zuletzt begegnet bin», sagte Samantha.

«Wie gut kannten Sie Frau Dobler?», fragte er und tippte mit dem Stift ein Schokoladenei an. Prompt gab es eine Delle in der weichen Masse.

«Wir grüssten einander und wechselten einige Worte betreffend Wetter und Ähnliches.»

Nussbaum klopfte mit dem Ende seines Kugelschreibers auf den Tisch. Es klickte, wenn die Mine aus- und eingefahren wurde. Das Geräusch zerrte an Samanthas Nerven. Am liebsten hätte sie ihn gebeten, damit aufzuhören.

«Moment», sagte Joel. «Mir kommt gerade in den Sinn, am vergangenen Mittwoch habe ich sie auch gesehen.»

Erstaunen blitzte in Nussbaums Gesicht auf. Die unausgesprochene Frage, warum Joel das erst jetzt einfiel, hing zwischen ihnen.

«Wie wirkte sie auf Sie?», fragte er.

«Wie immer. Sie bepflanzte gerade Töpfe neben ihrer Haustür mit Osterglocken, Primeln und Hyazinthen. Wir haben darüber gesprochen, dass es an Ostern offenbar wunderbares Wetter geben sollte. Und darüber, was wir planen.»

«Hat sie von ihren Plänen berichtet?»

«Sie sagte, sie wolle mit ihrem Vater einen Ausflug machen. Seine Frau ist vergangenen November nach kurzer schwerer Krankheit gestorben. Danach ist er in ein tiefes Loch gefallen. Soweit ich weiss, hat sie regelmässig etwas mit ihm unternommen: Wanderungen in der Gegend, Ausflüge nach Basel. Sie sagte mir, endlich mache es den Anschein, als würde er zurück ins Leben finden.»

Joels Handy, das auf dem Tisch lag, klingelte. Nussbaums Missbilligung war deutlich.

«Das ist mein Vater», sagte Joel. «Darf ich das Gespräch bitte entgegennehmen. Wir sind bei meinen Eltern zum Mittagessen eingeladen. Sie wundern sich vermutlich, wo wir bleiben.»

Nussbaum machte mit der Hand eine Geste zum Telefon. «Ich habe im Moment keine weiteren Fragen. Bitte halten Sie sich zur Verfügung.»

ZWEI

Samantha nahm im Kreisel beim Campus die erste Ausfahrt Richtung Unterführung. Sie bremste ab, als die Ampel von Grün auf Gelb wechselte, und hielt an.

Sie starrte das rote Signallicht an. Ihren momentanen Zustand konnte sie nicht als fahrtauglich bezeichnen. Immer wenn sie in Brugg war, besuchte sie das Grab ihrer Adoptiveltern und geriet danach aus der Spur. Sie fragte sich, ob das jemals besser würde. Heute war es richtig schlimm. Vermutlich lag es an Ostern. Ostern waren sie immer gemeinsam weggefahren, auch als Samantha längst ausgezogen war.

Reiss dich zusammen, dachte sie und bog links ab, als die Ampel auf Grün wechselte. Sie fuhr am Bahnhof vorbei und folgte weiter dem Verlauf der Aarauerstrasse. Sie bog in die Badstrasse ein und hielt kurz darauf vor dem Einfamilienhaus in der Nähe des Hallenbades, das Lorena und Cédric bewohnten. Sie stellte den Motor ab und wartete einige Sekunden, bis sie ausstieg. Bevor sie klingeln konnte, wurde die Haustür geöffnet. Lorena schaute sie prüfend an.

«Du warst am Grab», sagte sie und umarmte Samantha.

Ihr konnte sie nichts vormachen. Samantha kannte Lorena seit dem Kindergarten und war mit ihr gemeinsam zur Schule gegangen.

«Es ist also dringend, dich auf andere Gedanken zu bringen», sagte Lorena und dirigierte Samantha in die Küche. Dort warteten Cédric und sein Bruder Lucien.

«Möchte jemand etwas trinken: Wasser, Cappuccino, Kaffee, Espresso oder einen Tee?», fragte Lorena.

«Einen Espresso», erwiderten Lucien und Cédric wie aus einem Mund.

Lorena schaute Samantha an. «Wenn du mich so fragst, nehme ich gerne einen Cappuccino.»

Samantha beobachtete Lorena, wie sie die zischende Kaffeemaschine zum Leben erweckte. Das Sonnenlicht, das durch das Fenster flutete, liess ihren roten Lockenkopf wie ein Feuer leuchten.

Seit Cédric Lorena vor einem Monat gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle, schien sie nicht zu wissen, wohin mit ihrer Energie, und strahlte ununterbrochen gute Laune aus. In Samantha klang Lorenas sich vor Freude überschlagende Stimme nach, als sie Samantha von dem Antrag erzählt und sie gefragt hatte, ob sie Brautführerin sein wolle. Den Job des Brautführers übernahm Cédrics jüngerer Bruder Lucien. Heute hatten sie sich verabredet, um einen ersten Plan zu machen.

Die Hochzeit sollte im Oktober stattfinden. An dem Tag, an dem Lorena und Cédric vor fast zehn Jahren zusammengekommen waren.

Samantha hatte keine Ahnung, wie viel Aufwand eine Hochzeitsvorbereitung bedeutete, aber sie fand, in einem halben Jahr alles zu organisieren war ein recht sportliches Vorhaben. Sie nahm den Entwurf des Textes und die Vorlage für die Einladungskarte in die Hand. Lorena war künstlerisch begabt. Sie hatte zwei ineinander verschlungene Ringe gezeichnet, auf denen Brautleute tanzten. Daneben lag die Liste der einzuladenden Personen. Über hundert sollten dabei sein.

«Wir brauchen zuerst die Kirche und das Restaurant», sagte Lucien.

«Wir sind dran», erwiderte Cédric. «Vieles ist bereits ausgebucht.»

Samantha sah sich in ihrer Annahme bestätigt, wie knapp alles war.

«Ein Schlachtplan wäre zudem nicht schlecht», fuhr Lucien fort.

«Dafür seid ihr ja hier.» Lorena stellte die Tassen auf ein Tablett und deutete mit dem Kopf nach draussen. Sie folgten ihr zur Terrasse.

Das Wetter war heute gleich phantastisch wie gestern. In der Sonne war es beinahe zu warm. Cédric kurbelte die Storen heraus und setzte sich neben Lorena. Er hatte wie sie feuerrote Haare und einen wilden Lockenkopf. Im Gegensatz dazu war Lucien blond und hatte gerade Haare. Wenn man es nicht wusste, würde man die beiden nie für Geschwister halten.

Samantha blickte in den Garten: Tulpen, Osterglocken, Primeln und eine Menge Polsterpflanzen blühten in den verschiedensten Farben. Die Knospen der Magnolie waren fast offen, und um das kleine Mandelbäumchen schwirrten Hummeln und Bienen. Wie häufig beneidete sie Lorena um ihren grünen Daumen. Wenigstens hatte Samantha es geschafft, in den Kübeln auf Joels Terrasse Kräuter anzupflanzen, die bis jetzt ihre Pflege überlebt hatten.

Lucien wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht.

«Luc, das ist nur eine Wildbiene», sagte Cédric. Er deutete auf das Insekt, das zu einem der Insektenhotels flog, die Lorena an der Hauswand aufgehängt hatte.

«Stechen lassen möchte ich mich nicht.»

«Die tut dir nichts.»

«Wer weiss. Wie habt ihr Ostern überlebt?», fragte er und griff in die Schale mit den Schokoladeneiern, die Lorena auf den Tisch gestellt hatte.

«Mindestens fünf Kilo plus», stöhnte Lorena und griff in die Schale.

«Sieht man nicht», sagte Lucien.

«Charmeur.»

«Unsere wurden zum Glück zu Schokoladensauce», sagte Samantha.

«Schoggisauce? Wie das?», fragte Cédric.

«Sie standen in der Sonne, als –» Samantha brach ab. Über das, was gestern Vormittag in Joels Nachbarschaft passiert war, hatte sie nicht reden wollen. Nicht bei einer Planung zu einer Hochzeit.

«Ja?», fragten die drei anderen gleichzeitig.

«Die Nachbarin schräg gegenüber wurde ermordet.»

«Oh Scheisse!», erwiderte Lucien.

«Schon wieder?», fügte Lorena an.

«Was heisst hier schon wieder?», kam Cédric Samantha zuvor. «Immerhin liegt das letzte kriminalistische Abenteuer über ein Jahr zurück.»

«Kriminelles Abenteuer?», fragte Lucien.

«Sammy zieht so was an», sagte Cédric.

«Auf ein neues kann ich gerne verzichten.»

«Welche Nachbarin? Dieser Drachen, der in dem Schuhgeschäft arbeitet?», fragte Cédric. «Um die wäre es nicht schade.»

Samantha brauchte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass Cédric Charlotte Häfliger meinte, die im gleichen Haus wie sie in der Lenzburger Altstadt eine Wohnung hatte. Sie mochte Samantha nicht und liess nie aus, was sie von Ausländern hielt, wenn sie Samantha traf. Nach jeder Schimpftirade sackte Samantha in ein tiefes Loch und spürte ihre Zerrissenheit, Wurzeln in zwei Ländern zu haben.

«Nein, die Frau, die Joel gegenüber in Liestal wohnt.»

«Gegenüber von Joel», sagte Lorena gedehnt und verzog das Gesicht.

Von Anfang an hatte Lorena Joel nicht gemocht. Zunächst hatte Samantha gedacht, es läge daran, dass Joel ihr Vorgesetzter war und Lorena das Gefühl hatte, er werde sie für eine billige Affäre ausnutzen. Nachdem sich das geklärt hatte, hatte sich Lorenas Haltung Joel gegenüber aber nicht geändert. Sie fand neue Anschuldigungen und gab ihm die Schuld, dass sich Samantha damals genötigt gefühlt hatte, bei AarePharm zu kündigen, und lange keinen Job gefunden hatte. Eine Begründung für ihre Ablehnung gegenüber Joel hatte sie bisher nicht geliefert. Vermutlich beruhte es einfach auf gegenseitiger Antipathie. Auch Joel mochte Lorena nicht, hielt sich aber zurück und respektierte sie als Samanthas beste Freundin. Wenigstens gab es von Lorena keine ätzenden Kommentare mehr in seiner Gegenwart, und es herrschte eine Art Waffenstillstand zwischen ihnen.

«Ein Mord in der Nachbarschaft, wie gruselig», sagte Cédric. «Erzähl.»

Samantha tat ihm den Gefallen, obwohl sie keine Lust dazu hatte. Zu sehr steckte ihr der Schock noch in den Gliedern.

«Moment», unterbrach Lucien sie. «Sagtest du Josefina?»

«Ja, ihr Name ist Josefina Dobler», entgegnete Samantha.

«Ist das die, die in deiner Klasse war?», wandte Cédric sich an Lucien.

«Strassenköterblond, Brille mit Gläsern wie Flaschenböden und nicht gerade mit Schönheit gesegnet?», fragte Lucien.

«Luc!», rief Lorena.

«Besonders hübsch war sie nicht und blind wie ein Maulwurf.»

«Das ist diskriminierend. Was schön ist und was nicht, ist Geschmackssache.»

«Ihre Haare waren hellblond.» Deutlich sah Samantha den Hinterkopf der Frau vor sich, durch deren Haare das Blut gesickert war.

«Haare kann man sich färben.»

Stimmt. Samantha meinte sich zu erinnern, hin und wieder einen dunkleren Haaransatz gesehen zu haben. Auch hatte Josefina einmal erwähnt, ohne Sehhilfe aufgeschmissen zu sein. Meistens trug sie Kontaktlinsen.

«Ihr Vater heisst Kurt», sagte Samantha.

«In diesem Fall ist sie es», sagte Lucien. «Früher oder später hat es so mit ihr enden müssen.»

«Wieso das?», fragte Lorena.

«Eine tragische Geschichte», kam Cédric seinem Bruder zuvor. «Ihr wart in der sechsten Klasse oder so, als ihre Mutter mit ihrer Schwester bei einem Autounfall tödlich verunglückt ist.»

«Kein Autounfall», sagte Lucien. «Es war ein Badeunfall. Sie waren mit einem Boot auf dem Hallwilersee unterwegs. Die Mutter und die Schwester sassen in dem einen und der Vater mit Josefina in dem anderen. Es wurde nie geklärt, was genau passiert ist. Der Vater hat gesagt, nicht achtgegeben zu haben. Die Boote seien auseinandergetrieben worden. Abends fand die Seepolizei das leere Schlauchboot im Bereich der Uferschutzzone. Die beiden Leichen haben Taucher später geborgen.»

«Das ist eine schreckliche Geschichte», sagte Lorena.

«Der Vater machte sich Vorwürfe», sagte Lucien. «Er wurde überängstlich, was seine zweite Tochter betraf. Sie durfte keinen Schritt machen, ohne dass er wusste, wo sie sich aufhielt. Vor einigen Jahren habe ich Josefina zufällig am Zürcher Hauptbahnhof getroffen. Sie erzählte mir, sie würde mit ihrem Freund zusammenziehen. Offenbar hat sie es geschafft, von zu Hause auszuziehen und ein eigenes Leben aufzubauen.» Lucien rückte mit dem Stuhl ein Stück nach rechts aus der Sonne. «Stimmt, sie hat gesagt, sie werde nach Liestal ziehen. Wie klein die Welt ist, dass sie ausgerechnet in der Nachbarschaft deines Freundes gelandet ist, Sammy.»

«Soviel ich weiss, hatte sie keinen Freund und wohnte allein in dem Haus.»

Samantha dachte an die Male, denen sie Josefina begegnet war. Nie hatte sie Josefina in Begleitung eines Mannes gesehen. Joel hatte gesagt, sie würde zurückgezogen leben und verlasse das Haus nur, wenn sie zur Arbeit fuhr. Von einem Freund hatte er nichts gesagt.

«Fertig mit dem Thema», sagte Lorena energisch. «Ihr seid aus einem anderen Grund hier. Zuerst möchten wir euch danken, dass ihr den Job als Brautführer übernehmt …»

«Ich frage mich, wie es dazu kommen konnte, mich dafür breitschlagen zu lassen», stöhnte Lucien. «Besonders wenn ich an die ganze Arbeit denke, die wir im Rekordtempo erledigen müssen – oh Mann!»

«Blödmann!» Lorena warf zusammengerolltes Folienpapier eines Schokoladeneis nach ihm. Es prallte an Luciens Stirn. Er verdrehte die Augen und liess sich mit grossem Gejammer gegen die Stuhllehne fallen.

Samantha konnte nur halbherzig in das Gelächter der anderen einstimmen. Ihre Gedanken verweilten bei Josefina, und sie fragte sich, wer ihr das angetan hatte.

***

«Wusstest du von dem Unglück, das Josefinas Mutter und ihrer Schwester widerfahren ist?», fragte Samantha Joel.

Sie pflanzte die Kräuter aus den Kübeln in das Hochbeet um. Letzte Woche hatte Joel sie mit den Bauteilen für ein Hochbeet überrascht. In die Kübel könne man Zierpflanzen wie Oleander und ein Zitronenbäumchen pflanzen, hatte er erklärt. Am Karfreitag hatte er das treppenförmige Beet zusammengebaut und neben die Terrasse gestellt. Die oberen Beete waren für die Kräuter reserviert, und auf dem unteren wollte Samantha sich an Salat versuchen. Nie hätte sie gedacht, sich einmal intensiver mit Pflanzen zu beschäftigen.

Joel brach die Ohren des Schokoladenhasen ab, den Lorena ihr heute geschenkt hatte, und biss hinein. «Nein», sagte er kauend. «Josefina lebte zurückgezogen. Sie war höflich und hilfsbereit. Viel haben wir nicht miteinander gesprochen.»

«Und was ist mit dem Freund, mit dem sie gemäss Luc zusammengezogen ist?»

«Das muss gewesen sein, bevor ich hier einzog», sagte Joel. «Sie werden sich getrennt haben. Hat es geklingelt?» Er schaute Richtung Terrassentür.

«Ich habe nichts gehört.»

Joel verschwand im Haus und kehrte kurze Zeit später mit Kurt Dobler zurück. Er trug eine braune Stoffhose und eine graue Strickjacke. Die weissen Haare, die einen Kranz um seine Glatze bildeten, standen wirr ab.

«Es tut mir leid, wenn ich euch störe, aber ich wollte euch danken für das, was ihr getan habt.»

«Leider haben wir nicht helfen können.»

«Die Geste ist, was zählt.» Er setzte sich auf einen Stuhl, stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und liess den Kopf auf die Hände sinken.

«Weiss die Polizei mehr?» Joel klang, als taste er sich vorsichtig an dieses Thema heran.

«Nein.»

Schweigen dehnte sich aus. Samantha fühlte sich unwohl. «Möchten Sie etwas trinken?»

Kurt hob den Kopf. «Ein Glas Wasser bitte.»

Erleichtert huschte Samantha ins Haus. Sie füllte einen Krug mit Hahnenwasser und kehrte mit drei Gläsern zur Terrasse zurück.

«Jetzt bin ich allein», sagte Kurt Dobler. «Alle, die mir lieb sind, sterben. Seit Sabines und Nicoles Tod sieht es aus, als läge ein Fluch über mir. Sogar Magda durfte nicht lange bei mir bleiben.»

Joel sah verwirrt aus. Offenbar bemerkte Kurt Dobler ihre unausgesprochenen Fragen. «Magda war meine zweite Frau. Meine erste Frau Sabine starb mit meiner älteren Tochter bei einem Badeausflug.»

Er berichtete das Gleiche, das Samantha am Nachmittag von Lucien erfahren hatte. «Es hat lange gedauert, bis Josefina und ich in ein mehr oder weniger normales Leben zurückkehren konnten. Das war uns erst möglich, als ich Magda kennengelernt habe.» Er trank einen Schluck und starrte auf das Glas. «Magda schaffte es, dass Josefina endlich auf eigenen Füssen stehen konnte. Josefina hatte zu den Klassenbesten gehört. Nach dem Tod ihrer Mutter sackte sie schulisch ab. Knapp hat sie die Realschule geschafft. Sie schloss ihre Lehre als Floristin ab und holte berufsbegleitend die Matura nach. Sie begann mit einem Informatikstudium.»

Wow, dachte Samantha. Was für ein Werdegang.

«An der Uni lernte Josefina David kennen. Sie fanden in Basel einen Job und zogen zusammen. Sie hatten Gelegenheit, das Haus zu mieten.» Er deutete mit dem Daumen hinter sich. «Obwohl David nicht meine erste Wahl als Schwiegersohn war, dachte ich oder eher hoffte ich, sie würden heiraten. Ich habe mir für Josefina gewünscht, sie werde glücklich. Aber die beiden trennten sich. Warum, hat Josefina mir nie gesagt.» Er schaute auf einen Punkt hinter Samantha. «Ich vermute, es war eine andere Frau im Spiel. Und jetzt das. Warum Josefina?»

Der Schmerz in seinen Augen war zu viel für Samantha, und sie musste sich abwenden.

«Und dem ist nicht genug. Die Polizei stellt diese Fragen. Persönliches Zeug. Vom Unfall und … Das hat keinen zu interessieren und diese Leute am wenigsten.»

«Das müssen sie, wenn sie den Mörder finden wollen», sagte Joel. Er hatte sich neben Kurt Dobler gesetzt und legte die Hand auf dessen Unterarm.

«Das müssen sie nicht», rief er heftig. «Warum müssen sie in der Vergangenheit graben und alles von Neuem aufwühlen? Was soll Sabines und Nicoles Tod mit Josefinas von heute zu tun haben. Nichts!»

***

Samantha fuhr aus dem Schlaf. Dunkelheit hüllte sie ein. Ihr Herz raste, und ihr Atem ging stossweise.

Neben ihr ertönte ein Seufzen, dem lange Atemzüge folgten. Joel schlief anscheinend tief und fest.

Warum war sie aus dem Schlaf geschreckt, und warum diese Panik? Samantha konzentrierte sich auf ihren Atem. Nach einigen Sekunden gelang es ihr, gleichmässig zu atmen.

Dieser Traum. Das musste es gewesen sein. Samantha konnte sich nur an Bruchstücke erinnern, aber die reichten als Erklärung. Sie hatte das Haus ihrer Adoptiveltern über die Terrasse betreten. Ihr Vater lag in einer Blutlache. Ihre Mutter erschlagen im Bad unter dem Lavabo. Es war über ein Jahr her, als Samantha das letzte Mal von dem Doppelmord geträumt hatte. Wieso passierte das ausgerechnet nach so langer Zeit wieder?

Samantha drehte sich auf die Seite. Sie konnte den Schemen von Joels Körper ausmachen. Seine Atemzüge hatten sich nicht verändert.

Samantha lag unbeweglich da und versuchte, Joels Ruhe und Entspanntheit auf sich zu übertragen, was nicht funktionierte.

Der Traum musste mit dem Mord an Josefina zu tun haben. Sie war erschlagen worden. Das hatte zwar niemand gesagt, aber die Wunde am Hinterkopf war für Samantha eindeutig. Wie bei ihrer Mutter.

Die Dunkelheit wurde zu einer Leinwand, auf der das Bild ihrer ermordeten Mutter auftauchte. Die weissen Haare blutdurchtränkt. Das Bild änderte sich, und Samantha sah Josefina im Naturkeller. Mord. In der Nachbarschaft. Ganz nah …

Der Puls, der abgeflacht war, schoss wieder hoch. Sie presste die Augen zusammen, aber das Bild wurde sie nicht los.

Sie brauchte einen Ortswechsel. Das hatte ihr bei früheren derartigen Attacken geholfen. Samantha schlüpfte aus dem Bett und schlich nach unten in die Küche. Sie unterdrückte ein Seufzen, als sie die Digitalanzeige beim Ofen erblickte. Kurz vor drei Uhr. Morgen oder besser heute würde sie gerädert sein, wie sie aus Erfahrung wusste.

Das Licht der Strassenlaterne reichte, um sich zu orientieren. Sie füllte Wasser in den Teekocher und hielt die Teeverpackungen hoch, damit sie im Lichtstrahl von draussen die Sorte erkennen konnte. Entspannungstee. Nicht ihre bevorzugte Kräutermischung, aber heute Nacht eine gute Wahl.

Nachdem sie den Tee aufgegossen und einen Löffel Honig hineingegeben hatte, trat sie ans Fenster. Sie nippte am Tee und schaute auf die Strasse. Alles machte einen friedlichen Eindruck. Eine Katze huschte aus dem Gebüsch. Sie blieb einen Moment stehen, bevor sie im Garten der Martis verschwand.

Samantha schaute auf das Gebüsch. Die Katze konnte unmöglich der Grund für ihr Unbehagen sein, das sich verstärkte. Was stimmte an der ruhigen Szenerie da draussen nicht?

Samantha brauchte einen Augenblick, bis sie begriff, was. Im Haus von Josefina brannte Licht. Sie blinzelte. Jetzt war es dunkel.

«Die Phantasie hat dir einen Streich gespielt», flüsterte sie.

Wer sollte in dem Haus sein? Es war von der Polizei versiegelt worden. Ihre Unruhe nahm zu. Die Fenster blieben dunkel.

Hör auf damit. Deine Nerven liegen blank, sagte sie sich und wollte sich abwenden. Ein Lichtstrahl blitzte auf. Wie der einer Taschenlampe. Samantha wagte nicht zu atmen. Es war definitiv jemand in Josefinas Haus. Kurt Dobler war es bestimmt nicht. Dieser hatte keinen Grund, mitten in der Nacht herzukommen, das Licht nicht einzuschalten und stattdessen mit einer Taschenlampe durch das Haus zu geistern.

Samantha trat näher an das Fenster. Einbrecher? Nein. Es musste der Mörder sein. Warum war er zurückgekehrt?

Ein Auto fuhr heran und bog in die Einfahrt der Martis ein. Der Fahrer stieg aus und lief zum Haus. Das Licht neben der Haustür ging an, und Samantha erkannte Oliver.

Wo kommst du mitten in der Nacht her, dachte sie.

«Hier steckst du.»

Vor Schreck liess Samantha beinahe die Tasse fallen. Tee schwappte auf ihre Hand. Ein Schmerz schoss über die Haut. Schnell stellte Samantha die Tasse ab und hielt die Hand unter das kalte Wasser.

«Ich wollte dich nicht erschrecken», sagte Joel und stellte sich neben sie.

«Ich konnte nicht schlafen.»

«Hattest du deinen Traum?»

«Ja.»

«So etwas Dummes.» Er legte den Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich.

«Ich werde es überleben.» Samantha versuchte locker zu klingen. «In Josefinas Haus ist jemand.»

«In Josefinas Haus? Da ist alles dunkel.»

«Vorhin war Licht. Es sah aus wie das einer Taschenlampe.»

«Bist du sicher?»

«Es blitzte nur kurz auf. Danach war alles wieder dunkel.»

Bei den Martis schaltete sich erneut das Licht im Hauseingang ein. Oliver kehrte zum Wagen zurück. Als er anfuhr, traf das Licht seines Autos die Fensterscheiben von Josefinas Haus.

«Vielleicht hast du das Reflektieren gesehen», sagte Joel.

Die Erklärung klang logisch, obwohl Samantha nach wie vor sicher war, das Licht sei aus dem Haus gekommen und habe sich nicht nur im Fenster gespiegelt. Ausserdem war zu diesem Zeitpunkt kein Auto vorbeigefahren. Wirklich? Zweifel regten sich.

«Wo will Oliver überhaupt hin? Er ist gerade nach Hause gekommen.»

«Ich denke, zum Flughafen. Geschäftsreise.»

«Er ist gerade nach Hause gekommen», wiederholte Samantha.

«Er könnte etwas vergessen haben.»

Guter Punkt. Aber … «Um diese Zeit will er zum Flughafen?»

So viel Samantha wusste, arbeitete Oliver als Verkäufer in einer Firma, die Maschinenteile in die ganze Welt lieferte.

«Wer weiss, wann der Flug geht und wann er vorher da sein muss.»

«Besser er als ich», murmelte Samantha und gähnte.

«Ich stimme dir zu. Ich hätte eine bessere Idee, wo wir beide gerade wach sind.» Joels Arme umfassten Samantha von hinten. Er küsste ihren Nacken. «So bringe ich dich auf andere Gedanken.»

Seine Hand glitt den Hals entlang zum Schlüsselbein und tastete sich weiter abwärts, bis sie über Samanthas Brust strich. Ein Schauer durchlief Samanthas Körper. Sie lehnte sich nach hinten und seufzte auf, als Joel ihre Brust zu liebkosen begann.

«Gehen wir nach oben», flüsterte er dicht neben ihrem Ohr.

DREI

Samantha unterdrückte ein Gähnen, als sie das Firmengebäude betrat.

Wie in der vergangenen Nacht befürchtet war sie hundemüde, und sie fragte sich, wie sie den Tag überstehen sollte.

Sie ging den Gang entlang. Der anthrazitfarbene Teppich dämpfte ihre Schritte. Es war still. Sie blickte durch die gläsernen Türen, die Franz Ammann hatte einbauen lassen, damit es heller und freundlicher wirkte. Alle Räume waren leer, nur der Computer von Franz Ammann war eingeschaltet. Er war grundsätzlich der Erste. Bis jetzt habe es keiner geschafft, früher als der Eigentümer da zu sein, hatte man Samantha erzählt.

Auf dem Bildschirm flimmerten bunte Kreise und Quadrate. Samantha öffnete die Tür zu ihrem Büro, das sie sich mit Christian Probst teilte, der für den Verkauf zuständig war. Samantha setzte sich und schaltete ihren Computer ein. Sie legte die Hände in den Nacken und blickte zur Decke, während der Computer hochfuhr.

Sie erschrak, als es klopfte und die Tür gleich darauf geöffnet wurde. Jasmin Hofer streckte den Kopf herein. «Hast du Christian und David gesehen?», fragte sie.

«Ich bin erst vor fünf Minuten gekommen.» Samantha deutete auf Christians Platz. «Es sieht so aus, als sei er noch nicht da. Warum suchst du sie?»

«Ich brauche Christian wegen einer Marketingkampagne, und unser IT-Genie David sollte sich meinen Computer anschauen. Der will nicht starten. Du hast nicht zufällig auch Probleme?»

Jasmin trat zwei Schritte näher und schaute über Samanthas Schulter.

«Keine Ahnung.» Samantha musterte ihren Bildschirm. «Er war schon schneller, scheint aber hochzufahren.»

«Du konntest dich immerhin einloggen. So weit bin ich nicht gekommen.» Sie setzte sich auf die Tischkante. Ihre kinnlangen dunkelblonden Haare hatte sie nach hinten gesteckt. Eine Strähne stand beinahe senkrecht vom Kopf ab. Öfter hatte sich die vierzigjährige Frau beschwert, ihre Haare seien so geschmeidig wie Draht.

«Du siehst ziemlich zerknautscht aus», sagte Jasmin.

«Vielen Dank für das Kompliment», brummte Samantha.

«Waren es für dich keine erholsamen Ostern?» Sie hob die Hände. «Entschuldige, aber ich wollte dir nicht zu nahe treten.»

Samantha zwang sich zu einem Lächeln. «Es geht. Das heisst, bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir unsere Nachbarin tot aufgefunden haben, war alles bestens.»

«Deine Nachbarin? Du meinst damit aber nicht die Frau, die erschlagen wurde.»

«Woher –»

«Das steht in allen Zeitungen.»

Darauf hätte Samantha selbst kommen können. «Doch.»

«Du bist hoffentlich nicht mit der Frau gemeint, die dabei war, als die Leiche gefunden wurde.»

«Ihr Vater hat sie entdeckt. Er hat um Hilfe gerufen, und Joel und ich …» Samantha brach ab. Details wollte sie beim besten Willen nicht erzählen.

Die Tür öffnete sich. Christian betrat den Raum. Er nickte Jasmin und Samantha zu und startete seinen Computer. «Das Mistding von Computer …», fluchte er. «Wie sieht es bei euch aus?»

Franz Ammann streckte seinen Kopf ins Büro. «Könnt ihr eure Computer hochfahren?»

Samanthas Bildschirm wurde schwarz.

«Was soll das?», rief sie.

Entsetzt reckte Franz den Kopf in den Gang und spähte zu seinem Büro. Die Flüche, die folgten, passten nicht zu dem Mann Ende fünfzig, der mit seiner Nickelbrille, den grauen, gekrausten, vollen Haaren und dem grauen Bart wie ein Teddybär aussah.

«Wir haben anscheinend ein gröberes Problem», sagte Jasmin und zupfte an der Strähne.

Wie zur Bestätigung stürmte David Gerber herein. «Funktionieren eure Computer?», rief er.

Synchrones Kopfschütteln. Mit einem derben Fluch stürzte David wieder raus.

«Zwangspause», sagte Jasmin.

«Ich habe noch gar nicht angefangen», brummte Christian.

«Lass uns die Zeit für einen Kaffee nutzen. Du siehst zumindest so aus, als ob du einen gebrauchen könntest», wandte Jasmin sich an Samantha.

Samantha liess sich mit fortziehen. Christian kam nach. Er murmelte etwas, das sie nicht verstand. Vor der Kaffeemaschine trafen sie auf Dominik Eichinger, der für den Einkauf der Rohstoffe verantwortlich war. Er fuhr sich über seinen kahl rasierten Schädel, auf dem einzelne Stoppeln seines spärlichen Haarwuchses auszumachen waren.

«Ich fürchte, aus dem Kaffee wird nichts», sagte er. «Keine Chance, das Ding zum Leben zu erwecken. Wie es aussieht, haben wir einen Stromausfall.»

«Stromausfall?», fragte Jasmin entsetzt.

«Es funktioniert rein gar nichts mehr.»

«Ich brauche einen Koffeinschub», stöhnte Jasmin.

«Hier sind unter anderem Mocca-Eier drin», sagte Dominik und schob eine grosse Schüssel mit Schokoladeneiern in Jasmins Richtung. «Die überbrücken den Koffeintiefstand in deinem Blut.»

«Ohne Strom kann ich IT-mässig nichts machen», sagte David und gesellte sich mit Franz zu ihnen. Er griff in die Schüssel und schob sich ein Ei in den Mund.

«Wie lange hält dieser Zustand an?», fragte Franz. Er war sichtlich genervt.

«Wenn ich das wüsste.»

«Das heisst, du hast genug Zeit, von der Leiche in eurer Nachbarschaft zu erzählen», wandte Jasmin sich an Samantha. In ihren Augen blitzte es.

Samantha unterdrückte ein Stöhnen.

«Leiche?», fragte Franz.

«In ihrer Nachbarschaft wurde eine Frau getötet, und Samantha hat das Opfer gefunden.»

«Das stimmt nicht», sagte Samantha. Widerwillig berichtete sie, was am Ostersonntag vorgefallen war.

«Sagtest du Josefina?», unterbrach David sie auf einmal.

«Ja», erwiderte Samantha.

«Josefina Dobler?»

«Ja», wiederholte Samantha.

David schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Abrupt stand er auf und trat ans Fenster. Samantha war erstaunt, als sie seine verkrampfte Körperhaltung wahrnahm.

«Kennst du sie?», fragte sie vorsichtig.

«Sie ist meine Ex», flüsterte er.

***

«Moment, nochmals von vorne», sagte Joel, nachdem Samantha von dem Stromausfall, der ungefähr eine Stunde gedauert hatte, und von ihrer Zwangspause, in der sie fast die ganze Schüssel Schokoladeneier geleert hatten, erzählt hatte.

Wenn Samantha daran dachte, wurde ihr schlecht. Sie war überzeugt, mindestens ein Jahr keine Schokolade mehr anrühren zu können.

«Dein IT-David ist der Ex-Freund von Josefina?»

«Ja. Sie oder besser er hat sich vor drei oder vier Jahren von ihr getrennt. Den Grund hat er nicht gesagt. Wenn ich das jedoch zwischen den Zeilen richtig gelesen habe, war eine andere Frau im Spiel. Die, mit der er heute zusammenlebt und eine zweijährige Tochter hat.»

«Das klingt nach einer unschönen Trennung.»

«Keine Ahnung. Er hat sich dazu nicht geäussert, und ich habe nicht nachgehakt. Geht mich nichts an.»