Liestaler Wut - Ina Haller - E-Book

Liestaler Wut E-Book

Ina Haller

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Authentisch und spannend bis zum Schluss. Samantha findet in der Liestaler Altstadt einen Mann bewusstlos auf. Später stirbt er im Spital. Bei der Obduktion stellt sich heraus, dass eine Pilzvergiftung der Grund für seinen Tod war. Als kurz darauf seine Freundin mit einer Überdosis Schlafmittel entdeckt wird, scheint der Fall zunächst klar. Doch dann tauchen Ungereimtheiten auf, und in Samanthas Umfeld geschehen merkwürdige Dinge, die sie zunehmend verunsichern. Als sie realisiert, dass die Tat mit einem Vorfall in der Kalahari zusammenhängen muss, ist es beinahe zu spät.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 372

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ina Haller lebt mit ihrer Familie im Kanton Aargau, Schweiz. Nach dem Abitur studierte sie Geologie. Seit der Geburt ihrer drei Kinder ist sie »Vollzeit-Familienmanagerin« und Autorin. Zu ihrem Repertoire gehören Kriminalromane sowie Kurz- und Kindergeschichten.

www.facebook.com/autorininahaller

www.instagram.com/ina.haller.autorin/

www.inahaller.ch

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ebenso sind die Orte, an denen die Verbrechen stattfinden, nur Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und realen Handlungen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich Rezepte und ein Glossar.

© 2025 Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

www.emons-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-260-4

Originalausgabe

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Für Urs, Pascale, Rebecca und Manuela – als Erinnerig an en unvergässlichi Reis ond es ussergwöhnlichs Erlebnis

Prolog

Er verfluchte sich. Diese Nachlässigkeit hätte niemals passieren dürfen.

Der Fehler war nur geschehen, weil er seine Gedanken nicht beieinandergehabt hatte. Hoffentlich kam er rechtzeitig, bevor sie jemand anders fand. Zwar war das Corpus Delicti, wie sein Vater es nennen würde, nicht groß, und es war unwahrscheinlich, dass es überhaupt entdeckt würde, aber nur ein Sonnenstrahl oder ein Schritt in die falsche Richtung und …

Wohl oder übel musste er sich zu Fuß durch den Busch schlagen. Die Gefahr, gesehen zu werden, wenn er direkt dorthin fuhr, war zwar schwindend klein, aber er durfte es nicht riskieren.

Konzentriert schaute er sich um, streckte den Kopf durch das geöffnete Fenster und blickte nach oben in den Baum, unter dem er geparkt hatte. Der kleinste Fehler, der aus Ungeduld resultierte, konnte tödlich sein.

Nichts war zu sehen. Er stieg aus und scannte nochmals mit den Augen die Umgebung ab. Zwar hatte er seine Kindheit fernab der Zivilisation verbracht und keine Angst vor dem, was ihn im Gestrüpp erwarten konnte, aber nachlässig durfte er nicht werden. Den Respekt gegenüber der Natur zu verlieren war der größte Fehler, den man begehen konnte.

Er zog den Fleecepullover aus, warf ihn ins Wageninnere und schlug die Autotür zu. Inzwischen war es wärmer geworden. Er schätzte die Temperatur auf knapp unter zwanzig Grad. Fünfundzwanzig Grad hatte die Wetter-App versprochen, bevor die Temperaturen am Abend und in der Nacht wieder auf null fallen würden. Es war eben Winter.

Sich aufmerksam umschauend bahnte er sich einen Weg durch das Dickicht. Äste kratzten über seine Arme. Er umrundete einen Busch und blieb abrupt stehen.

Knapp konnte er einen Fluch unterdrücken. Das durfte doch nicht wahr sein! Sein Alptraum wurde Wirklichkeit. Ein Mann und eine Frau saßen an einem Klapptisch vor einem Geländewagen.

Langsam ging er in die Hocke. Der Busch bot so gut wie keinen Sichtschutz, da Trockenzeit war und er fast keine Blätter hatte. In seinem Fall war das kein Problem. Er würde mit der braunbeigen Kleidung in dem Gras mit der Umgebung verschmelzen.

Die beiden kannte er. Kennen war übertrieben. Er war ihnen schon mehrmals begegnet. Wieso mussten sie sich ausgerechnet heute diesen Platz aussuchen, um ihr Lager aufzuschlagen? Mal abgesehen davon, dass es um zehn Uhr am Vormittag zu früh dafür war. Um diese Zeit sollten alle mit gezückten Kameras auf der Pirsch sein.

Er kniff die Augen zusammen. Nein, sie hatten sich nicht für längere Zeit eingerichtet. Das Dachzelt war nicht aufgeklappt. Sie hatten lediglich den Tisch und die Stühle hervorgeholt. Er erkannte eine Müeslipackung, Joghurt und Kaffeetassen. Vermutlich waren sie bei Sonnenaufgang aufgebrochen, da es zu kalt für das Zmorge war, und hatten nun für ein verspätetes Frühstück haltgemacht. Ausgerechnet hier.

Was sollte er tun? Abwarten oder einschreiten? Er betrachtete die runde sandige Fläche, die einen ungefähren Durchmesser von fünf Metern hatte. Dichtes Strauchwerk umgab sie am Rand. Etwas blitzte zwischen den Grashalmen auf. Fest presste er seine Zähne zusammen. Besser hätte der Beweis seiner Schuld nicht platziert sein können. Genauso deutlich war der Blutfleck zu erkennen. Sie saßen nur drei Meter davon entfernt.

Wie immer das möglich war, offenbar hatten sie es nicht gesehen, sonst würden sie nicht gemütlich frühstücken.

Das Risiko war zu groß. Es war zwar unschön, aber da konnte er nichts machen. Wie sagte man doch: zur falschen Zeit am falschen Ort. Auf zwei mehr oder weniger kam es nicht an.

Seine Hand tastete über seinen Gürtel und fand nicht das, wonach er suchte. Er blickte an sich herunter. Abermals hätte er am liebsten laut geflucht. Der zweite Fehler, den er heute gemacht hatte. Was war los mit ihm?

Wie hatte er die Waffe im Wagen vergessen können? Sie war seine Lebensversicherung. Nur das Messer befand sich an seinem Gürtel. Das war besser als nichts, doch eine Schusswaffe wäre eleganter und einfacher, da er aus der Entfernung töten konnte und ihnen dabei nicht zu nahe kommen musste. Immerhin waren sie zu zweit. Aber er hatte keine andere Wahl. Ein kleiner Trost blieb ihm, das Überraschungsmoment lag auf seiner Seite. Zuerst musste er den Mann ausschalten und hoffen, dass die Frau in Schockstarre fiel, bevor er ihr das Messer in den Leib rammte.

Eine Bewegung auf der gegenüberliegenden Seite neben dem schmalen sandigen Pfad, der auf die Fläche führte, die für das Campen vorgesehen war, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Ihm stockte der Atem.

Wow, formte er lautlos mit den Lippen. Sollte sich das Problem von selbst lösen?

Der Leopard war stehen geblieben und neigte den Kopf. Offenbar überraschte ihn, was er sah. Der Mann und die Frau entdeckten die Raubkatze, sprangen auf und eilten um den Wagen herum, bevor sie ins Auto flüchteten.

Sie hatten alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte.

Drehe einer Raubkatze nie den Rücken zu und renne nicht weg, sondern behalte Blickkontakt und weiche langsam zurück, bis du dich außer Sichtweite begeben kannst.

Das Fehlverhalten des Touristenpärchens hatte keine Auswirkungen. Leider.

Der Leopard verharrte in der gleichen Position. Beinahe hätte er über die Mimik des Tieres gelacht. Die Irritation war greifbar.

Der Leopard betrat die Fläche. Es war für ihn nicht das erste Mal, einen zu sehen, aber die geschmeidigen Bewegungen und das Muskelspiel faszinierten ihn von Neuem. Der Leopard schnupperte an einzelnen Büschen, bevor er auf ihn zukam.

Es wurde Zeit, zu verschwinden, sonst bekam er ein anderes Problem, das sein bisheriges in den Schatten stellte.

Langsam wich er zurück und sah, wie sich die Raubkatze nur knapp drei Meter neben der Stelle, an der er eben gewesen war, niederließ. Mit dem Rücken zu ihm. Zum Glück hatte der Leopard ihn nicht bemerkt. Offenbar stand der Wind günstig.

Eine einmalige Begegnung. So nahe war er nie einem Leoparden gekommen. Normalerweise wäre er begeistert, doch nun erschwerte die Anwesenheit dieses prächtigen Tieres die Lösung seines Problems. Oder auch nicht. Der Leopard würde das Touristenpärchen hoffentlich beschäftigen. Das bedeutete einen Zeitgewinn für ihn, um die Waffe zu holen. Vorsichtig schob er sich rückwärts. Die Ohren des Tieres zuckten nach hinten. Er verharrte in der Bewegung und atmete auf. Der Leopard war sich seiner Anwesenheit bewusst, ignorierte ihn aber. Die Raubkatze schleckte über ihre Pfoten und legte sich auf die Seite.

Nun hieß es, sich zu beeilen.

1

»Möchtet ihr noch etwas?«, fragte Jasmin und sah nacheinander die um den Tisch versammelten Gäste an, die sie zu ihrem Geburtstag eingeladen hatte.

Samantha blickte in die Runde. Langsam konnte sie die Gäste zuordnen: Jasmins Schwester Carmen, Delia, die unter Jasmin wohnte, und Jonathan.

Woher Jasmin ihn kannte, hatte Samantha nicht mitbekommen. Die Blicke, die er mit Jasmin tauschte, legten nahe, dass sich zwischen ihnen etwas anbahnte.

Bei den anderen beiden wusste Samantha, um wen es sich handelte. Christian arbeitete wie sie und Jasmin bei dem kleinen Liestaler Kosmetikunternehmen Amry Cosmetics, und Chiara gehörte das Schmuckatelier hier im Parterre.

Samantha legte die Hände auf den Bauch. »Wenn ich noch einen Bissen esse, platze ich.«

»Mir geht es ähnlich«, sagte Chiara.

Delia nickte. »Auch ich habe zu viel gegessen.«

»Auf dem Kuchen lasst ihr mich aber bitte nicht sitzen.«

»Jasmin, der Mastbetrieb«, sagte Jonathan. »Okay, ein Stück passt noch.«

Zustimmendes Gemurmel kam von den Übrigen.

»Möchte jemand einen Kaffee dazu?«, fragte Jasmin.

»Dazu sage ich nicht Nein«, erwiderte Carmen. »Bleib sitzen. Ich mache das.«

»Ich komme mit.« Christian stand auf und folgte ihr zur Küchenzeile.

Jasmin stellte den Schokoladenkuchen auf den Tisch und verteilte Stücke auf die Teller.

»Du und Samantha seid Arbeitskollegen von Jasmin bei diesem Kosmetikunternehmen im Schildareal?«, fragte Carmen Christian, als sie die Kaffeemaschine einschaltete, die mit einem Zischen zum Leben erwachte. Sie war erst zum Dessert gekommen, da sie ihre achtjährige Tochter vorher ins Bett gebracht hatte und warten musste, bis ihr Mann nach Hause kam.

»Genau«, sagte Christian. »Ich bin für den Verkauf von Amry Cosmetics in der Schweiz zuständig, Jasmin ist unsere Marketingverantwortliche, wie du weißt, und Samantha ist unsere Qualitätsverantwortliche.«

»Das heißt, du überprüfst, ob die Cremen richtig hergestellt werden?«, wandte Carmen sich an Samantha.

»Indirekt. Ich schaue, ob die Rohstoffe für die Reinigungsmilch, Aknemittel, Körperlotionen, Gesichts- und Sonnencremen qualitativ in Ordnung sind.«

»Die Eigentümer legen großen Wert auf die Natürlichkeit und Nachhaltigkeit ihrer Produkte«, fügte Jasmin an.

Das war etwas, das Samantha bei dem kleinen Kosmetikunternehmen gefiel.

»Die Tages- und Nachtcreme ist gut«, sagte Delia. »Zuerst war ich skeptisch. Amry Cosmetics ist nicht besonders groß. Jasmin hat mir Proben mitgebracht, und die haben mich überzeugt.«

»Die Größe eines Unternehmens sagt nichts über die Qualität der Produkte aus.« Christian setzte sich mit einem Espresso zurück an den Tisch. »Wir sind zwar nur fünfzehn Mitarbeiter, aber jeder erledigt einen guten Job.«

»Und offenbar habt ihr ein gutes Verhältnis untereinander«, sagte Delia. »Ich würde nie auf die Idee kommen, Arbeitskollegen zu mir nach Hause einzuladen.«

Die Einladung hatte Samantha überrascht, als Jasmin letzte Woche in der Mittagspause gefragt hatte, ob sie Lust hätten, zu ihr zu kommen. Privates war bisher außen vor geblieben. Bis auf Samantha und Christian hatten alle etwas vorgehabt.

Mehr Leute hätten allerdings nicht in Jasmins kleine Wohnung gepasst. Die Wohnung war gemütlich und erinnerte Samantha mit dem Holzboden und den Sichtbalken an die, in der sie in Lenzburg gewohnt hatte, bevor sie mit Joel zusammengezogen war.

»Schon nach elf?«, rief Carmen. »Ich sollte langsam nach Hause. Obwohl morgen Samstag ist, müssen wir früh raus.«

Erstaunt schaute Samantha auf ihre Armbanduhr. Die Zeit war wie im Fluge vergangen. Sie stellte die Dessertteller zusammen und erhob sich.

»Lass stehen«, sagte Jasmin. »Möchte jemand etwas vom Kuchen mitnehmen?«

»Der ist fein, und ich nehme gerne ein Stück für Nick mit«, sagte Delia.

»Hoffentlich geht es ihm bald besser.« Jasmin legte zwei Stücke auf einen Teller.

»Das hoffe ich auch. Langsam ist es mühsam.«

»Ich habe gehört, die Magen-Darm-Grippe, die derzeit im Umlauf ist, hat es in sich«, sagte Chiara.

»Dabei schien es besser zu werden.«

»Liebe Grüße und gute Besserung.« Jasmin öffnete die Tür, und Delia verabschiedete sich.

»Nehmt ihr auch Kuchen mit?«, fragte Jasmin.

»Bring den Rest am Montag zu Amry mit«, schlug Christian vor. »Gut eingepackt sollte der so lange halten. Wie du weißt, wird bei uns nichts schlecht. Besonders, wenn es etwas Süßes ist.«

»Eine gute Idee.«

Ein Schrei ließ alle gleichzeitig zusammenzucken.

»Das war Delia«, sagte Chiara.

Hintereinander rannten sie einen Stock tiefer. Die Tür zur Wohnung war geöffnet, und Samantha erkannte Delia, die neben einem Mann kniete, der auf dem Boden lag.

»Er reagiert nicht«, stieß Delia hervor und rüttelte an der Schulter des Mannes.

»Trink einen Schluck Tee.« Joel stellte die Tasse auf den Gartentisch und setzte sich neben Samantha.

Inzwischen war es nach Mitternacht, aber Samantha war sich sicher, so schnell keinen Schlaf finden zu können. Da half der ungewöhnlich laue Abend Ende September nichts. Zum Glück war es Freitag. Die Büsche am Rand des Grundstückes schwankten im leichten Wind und gaben für kurze Momente den Blick auf die Lichter der Stadt im Tal und den Umriss des Hügelzuges auf der anderen Seite frei. Die friedliche Stimmung übertrug sich nicht auf Samantha. Im Gegenteil, sie stand nach wie vor wie unter Strom.

»Mehr als hoffen kannst du nicht«, sagte Joel und legte seine Hand auf ihre. »Ihr habt getan, was ihr tun konntet.«

Dessen war Samantha sich nicht sicher. Christian hatte sofort nach Nicks Puls getastet, der schwach vorhanden gewesen war, und hatte ihn zusammen mit Jonathan in die stabile Seitenlage gebracht. Samantha hatte den Notruf gewählt. Nebeneinander hatten sie ausgeharrt. Jedes Mal wenn Nicks Atem stockte, war Panik aufgekommen. Abwechselnd hatten Jonathan und Christian den Puls gefühlt, und Samantha hatte sich geschworen, den Nothelferkurs baldmöglichst aufzufrischen. Obwohl die Ambulanz nach nicht einmal fünf Minuten vorgefahren war, war es Samantha ewig vorgekommen.

Sie sah sich mit Chiara und Jasmin auf der Rathausstraße im Stedtli stehen und wie sie beobachteten, wie die Sanitäter Nick in den Wagen trugen. Sein Gesicht war grau gewesen. Wie ein Toter hatte er ausgesehen. Gleich darauf hatte sie sich verboten, dies zu denken. Keiner war imstande gewesen, sich zu rühren. Alle hatten zum Törli gestarrt, durch das die Ambulanz mit Blaulicht verschwunden war.

Das leise Schluchzen von Delia hatte Samantha ihre Hilflosigkeit deutlicher vor Augen geführt. Jonathan hatte Delia angeboten, sie zum Liestaler Kantonsspital zu fahren.

Mit den anderen war Samantha auf der Straße stehen geblieben. Keiner wusste, was er tun sollte, bis Jasmin gesagt hatte, sie würde in ihre Wohnung gehen, da ihr kalt war.

»Er muss schon länger so gelegen haben«, flüsterte Samantha.

»Was heißt länger? Er kann kurz vor Delias Heimkehr zusammengebrochen sein.« Joel schob die Tasse dichter zu Samantha.

Sie nippte am Tee. Kräutertee mit Honig. Normalerweise das perfekte Beruhigungsmittel am Abend für sie, wenn sie Mühe hatte, abzuschalten. Heute würde es nicht funktionieren, war sie sich sicher.

»Delia macht sich Vorwürfe. Sie sagt, sie hätte zu Hause bleiben sollen.«

»Wenn ich dich richtig verstanden habe, hat ihr Freund eine Magen-Darm-Grippe. Niemand konnte voraussehen, was passieren würde.«

»Es habe sich am späten Nachmittag verschlechtert, hat Delia gesagt«, erwiderte Samantha.

»Verschlechtern heißt nicht automatisch, bewusstlos zusammenzubrechen. Die Magen-Darm-Grippe, die momentan kursiert, hat es in sich.«

Samantha trank einen weiteren Schluck vom Tee und sah Delia vor sich, wie sie neben den Sanitätern gestanden war, als diese sich um Nick gekümmert hatten. Wie sie mit der Fassung gerungen und sich bemüht hatte, nicht in Tränen auszubrechen. Wie sie mit den Zähnen die Fingerknötchen ihrer zur Faust zusammengeballten Hand bearbeitet und am ganzen Körper gezittert hatte. Wie Jonathan den Arm um sie gelegt und sie gestützt hatte. Samantha hatte angenommen, sie werde jeden Augenblick kollabieren.

»Bei uns sind gerade zahlreiche deswegen krankgemeldet«, fuhr Joel fort.

»Keiner ist im Spital gelandet«, erwiderte Samantha.

»Das weiß ich nicht. Viele fallen manchmal sogar für zwei Wochen aus, und in etlichen Betrieben wird es allmählich kritisch mit der Arbeitskapazität. Das gilt auch für mein Team.«

Joel war bei dem Egerkinger Pharmaunternehmen AarePharm der Leiter der Qualitätssicherung. Zurzeit gab es einiges zu tun, da sie ein neues Krebsmedikament einführen wollten. Hinzu kam das Audit, für das sich die Swissmedic angemeldet hatte. Die Schweizer Arzneimittelbehörde überprüfte in regelmäßigen Abständen, ob bei AarePharm und jedem anderen Pharmaunternehmen die geforderte Qualität und Sorgfalt bei der Herstellung, Verpackung und dem Transport der Medikamente eingehalten wurde. Wie Samantha wusste, hatte es die Vorbereitung für dieses Audit in sich. Seit mehreren Wochen sprach Joel von fast nichts anderem mehr.

»Wurde es bei ihnen besser und danach wieder schlechter?«

»Wie meinst du das?«

»Bei Nick hat das Virus vor vier Tagen wie aus dem Nichts zugeschlagen. Nach einem Tag ging es bergauf. Er fühlte sich zwar nicht richtig fit, ging aber in sein Fotostudio. Die Arbeit erledige sich nicht von selbst, hat er gemäß Delia erklärt. Heute Nachmittag habe es einen Rückschlag gegeben, und er sei früher nach Hause gekommen.«

»Von Rückschlägen bei meinen Leuten weiß ich nichts. Sie fehlen einfach mehrere Tage und sind danach eine Weile ziemlich angeschlagen.« Er gähnte. »Ich bin froh, wenn wir Ferien haben. Leider muss ich bis nächsten Freitag, also noch eine ganze Woche, durchhalten.«

Samantha verspürte ein schlechtes Gewissen. Seit zwei Wochen kam Joel spät nach Hause und war am Morgen häufig vor sieben im Büro. An den Wochenenden zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück und loggte sich bei AarePharm ein. Sie sollten sich nicht die Nacht um die Ohren schlagen. Samantha stand auf. »Gehen wir zu Bett.«

2

Samantha drückte gegen die Tür von »Chiaras Goldstube«. Sie ließ sich nicht öffnen. Erstaunt schaute sie zur Uhr am Törli. Sie war pünktlich.

Als sie am Samstag zum Einkaufen wollte, war ihr Schlüsselbund verschwunden gewesen. Sie hatte angenommen, ihn verlegt zu haben. Nachdem sie am Wochenende erfolglos versucht hatte zu rekonstruieren, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte, hatte sie heute Morgen den Ersatzschlüssel genommen. Kaum war sie bei Amry Cosmetics eingetroffen, hatte sie eine WhatsApp von Chiara erhalten.

Ich habe deinen Schlüssel im Treppenhaus gefunden.

Samantha war sich nicht bewusst gewesen, ihn dort verloren zu haben, da Joel am Freitagabend auf sie gewartet und die Haustür geöffnet hatte, als sie mit dem Velo in die Einfahrt eingebogen war.

Ich komme in der Mittagspause vorbei, hatte Samantha Chiara zurückgeschrieben.

»Scusa.« Wie aus dem Nichts stand Chiara neben ihr. »Fast hätte ich vergessen, dass du kommen wolltest.« Sie öffnete die Tür und ließ Samantha zuerst eintreten.

»Ich hoffe, du musstest nicht lange warten«, sagte Chiara in ihrem Mix aus Schriftdeutsch und Baselbieter Dialekt mit einer großen Portion italienischem Akzent.

Samantha mochte die temperamentvolle Süditalienerin. Chiara stammte aus Sizilien und zog mit ihren Eltern ins Tessin, als sie ein Baby war. Mit vierzehn kam sie nach Liestal.

Samantha bedauerte, dass ihr Kontakt im vergangenen Jahr eingeschlafen war.

»Ich bin gerade gekommen«, sagte Samantha.

Sie betraten das Atelier, und Samantha war aufs Neue beeindruckt von Chiaras Geschmack, was die Einrichtung betraf.

»Hast du Zeit für un caffè?«

»Für deinen Kaffee ist immer Zeit.« Normalerweise gehörte ein Espresso nicht zu Samanthas erster Wahl. Sie bevorzugte Cappuccino. Aber Chiaras Angebot konnte sie nicht widerstehen. Die feine, leicht süße Crema war einmalig.

Chiara verschwand in dem kleinen Raum im hinteren Teil des Ateliers, und Samantha setzte sich auf einen der vier Stühle an den runden Tisch, der hinter der Vitrine vor dem Schaufenster stand. Er bestand aus einer großen waagerecht herausgesägten Platte eines Baumstammes, die nur geölt war. Deutlich konnte Samantha die Jahresringe erkennen. Der Raum war mit einem dunklen Holzboden ausgelegt. Neben dem runden Tisch hatte es noch einen länglichen. Die Platte war ebenfalls massiv. Sockel mit Vitrinen reihten sich rechts und links davon an. Im hinteren Teil des Raumes war Chiaras Atelier. Von hier konnte Samantha eine Werkbank mit diversen Werkzeugen erkennen.

Samantha hörte das Zischen der Kaffeemaschine und wie Chiara mit Geschirr hantierte. Sie kehrte mit je einer Tasse in jeder Hand mit forschem Schritt zu Samantha zurück, stellte die Tassen auf den Tisch, setzte sich und legte Samanthas Schlüsselbund vor sie hin.

»Danke«, sagte Samantha. »Er muss mir aus der Tasche gefallen sein, als ich das Handy herausgeholt habe, um die Ambulanz zu verständigen.«

»Bei dem Chaos am Freitagabend ist das kein Wunder.«

Samantha nahm den Schlüssel in die Hand. »Was ist das?«

»Was?«

»Das Gelbe hier.« Sie klaubte eine gelbe Masse aus der Rille des Schlüsselbarts. »Und die Seite sieht aus, als sei sie mit Puderzucker bestreut.«

»Keine Ahnung. Dreck? Ich habe mich auch gewundert.«

»Wo hast du ihn gefunden?«

»Er lag neben dem Hauseingang an der Hausmauer.«

»Dort?«, fragte Samantha und zeigte zur Tür. Sie hatte angenommen, er wäre ihr vor Delias Wohnung aus der Tasche gefallen. Vor der Haustür ergab es keinen Sinn. »Wann hast du ihn gefunden?«

»Er ist mir erst aufgefallen, als ich heute Morgen kurz weggegangen bin. Am Samstag habe ich ihn nicht gesehen. Ich dachte, das seien Sandkörner auf dem Schlüssel.«

»Seltsamer Sand.« Samantha betrachtete das Korn in ihrer Handfläche. »Es sieht künstlich aus.«

»Du hast recht. Wer weiß, was das Ekelhaftes ist. Gib her. Ich wasche ihn rasch ab.«

Als Chiara zurückkehrte, brachte sie eine Kekspackung mit.

»Danke.« Samantha steckte den Schlüssel ein und nahm ein Schokoladenbiskuit. »Weißt du, wie es Delias Freund geht?« Das Gleiche hatte Samantha am Morgen Jasmin gefragt. »Ich habe Delia seit Freitag nicht mehr gesehen oder mit ihr gesprochen«, hatte Jasmin geantwortet. »Per WhatsApp nachfragen will ich nicht. Ich käme mir zu aufdringlich vor.«

Chiara schüttelte den Kopf. Dabei wirbelten ihre schwarzen Locken hin und her. »Sie hat bestimmt anderes zu tun, als meine WhatsApp-Nachrichten zu beantworten.«

Samantha nahm einen Schluck vom Espresso. Er war genau so, wie sie ihn in Erinnerung hatte, wenn nicht sogar besser.

Chiara griff nach ihrer Hand, als Samantha die Tasse zurückgestellt hatte. »Du trägst den Ring.«

Samantha blickte auf ihre Hand. Den Ring, den Joel ihr geschenkt hatte, hatte Chiara entworfen. Zwar hatte er es nie gesagt, aber er war wohl als Heiratsantrag geplant gewesen, der durch das unrühmliche Verhalten von Samanthas ehemals bester Freundin Lorena vereitelt worden war.

»Werdet ihr heiraten?« Chiara presste die Hand vor den Mund. »Scusa. Ich sollte gefälligst erst nachdenken, bevor ich rede.«

»Kein Problem.« Samantha zwang sich zu einem Lächeln. Das Thema Hochzeit war nie zwischen ihr und Joel zur Sprache gekommen, was aber nicht an Lorena lag. Grundsätzlich war es tabu, aber Chiara konnte sie es nicht verübeln. Sie schätzte ihre Direktheit. »Das hat nichts mit Joel zu tun.«

»Sondern?«

»Mit meiner indischen Familie.«

Der Grund für Samanthas ablehnende Haltung gegenüber dem Thema Heiraten war in Samanthas Verwandtschaft in Indien zu suchen. Genauer in ihrem Bruder Harjit, der Samanthas Lebensstil in der Schweiz nicht billigte und es nicht guthieß, dass sie mit einem Europäer zusammenlebte. Ein No-Go in Indien. Er war sogar so weit gegangen und hatte einen indischen Mann für Samantha organisiert. Bei ihrem letzten Besuch vor über einem Jahr hatte sie ihm klargemacht, dass sie bestimmte, wann und wen sie heiratete. Das war ihrer Meinung nach der Grund, weshalb Joel das Thema Heiraten nie ansprach.

»Das kann ich verstehen«, sagte Chiara, nachdem Samantha fertig erzählt hatte.

»Weißt du, ich will entscheiden, wann ich heirate und wann ich wie viele Kinder bekomme.«

»Zum Kinderkriegen musst du nicht verheiratet sein.«

Samantha schwieg und fuhr mit dem Zeigefinger über den Ring. Sie hätte sich nicht auf dieses Thema einlassen sollen. Fieberhaft überlegte sie, wie sie es loswurde.

»Ich würde gerne Kinder haben«, sagte Chiara. »Leider fehlt mir dazu der passende Mann.«

Den hatte sie. Samantha wusste, dass sie sich selbst im Weg stand, konnte es aber nicht ändern.

»Er steht dir«, sagte Chiara, und Samantha brauchte einen Moment, bis ihr klar war, dass sie nicht Joel, sondern den Ring an ihrem Finger meinte.

Das Glöckchen an der Tür bimmelte, und ein Mann betrat den Raum.

Chiara stutzte. »Nick?«, fragte sie zu Samanthas Verwunderung. »Du bist zu Hause?« Chiara stand auf. »Oh, Entschuldigung. Ich dachte … Im Gegenlicht sahst du aus wie …« Sie brach ab und reichte dem Mann die Hand. »Jonathan, richtig?«

»Genau. Jon für meine Freunde.«

»Du warst am Freitagabend bei Jasmin. Schon da dachte ich, du wärst Nick«, fuhr Chiara fort.

»Kein Problem. Ich werde nicht zum ersten Mal mit meinem Bruder verwechselt.«

»Deinem Bruder? Ihr seid Geschwister?«

Das war Samantha ebenfalls nicht klar gewesen. Bei Jasmins Party war es kein Thema gewesen. Jonathan und Delia waren gemeinsam gekommen.

Wie bereits am Freitagabend hatte Samantha den Eindruck, ihm nicht zum ersten Mal, sondern schon früher einmal begegnet zu sein. Nach wie vor konnte sie nicht einordnen, wo das gewesen war.

»Weißt du, wo Delia ist?«, fragte Jonathan. »Sie sagte, sie sei zu Hause, macht aber die Tür nicht auf.«

»Ich habe sie heute nicht gesehen. Wie geht es Nick?«

Anstatt zu antworten, ließ Jonathan sich auf einen Stuhl fallen und fuhr durch seine kurz geschnittenen blonden Haare. Der Ausdruck in seinen blauen Augen ließ ahnen, was er als Nächstes sagen würde.

»Er ist tot.« Das war fast nicht hörbar.

Chiara sank zurück auf ihren Stuhl. »Tot? Nick?«

»Am Samstagmorgen ist er gestorben. Nieren- und Leberversagen, hat der Arzt gesagt. Wie kann er einfach so sterben? Vor zwei Wochen war er kerngesund.«

»Wieso vor zwei Wochen?«

»Ich weiß nicht mehr den Grund dafür, aber da hat er sich durchchecken lassen. Das ganze Programm. Keinerlei Hinweise auf einen Infekt. Die Blutwerte, der Blutdruck und alles, was der Arzt sonst angeschaut hat, hätten nicht besser sein können. Nick war fit, und der Arzt meinte, in dieser Verfassung werde er bestimmt hundert.« Sein Auflachen verursachte eine Gänsehaut. »Okay, diese Grippe machte ihm zu schaffen. Da ist er nicht der Einzige. Mich hatte es vor einer Woche auch erwischt. Aber daran stirbt man nicht einfach so.«

»Kann die Leber so schnell versagen?«, fragte Chiara.

»Akutes Leberversagen gibt es. Der Arzt hat einige Beispiele als Gründe genannt. Dazu gehören Hepatitis B, Drogen wie Ecstasy, Erbkrankheiten und … keine Ahnung. All das trifft nicht auf Nick zu.«

Samantha fragte sich, wie er das mit einer solchen Sicherheit sagen konnte, aber sie beließ es dabei.

»Ach ja, bei einer Überdosis von Medikamenten ist es auch möglich. Nick hatte Paracetamol eingenommen, aber nicht im Übermaß, wie mir Delia am Telefon versichert hat. Ich gehe davon aus, das hätten die Ärzte zudem bei der Untersuchung gemerkt. Und Drogen wie Ecstasy hätten sie ebenfalls festgestellt.« Er legte den Kopf in den Nacken und starrte zur Decke.

Das Schweigen dauerte an und wurde zunehmend unangenehmer.

Chiara wusste offenbar wie Samantha nicht, wie sie sich verhalten sollte.

»Die Magen-Darm-Grippe wird nicht der Grund sein, wie du erwähnt hast«, sagte Chiara schließlich, und Samantha war dankbar, weil sie der Stille ein Ende setzte.

»Sicher nicht.«

Jonathan schaute abwechselnd Samantha und Chiara an. Erneut fragte Samantha sich, woher sie ihn kannte. Kam aber zu keinem Schluss. Vermutlich verwechselte sie ihn mit jemandem.

»Freitagvormittag haben Nick und ich telefoniert. Da meinte er, es werde endlich besser. Er rief aus dem Fotostudio an. Ich war unterwegs und froh, weil er dort war. Wir erwarteten ein eingeschriebenes Paket, wofür eine Unterschrift von unserer Seite notwendig war. Weißt du, wir haben uns in diesem Sommer selbstständig gemacht und dieses Fotostudio eröffnet.«

»Richtig, ich erinnere mich«, sagte Chiara. »Nick hat davon erzählt, seinen Traum wahr gemacht zu haben.«

»Fotografieren war unser Hobby. Mein Spezialgebiet sind Tiere und Landschaften. Nick dagegen fotografiert alles, was mit Architektur zu tun hat, und alles, was abstrakt ist. Wir hatten schon die eine oder andere Ausstellung, bevor wir die Firma gegründet haben. Wir hatten angefangen, auf Events zu fotografieren. Also auf Anlässen wie Hochzeiten und bei Firmen. Hinzu kamen seit Anfang Jahr Aufträge von Firmen, Fotos für ihre Werbekampagnen zu machen. Auf einmal verdienten wir nicht schlecht und wollten den Schritt vom Hobby zum Beruf wagen und haben dieses Studio Ende August eröffnet.«

»Soweit ich von Nick gehört habe, lief es gut an.«

»Ja, was nicht selbstverständlich ist. Anfang September haben wir das Studio im Schildareal bezogen.«

Nun war Samantha klar, woher sie Jonathan kannte. Sie musste ihm dort einmal begegnet sein.

Das Klingeln eines Handys ließ sie alle gleichzeitig zusammenfahren.

»Entschuldigung.« Jonathan holte es aus der Jackentasche hervor. »Das ist Delia.« Er nahm das Gespräch entgegen. »Ich bin in dem Goldschmiedeatelier unter deiner Wohnung, und du?« Er lauschte. »Im Spital? Moment, was sagst du? Sie wollen eine Obduktion durchführen? Ich komme.«

Als er das Handy senkte, war sein Gesicht kalkweiß. »Entschuldigt, ich muss los.«

Jasmin umklammerte die Teetasse und starrte vor sich hin. Als Samantha zu Amry Cosmetics zurückgekehrt war, hatte sie Jasmin in der Küche angetroffen. Samantha hatte die Nachricht von Nicks Tod loswerden müssen und ihr erzählt, was sie von Jonathan erfahren hatte.

»Ich kann es nicht glauben«, flüsterte Jasmin. »Nick war … Wäre er nicht mit Delia zusammen gewesen, hätte ich ihn mir geschnappt.« Etwas flackerte in ihren Augen auf, und ihre Wangen nahmen einen Rosaton an, bevor sie wieder weiß wie eine Wand wurde. »Er war … Ich fühle mich total mies.«

»Du kannst nichts für seinen Tod.«

»Das nicht, aber …« Der Seufzer kam tief aus ihrem Inneren. »Ich habe vorgestern vor einer Woche versucht, mein neues Regal aufzubauen, bin aber kläglich daran gescheitert. Du weißt, wie ungeschickt ich in handwerklichen Dingen bin. Nick hatte angeboten, mir bei so etwas oder technischen Problemen unter die Arme zu greifen. Er nahm sich der Sache an. Da Delia nicht da war, habe ich ihn als Dankeschön zum Nachtessen eingeladen, und wir haben eine Flasche Wein aufgemacht.« Sie fuhr mit dem Handrücken über ihre Augen. »Kurz darauf wurde er krank.«

»Du meinst, das Essen, das du euch gekocht hast, war verdorben?«

»So in etwa.«

»In einem solchen Fall hätte es dich auch erwischt.«

»Wie du weißt, habe ich einen starken Magen.«

Das stimmte. Mehr als einmal hatte Jasmin erzählt, ihr werde nachgesagt, rostige Nägel und Schuhsohlen verdauen zu können.

»Was hast du gekocht?«

»Spaghetti. Chiara hat uns alle im Haus mit ihrem selbst gemachten Tomatensugo versorgt. Dazu gab es Salat.«

»Das klingt nicht besonders gefährlich.«

»Gefährlich?«, fragte Jasmin verwirrt.

»Das ist nicht etwas, das schnell verdirbt.« Samantha berührte Jasmins Arm. »Er hatte eine Magen-Darm-Grippe wie viele im Moment.«

»Davon bekommt man kein Leberversagen. Glaube ich zumindest.«

Dem musste Samantha zustimmen. »Die Magen-Darm-Sache und das Leberversagen haben nichts miteinander zu tun, denke ich. Das ist eine Verkettung unglücklicher Umstände.«

»Wo wir beim Nächsten sind. Nick hat keine Drogen genommen. Er hat nicht einmal geraucht. Hin und wieder trank er ein oder zwei Gläser Wein.« Sie schlug die Hand vor den Mund. »Der Wein. Der Job der Leber ist es, den Alkohol abzubauen.«

»Hör auf damit. Dein Wein ist hundertprozentig nicht schuld an dem Leberversagen. Ein oder zwei Gläser werden keinen akuten Ausfall dieses Organs verursachen. Es sei denn, er hatte eine Vorerkrankung, von der niemand etwas wusste. Daher könnte die Magen-Darm-Sache ihm den Rest gegeben haben.«

»Er hatte keine Vorerkrankung«, sagte Jasmin mit Nachdruck.

»Woher willst du das wissen?«

»Jon hat es mir gesagt.«

Richtig, dachte Samantha. Der Arzt hätte bestimmt eine Vorerkrankung bei den Untersuchungen vor zwei Wochen festgestellt. »Jon? Dir? Wann?«

»Er ist am Samstagmorgen vorbeigekommen, weil er seinen Schirm vergessen hatte, und wollte danach ins Spital, schauen, wie es seinem Bruder geht.« Sie fuhr mit der Hand über ihr Gesicht, was fahrig wirkte. »Er war … Ich habe ihn kennengelernt, als Delia und Nick eingezogen sind. Jon und Nick sind einander ähnlich. Da Nick in festen Händen war, dachte ich, mit Jon …«

Ohne die Nachricht von Nicks Tod hätte Samantha lachen müssen. Jasmin hatte das Singledasein satt und hatte sich sogar auf der Suche nach dem perfekten Mann auf einer Onlinedating-Plattform angemeldet.

»Ohne Nicks Zusammenbruch wäre er am Freitag geblieben, und es wäre mehr passiert«, fuhr Jasmin fort. »Himmel! Er hat seinen Bruder verloren, und ich denke nur daran, wie ich ihn rumkriegen kann.«

»Gib ihm Zeit. Sei für ihn da, wenn er reden möchte.«

»Zum Reden kommt er bestimmt nicht zu mir.«

Jasmins Handy klingelte. Sie starrte das Display an.

»Was ist?«, fragte Samantha.

»Es ist Jon«, sagte Jasmin erstaunt.

Samantha stand auf und machte mit der Hand eine Geste, den Raum zu verlassen.

»Klar, ich habe Zeit«, hörte sie Jasmin sagen, als sie die Küchentür hinter sich schloss.

***

Joel legte seinen Arm um sie, als sie zu ihrem täglichen kurzen Abendspaziergang durch das Quartier aufbrachen. Für Samantha waren diese kurzen Runden ein idealer Ausklang des Tages und um abzuschalten. Sie überquerten die Seltisbergerstraße und bogen in die Straße ein, in der sie wohnten.

»Lust zum Reingehen habe ich nicht«, sagte Joel. »Es ist zu schön.« Er zeigte nach oben. Das letzte Licht der untergehenden Sonne strahlte die Wolken an, die in verschiedenen Rot- und Orangetönen leuchteten. »Lass uns noch etwas auf der Terrasse sitzen, bevor wir reingehen.«

Dieser Vorschlag war Samantha nur recht. Heute hatte sie beim Gehen sich nicht entspannen können. Im Gegenteil. Sie war zu aufgedreht, um ins Haus zurückzukehren. Draußen würde es ihr einfacher fallen, sich ruhig hinzusetzen. Joel richtete die Stühle so aus, dass sie freien Blick zum Himmel hatten, und setzte sich.

»Vier Tage bis zu den Ferien … Wenn es nur endlich so weit wäre. Das anstehende Audit verursacht langsam Magenschmerzen.«

Samantha richtete sich auf.

»Entschuldige die Wortwahl.«

»Ist es so schlimm?«, überging Samantha die Anspielung. Über Nicks Tod hatten sie den gesamten Abend gesprochen, und sie wollte nicht zu dem Thema zurückkehren, obwohl es ihre Gedanken beherrschte.

»Ich weiß nicht. Eigentlich sind wir gut vorbereitet, aber ich habe das Gefühl, etwas vergessen … übersehen zu haben.«

»Das ist immer so.«

»Ich weiß. Nur dieses Mal ist meine Unruhe größer. Das wird vermutlich an den vielen Ausfällen liegen. In meinem Team ist über die Hälfte krank.«

»Was passiert, wenn es den Rest erwischt? Dich?«

»Mal den Teufel nicht an die Wand. Das überlege ich, wenn es so weit ist. Lass uns über etwas anderes sprechen. Was möchtest du mit Ranjana unternehmen? Wann kommt sie überhaupt an?«

»Diesen Freitag. Ich glaube, die Maschine landet um halb sieben am Morgen.«

Samantha freute sich, dass ihre indische Schwester in die Schweiz kam. Nach dem Eklat beim letzten Besuch in Agra hatte Samantha davon Abstand genommen, im Herbst wie ursprünglich vorgesehen wieder nach Indien zu reisen. Sie erinnerte sich zu gut an die Angst, die sie gehabt hatte. Sie und Joel allein in dem Raum mit ihren indischen Verwandten, von denen sie einige zum ersten Mal gesehen hatte. Inzwischen hatte sie begriffen, wie fest die Tradition in ihrer Familie verankert war. Weder sie noch Joel passten dort hinein, obwohl sich ihm gegenüber alle, bis auf Harjit, freundlich verhielten. Für einen kurzen Moment hatte Samantha geglaubt, einer von den Anwesenden werde sie packen, aus dem Raum zerren und mit diesem finster dreinblickenden Mann Anfang sechzig zwangsverheiraten. Obwohl Ranjana erklärt hatte, Harjit habe es nun verstanden, traute Samantha der Sache nicht.

»Du siehst Gespenster«, hatte Joel Ranjana zugestimmt. »Dein Bruder wird nichts mehr in diese Richtung unternehmen und sich, wenn auch widerwillig knurrend, damit zufriedengeben, dass seine kleine Schwester einen westlichen Lebensstil pflegt.«

»Ranjana möchte gerne wandern«, fuhr Samantha fort. »Die Natur und die Berge haben sie beim letzten Besuch beeindruckt.«

»Das muss sie uns nicht erzählen.« Samantha konnte Joels Schmunzeln zwischen den Worten heraushören. »Sie ist konditionsmäßig nicht die Fitteste. Ich überlege mal, welche einfachen Kurzwanderungen es in der Gegend gibt.«

»Das ist eine –«

Das Klingeln von Samanthas Handy unterbrach sie.

»Jan Nussbaum«, sagte Samantha erstaunt, als sie den Namen des Beamten von der Kantonspolizei Basel-Landschaft auf dem Display erkannte.

»Um diese Zeit?« Joel klang alles andere als begeistert. »Es ist gleich neun Uhr. Wenn er um diese Uhrzeit anruft, bedeutet das generell nichts Gutes.«

Joel hegte Vorbehalte gegenüber dem Beamten und verhielt sich reserviert, wenn sie einander begegneten.

Wieso das so war, hatte er Samantha nie verraten. Samantha vermutete, Joel nahm es Nussbaum weiterhin übel, bei früheren Fällen als Tatverdächtiger in den Fokus gerutscht zu sein, und gab ihm die Schuld, dass Samantha in gefährliche Situationen geraten war. Eine Weile war nichts mehr passiert, doch Joel traute dem Frieden nicht.

»Bitte entschuldige die späte Störung, Sammy«, sagte Nussbaum, nachdem Samantha das Gespräch entgegengenommen hatte.

»Kein Problem.«

»Kannst du bitte morgen auf den Polizeiposten kommen?« Diese Frage zerschlug Samanthas letzte Hoffnung, es handle sich um einen rein privaten Anruf.

»Ich? Wieso?«

»Es geht um den Todesfall Nick van den Berg.« Wie sie befürchtet hatte.

»Wieso?«, wiederholte sie.

»Du warst an dem Abend da, hat Delia Liechti uns gesagt.«

»Ja, wir waren bei Jasmin Hofer eingeladen, und Nick war krank –«

»Können wir das morgen besprechen?«, unterbrach Nussbaum sie. »War Joel an dem fraglichen Abend auch bei Frau Hofer?«

»Nein, nur ich war eingeladen.«

»Gut, wann kannst du vorbeikommen?«

Sie machten in der Mittagspause ab. Samantha ließ das Handy sinken, nachdem sie sich verabschiedet hatte. »Die Polizei hat Ermittlungen aufgenommen«, flüsterte sie.

3

Als Samantha den Polizeiposten Gutsmatte betrat, kam ihr Nussbaum entgegen. Er musste auf sie gewartet haben. Der drahtig gebaute Mann begrüßte Samantha mit drei Wangenküsschen. Die dunkelblonden Haare trug er kürzer als vor den Sommerferien.

Das letzte Mal hatte Samantha ihn im Juni gesehen. Nach mehreren Anläufen war es ihnen gelungen, endlich abzumachen. Nussbaum war mit seiner Frau und seiner Tochter bei Samantha und Joel zum Grillieren eingeladen gewesen. Es war ein gemütlicher Abend gewesen, an dem die Polizeiarbeit mit keinem Wort erwähnt worden war.

»Vielen Dank, dass du so schnell kommen konntest.« Mit einer Geste forderte er sie auf, ihm zu folgen. »Bevor ich es vergesse, ich soll dir von Ricarda einen lieben Gruß ausrichten.«

»Danke.« Small Talk war nicht das, was Samantha gern machte, besonders jetzt nicht. Dennoch ging sie darauf ein. Sie schätzte die Freundschaft, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte, aber auf dem Polizeiposten fühlte sie sich befangen.

Nussbaum hatte ihr einmal amüsiert erklärt, dass Leute häufig automatisch ein schlechtes Gewissen und Angst hatten, etwas unbewusst angestellt zu haben, wenn sie mit der Polizei Kontakt hatten. Das traf den Nagel auf den Kopf. Es lag nicht an Nussbaum selbst, sondern an den neugierigen Blicken, die ihnen von den Beamten, an denen sie vorbeigingen, zugeworfen wurden.

Samantha nickte einer Beamtin in Uniform als Gruß zu.

»Wie geht es Aurelia?«, fragte sie. »Und wie gefällt es ihr in der Schule?«

»Aurelia ist eine stolze Erstklässlerin, sie macht sich gut«, antwortete Nussbaum.

»Das wird sich früher oder später ändern.«

»Das ist mir bewusst. Wir genießen es, solange sie gerne geht und die Hausaufgaben in Blitzgeschwindigkeit erledigt.« Nussbaum öffnete eine Tür und ließ Samantha den Vortritt.

In diesem Besprechungszimmer war sie bereits bei früheren Befragungen gewesen.

Die Befangenheit, die sich während ihres Gesprächs verflüchtigt hatte, war zurück und verstärkte sich, als sie einen Mann an dem anthrazitfarbenen Tisch bemerkte. Als er sich erhob, erkannte Samantha Nussbaums Kollegen Bühler.

Bühler umrundete den Tisch. Wie bei früheren Begegnungen mit ihm war Samantha über seine Ausstrahlung erstaunt. Der Mann Mitte fünfzig trug eine Brille mit goldenem Rahmen. Er hatte volle dunkelblonde Haare. Im Kontrast dazu stand ein weißer Vollbart. Nach wie vor war sie sich nicht im Klaren, was sie von ihm halten sollte. Ihr gegenüber schien er Vorbehalte zu haben. In der Regel verhielt er sich aber korrekt.

Nussbaum bat Samantha, Platz zu nehmen, nachdem sie Bühler die Hand gereicht hatte.

»Du weißt, weshalb wir dich hergebeten haben.« Nussbaum legte die Hand auf eine Mappe, die vor ihm lag.

»Gestern hast du angedeutet, es ginge um Delias Freund Nick. Sein überraschender Tod ist tragisch, und ich frage mich, ob wir mehr hätten tun können, als wir ihn bewusstlos fanden. Mir ist aber nicht klar, was ihr damit zu tun habt?«

»Wie gut kanntest du Nick van den Berg?«, überging Nussbaum die Frage.

»Gar nicht.«

Nussbaum wirkte aus dem Konzept gebracht.

»Du warst Freitagabend in Herrn van den Bergs Wohnung und hast den Notruf getätigt.«

»Ich war zu Jasmin Hofers Geburtstag eingeladen. Jasmin ist meine Arbeitskollegin. Sie hat zusätzlich Chiara Tomasi, die das Goldschmiedeatelier im Erdgeschoss hat, und ihre Nachbarn Delia und Nick und dessen Bruder eingeladen. Ach ja, Jasmins Schwester Carmen war ebenfalls da.«

Nussbaum sah aus, als erzähle Samantha ihm nichts Neues. Logisch, dachte Samantha. Delia hatte ihm die anderen Anwesenden bestimmt auch genannt. Nussbaum würde mit ihnen gesprochen haben oder hatte dies noch vor.

»Christian war auch dort«, fügte sie der Vollständigkeit halber an.

»Christian und weiter?«

Samantha war sich sicher, Nussbaum wusste, wer Christian war.

»Christian Probst arbeitet wie ich bei Amry. Er ist Verkäufer und für den Schweizer Markt zuständig.«

»War Nick van den Berg auf der Party?«

Abermals war Samantha sicher, dass er darüber informiert war. Inzwischen hatte sie genügend Einblick in Nussbaums Arbeit gehabt. Er hakte nach, um allfällige Widersprüche in den Aussagen herauszufiltern.

»Wenn ich es richtig verstanden habe, war er zusammen mit Delia Liechti eingeladen. Er hat sich jedoch entschuldigt, weil er sich eine Magen-Darm-Grippe eingefangen hatte.«

»Bitte schildere den Ablauf des Abends.«

Samantha tat ihm den Gefallen. Weder Nussbaum noch Bühler unterbrachen sie. Bühler hatte offenbar den Job gefasst, ihre Aussage zu protokollieren. Seine Finger huschten über die Tastatur des Laptops. Sie stellten keine Zwischenfragen.

»Was hast du im Anschluss gemacht?«

»Wir sind unschlüssig herumgestanden. Nach einer Weile, ich habe nicht auf die Uhr geschaut, ist Jasmin in ihre Wohnung gegangen, und ich bin mit dem Velo nach Hause gefahren.«

»Kam Delia Liechti vor oder nach dir zu Frau Hofers Party?«

»Sie traf kurz nach mir ein.«

»Was heißt kurz?«

»Keine Ahnung. Fünf oder zehn Minuten später.«

»Welchen Eindruck machte sie?«

»Einen normalen.«

»Kannst du das bitte präzisieren? War sie nervös oder aufgekratzt?«

»Ich kenne sie nicht und weiß nicht, wie sie normalerweise ist. Auf mich machte sie keinen nervösen Eindruck.«

»Wie verhielt sie sich, als sie Nick van den Berg entschuldigte?«

»Sie war betrübt, weil er einen Rückfall hatte und nicht kommen konnte, war aber nicht besorgt. Als sie sich verabschiedete, nahm sie Kuchen für ihn mit.«

Nussbaum trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch.

»Ich finde den plötzlichen Tod von Nick schlimm, aber ich verstehe nicht, wieso ihr euch dafür interessiert?«, wiederholte Samantha ihre Eingangsfrage.

»Nick van den Berg war kerngesund, wie dir inzwischen sicher bekannt ist. Das hat sein Hausarzt bestätigt, den er im Rahmen eines Gesundheitschecks aufgesucht hatte. Zwei Wochen später stirbt er unerwartet an akutem Nieren- und Leberversagen.«

Diese ausführliche Antwort verblüffte Samantha. Nussbaum hob die Hand, als Samantha zu einer Erwiderung ansetzte. »Wie du weißt, schauen wir bei einem außergewöhnlichen Todesfall genauer hin.«

Er musterte Samantha, als erwarte er von ihr eine Äußerung dazu, doch sie wusste nicht, was sie erwidern sollte, und nickte nur.

»Gemäß den Ärzten muss es ihm an dem Tag vor der Party dreckig gegangen sein«, fuhr Nussbaum fort. »Ich finde es seltsam, dass er keinen Arzt aufgesucht hat und sich seine Freundin keine Gedanken gemacht hat.«

Er legte eine neue Pause ein, und Samantha wusste nicht, was für eine Antwort er von ihr erwartete.

»Er wollte vielleicht Delia nicht zeigen, wie schlecht es ihm ging.«

»So hat es Frau Liechti auch dargelegt. Trotzdem müsste sie gemerkt haben, wie sich sein Zustand verschlechterte.«

Worauf wollte er hinaus? Und wieso erzählte er ihr das alles? Samanthas Ratlosigkeit nahm zu. Was erhoffte er sich von ihr? Sie zog es vor, nichts zu sagen. Das Schweigen zog sich in die Länge und wurde zunehmend unangenehm.

»Das Ganze ist mehr als mysteriös«, beendete Nussbaum die Stille. »Es gibt keine Erklärung … Moment«, er holte die Papiere aus der Mappe und blätterte sie durch, »für den Anstieg der Leberenzyme im Blut und die schwere Störung der Blutgerinnung, insbesondere den Abfall von Antithrombin III, wenn die Leberwerte keine zwei Wochen zuvor völlig unauffällig gewesen waren«, las er vor.

Samanthas Erstaunen nahm zu, weil er ohne Weiteres diese Details preisgab, die aus einem Untersuchungsbericht stammen mussten. Allerdings verstand sie kein Wort von dem, was er sagte.

»Der Amtsarzt hat eine Obduktion beantragt, der die Staatsanwaltschaft stattgegeben hat. Gemäß dem Rechtsmediziner, der die Autopsie durchgeführt hat, waren die Befunde eindrücklich. Neben dem, wie soll ich sagen, prekären Zustand der Leber gibt es Zeichen für eine gestörte Blutgerinnung mit Einblutungen im Herz, den Skelettmuskeln und der Niere.« Nussbaum senkte die Blätter. »Langer Rede kurzer Sinn, Herr van den Berg starb an einer Vergiftung.«

***

Nach dem Gespräch mit Nussbaum hatte Samantha am Nachmittag Mühe gehabt, sich zu konzentrieren, und war froh gewesen, als sie Feierabend machen konnte.

Sie bog mit dem Velo von der Rhein- in die Rathausstraße ab. Sie wich Passanten aus, als sie Richtung Törli fuhr. Aus dem Coop eilte eine Frau, und Samantha musste scharf abbremsen. Knapp konnte sie ihr mit einem Schlenker ausweichen und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren.

»Oh nein!«, rief die Frau, und einzelne Äpfel rollten vor Samantha. Die Frau bückte sich und sammelte hastig ihre Einkäufe ein.

Fünf Jugendliche liefen an ihnen vorbei und lachten. Eine Frau mit einem Velo kurvte um sie herum. »Müssen Sie das ausgerechnet mitten auf der Straße machen?«, rief sie.

Samantha stieg vom Velo. »Ich helfe Ihnen.«

»So eine Sauerei.« Die Frau drehte sich um und hielt das Tetrapak hoch. Milch tropfte aus der Verpackung.

»Delia?«

Die Frau blickte auf und brauchte einige Sekunden, bis sie Samantha erkannte.

»Ich … ich …« Aufgelöst hielt Delia den zerrissenen Papiersack hoch. Tränen glänzten in ihren Augen.

»Ich helfe dir.« Samantha nahm ihre Tasche aus dem Velokorb und legte die Äpfel, das Brot und die Tomaten hinein.

»Das Konfitürenglas ist heil geblieben«, sagte sie.

»Danke«, murmelte Delia, als sie nebeneinander zu dem Haus liefen, in dem sie wohnte. »Ich stehe völlig neben mir und bekomme nichts hin.«

»Es ist kein Wunder bei allem –«

»Sogar Einkäufe nach Hause zu tragen, schaffe ich nicht.«

»Du kannst nichts dafür, wenn der Sack nicht hält. Soll ich dir eben helfen, alles hochzutragen?«

»Würdest du das machen?«

»Klar.« Samantha schloss ihr Velo ab und nahm ihre Tasche mit dem Brot, den Äpfeln und dem Konfitürenglas.

»Hast du einen Moment Zeit?«, fragte Delia und schloss ihre Wohnungstür auf.