Der Fluch von Aarau - Ina Haller - E-Book

Der Fluch von Aarau E-Book

Ina Haller

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Beschreibung

Der 6. Fall für Andrina Kaufmann Andrina gerät in ernsthafte Schwierigkeiten: Nachdem sie und ihr Verlobter Marco Feller, Leiter der Kripo Aarau, eine Beziehungspause eingelegt haben, wird sie bewusstlos neben der Leiche einer jungen Frau gefunden. Als Andrina erwacht, kann sie sich an nichts erinnern. Ist sie die Täterin? Als sie verzweifelt versucht, ihre Erinnerung zurückzuerlangen, überlebt sie nur knapp einen Mordanschlag. Wer ist hinter ihr her? Und vor allen Dingen: Warum?

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Ina Haller lebt mit ihrer Familie im Kanton Aargau, Schweiz. Nach dem Abitur studierte sie Geologie. Seit der Geburt ihrer drei Kinder ist sie ‹Vollzeit-Familienmanagerin› und Autorin. Zu ihrem Repertoire gehören Kurz- und Kindergeschichten sowie Kriminalromane. www.inahaller.ch

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ebenso sind die Orte, an denen die Verbrechen stattfinden, nur Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und realen Handlungen sind nicht gewollt und rein zufällig.  

© 2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: manun/photocase.de Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH) eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-329-5 Originalausgabe

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Für Urs, Pascale, Rebecca und Manuela

EINS

Eine Schmerzwelle jagte durch den Körper und setzte sich im Kopf fest, der zu explodieren schien. Unverhofft war der Schmerz weg. Andrina empfand Erleichterung. Langsam driftete sie von einem dunklen Ort weg. Es war wie ein Auftauchen aus dem Wasser. Aus warmem Wasser. Es wurde immer heller. Sie gelangte näher an die Oberfläche, stoppte aber, bevor sie diese durchbrechen konnte. Ein Lichtpunkt schimmerte in weiter Ferne. Warmes Licht. Wie das einer Kerze. Andrina fühlte sich magisch davon angezogen. Genau dort wollte sie hin. Fort aus der Dunkelheit. Sie fühlte sich federleicht. Eine angenehme Wärme machte sich in ihr breit. Es war nur ein kleines Stück, bis sie durch die Oberfläche stossen würde.

Mit einem Mal gab es einen Ruck. Als würde jemand sie an den Füssen nach unten ziehen. Neue Finsternis hüllte sie ein. Kälte verdrängte die Wärme. Andrina versuchte sich zu befreien, aber sie wurde schwer wie ein Stein und sackte nach unten. Sie versuchte gegen den Sog anzukämpfen. Andrina wollte strampeln. Um sich schlagen. Sich bewegen war jedoch unmöglich.

Sie fror. Es war, als sei sie in der Kälte gefangen. Das kalte Gefängnis war ihr Körper, realisierte sie auf einmal. Ich will raus, wollte sie schreien, brachte aber keinen Ton über die Lippen. Lass mich los. Der Drang, aus dem Körper auszubrechen, steigerte sich ins Unermessliche. Sie wollte zu dem Ort, wo es eben warm gewesen war. Kurz gelang es ihr, sich zu befreien. Sie schwamm zurück und konnte das Licht kurz aufblitzen sehen. Weiter kam sie aber nicht. Wer hielt sie so hartnäckig fest? Der Sog wurde stärker. Das Licht verschwand. Eisige Kälte hüllte sie ein. Ein Druck auf ihren Oberkörper, und die Schmerzen waren wieder da. Sie zuckten wie Blitze durch ihren Körper.

Es tut so weh, wollte sie schreien. Lass mich los.

Jemand sagte etwas, und sie erschrak. Wer sprach mit ihr? Wo war sie? Wer fügte ihr diese Schmerzen zu? Ich will raus! Weg von hier. Lass mich gehen.

Nach und nach drangen weitere Stimmen in ihr Bewusstsein. Zuerst verstand Andrina deren Bedeutung nicht. Nach einer Weile konnte sie einzelne Wörter herausfiltern. Mindestens vier Männer, die wild durcheinandersprachen.

«Kein Puls.»

«Doch, ganz schwach.»

«… nicht aufhören.»

«Sie ist total unterkühlt.»

Jemand fluchte.

«Jede Hilfe… zu spät.»

«Konzentriere dich lieber und gib endlich den Beutel.»

«Die Körpertemperatur beträgt knapp dreissig Grad.»

«Scheisse!»

«Sie ist tot.»

Tot? Wer? Ich? Ich will nicht sterben. Der Lichtpunkt. Die Wärme. War das gleichbedeutend mit Sterben?

Die Schmerzen nahmen weiter zu. Andrina wollte weg. Fliehen. Warum tat alles weh, wenn man tot war? Hiess es nicht, man wäre schmerzfrei?

Das Stimmengemurmel wurde zu einem Hintergrundgeräusch. Andrina merkte, wie sie wegdriftete.

Plötzlich wurde sie geblendet. Eine Schmerzexplosion im Kopf war die Folge. Hatte sie die Augen offen? Warum konnte sie nichts erkennen? Wo kam dieses Licht her? Grell. Wie ein Blitz. Andrina wollte die Augen zusammenpressen, was nicht ging. Sie spürte einen Druck unterhalb der Augenbraue. Wer quälte sie?

«Die Pupille reagiert.»

In der nächsten Sekunde klappte das Lid zu. Erleichterung.

«Zieht ihr endlich die nassen Kleider aus!»

Ausziehen? Jemand zerrte an ihrem Körper. Nein! Bitte keine weiteren Schmerzen. Wenn sie sich nur bewegen und wegrennen könnte.

«Was machen wir mit der Leiche?»

Leiche? Wessen Leiche? Meinte der Mann sie? Ihr war kalt, und es gelang ihr nicht, richtig zu Bewusstsein zu kommen und ihre Gedanken zu ordnen. Natürlich ging das nicht, wenn sie tot war. Keine Panik, dachte sie. Der Lichtpunkt war ein Wegweiser gewesen. Er hatte sie führen wollen. Nach… Wohin?

Etwas wurde über ihre Beine gestreift. Wollten die Männer sie vergewaltigen? Eine Tote?

«Können wir die Leiche mitnehmen?»

«Ja, ich bin fertig.»

Etwas wurde über sie ausgebreitet. Eine Decke? Sie wurde angehoben und auf eine harte Unterlage gelegt. Der Untergrund schwankte. Ihr Kopf pochte. Das Pochen steigerte sich unaufhörlich. Ein Knacken. Wie ein Ast, der abgebrochen wurde. Ein Rauschen. Tropfen auf ihrem Gesicht.

«Pass auf!»

«Entschuldige, ich bin über eine Wurzel gestolpert.»

Schritte. Knacken. Rascheln. Andrina wurde übel. Ein Knall. Sie erschrak. Das hatte wie die Schiebetür eines Wagens geklungen. Immerhin hatte sie nicht mehr das Gefühl auf hoher See zu sein. Ein Motor wurde angelassen. Das Brummen war tief und fand die Fortsetzung im schmerzenden Kopf. Andrina wollte erneut die Augen öffnen, was nicht funktionierte.

ZWEI

Langsam wurde es heller. Andrina wehrte sich. Sie wollte nicht aufwachen, sondern in ihrem warmen Kokon bleiben. Gerüche drangen in ihr Bewusstsein. Beissend. Unangenehm. Eindeutig Desinfektionsmittel. Mit der rechten Hand tastete Andrina über die Fläche, auf der sie lag. Weich. Sie öffnete die Augen und starrte an eine weisse Decke. Vorsichtig drehte sie den Kopf. Sie erblickte einen Infusionsständer, an dem ein Beutel mit einer durchsichtigen Flüssigkeit hing. Sie brauchte einige Sekunden, um zu verarbeiten, was sie sah.

Andrina betrachtete ihre Hände. In der linken steckte eine Infusionsnadel. Sie hob den Arm ein Stück weiter. Der weisse Ärmel des Spitalhemdes rutschte nach unten. Sie wackelte mit den Zehen und zog die Beine an. Alles liess sich bewegen. Einzig in ihrem Kopf pochte es. Es fühlte sich wie ein unterdrückter Schmerz an. Mit der rechten Hand tastete sie sich an die Stirn. Ein Verband. Vorsichtig fuhr sie den Verband entlang. Was war passiert? Sie grub in ihrem Gedächtnis. Leere. Das Unwissen verunsicherte sie.

Das Einzige, an das sie sich erinnerte, war ein Licht. Gesichter, die sich über sie gebeugt hatten. Wann war das gewesen? Sie drehte den Kopf auf die andere Seite. Niemand sonst war im Raum. Panik brandete auf. Sie wollte nicht alleine sein. Sie brauchte Klarheit.

Feller. Wo war er? War er dabei gewesen, als… was auch immer… passiert war? Andrina grub weiter im Gedächtnis. Waren sie mit dem Auto unterwegs gewesen? Andrina erschrak. War er verletzt oder gar…? Nicht weiterdenken. Er würde bestimmt gleich kommen. Gemeinsam würden sie Licht in das Dunkel bringen, das in ihrem Kopf herrschte. Andrinas Blick wanderte zum Fenster. Draussen regnete es. Äste schwankten hin und her. Sie waren nicht zusammen unterwegs gewesen. Oder doch? Marco, wo bist du, fragte sie lautlos. Geht es dir gut?

Andrina drehte den Kopf zurück und starrte auf die Tür. Marco… Was war an diesem Gedanken falsch? Sie hob ihre Hände. Der Ring war weg. Feller hatte ihn ihr gegeben, als sie sich im Frühling verlobt hatten. Sie tastete mit der Hand an ihren Hals. Die Kette war nicht da. Das ist logisch, versuchte sie sich zu beruhigen und schloss die Augen. Die Sachen hatte man ihr abgenommen, als sie im Spital angekommen waren. Die Ärzte würden sie zu ihren privaten Sachen gelegt haben. Sie wurde schläfrig. Sogleich fuhr ihr ein Schreck in die Glieder. Feller– sie waren nicht mehr zusammen.

Nach den Ereignissen rund um das Pharmaunternehmen JuraMed und Fellers Halbbruder Enrico Bianchi waren sie sich nicht sicher gewesen, ob sie ihre Beziehung fortsetzen konnten oder ob zu viel kaputtgegangen war. Gemeinsam hatten sie eine Beziehungspause für sechs Monate beschlossen. Feller hatte sie gebeten, solange nicht aktiv den Kontakt zu suchen. Nach und nach war sie sich klar geworden, Feller immer noch zu lieben. Sie hatte sich dennoch an seinen Wunsch gehalten und gehofft, es werde sich einrenken.

Vor knapp drei Wochen hatte Feller allerdings diese SMS geschickt. Andrina dachte an den seltsamen Wortlaut. Es gab keine Anrede. «Vielleicht ist es wirklich das Beste, wenn wir unsere Beziehung beenden», stand da als erster Satz. Im Anschluss wünschte er ihr alles Gute, und das war es. Er war zu feige gewesen, es ihr persönlich zu sagen. Sie hatte ihn angerufen. Kurz und knapp hatte er erklärt, er wolle in Ruhe gelassen werden, und hatte aufgelegt, bevor Andrina etwas hatte erwidern können.

Fellers Trennung hatte ihr den Boden unter den Füssen weggezogen. Nur die Routine des Alltags hatte sie am Morgen aufstehen lassen.

Ihre Schwester, bei der sie seit dem Sommer wohnte, hatte versucht sie zu trösten. Es sei besser so, hatte Seraina gesagt.

Andrina konnte dem nichts Positives abgewinnen und schlich weiterhin wie ein Gespenst durch den Tag– sehr zum Missfallen ihrer Schwester. Die Diskussionen, die sie beinahe täglich mit Seraina führte, drängten in den Vordergrund. Nicht jetzt. Andrina schob sie zur Seite.

Ein anderer erschreckender Gedanke blitzte auf. War die Trennung von Feller der Grund, weshalb sie hier war? So ein Blödsinn, beantwortete sie die Frage selber.

Sie blickte zum Fenster und musterte die Bäume. Welches Datum war überhaupt heute? Wie sollte sie das wissen, wenn sie nicht wusste, wie lange sie bereits hier war.

Es klopfte. Ein Mann in einem weissen Kittel trat ein. Er musste Ende zwanzig sein.

«Wie schön, Sie wach zu sehen», rief er. Bei dem Satz schwang etwas zwischen den Zeilen mit, das Andrina nicht einordnen konnte. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. «Ich bin Jonas Bertram, Assistenzarzt. Wie fühlen Sie sich?»

Andrina starrte den Mann an. Bekannt kam er ihr nicht vor.

«Haben Sie Schmerzen?», fragte er weiter, als Andrina nichts sagte.

«Ein wenig, aber sie lassen sich aushalten.»

«Wenn sie stärker werden, melden Sie sich bitte. Wir können Ihnen mehr Schmerzmittel geben. Bevor ich es vergesse. Hier ist etwas, das Ihnen in der Notaufnahme abgenommen worden ist.» Er kramte in der Tasche seines Kittels und hielt Andrina eine Lappengoldkette hin. Andrina starrte die Kette an, ohne sie zu nehmen. Hatte sie die etwa getragen? Richtig, Feller hatte in der SMS nur den Ring– ein Familienerbstück, das seine Mutter bereits zu ihrer Verlobung getragen hatte– zurückverlangt. Ihr kam in den Sinn, sich gewundert zu haben, weil er nicht die Kette wiederhaben wollte, die er ihr im Sommer als verfrühtes Geschenk zur Hochzeit überreicht hatte. Vermutlich hatte er nicht daran gedacht, und freiwillig wollte Andrina ihm die Kette nicht zurückgeben. Ein Andenken an die glückliche Zeit mit ihm wollte sie behalten. Wenn er sie wiederwollte, musste er es explizit sagen.

Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie blinzelte sie weg.

«Ist das nicht Ihre Kette?», fragte Bertram, der verstört wirkte.

«Doch, doch.» Andrina hob die Hand, und Bertram liess die Kette hineingleiten. Andrina betrachtete das unregelmässige Viereck und fuhr mit dem Zeigefinger die Kanten entlang.

Bertram holte eine kleine Taschenlampe aus seinem Kittel. «Darf ich Ihnen kurz in die Augen leuchten?»

Als Andrina nickte, beugte er sich über sie und hielt das rechte Lid fest. Tränen schossen in ihre Augen, als er den Lichtstrahl in ihr rechtes Auge richtete. Nachdem er das Gleiche beim linken Auge wiederholt hatte, steckte er die Lampe weg. «Das sieht gut aus. Die zuständige Pflegeschwester hat mir bei der Übergabe vorhin gesagt, Ihr Zustand habe sich weiter stabilisiert. Sie waren heute Morgen kurz wach und haben mit ihr gesprochen. Das ist erfreulich.»

War sie das tatsächlich gewesen? Wieso sprach er mit ihr in diesem sanften Tonfall, als sei sie ein Kind, oder bildete sie sich das ein?

«Ihre Schwester war heute Morgen da. Sie war erleichtert, Sie wach gesehen zu haben.»

Sie hatte mit Seraina gesprochen? Auch das wusste Andrina nicht mehr.

«Sie hat sich grosse Sorgen um Sie gemacht. So konnten wir sie beruhigen.» Bertram nickte, als wolle er das Gesagte unterstreichen.

Die Worte prasselten gegen Andrina, und sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren.

«Nachdem Ihre Schwester gegangen ist, sind Sie eingeschlafen. Sie werden die nächsten Tage viel schlafen und müde sein. Das ist normal. Haben Sie Hunger?»

«Nein.»

«Sie waren stark unterkühlt und haben eine Gehirnerschütterung.»

Unterkühlung? Wovon sprach der Mann? Andrina fühlte sich verunsichert. Sie tastete nach dem Verband.

«Die Wunde am Haaransatz oberhalb der Schläfe haben wir genäht. Keine Sorge, die Narbe wird kaum zu sehen sein. Sie werden sich einige Tage schonen, das heisst Bettruhe wegen der Gehirnerschütterung. Zum Glück gab es keine weiteren Befunde.»

«Was für Befunde?»

«Keine Blutungen oder ein Schädelbruch. Sie hatten grosses Glück.»

«Was ist überhaupt passiert?» Auf einmal hatte sie das Gefühl, er rede um den heissen Brei herum. Warum sagte er nicht, was vorgefallen und warum sie hier war? War das nicht das Erste, über das man einem Patienten neben seinem Gesundheitszustand Auskunft gab?

Er schwieg.

Andrina war zunehmend beunruhigt. «Hatte ich einen Unfall?»

«Sie wissen nicht, was vorgefallen ist?» Bertram wirkte schockiert. Falsch, schockiert stimmte nicht. Er war eher überrascht, weil Andrina ihm diese Frage stellte.

«Nein. Das Letzte, was ich weiss, ist, dass ich auf der Terrasse bei meiner Schwester sass.»

Bertram runzelte die Stirn. «Wieso sagen Sie meiner Schwester?», fragte er misstrauisch. «Wissen Sie nicht, wie sie heisst?»

Was für eine seltsame Frage, dachte Andrina. «Seraina Steiger.» Ihr wurde bewusst, wie monoton sie sprach.

Sein linker Mundwinkel zuckte leicht. Hielt er Andrina für unzurechnungsfähig? Das war es nicht. Der junge Arzt wirkte, als sei er mit der Situation überfordert. Deutlich sah Andrina, wie es in seinem Kopf arbeitete.

«An das, was nach der Terrasse geschah, können Sie sich nicht erinnern?»

«Nein. Warum bin ich hier? Hatte ich einen Unfall?», wiederholte Andrina.

Unfall. Im Kopf liess sie das Wort Buchstabe für Buchstabe vorbeigleiten. Ein neuer Gedanke nahm Gestalt an, und Andrina erschrak. «Habe ich einen Unfall verursacht? Ich meine, einen Verkehrsunfall oder so. Wurde eine weitere Person dadurch verletzt?» Oder war diese Person gar gestorben? Das Pochen hinter der Stirn verstärkte sich. Hatte sie ein Menschenleben auf dem Gewissen?

«Wie kommen Sie darauf?»

«Ich weiss nicht. Es ist nur so eine Vermutung, was passiert sein könnte.»

«Sie können sich definitiv nicht erinnern?» Das war zwar als Frage formuliert, klang aber wie eine Feststellung. Der Arzt hatte seine Hände in den Schoss gelegt und knetete die ineinander verschränkten Finger. Er wich Andrinas Blick aus.

«Nein.»

Das Schweigen zog sich in die Länge. Bertrams Augen kehrten zu Andrina zurück. Er musterte sie, was Andrina einschüchterte.

«Wie ist Ihr Name?», fragte Bertram und traf Andrina damit völlig unvorbereitet.

«Meiner?», fragte Andrina verwirrt.

Bertram nickte.

Was sollte das? Die Situation wurde zunehmend unheimlicher und surrealer. Fragte er das, weil er es nicht wusste oder weil er sie testen wollte?

Andrina fiel auf, dass er, seitdem er den Raum betreten hatte, sie nicht mit ihrem Namen angesprochen hatte. Konzentriere dich, dachte sie, öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. «Andrina…» Etwas blitzte in Bertrams Augen auf, was Andrina aus dem Konzept brachte. Sie setzte nochmals an. «Andrina Kaufmann.»

Er musste ihr Zögern als Unwissen interpretiert haben, so wie er sie anschaute.

«Wo wohnen Sie?»

«Zurzeit bei meiner Schwester in Erlinsbach.» Andrina nannte die Adresse.

«Wie alt sind Sie?»

«Vierunddreissig. Warum fragen Sie das?»

«Wann haben Sie Geburtstag?»

Diese Frage konnte Andrina genauso ohne Zögern beantworten.

Bertram stand auf und trat ans Fenster. Andrina betrachtete seine breiten Schultern und den schlanken, athletischen Körper. In der Freizeit machte er bestimmt viel Sport.

Was sollten diese Fragen? Sie kam sich wie in einem schlechten Film vor. Die Verunsicherung wuchs. Gleich würde er sie fragen, wer Präsident von Amerika oder wer Bundespräsident in diesem Jahr war. Bundespräsident? Wer war das überhaupt? Richtig, Johann Schneider-Ammann. Nein, falsch. Er war es letztes Jahr gewesen. Dieses Jahr war Doris Leuthard dran. Andrina ging im Kopf die sieben Bundesräte durch. Das klappte ohne Probleme. Lass dich nicht verrückt machen.

«Die Schmerzen sind wirklich nicht schlimm?»

Das hatten sie schon mal. Wieso wiederholte er sich? «Der Kopf tut ein wenig weh.»

Bertram nickte. «Falls Sie etwas benötigen, müssen Sie nur klingeln.» Er durchschritt den Raum, stiess dabei gegen den Stuhl neben ihrem Bett, der stark nach hinten kippte. Andrina befürchtete, er werde umfallen. Das tat er zum Glück nicht. Mit einem Knall schlugen die vorderen Stuhlbeine auf dem Boden auf. Gleich darauf war Bertram zum Zimmer hinaus. Verunsichert schaute Andrina auf die Tür, die mit einem Klicken ins Schloss gefallen war und eine unheimliche Stille zurückliess. Der Abgang hatte fluchtartig gewirkt.

Andrina starrte an die Decke und ging Wort für Wort das Gespräch mit Bertram durch. Die Lücke in ihrem Kopf beunruhigte sie. Es war, als hätte sie die Kontrolle über sich verloren. Alles bis zu dem Zeitpunkt auf Serainas Terrasse war präsent. Was danach bis zu ihrem Erwachen im Spital geschehen war, wusste sie nicht mehr. Andrina schloss die Augen und konzentrierte sich. Ein Bild blitzte auf. Zwar nur verschwommen, aber immerhin. Kurz war sie zu sich gekommen. Sie war aus einem Ambulanzwagen herausgehoben worden. Hektik hatte geherrscht. Sie konnte sich an das Stimmengemurmel entsinnen, aber nicht mehr an einzelne Wörter. Man hatte sie einen Gang entlanggeschoben. Nein, die, die sie geschoben hatten, waren gerannt. Ein Mann war neben ihrem Oberkörper mit einem Infusionsbeutel in der Hand entlanggeeilt. Ein anderer hatte Befehle gerufen. Was er gesagt hatte, wusste sie nicht mehr. Gleich darauf war sie in einem grossen Raum gewesen. Das Licht hatte sie geblendet.

Was war danach geschehen? Beziehungsweise davor? Leere. Mehr gab ihr Gehirn nicht preis. Warum hatte Bertram sich so seltsam verhalten? Je länger Andrina nachdachte, desto mehr verunsicherte sie sein Verhalten. Verunsichern war das falsche Wort. Es jagte ihr Angst ein.

Was hatte sie getan? Hatte sie wirklich ein Menschenleben auf dem Gewissen? Bitte nicht, dachte sie. Wie sollte sie damit fertigwerden, wenn sie den Tod einer Person verursacht hatte? Angestrengt suchte sie nach weiteren Erinnerungsfetzen und kehrte zu Serainas Terrasse zurück. Es war Donnerstagnachmittag gewesen. Heute war Samstag, wie ihr eine Pflegeschwester gesagt hatte, als sie ihr etwas zu trinken gebracht hatte, kurz nachdem Bertram gegangen war. Was war dazwischen passiert?

Als sie auf Serainas Terrasse gewesen war, hatte die Sonne geschienen. Von Westen her waren dunkle Wolken aufgezogen, die Regen ankündigten. Sie wusste, wie ihre Stimmung im Keller gewesen war. Wie die meiste Zeit seit Fellers Trennung.

Zurück zum Grund, warum du hier bist, dachte sie. Fang von vorne an: Hing alles doch mit Feller und dem Beenden ihrer Beziehung zusammen?

Sie hatte ihn seit Anfang August nicht mehr gesehen. Es war nun fast drei Wochen her, als sie zum letzten Mal mit ihm am Telefon gesprochen hatte. Ihre Gedanken kehrten zu dem auslösenden Ereignis für die Trennung zurück.

Fellers Halbbruder Enrico Bianchi war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Feller hatte ihn für einen Scharlatan gehalten.

Als kurz darauf bei dem Pharmaunternehmen, in dem Enrico arbeitete, Leute ermordet wurden, hatte Feller in ihm den Schuldigen gesehen.

Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Ein Mann Ende vierzig mit grauem Vollbart streckte den Kopf herein. Andrina erkannte ihn sofort.

«Dr.Clausen», rief sie.

Clausen war vor sechs Wochen der verantwortliche Arzt für Seraina und sie gewesen. Andrina musste sich eingestehen, sich darüber zu freuen, weil der Arzt, der aus Celle im norddeutschen Niedersachsen stammte, bei ihr vorbeischaute, obwohl er nicht für sie zuständig war.

«Frau Kaufmann. Wie schön, Sie wiederzusehen», sagte Clausen in lupenreinem Hochdeutsch. Er setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. «Weniger schön ist es allerdings, Sie hier anzutreffen.» Seine Gesichtszüge wurden ernst.

«Glauben Sie mir, ich wäre lieber woanders. Dabei weiss ich nicht einmal, warum ich hier bin.»

«Sie haben eine mittelschwere Gehirnerschütterung und waren stark unterkühlt, als Sie eingeliefert wurden.» Er nahm die Brille ab und musterte Andrina einen Moment, bevor er die Brille an seinem Kittel putzte und wieder aufsetzte.

«Das hat Dr.Bertram mir gesagt. Was ich nicht weiss, ist, wie es dazu gekommen ist.» Andrina war allmählich frustriert. Clausen schien wie alle anderen eine Erklärung von ihr zu erwarten. «Bevor ich Dr.Bertram richtig fragen konnte, hatte er die Flucht ergriffen.»

«Flucht?»

«Wie soll ich den zügigen, ein wenig ungeordneten Abgang sonst erklären?»

Ein Lächeln huschte über Clausens Gesicht. «Sie sind immer noch die Gleiche. Das finde ich beruhigend.»

«Was soll das heissen?»

«Bitte entschuldigen Sie meinen Kollegen. Jonas ist erst seit ein paar Wochen bei uns. Er hat noch nicht viel Erfahrung und hatte bisher einfache Fälle.»

«Vielen Dank!», sagte Andrina sarkastisch. Wie schön, als komplizierter Fall angesehen zu werden.

Clausen nahm ihre Hand und tätschelte sie. «Trotzdem hätte er das alles professioneller angehen müssen.»

Andrina zog ihre Hand zurück. «Ich wäre froh, wenn mir jemand sagen könnte, was genau los ist.»

«Soviel ich weiss, wurden Sie bewusstlos in einem Waldstück bei Erlinsbach gefunden.»

«Im Wald? Also kein Unfall? Also bin ich gestürzt und habe mir den Kopf angeschlagen?»

Clausen schwieg, und Andrinas Gedankenmaschinerie setzte sich in Gang. Die Gedanken drohten sich zu überschlagen.

«Erlinsbach? Dort wohnt meine Schwester. Ich könnte einen Spaziergang gemacht haben. Wo genau wurde ich gefunden?»

Clausen drehte als Antwort die Handinnenflächen nach oben. Andrina glaubte ihm sogar.

Ein Spaziergang. Das klang plausibel. War sie alleine unterwegs gewesen, oder war Seraina mitgekommen? Mit Regina. Das war ein guter Erklärungsansatz. Sie hatte in den letzten Wochen öfter mit ihrer Schwester und ihrer Nichte Spaziergänge unternommen, um in der Natur ein wenig Ruhe zu finden. Erleichterung flammte auf, verschwand aber genauso schnell wieder. Sie brauchte keine Erklärungsansätze. Sie sollte sich lieber aktiv erinnern, sonst würden Fragen zurückbleiben.

Ein erschreckender Gedanke nahm Gestalt in ihrem Kopf an. Sollte sie mit Seraina im Wald gewesen und gestürzt sein, warum hatte ihre Schwester ihr nicht geholfen?

Hatte Seraina es darauf angelegt, Andrina etwas anzutun? Hatte sie Andrina in den Wald geführt und niedergeschlagen? Andrina konnte sich das nicht vorstellen beziehungsweise sie wollte solche Gedanken nicht zulassen. Wieso sollte Seraina so was tun? Andrina bremste ihr Gedankenkarussell ab und lenkte es in eine andere Richtung. Sie musste alleine im Wald gewesen sein. Was war zwischen Wald und Terrasse passiert? Andrinas Überzeugung, alleine dort gewesen zu sein, wuchs. Also konnte ein Streit ausgeschlossen werden. Konnte er das wirklich? War sie alleine auf der Terrasse gewesen, weil Seraina im Haus geblieben oder ins Haus zurückgekehrt war?

Ihre Überlegungen schweiften ab. Andrina versuchte sich zu konzentrieren. Wenn sie nicht so müde wäre, würde ihr das Nachdenken leichter fallen.

Sie hatten eine Meinungsverschiedenheit gehabt, fiel ihr ein. Das Thema war Feller gewesen. Wie so oft in den letzten Wochen. Seraina hatte ihr erklärt, sie an Andrinas Stelle würde ihm keine Träne nachweinen. Sie solle es endlich akzeptieren und ihr Leben selber in die Hand nehmen. Das Telefon hatte geklingelt. Genau. Das war der Grund gewesen, warum Andrina alleine auf der Terrasse gewesen war.

Sie merkte, wie Clausen sie beobachtete. Warum sprach er nicht weiter? Testete er sie, was sie wirklich wusste?

«Keine Spur einer Erinnerung, was passiert ist und warum ich in dem Wald war. Warum weiss ich das nicht mehr? Alles, was nach der Terrasse geschah, ist weg. Das macht mir Angst. Heisst das, ich bin verrückt?» Andrina sprach immer schneller.

Clausen lächelte. Sein Lächeln verfehlte die beruhigende Wirkung nicht.

«Sie sind nicht verrückt. Sie leiden möglicherweise an einer dissoziativen Amnesie, die retrograd und vermutlich posttraumatisch ist.»

«Wovon sprechen Sie? Retrograd? Amnesie? Menschen mit Erinnerungsproblemen sind nicht Ihr Fachgebiet.»

«Ich habe während meines Studiums einige Kurse Psychologie belegt. Also, retrograd bedeutet rückwärtsgerichtet. Das, was im Wald und kurz davor vorgefallen ist, muss für Sie dermassen schrecklich, also traumatisierend, gewesen sein. Ihr Gehirn hat all das in einer Art Selbstschutz ausgeblendet.»

«Selbstschutz», wiederholte Andrina. «Traumatisierend.» Das klang alles andere als beruhigend. «Wie lange dauert dieser Gedächtnisverlust? Ich finde diese Lücke im Kopf belastend.»

«Es kann Stunden oder Tage dauern, bis die Erinnerung zurückkehrt. Genauso gut ist es möglich, dass sie für immer wegbleibt.»

«Das hiesse, ich hätte auf Ewigkeit eine Lücke im Kopf?»

Clausen zuckte mit den Schultern.

«Ich bin aber nicht verrückt?», hakte Andrina nach.

«Nein.» Erneut lächelte er. Dieses Mal beruhigte es sie aber nicht. «Das Einzige, das Sie aus medizinischer Sicht haben, ist die Gehirnerschütterung, die durch einen Schlag auf den Kopf verursacht wurde.»

«Jemand hat mir auf den Kopf geschlagen?» Andrinas Puls beschleunigte sich.

«Ja oder Sie sind gestürzt, wie Sie eben vermutet haben.»

Andrina hatte mit einem Mal das Gefühl, Clausen wisse mehr, als er ihr sagte. Warum verschwieg er ihr Details, die eventuell wichtig waren, um die Lücke zu schliessen?

«In meinem Gehirn ist, wie soll ich das sagen, nichts kaputtgegangen?»

«Sie waren bewusstlos. Wir haben ihren Kopf geröntgt und ein CT gemacht, um Ernstes, wie zum Beispiel einen Schädelbruch, auszuschliessen.»

«Haben Sie dabei Hinweise auf die Amnesie sehen können?»

«Eine Amnesie kann man nicht mitCT, MRT oder beim Röntgen feststellen.» Clausen lehnte sich im Stuhl zurück. Die Ruhe, die er ausstrahlte, verfehlte weiterhin ihre Wirkung.

«Wie bekomme ich meine Erinnerung zurück?»

«Das kann ich nicht beantworten, da es von Fall zu Fall unterschiedlich ist. Wichtig ist, sich nicht unter Druck zu setzen. Nach und nach werden einzelne Fetzen zurückkommen, die sich wie ein Puzzle zu einem Ganzen zusammenfügen. Da bin ich mir sicher.»

«So klingt das für mich, als sei ich verrückt.»

«Nein, wieso sollten Sie?» Clausen lächelte. Fältchen bildeten sich in seinen Augenwinkeln. «Weil ich meine bescheidenen psychologischen Kenntnisse vor Ihnen ausbreite?»

Andrina erwiderte nichts.

«Ein Psychiater oder ein Psychologe könnte Ihnen dabei durchaus behilflich sein.»

DREI

Andrina starrte auf die Buchstaben, ohne den Inhalt des Textes wahrzunehmen. Es war ihr unmöglich, sich auf das Buch zu konzentrieren. Sie hob den Kopf und starrte nach draussen. Der September zeigte sich heute von seiner trüben Seite: grau und Nieselregen. Ein leichter Wind ging und bewegte die Äste der Eiche vor ihrem Fenster. Sie hatte einen Stuhl vor das Fenster gestellt, weil sie es nicht länger im Bett ausgehalten hatte. Langsam wollte sie nach Hause, das hiess zu Seraina. Sie hatte das Gefühl, ihr Gedächtnis eventuell zurückzuerlangen, wenn sie auf Serainas Terrasse stand.

Andrina klappte das Buch zu und legte es auf den Schoss. Sie nahm das Haarband, das sich gelöst hatte, heraus und fasste ihre langen dunkelbraunen Haare neu im Nacken zu einem Rossschwanz zusammen. Eine Amsel setzte sich auf einen Ast. Ein Vogel zu sein und davonfliegen zu können erschien Andrina auf einmal verlockend.

Andrina tastete an die Schläfe. Dr.Bertram hatte den Verband entfernt und die Wunde mit Steri-Strips verbunden. Diese Klebestreifen solle sie nach vier Tagen beim Hausarzt wechseln lassen. Die Fäden müssten nicht gezogen werden. Sie würden sich selber auflösen, hatte er erklärt.

Hinter ihr wurde die Tür geöffnet. Andrina wandte sich nicht um. Sie hatte keine Lust, mit jemandem zu sprechen, weder mit Clausen noch mit Bertram oder jemandem vom Pflegepersonal.

Schritte, die schräg hinter ihr stoppten. Ein Räuspern. Andrina blickte hartnäckig weiter zum Fenster.

«Ich habe eine gute Neuigkeit für Sie», sagte Bertram. «Sie dürfen morgen nach Hause.»

«Nach Hause?» Endlich!

«Medizinisch gesehen geht es Ihnen so weit gut. Wir sind der Ansicht, zu Hause werden Sie sich schneller erholen. Sie sollten sich allerdings wegen der Gehirnerschütterung weiterhin schonen. Das heisst, eine Woche keinen Sport oder ähnliche Anstrengungen. Ich schreibe Ihnen für zwei Wochen ein Arztzeugnis für den Arbeitgeber. Ausserdem werde ich Ihnen ein Rezept für Schmerzmittel ausstellen, da Sie in den nächsten Tagen noch einen Brummschädel haben werden.»

«Was ist mit meinem Gedächtnis?», fragte Andrina und drehte sich zu Bertram um. Neben ihm stand Clausen, der sie anlächelte.

«Da können wir Ihnen leider nicht helfen», übernahm Clausen. «Entweder kommen die Erinnerungen von selber zurück, oder Sie nehmen professionelle Hilfe in Anspruch.» Er kramte in der Tasche seines Kittels und holte eine Visitenkarte hervor, die er Andrina hinhielt. «Ich habe auf die Rückseite den Namen und die Telefonnummer eines Kollegen notiert. Er ist wirklich sehr gut, und Sie müssen keine Befürchtungen haben, er könnte Ihre Situation ausnutzen.»

Andrina nahm die Karte nicht. «Ich möchte zu keinem Psychiater.»

«Wenn man die Hilfe eines Psychiaters aufsucht, heisst es nicht automatisch, man sei verrückt. Man kann solche Hilfe in Anspruch nehmen, wenn man beispielsweise ein traumatisches Erlebnis hatte. Damit meine ich einen Unfall, einen Überfall, den Tod eines Familienmitgliedes oder Kriegserlebnisse, um einige Beispiele zu nennen. Bei privaten Problemen kann ein Psychiater genauso helfen. Zum Beispiel, wenn man die Trennung von seinem Partner nicht überwunden hat.»

Andrina richtete sich auf. Spielte er etwa auf Feller an? Woher sollte er von der Trennung wissen? Hatte Seraina ihn informiert? Oder hatte er eins und eins zusammengezählt, weil Feller sie nicht besucht oder sich nach ihr erkundigt hatte? Andrina beschloss, nicht darauf einzugehen, und starrte an den beiden Ärzten vorbei zur Tür.

«Arnold Ulmann stammt wie ich aus Niedersachsen. Wir sind zusammen zur Uni gegangen. Er ist durch und durch professionell. Ich kann ihn mit gutem Gewissen empfehlen.»

«Ich will nicht auf die Couch.»

«Das ist ein weitverbreitetes Klischee, das überhaupt nicht stimmt. Bitte gehen Sie zu ihm. Er wird Ihnen helfen. Das ist nämlich kein Zustand so.» Er nickte ihr aufmunternd zu. «Nun packen Sie und rufen Ihre Schwester an. Vielleicht kommt die Erinnerung in der vertrauten Umgebung wieder zurück.»

Er legte die Visitenkarte vor Andrina auf den Tisch und reichte ihr die Hand. «Ich wünsche Ihnen alles Gute. Bitte schonen Sie sich.»

Auch Bertram reichte ihr die Hand.

Nachdem die Männer gegangen waren, rief Andrina Seraina an. Ihre Schwester freute sich und versprach, sie morgen am Vormittag zu holen.

***

Als Andrina das Gespräch beendet hatte, drehte sie sich um und starrte nach draussen. Die Amsel war weg. Andrina blickte auf den Ast, auf dem sie gehockt war. Das, was Clausen ihr gesagt hatte, kreiste in ihrem Kopf. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als den Nebel aus dem Kopf zu verbannen. Trotzdem schreckte sie vor dem Gedanken, einen Psychiater aufzusuchen, zurück. Andrina griff nach der Visitenkarte und drehte sie in den Händen. Was würde er tun? Ganz einfach, ihr einige Fragen stellen, sie erzählen lassen und sie dabei mustern. Ein Heilmittel würde er genauso wenig haben.

Es klopfte, und die Tür öffnete sich kaum eine Sekunde später. Zwei Männer betraten den Raum. Sie trugen Jeans und Pullover und keinen Kittel darüber. Die Mienen der beiden waren ernst. Langsam erhob Andrina sich.

«Frau Kaufmann, dürfen wir kurz mit Ihnen sprechen?»

Andrina antwortete nicht.

«Entschuldigen Sie bitte. Dr.Bertram hat uns zugestanden, mit Ihnen zu reden. Wir sind von der Kantonspolizei Aargau. Ich bin Silvan Brogli, und das ist mein Kollege Klaus Aeschlimann.»

Kantonspolizei? Warum hatte Andrina das Gefühl, gewusst zu haben, früher oder später würden Polizisten bei ihr vorbeikommen? Die Anwesenheit der beiden gab ihren Befürchtungen, etwas getan zu haben, eine neue Dimension. Hatte sie tatsächlich jemanden getötet oder verletzt? Wer war mit ihr im Wald gewesen?

Sie versuchte dem Blick der beiden ruhig zu begegnen und sich die Angst nicht anmerken zu lassen. Diese Beamten kannte sie nicht– weder vom Sehen noch vom Hörensagen. Sie gehörten demzufolge nicht zu Fellers Team, es sei denn, in den vergangenen zwei Monaten hatte es personelle Veränderungen gegeben.

Brogli hielt ihr einen Ausweis hin. Er sah wie der von Feller aus.

Andrina musterte den Mann, der Anfang fünfzig sein musste. Seine grauen Haare begannen sich zu lichten und waren an den Schläfen ein Stück nach hinten gewandert. Sein Gesicht war nichtssagend. Andrina war die Erste, die den Blick abwandte und zu Aeschlimann schweifen liess. Er musste ein wenig jünger sein. Seine grauen Haare waren voller als die von Brogli, aber auch ihm schienen sie nach und nach auszugehen. Seine Miene war wie Broglis ausdruckslos und ähnelte dem Pokerface, das Feller aufsetzen konnte, wenn er seinem Gegenüber nicht preisgeben wollte, was er dachte.

«Wir sind hier, weil wir mit Ihnen über die Geschehnisse von vor drei Tagen im Wald sprechen möchten.»

Andrina zuckte innerlich zusammen. Es versetzte sie in grössere Panik, da er es nun in Worte gefasst hatte. Brogli zog einen Stuhl heran und setzte sich. Aeschlimann folgte seinem Beispiel und holte ein Notizheft und einen Kugelschreiber hervor.

«Ich weiss überhaupt nicht, was genau passiert ist», sagte Andrina und wusste, wie dünn ihre Stimme klang. Sie war völlig eingeschüchtert.

«Das wissen wir von Dr.Bertram. Vielleicht gelingt es uns, Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.» Das hatte er in einem neutralen Ton gesagt. Trotzdem klang es bedrohlich.

«Können Sie mir sagen, wie Sie in den Wald gekommen sind? Sind Sie aus freien Stücken dort hingegangen, oder hat Sie jemand dazu gezwungen?»

«Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, in den Wald gegangen zu sein. Ich weiss nicht einmal, wo genau ich mich befand, als… als man mich gefunden hat.» Das Pochen im Kopf kündigte das Nachlassen des Schmerzmittels an. Sie berührte ihre Stirn.

Brogli und Aeschlimann wechselten einen Blick.

«Was ist das Letzte, woran Sie sich entsinnen, bevor Sie im Spital erwacht sind?»

«Ich sass auf der Terrasse meiner Schwester.» Andrina wusste inzwischen nicht mehr, wie oft sie das gesagt hatte.

«Wissen Sie, welche Kleidung Sie zu diesem Zeitpunkt trugen?»

So eine seltsame Frage. Andrina überlegte und wurde sich bewusst, das nicht mit Bestimmtheit sagen zu können. «Meine Alltagskleidung, denke ich.» Der Kopfschmerz verstärkte sich, und sie spürte, dem Gespräch nicht gewachsen zu sein.

«Denken Sie?»

«Was soll ich sonst getragen haben?»

«Das ist ja das, was ich wissen will.»

So ein absurder Wortwechsel. «Da wir nichts Bestimmtes vorhatten, wird es das gewesen sein, was ich normalerweise tagsüber trage.» Andrina war klar, sich aufs Glatteis zu begeben. Zum einen konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen, welche Kleidung sie getragen hatte. Zum anderen gab es keine Erinnerung, was nach der Terrasse geschehen war. Daher wusste sie nicht, ob sie etwas Spezielles vorgehabt hatten. Dennoch könnte die Frage nach der Kleidung hilfreich sein, weil dies ein Ansatz war, den sie bisher nicht gehabt hatte. Sie überlegte, was sie geplant haben könnten. Beispielsweise könnte ein gemeinsamer Ausgang am Abend vorher abgemacht gewesen sein. Das hiesse, daran müsste sie sich entsinnen.

«Wie sieht Ihre Alltagskleidung aus?», fragte Brogli in ihre Gedanken und gab dabei dem Wort «Alltagskleidung» einen Beiklang, der Andrina nicht gefiel.

«Jeans und… Pullover… Es war mild… Ich brauchte keine Jacke.» Andrina schloss die Augen. Es war schwer, sich mit diesen Kopfschmerzen zu konzentrieren.

Ein Erinnerungsfetzen blitzte auf und drängte das Pochen in den Hintergrund. Bäume– aber nicht die in Serainas Garten. Dämmerung. Nieselwetter. Als Andrina versuchte die Bilder festzuhalten, verschwanden sie sofort. Sie hatte das Gefühl, durch ein Vakuum zu schweben.

Andrina zwang ihre Gedanken zur Terrasse zurück. Ein neues Bild tauchte auf. Sie hatte sich auf einen Liegestuhl gesetzt, als Seraina sich ihr gegenüber in den anderen niederliess. Sie hatten über Feller gesprochen. Worüber sonst. Er war mehr oder weniger das Dauerthema zwischen ihnen und entwickelte sich zunehmend zu einem Dauerstreitpunkt.

Dieses Mal hatte Seraina sie gefragt, warum sie die Kette nach wie vor trug und nicht zusammen mit dem Ring in Fellers Briefkasten gelegt hatte.

«Er hat nur den Ring in der SMS zurückgefordert.»

«Was hast du davon, wenn du die Kette trägst?»

«Sie ist alles, was mir von ihm bleibt.» Nicht ganz. Sie tastete an ihren linken Oberarm an die Stelle, an der sie Fellers Kugel getroffen hatte, als er sie aus der Gewalt eines Mörders befreit hatte. Die Wunde war zwar gut verheilt, aber die Narbe war rot und der Arm nicht uneingeschränkt einsetzbar. Wenn sie ihn zu weit anhob, liess sie der Schmerz jedes Mal zusammenzucken.

«Du willst sagen, der Rest von dem Scherbenhaufen», sagte Seraina. «Ich finde es nicht gut, weil du dich nicht lösen kannst. Du blockierst dein Leben.»

«Das tue ich nicht», widersprach Andrina. «Die Zeit mit ihm gehört zu meinem Leben wie andere Dinge in der Vergangenheit. Lass mir wenigstens ein Andenken.»

«Wach endlich auf», hatte Seraina gerufen. «Es ist vorbei mit euch. Wenn du die Kette weiterhin trägst, wirst du dich nie lösen können.»

«Vielleicht lege ich sie irgendwann ab…»

Seraina schnaubte. «Weisst du, wenn ich das Ganze rückblickend betrachte, bin ich im Grunde genommen froh, dass es mit euch vorbei ist.»

«Warum das denn?», rief Andrina.

«Überlege mal, wie er mit dir umgesprungen ist.»

«Er hat mich geliebt. Vor dem Ende.»

«Das glaube ich inzwischen nicht mehr.»

«Woher dieser Sinneswandel? Hast du nicht mehrfach betont, froh zu sein, weil ich einen Partner wie Marco gefunden habe.»

«Ich habe mich wie du in ihm getäuscht.»

Andrina hatte zu einer Erwiderung angesetzt, aber das Klingeln des Telefons war dazwischengekommen. Vor Erleichterung, einen Augenblick Pause zu haben, war sie im Liegestuhl zusammengesackt und hatte Richtung Aarekanal geschaut, den man von Serainas Garten sehen konnte. In der Zwischenzeit hatten Wolken die Sonne verdeckt. Die Berge, die man von Serainas Terrasse erkennen konnte, waren ebenfalls verschwunden gewesen.

Seraina war ins Haus geeilt.

Der Film vor Andrinas inneren Augen stoppte. Es gelang ihr nicht, ihn weiterlaufen zu lassen, sosehr sie sich bemühte. Stattdessen verstärkte sich das schwebende Gefühl.

«Frau Kaufmann», sagte Brogli und holte Andrina zurück ins Spitalzimmer.

Sie öffnete die Augen. War sie tatsächlich in Gegenwart der beiden Männer beinahe eingeschlafen?

Sie bemerkte, wie Brogli sie beobachtete. «Es gibt etwas, woran Sie sich erinnern.»

«Nein, oder besser, es betrifft nur das Gespräch, das ich mit meiner Schwester auf der Terrasse geführt habe und ist wahrscheinlich unwichtig.»

«Lassen Sie uns das entscheiden.»

Es klopfte, und Dr.Bertram betrat den Raum. Er wandte sich an die beiden Beamten. «Ich denke, es ist genug. Frau Kaufmann braucht Ruhe.»

«Wir sind nicht fertig.» Brogli klang frustriert.

«Sie können das Gespräch gerne morgen fortsetzen.»

Brogli stand auf und nickte Aeschlimann zu. Der Widerwille war ihm dabei deutlich anzusehen.

«Wie geht es Ihnen?», fragte Bertram, als die beiden Männer gegangen waren.

«Ich bin müde, und mein Kopf tut weh.»

VIER

«Wie geht es Ihnen?», fragte Brogli.

Andrina war klar gewesen, die beiden würden zurückkehren. Dass dies bereits am nächsten Vormittag der Fall sein würde, hatte sie jedoch nicht gedacht. Wenigstens war sie nicht mehr so erschöpft wie am Vortag. Vermutlich gab die Aussicht, heute nach Hause zu dürfen, Energie.

«Es geht mir ein wenig besser», sagte sie wahrheitsgemäss.

«Dürfen wir dort weitermachen, wo wir gestern stehen geblieben sind?»

Ungern, dachte sie, antwortete aber: «Ja.»

Am besten sie brachte das Gespräch so schnell wie möglich hinter sich. Vielleicht kehrten dabei sogar die Erinnerungen zurück, und der Nebel in ihrem Kopf verzog sich endlich.

Brogli nickte Aeschlimann zu, der sein Notizbuch hervorholte.

«Worüber haben Sie mit Ihrer Schwester auf der Terrasse gesprochen?», fragte Aeschlimann, nachdem er einige Mal hin und her geblättert hatte. Er hatte eine tiefe Stimme und hätte bestimmt einen guten Samichlaus abgegeben. «Worum ging es dabei?»

Am liebsten hätte Andrina das Gespräch beiseitegelassen, war sich gleichzeitig bewusst, nicht darum herumzukommen. «Meine Schwester und ich haben über die Trennung von meinem Verlobten gesprochen.»

«Marco Feller», sagte Brogli.

Es fühlte sich wie eine Ohrfeige an. Nur mit Mühe gelang es Andrina, nicht zusammenzuzucken. Natürlich wusste er davon. Was hatte sie anderes erwartet? Andrina senkte den Kopf und starrte auf ihre Hände.

Das Schweigen dehnte sich aus. Andrina fühlte sich gezwungen, Brogli erneut anzuschauen. Seine Augen bohrten sich in ihre. Sie konnte seine Neugierde zu diesem Thema spüren. Würde er das, was sie hier besprachen, wirklich für sich behalten, oder würde es Klatschthema Nummer eins im Polizeikommando sein? Es war ihm deutlich anzusehen, wie er eine Frage im Kopf formulierte, sie verwarf und einen neuen Ansatz versuchte.

«Können wir dieses Thema bitte beenden?», fragte Andrina.

War es Belustigung, die über sein Gesicht huschte? Er musterte Andrina weiter, und sie fühlte sich zunehmend unwohler.

«Okay», sagte er, wobei er jeden Buchstaben einzeln zu betonen schien. «Lassen wir das vorerst.» Die Erleichterung musste Andrina deutlich anzusehen sein. «Ich sagte vorerst.» Andrina schluckte. Nahm er an, ihre Erinnerungsprobleme könnten mit der Trennung zu tun haben? Was hatte Feller ihm erzählt? Die beiden mussten miteinander gesprochen haben. Zu gerne hätte sie gewusst, ob Brogli und Aeschlimann entweder neu im Team, nur Verstärkung oder Vertretung für einen kranken Kollegen waren.

«Können Sie mir ein wenig von sich erzählen?», fuhr Brogli fort. «Über Ihren Arbeitsplatz, welche Hobbys Sie haben…»

«Am Ende wollen Sie mein Leibgericht wissen», rief Andrina.

Sein Mund wurde zu einem Strich. «Entschuldigen Sie, Frau Kaufmann, das gehört dazu, damit wir uns ein Bild von dem Gegenüber machen können.»

«Wozu soll das gut für das Verhör sein?»

«Verhör? Wie kommen Sie darauf, wir würden Sie verhören?», mischte sich Aeschlimann ein und senkte den Stift.

«Warum kommt sonst die Polizei zu mir ins Spital. Wohl, weil ich etwas angestellt habe. Sonst hätte es warten können, bis ich zu Hause bin.»

«Haben Sie das?»

«Was?»

«Was angestellt.»

«Nein! Oder besser, ich weiss nicht. Ich denke, das wissen Sie besser.»

«Glauben Sie?»

Lass dich nicht provozieren, dachte Andrina. Du weisst nicht, was du getan hast.

Das Schweigen war eisig.

«Ich verzichte darauf, zu erfahren, was Sie gerne essen und was nicht», sagte Brogli sarkastisch. «Dafür erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit und was Sie in Ihrer Freizeit unternehmen. Vielleicht können wir so eine Brücke zu den Erinnerungen schlagen, warum Sie im Wald waren.»

Andrina kam sich auf einmal dämlich vor. Warum hatte sie nicht in Erwägung gezogen, die beiden könnten ihr einfach nur helfen wollen? Weil sie von der Polizei sind, beantwortete sie sich die Frage. Die hat Besseres zu tun, als jemandem auf die Sprünge zu helfen, was seine Erinnerungen betraf. Es sei denn, diese Person hatte etwas verbrochen. Trotzdem war es besser, das Spiel mitzumachen.

Der Blick, mit dem Brogli Andrina betrachtete, verursachte neues Unbehagen. Auf einmal hatte sie das Gefühl, er nahm ihr ihre Gedächtnislücke nicht ab. Jetzt bist du albern, dachte sie.

«Ich arbeite beim Cleve-Verlag in Aarau», begann Andrina, nachdem sie sich geräuspert hatte. «Dort bin ich vorwiegend für das Lektorat und Korrektorat zuständig.»

Die nächsten fünfzehn Minuten sprachen sie über Andrinas Job und wechselten als Nächstes zu ihren Hobbys.

«Eine Lektorin, die gerne reist, joggt und Ski fährt», fasste Brogli zusammen und richtete seinen Blick auf einen Punkt hinter Andrina.

Schweigen stellte sich ein, und Andrina war froh darüber. Es verschaffte ihr eine kleine Verschnaufpause. Aeschlimann schaute abwechselnd sie und Brogli an, als wolle er fragen, wie es nun weiterginge. Sein Stift, der die ganze Zeit über das Papier gehuscht war, schwebte einige Millimeter über dem Notizbuch, das auf seinen Knien lag.

Broglis Blick kehrte zu Andrina zurück. «Das deckt sich mit den Informationen, die ich bisher erhalten habe.»

Was sollte das heissen? Andrina wurde heiss. Bestimmt hatte er mit Elisabeth und den anderen vom Verlag gesprochen. War er über die verfahrene Situation im Bilde? Über Andrinas Degradierung im Sommer? Über ihren Zwist mit Sophia? Hatte er Sophia befragt, die nach wie vor krankgeschrieben war? Falls dem so war, würde diese kein gutes Haar an ihr gelassen haben. Suchte er hier nach einer Begründung oder einem Motiv für… ja, für was eigentlich?

Brogli holte aus seiner Jackentasche ein Bild hervor, das er ihr reichte.

«Kennen Sie diese Frau?», fragte er.

Verwundert betrachtete Andrina das Bild. Sie erkannte die Schülerin von der Alten Kantonsschule sofort und fragte sich, was sie mit ihrem Gedächtnisverlust zu tun hatte. Sogleich begann eine Alarmglocke irgendwo hinten im Kopf zu klingeln. Das Gefühl, sie kämen langsam zum Grund des Besuches der beiden Beamten, drängte in den Vordergrund.

«Und?», fragte Brogli, da Andrina nichts sagte. Die Ungeduld war nicht zu überhören.

«Ja. Das ist Caroline. Den Nachnamen weiss ich nicht mehr. Sie geht oder besser ging auf die Alte Kantonsschule. Im Frühling hat sie Matur gemacht.» Andrina wollte weitersprechen, liess es dann aber lieber bleiben.

«Ja?», fragte Brogli, dem das offenbar nicht entgangen war. «Reden Sie weiter.»

«Soviel ich weiss, möchte sie Journalistin werden und hat nach den Sommerferien mit der Ausbildung begonnen.»

Brogli nickte und wirkte dabei, als wisse er das bereits. «Kennen Sie sich privat?»

«Nein, nur von der Schule.»

«Moment.» Es war das dritte Mal während der Befragung, dass Aeschlimann das Wort ergriff. «Sie sagten eben, Sie seien Lektorin und nicht Lehrerin. Wie passt der Cleve-Verlag mit der Alten Kanti zusammen?»

«Im vergangenen April wurde der Cleve-Verlag von der Alten Kanti angefragt, ob er ein Schreibprojekt für eine Anthologie leiten könne. Ich habe diese Leitung übernommen.»

«Ah, richtig. Stimmt. Diese Geschichtensammlung wurde sogar veröffentlicht.» Aeschlimann senkte den Stift und machte eine Notiz.

«Caroline war in dem Kurs», folgerte Brogli.

«Genau. Obwohl sie nicht zu den für das Projekt ins Auge gefassten Klassen gehörte und einen Monat später für sie die Maturitätsprüfungen anstanden, hat sie sich für das Projekt beworben. Sie war sehr engagiert und hatte Spass am Schreiben. Ihre Geschichte war eine der besten. Was hat Caroline mit meinem verlorenen Gedächtnis zu tun?»

Aeschlimann und Brogli wechselten einen Blick, und auf Andrinas Armen bildete sich eine Gänsehaut.

«Haben Sie Caroline ausserhalb der Schule getroffen?», fragte Brogli, anstatt auf Andrinas Frage einzugehen.

«Nein. Es ist durchaus möglich, dass ich sie mal in der Stadt gesehen habe, aber bewusst kann ich das nicht sagen.»

«Hatten Sie nach Abschluss des Projektes Kontakt mit ihr?»

«Sie hat mir eine E-Mail geschickt und sich für das Buch bedankt, das ich ihr nach Fertigstellung zugesandt habe.»

«Wann war das?»

«Ende Juni oder Anfang Juli.»

«Danach gab es keinen weiteren Kontakt?»

Andrina schüttelte den Kopf.

Neues Schweigen setzte ein.

«Was ist mit ihr?», fragte Andrina. «Was hat sie mit meiner momentanen Situation zu tun?»

«Sie wissen wirklich nicht, was Sie gemacht haben, als Sie die Terrasse Ihrer Schwester verlassen haben?» Da war er wieder, der Unglaube in Broglis Gesicht.

Andrina schaute auf das Foto, von dem ihr Caroline entgegenlächelte. Warum schwiegen sich die Beamten so hartnäckig über den Zusammenhang aus? Andrinas Beunruhigung wuchs.

«Sie wollen wissen, ob ich mich mit Caroline getroffen habe?»

Keine Antwort. Nur unbewegte Mienen.

«Hat sie angegeben, dass wir verabredet waren oder uns gesehen haben?» Das machte alles keinen Sinn. Andrina hatte mit keinem der Schüler, die an dem Projekt teilgenommen hatten, seit Abschluss des Projektes persönlich Kontakt gehabt.

«Wollen Sie etwa andeuten, sich mit der Schülerin getroffen zu haben?», fragte Brogli.

«Das habe ich nicht gesagt.» Warum drehte er den Satz um?

«Wissen Sie das ganz genau?»

«Bis zu dem Zeitpunkt auf der Terrasse meiner Schwester hatte ich keinen Kontakt mehr zu ihr. Falls ich mich danach spontan mit ihr verabredet habe, kann ich hierzu keine Angaben machen, weil ich mich, wie ich mehrfach erwähnt habe, an nichts mehr nach diesem Zeitpunkt erinnern kann.» Andrina fühlte sich zunehmend in die Ecke gedrängt.

Sie forschte in Broglis Gesicht. Seine Miene hatte sich verändert. Er wirkte mit einem Mal furchteinflössend. Deutlich war, er glaubte ihr nicht. Aus welchen Gründen auch immer.

«Sie waren nicht alleine im Wald, als Sie gefunden wurden.»

«Caroline hat mich gefunden?», rief Andrina fassungslos. «Warum war sie dort?»

In dem Fall verdankte sie der Studentin ihr Leben. So wie sie die Ärzte verstanden hatte, hätte sie nicht mehr lange durchgehalten, wenn man sie später gefunden hätte. Andrina nahm sich vor, sich bei Caroline zu bedanken, sobald sie bei Seraina zu Hause war.

«Na ja, das trifft es nicht ganz. Ein Mann, der mit seinem Hund spazieren ging, hat Sie beide gefunden. Sie lagen neben der Leiche von Caroline Schmidt.»

***

Andrina presste die Hände vor das Gesicht. Seraina legte ihren Arm um ihre Schultern. Andrina zuckte leicht zusammen, als ihre Finger die Narbe der Schussverletzung am linken Oberarm streiften.

Nachdem die Polizisten gegangen waren, hatte sie keinen klaren Gedanken fassen können und war dankbar gewesen, als Seraina eine Stunde später auftauchte.

«Langsam und von vorne. Dieser Polizist behauptet, du hättest neben einer Toten gelegen?»

Verwundert hob Andrina den Kopf. «Sag bloss, du hast davon nichts gewusst? Die Polizei war bestimmt bei dir und hat Fragen gestellt.»

Seraina druckste herum. Mit dem Zeigefinger spielte sie mit einer Strähne ihrer dunkelbraunen Haare. Die dunklen Augen, die Andrinas glichen, schauten an Andrina vorbei in die Ferne.

Andrina fühlte sich hintergangen. Warum tat ihre Schwester so, als wisse sie nichts von Caroline?

«Mich wundert, dass sie erst jetzt zu dir gekommen sind», sagte Seraina nach einer Weile.

«Warum hast du mir nichts gesagt?»

«Es hiess, wir sollten dich nicht unnötig aufregen und es dir überlassen, ob und worüber du sprichst. Du weisst, Samthandschuhe.»

«Trotzdem hätte ich es lieber anders erfahren als so. Die Polizisten sind nicht zimperlich vorgegangen.»

«Ich habe angenommen, die Ärzte hätten mit dir darüber geredet. Ich fand es besser, wenn du von dir aus mit mir darüber sprechen würdest, und ich wollte dich nicht drängen.»

«Die ganze Zeit habe ich dir gesagt, wie verzweifelt ich versuche mich zu erinnern», rief Andrina.

«Ich weiss.» Seraina seufzte. «Wie gesagt, wir sollten dich erzählen lassen. Mir war nicht klar, dass du nichts von dem Mädchen weisst. Zudem dachte ich, du wärst dazu längst befragt worden und wolltest nicht darüber sprechen.»

«Befragt ist das falsche Wort.»

«Willst du etwa sagen, sie verdächtigen dich, dem Mädchen was angetan zu haben?» Der Unglaube in Serainas Gesicht war wenigstens nicht gespielt.

Andrina nickte.

«Bei mir klangen die Fragen eher neutral.»

«Was habe ich nach unserer Diskussion auf der Terrasse gemacht?»

Seraina zuckte zusammen, und Andrina tat es leid, die Frage so scharf formuliert zu haben. Seraina traf am wenigsten Schuld, obwohl sie mit Andrina über Caroline hätte reden können.

«Woher soll ich das wissen?»

«Du weisst bestimmt, was ich vorhatte?», hakte Andrina nach.

«Nein.» Seraina wich Andrinas Blick aus. «Hat er wörtlich gesagt, er würde dich verdächtigen?»

Andrina schwieg.

«Du musst es falsch auffassen. Falls sie dich verdächtigen, wärst du jetzt an einem anderen Ort.»

«Vielleicht werde ich das sein, sobald ich aus dem Spital entlassen werde.»

«Blödsinn», rief Seraina.

«Genauso gut könnten sie keine konkreten Beweise haben, sondern nur den Verdacht.»

«Hat Herr Brogli sich dazu detailliert geäussert?», fragte Seraina.

Andrina schüttelte den Kopf.

«Noch mal, hat er dir direkt ins Gesicht gesagt, du wärst tatverdächtig?»

«Nicht direkt», antwortete Andrina gedehnt. «Aber ich habe es zwischen den Zeilen herausgehört.»

«‹Zwischen den Zeilen› ist keine Anschuldigung.»

«So wie sie mich in die Mangel genommen haben», rief Andrina.

«Das macht alles keinen Sinn, und ich kann es nicht nachvollziehen. Wie solltest du das bewerkstelligen? Soviel ich weiss, wurde die Studentin erwürgt. Sie war kräftig. Du hättest das gar nicht geschafft. In meinen Augen bist du selber ein Opfer. Du lagst mit einer Kopfwunde bewusstlos daneben. Wenn du sie getötet hättest, hättest du eher das Weite gesucht und dir nicht selber eine Wunde am Kopf zugefügt.»

«Gemäss Herrn Brogli gehen sie davon aus, ich könne gestolpert und mit dem Kopf auf den Stein gestürzt sein.»

Unglaube und Verwirrung wechselten in Serainas Gesicht ab.

«Es gab keinen kleineren Stein, der mit Blut verschmiert war…»

«Kleinere Steine?»

«Die man in die Hand nehmen kann, um mir eins über den Kopf zu ziehen. Es war nur dieser Fels am Boden. Ich lag daneben. Meine Kopfwunde passt nicht zu einem Szenario, bei dem ich mit einem Stein niedergeschlagen wurde. In dem Fall hätte ich eine Wunde am Hinterkopf.»

«Du kannst genauso von vorne niedergeschlagen werden.»

«In dem Fall hätte ich es kommen gesehen und mich gewehrt, was wohl nicht passiert ist.»

«Sagen das die Beamten?», fragte Seraina.

«Ja. Gemäss Herrn Brogli muss ich gestolpert und mit dem Kopf auf diesen grossen Stein gefallen sein. Danach bin ich auf die Seite gerollt.»

«Wenn man stolpert und nach vorne fällt, nimmt man die Hände nach vorne, um sich abzustützen. Du musst also wie ein Mehlsack zu Boden gegangen sein.»