Ab heute nur noch Co-Piloten - Susanne Bosch - E-Book

Ab heute nur noch Co-Piloten E-Book

Susanne Bosch

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Beschreibung

Das Leben mit erwachsenen Kindern ist ein Balanceakt zwischen dem "Immer-Mehr-Loslassen" und dem "Dennoch-Da-Sein", wenn sie einen brauchen. Das stellt Eltern immer wieder neu vor die Frage, wie sie sich verhalten sollen, um die sich wandelnde Beziehung zu stärken und eine neue Ebene der Verbundenheit zu schaffen. Wie kann das konkret gelingen? Und wie schaffen es Eltern, ihr eigenes Leben neu zu gestalten? Aus ihrer persönlichen Erfahrung und ihrer beruflichen Beratungsarbeit heraus zeigt Susanne Bosch anhand konkreter Beispiele hilfreiche Lösungsansätze auf - und verdeutlicht immer wieder, welche Chance in der sich verändernden Beziehung zu den Kindern liegt. Dabei geht sie auch Fragen des Glaubensalltags nach und wirft einen Blick auf Familien der Bibel. Ein Ratgeber, der Eltern Mut macht, für sich neue Freiräume zu entdecken und ihren Kindern zu helfen, die ersten Schritte Richtung Selbstständigkeit zu tun, ohne sie zu bevormunden! Unter anderem mit den Themen: - Was heißt hier eigentlich erwachsen? - Mein Problem oder dein Problem? Wenn Kinder schwer ins Erwachsenenleben starten - Erwartungen klären und Wege finden: mein Kind soll sein Leben leben, nicht meins - Zusammenleben mit erwachsenen Kindern: von der Familie zur Mehrgenerationen-WG - "Empty Nest": neue Lebensräume entdecken und gestalten - Alte Geschichten für neuen Mut: Familien aus der Bibel

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Alle verwendeten Bibelstellen sind entnommen aus: Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Agentur 3Kreativ, Essen, unter Verwendung von

Brille: © shutterstock/Es sarawuth, Hintergrund: © shutterstock/NY Studio,

Flugzeug: © shutterstock/Russ Heinl

Lektorat: Anja Lerz, Duisburg

DTP: Breklumer Print-Service, www.breklumer-print-service.com

Verwendete Schriften: Scala, Scala Sans

Gesamtherstellung: Finidr, s.r.o.

Printed in Czech Republic

ISBN 978-3-7615-6735-7 (Print)

ISBN 978-3-7615-6736-4 (E-Book)

www.neukirchener-verlage.de

Vorbemerkung

Auf den folgenden Seiten geht es um Eltern und ihre bald/fast/beinahe/schon/gerade erwachsenen Kinder. Also Kinder im Sinn von Nachkommen. Denn „Kinder“ im Sinn von „Lebensphase 3-12 Jahre“ sind sie natürlich schon lange nicht mehr. Weil mir aber die häufige Verwendung der Begriffe „Söhne oder Töchter“ zu umständlich und „Nachwuchs“ zu distanziert erscheint, habe ich mich für den Begriff „Kinder“ entschieden und hoffe auf das Verständnis der Leserinnen und Leser.

Mein Ziel war es, weitgehend „normale“ Schwierigkeiten im Zusammenleben mit Kindern nach der Pubertätszeit zu beleuchten, wie sie fast allen Eltern begegnen. Ein ausführlicherer Blick auf besonders schwere oder spezielle Problemsituationen würde den Rahmen dieses Buches sprengen.

Viele Eltern und Heranwachsende gaben mir Einblick in ihre Familiensituation und das Einverständnis zur Veröffentlichung. Ebenso gaben mein Mann und unsere Söhne ihr volles Einverständnis für die Beispiele aus meiner eigenen Familie. Dafür möchte ich mich bei allen Beteiligten sehr herzlich bedanken. Namen und Umstände habe ich jeweils so verfremdet, dass der Persönlichkeitsschutz der Einzelnen gewahrt bleibt.

Dort, wo es passend schien, habe ich am Ende eines Abschnitts Fragen angefügt, mit deren Hilfe jeder das Beschriebene mit der eigenen Lebenssituation verknüpfen und die Themen so jeweils persönlich vertiefen kann.

I Am Ziel unserer Erziehung – endlich erwachsen!

Eigentlich sind wir eine ganz normale Familie. Nicht besonders aufregend, gelegentlich vielleicht sogar etwas langweilig. Natürlich war uns Eltern klar, dass es dieses Phänomen namens „Pubertät“ gibt, eine Zeit, in der alles ziemlich verrückt zugeht. Aber diese Zeit ist ja glücklicherweise begrenzt; wenn die Kinder 17 oder 18 Jahre sind, hat sich der Sturm weitgehend gelegt und es läuft alles einigermaßen ruhig und gesittet. Schließlich ist der Nachwuchs dann so gut wie erwachsen und kann nun zeigen, was er – nicht zuletzt durch uns Eltern – fürs Leben gelernt hat.

Kommt Ihnen das bekannt vor?

Nun – wir hatten uns getäuscht …

Puh – das wäre endlich geschafft! – So unser Stoß-Dank-Seufzer, als unser jüngerer Sohn in den Zug stieg, der ihn zu seinem Studienort bringen sollte.

Vorausgegangen waren Monate mit immer wieder wechselnden Ausbildungswünschen, voller Enthusiasmus begonnener und dann doch schleifen gelassener Bewerbungsprozesse – und vor allem vier Monate „chillen“ nach dem Abi, die mich als Mutter echt an meine Grenzen gebracht hatten.

Endlich also hatte Sebastian seinen Traum gefunden – ein Biologie-Studium in Süddeutschland. Nun sind die Berufsaussichten mit diesem Studium nicht gerade rosig, dessen war auch er sich bewusst. Aber wir ermutigten ihn, zuerst nach dem zu gehen, was ihm wirklich liegt. (Für uns Eltern war diese Entscheidung auch eine Erleichterung nach seinen ersten Plänen, Polizist zu werden beziehungsweise eine Offizierslaufbahn bei der Bundeswehr einzuschlagen … Aber auch diese Vorhaben hätten wir unterstützt – er sollte seinen Weg finden!)

Die Hängephase war also vorbei – dachten wir …

Leider merkte er nach drei Monaten, also kurz nach Weihnachten, dass ihm Biologie als Studienfach nicht liegt, obwohl er in der Schule total begeistert davon war. Erfreut waren wir natürlich nicht, aber es ist uns klar, dass solche Umwege heute fast gang und gäbe sind. Das vermittelten wir auch Sebastian und ermutigten ihn wieder in seinem Vorhaben, in andere Studienfächer „reinzuschnuppern“. Seine Idee war, nun etwas im Bereich Informatik zu studieren.

Nach einigen Monaten kam allerdings heraus, dass er die ganze Zeit nichts gemacht hatte. Keine Schnupperkurse, keine Praktika (wie er eigentlich von sich aus angekündigt hatte) und kaum Aktivitäten in Sachen Recherchen, Bewerbungen und so weiter.

All das war für uns schwer auszuhalten – er hatte nun schon ein Jahr „verloren“, da sollte er doch in die Puschen kommen, damit es zum folgenden Herbstsemester wirklich was werden würde …! In dieser Zeit rangen wir viel um das richtige Maß an Hilfe: Sollten wir ihn einfach laufen lassen? Ein Ultimatum stellen (schließlich finanzierten wir ja sein Chillen …)?

Im Sommer teilte Sebastian uns mit, er habe nun einen Plan für seine Zukunft: Zunächst wolle er ein Jahr jobben, dann (vermutlich) im folgenden Jahr ein duales Studium anfangen.

Im Herbst fand er tatsächlich eine Arbeit, und es begann das zweite Jahr seiner Nach-Schul-Zeit. Winter und Frühjahr kamen und gingen. Die Suche nach einem Studienplatz schien uns sehr zäh zu laufen, eine einzelne Bewerbung fand halbherzig ihren Weg in eine Firma, die duale Studiengänge anbietet. Zum Vorstellungsgespräch kam er fast zu spät, schlecht vorbereitet und mit zerknittertem Hemd. Es folgte eine Absage …

Entmutigt durch die Absage und immer noch auf der Suche nach dem passenden Studienfach konnte sich Sebastian zu keinen weiteren Bewerbungen mehr motivieren. So verging ein weiteres Jahr.

Diese Zeit war für meinen Mann und mich sehr belastend. Immer wieder fragten wir uns, wie es weitergehen würde mit Sebastian, ob er irgendwann irgendeine Ausbildung anfangen oder womöglich die Lust am Lernen verlieren und sich langfristig in einem Aushilfsjob einrichten würde. Das hätte uns nicht gefallen, weil unserer Meinung nach mehr Potenzial in ihm steckt. Aus unserer Sicht wäre das auch keine reife Lebensplanung gewesen. In unserer Sorge redeten wir natürlich mit vielen anderen Eltern darüber – und stellten fest, dass sehr viele junge Leute erst einmal eine lange Anlaufzeit für die Berufsfindung brauchen! Für mich war das Anlass, mich etwas genauer mit der Thematik zu befassen. Was ist denn überhaupt „normal“ in dem Alter? Wie sieht eine „gesunde“ Entwicklung aus, welche Voraussetzungen braucht es dafür? Und welche Bandbreite an „normalem“ Verhalten gibt es, ohne dass Eltern sich schon Sorgen machen müssen? Ab wann wird es kritisch und welche Folgen könnte das haben?

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit diesen Fragen aus entwicklungspsychologischer Sicht, bevor es dann in den folgenden Kapiteln um konkrete Beispiele geht und darum, wie wir Eltern uns verhalten können, um den Herausforderungen dieser Zeit mit Heranwachsenden zu begegnen.

Falls Ihnen dieser Teil zu trocken ist, können Sie gleich zur Zusammenfassung am Ende des Kapitels springen und von dort weiterlesen.

Ein bisschen Entwicklungspsychologie am Anfang

Mit der Geburt unserer eigenen Kinder – mein Mann und ich haben zwei Söhne – haben wir uns darauf eingestellt, sie durch all ihre Entwicklungsschritte hindurch zu begleiten, bis sie erwachsen sind. Nun ist das eingetreten, worauf wir die ganze Zeit hingearbeitet haben: Wir entlassen unser (fast) erwachsenes Kind in ein selbständiges Leben. Jetzt ist es gekommen, das Ziel unserer Erziehung – oder? Hat uns nun die Kette der scheinbar endlosen „wenn-erst-mal“-Zwischenetappen ans Ziel gebracht? Wenn sie nachts erst mal durchschläft! Wenn er erst mal trocken ist! Wenn sie morgens im Kindergarten ist! Wenn er erst auf der weiterführenden Schule ist, selbständiger Hausaufgaben macht, den Führerschein, den Schulabschluss, einen Ausbildungsplatz hat …

Mit jedem Etappenziel unserer Kinder erleben auch wir Eltern Stolz auf das Erreichte – und ebenso Erleichterung, weil wieder ein Berg geschafft ist, vielleicht eine Sorge weniger unsere Gedanken quält. Endlich ist das Kind erwachsen. Ist jetzt also das letzte Etappenziel erreicht?

Solche Etappenziele sind nicht nur von uns Eltern empfundene Schritte, sondern werden auch wissenschaftlich beschrieben. Dabei wird untersucht, wie die gesunde Entwicklung eines Menschen aussieht, mit dem Ziel, diese möglichst effektiv zu fördern. Das Wissen darum hat durchaus praktischen Nutzen: Eltern erkennen, dass viele Schwierigkeiten, die sie mit heranwachsenden Kindern erleben, auch von sehr vielen anderen Familien ähnlich erlebt werden, also irgendwie „normal“ sind. Oft bedeutet diese Erkenntnis, mit seinen Belastungen nicht alleine dazustehen, schon eine deutliche Entlastung. Zudem helfen wissenschaftliche Betrachtungen, das persönlich Erlebte in einen größeren Rahmen einzuordnen und damit zu strukturieren. Dies wiederum kann es erleichtern, einen hilfreichen Umgang mit der persönlichen Situation zu finden, weil man von vielen ähnlich gelagerten Fällen Ideen für die eigene Situation ableiten kann.

Aber was heißt das eigentlich, erwachsen sein? Woran wird das festgemacht? Rechtlich gesehen ist der 18. Geburtstag die entscheidende Marke. Eltern stellen aber häufig fest, dass viele 18-Jährige noch nicht wirklich erwachsen sind, was die Reife angeht. Es gibt so große Unterschiede zwischen 18-Jährigen, dass die Volljährigkeit alleine nicht der entscheidende Faktor sein kann. Manche gehen ja noch zur Schule, andere sind schon mit der Ausbildung fertig und verdienen eigenes Geld. Ist also Reife ein Kriterium? Der Schulabschluss? Eine abgeschlossene Ausbildung? Oder vielleicht der Auszug aus dem Elternhaus?

Werfen wir also zunächst einmal einen Blick darauf, was Bildungswissenschaftler dazu zu sagen haben:

Die Entwicklungspsychologie untersucht genau solche Fragen: Welche Entwicklungsschritte geht ein Mensch, welche Kriterien gibt es für eine gesunde Entwicklung und welche Voraussetzungen sind dafür nötig? Welche Merkmale und Fähigkeiten sollte ein Mensch haben, damit er in unserer Kultur und Gesellschaft altersentsprechend gut zurechtkommt? Dazu wurden von unterschiedlichen Wissenschaftlern Aufgaben beschrieben, die ein Mensch im Lauf seines Lebens bewältigen muss. Die Bewältigung dieser sogenannten Entwicklungsaufgaben für einen bestimmten Lebensabschnitt ist ein Zeichen von Reifung und gesunder, altersgemäßer Entwicklung. Man könnte sie auch Herausforderungen nennen, die das Leben und die Gesellschaft an jeden Einzelnen stellt. Lebensglück bedeutet, diese Herausforderungen anzugehen und zu meistern.1 Im Gegensatz etwa zur körperlichen Entwicklung, die „ganz von selbst“ fortschreitet, müssen Entwicklungsaufgaben also in jeder Lebensphase aktiv angegangen werden – auch wenn uns das in der Regel nicht als „Aufgabe“ bewusst ist.

Hat man die Aufgaben für einen bestimmten Lebensabschnitt bewältigt, bedeutet das einen altersgemäßen Entwicklungsstand: Der Mensch ist sozusagen bereit für den nächsten Abschnitt. Der Übergang zum Erwachsenen ist also dann gelungen, wenn die Entwicklungsaufgaben des Jugendalters gemeistert sind.

Übrigens gilt das nicht nur für die Kinder- und Jugendzeit, sondern für unser ganzes Leben, denn wir bleiben in der Entwicklung ja nicht stehen. Auch im späteren Leben, sogar im hohen Alter, gibt es Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, wenn wir auf eine befriedigende Weise in die nächste „Phase“ übergehen wollen. Jedes Lebensalter hat seine spezifischen Herausforderungen, also Aufgaben, deren Bewältigung die Voraussetzung für die Aufgaben des folgenden Lebensalters ist. So muss zum Beispiel ein Baby erst lernen, dass es „andere Personen“ gibt, also ein „Ich“ und ein „Du“. Dies ist die Voraussetzung, um später als Kleinkind „mein“ und „dein“ unterscheiden zu können und noch später, im Kindes- und Jugendalter, ein Gewissen und gesellschaftstaugliche Moralvorstellungen zu entwickeln – also beispielsweise das Wissen „etwas zu stehlen ist falsch“.

Der Bildungswissenschaftler Klaus Hurrelmann zum Beispiel hat sich mit diesen Entwicklungsaufgaben für jedes Lebensalter beschäftigt. Er führt vier zentrale Entwicklungsaufgaben an, die in allen Lebensphasen vorkommen – allerdings in unterschiedlicher Ausprägung. Es sind diese:

1. Bildung und Qualifikation: Altersgemäßes Lernen, intellektuelle Kompetenz aufbauen. Das Ziel ist eine persönlich befriedigende Tätigkeit, von der auch die Gesellschaft profitiert.

2. Bindung und soziale Kontakte: eigene Identität finden, erfüllende Kontakte zu anderen Menschen und enge Bindung an besonders geliebte Menschen.

3. Konsum und Regeneration: die Fähigkeit zu einem gesunden Umgang mit Konsum-, Freizeit- und Medienangeboten. Außerdem Strategien zur Entspannung und Erholung.

4. Partizipation und Wertorientierung: ein eigenes Wertesystem entwickeln und das soziale Umfeld aktiv mitgestalten.2

Die Lebensphasen können wir vereinfacht einteilen in

1. Kindheit

2. Jugend

3. Erwachsenenalter (junges/mittleres/spätes)

Jahresangaben sind dabei nur sehr grobe Anhaltspunkte. Im Gegensatz zu früher – also vor fünfzig oder gar hundert Jahren – sind die Übergänge von Kindheit zu Jugend und von Jugend zum Erwachsenenalter nämlich sehr fließend. Eine 18-Jährige kann schon eine Ausbildung abgeschlossen haben und somit wirtschaftlich selbständig sein, eines der Kriterien fürs Erwachsensein. Ein 18-jähriger Gymnasiast dagegen hat vielleicht noch mehrere Jahre Studium vor sich und erreicht finanzielle Unabhängigkeit erst mit Mitte 20. Zudem scheint heute die Jugendphase in beide Richtungen immer weiter ausgedehnt: So beginnt etwa die Pubertät immer früher, der Schritt in die Berufstätigkeit erfolgt dagegen immer später, ebenso die feste Bindung an einen Partner oder die Familiengründung.

In jeder Lebensphase also muss der Mensch ganz spezifische Anforderungen aus allen vier Bereichen bewältigen – das, was in diesem Altersabschnitt als angemessene Entwicklung angesehen wird. Wie oben bereits erwähnt, können die vier Bereiche je nach Lebensphase durchaus unterschiedlich gewichtet sein. So nehmen Aufgaben aus dem Bereich „Bildung und Qualifikation“ in der Jugend mehr Raum ein als im späten Erwachsenenalter – aber „abgehakt“ ist der Bereich nie ganz!

Wie sieht nun ganz konkret die Bewältigung einer solchen Entwicklungsaufgabe aus?

Die zentrale Annahme ist, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen in allen Lebensphasen daraus bildet, dass der Mensch sein inneres Erleben ständig mit den äußeren Gegebenheiten und Anforderungen abgleicht und für sich in einen guten Einklang bringt. Also dass er auf der einen Seite „er selbst“ wird (Individuation, s. Abb.1), auf der anderen Seite so lebt, dass er mit den Anforderungen der Gesellschaft und den Gegebenheiten seiner Umwelt zurechtkommt (Integration). Zum inneren Erleben oder auch der inneren Realität gehören zum Beispiel körperliche und psychische Bedingungen, Intelligenz und Temperament. Individuation bedeutet dann, die Möglichkeiten und Grenzen dieser Gegebenheiten zu kennen und auszuleben. Äußere Gegebenheiten oder Realitäten sind Familie und Freunde, Schule und Freizeitorganisationen, Medien, Umwelt-, Arbeits- und Wohnbedingungen. Integration erfolgt durch das Anpassen an diese Bedingungen. Innere und äußere Realitäten stellen oft gegensätzliche Anforderungen. Wenn morgens um 6:00 Uhr der Wecker klingelt, schreit der Körper noch laut nach mehr Schlaf – das wäre die innere Realität. Eltern, Schule und Gesellschaft aber verlangen das pünktliche Erscheinen im Unterricht und drohen im Verweigerungsfall sogar mit Strafen – die äußere Realität. Für den jungen Menschen ist nun eine Auseinandersetzung mit beiden Realitäten erforderlich: Folgt er der inneren und riskiert unangenehme Konsequenzen, oder passt er sich den äußeren Erfordernissen an und lässt einen Teil seiner Bedürfnisse los? Persönlichkeitsentwicklung heißt, der Mensch entscheidet sich für das Verhalten, mit dem er am ehesten gut durchs Leben kommt. Sie ist also ein ständiger Abgleich, eine dauernde Auseinandersetzung mit beiden Bereichen, immer wieder von neuem, und deshalb ein dynamischer Prozess. Diese Arbeit an der eigenen Persönlichkeit kann erfolgreich gelingen: Dann fühlt sich ein Mensch einigermaßen wohl mit dem, was er ist und kann, mit den Umständen, in denen er lebt und der Rolle, die er in der Gesellschaft ausfüllt. Unter ungünstigen Bedingungen kann der Prozess aber auch scheitern. Die Folge wären Identitätskrisen sowie Persönlichkeits- und Gesundheitsstörungen.

Diesen Prozess der sogenannten „produktiven Realitätsverarbeitung“ stellt das folgende Schaubild dar:

Produktive Realitätsverarbeitung.3

Setzen wir uns als Eltern mit diesen inneren Prozessen auseinander, wird uns schnell klar, welche Kämpfe das für unsere Kinder bedeuten kann: Jede kleine Entscheidung für ein bestimmtes Verhalten kann nur ein Kompromiss sein, bei dem der Heranwachsende entweder sich selbst oder sein Umfeld übergehen und oft auch enttäuschen muss. In solche Dilemmas kommt der Mensch sein ganzes Leben lang immer wieder – aber eben ganz besonders in der Entwicklungszeit zum Erwachsenen. Vielleicht wächst mit diesem Wissen in uns auch zumindest ein Verstehen dafür, wie gewaltig die Aufgaben sind, die unsere Kinder da bewältigen müssen. Es wird nachvollziehbar, dass es dabei eben auch Fehlentscheidungen geben kann oder dass ein Dilemma zu groß wird und der junge Mensch mit Rückzug – zum Beispiel ins „Chillen“ – oder Verweigerung („Ich lass mir nichts mehr sagen!“) reagiert. Aus lauter Verzweiflung, weil er seinen Weg selbst nicht so einfach findet. Für viele Eltern ist es schon eine gewisse Entlastung, wenn sie sich bewusst machen: Mein Kind versucht nicht, etwas gegen mich, zu meinem Schaden zu machen, sondern für sich, zu seinem Nutzen. Und dazu hat ja wohl jeder grundsätzlich das Recht! Natürlich bin ich nicht der Meinung, dass damit alles entschuldigt werden sollte und Kinder sich rücksichtslos um sich selbst drehen können, während Eltern jedes Verhalten demütig hinnehmen! Es geht mir – auch für mich selbst – um ein Verständnis der inneren Kämpfe und einen dadurch ermöglichten barmherzigeren Blick auf manches Verhalten.

Die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben bedeutet eine ständige Anforderung an die Persönlichkeitsentwicklung. Gelingt sie in einer Lebensphase, ist dies die Voraussetzung für ein Gelingen in der folgenden Lebensphase.

Kommen wir nun zurück auf die anfangs gestellte Frage, wann unsere Kinder „erwachsen“ sind. Dazu werfen wir einen näheren Blick auf diese Herausforderungen speziell für das Jugendalter, also grob gesagt zwischen 12 und 18 Jahren, und auf die des jungen Erwachsenenalters, von etwa 19 bis Mitte der 20er Jahre: Was verbirgt sich hinter den großen Worten? Was genau bedeuten sie für den Alltag eines Heranwachsenden? Unsere Kinder befinden sich ja irgendwo in der Mitte oder um das Ende des Jugendalters herum, haben im Idealfall die meisten der Herausforderungen dieser Phase bewältigt und sind damit an der Schwelle zum Erwachsenen. Um es noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen: Die folgenden Kriterien sind Zielangaben und bedeuten nicht, dass mit 17 oder 18 alle erreicht sein müssen, um eine „gesunde“ Entwicklung anzuzeigen. Die jungen Menschen dürfen durchaus noch auf dem Weg dorthin sein. Die Definition eines Zieles ist hilfreich zur Einschätzung, ob ein Mensch auf einem guten Weg ist, seine ihm angemessene Rolle auszufüllen.

Die Herausforderungen und Rollen speziell für das Jugend- und junge Erwachsenenalter sind also:

Bildung und Qualifikation (Berufsrolle)

Im Jugendalter geht es hierbei zunächst um das Grundlagenwissen aus der Schulbildung – der angestrebte Schulabschluss muss geschafft werden. Daneben geht es um das Herausfinden der eigenen Neigungen und Stärken, aus denen sich dann ein Berufswunsch formen lässt.

Das Ziel für diesen Entwicklungsbereich im Erwachsenenalter ist die Aufnahme einer sinnvollen Berufstätigkeit in der Gesellschaft, durch die der junge Mensch sich seinen Lebensunterhalt selbständig finanzieren kann. Dazu bedarf es sowohl fachlicher als auch sozialer Kompetenzen. Das wäre zunächst das Wissen, was man für den angestrebten Beruf braucht – welchen Schulabschluss, welche besonderen Stärken, welche Praktika oder Nachweise man ggf. vorweisen muss. Später geht es dann um das Fachwissen, das man in der Ausbildung erwirbt.

Für eine Berufstätigkeit relevante soziale Kompetenzen wären etwa das Auftreten beim Bewerbungsgespräch, die Fähigkeit zum Einfügen in eine Hierarchie, zur Teamarbeit und nicht zuletzt Zuverlässigkeit.

Bindung und soziale Kontakte (Partner- und Familienrolle)

Im Jugendalter geht es in diesem Entwicklungsbereich zunächst um die schrittweise emotionale und soziale Ablösung von den Eltern, also der Herkunftsfamilie. Das bedeutet, enge Kontakte zu Freunden und Gleichaltrigen aufzubauen und eine liebevolle, intime Partnerschaft einzugehen. Die Ziele für das Erwachsenenalter sind tragfähige Freundschaften, eine feste Paarbeziehung und eventuell Familiengründung – letztlich die Grundlage für den Fortbestand unserer Gesellschaft. Aber gerade die Familiengründung verschiebt sich in unserer Zeit immer mehr nach hinten, oft weit in die 30er Jahre hinein, dieses Kriterium wird also vielleicht erst spät erfüllt, ohne dass dies zwingend Unreife bedeutet.

Der Psychologe und Coach Roland Kopp-Wichmann sagt in seinem Blog zu der Frage, woran man „Erwachsensein“ erkennt: „Zentral ist dabei aus meiner Sicht die geglückte Ablösung von den Eltern. Der Erwachsene geht seinen eigenen Weg im Leben und bleibt gleichzeitig mit den Eltern in einer guten Weise verbunden. Gelingt dies nicht oder versäumt man diese, kann es passieren, dass man als Erwachsener in bestimmten Situationen mit anderen zu kindlichen Strategien greift.“4

Konsum und Regeneration (Kultur- und Konsumentenrolle)

Es geht darum, Kompetenz für die gesellschaftliche Mitgliedsrolle eines Wirtschaftsbürgers zu erwerben, also sinnvoll zu konsumieren: Im Jugendalter bedeutet dies den Umgang mit Geld, Medien und allgemein Freizeitangeboten einzuüben und auszuprobieren, wie sich die Angebote zur Unterhaltung und Entspannung nutzen lassen. Das Ziel im Erwachsenenalter ist die Fähigkeit, Konsum- und Freizeitangebote sinnvoll zu nutzen, also etwa zur Regeneration nach beruflicher Belastung.

Partizipation und Wertorientierung (Politische Bürgerrolle)

Hier soll die Fähigkeit zur aktiven Beteiligung an Angelegenheiten der sozialen Gemeinschaft erlangt werden.

Im Jugendalter geht es um die Entwicklung eines eigenen Wertesystems durch die Auseinandersetzung zum Beispiel mit den Werten der Eltern. Außerdem um erste Erfahrungen mit der Beteiligung an gesellschaftlichen Einrichtungen (z.B. Verein, Gruppe, Kirche, Partei usw.). Im Erwachsenenalter ist das Ziel die Kompetenz, die eigenen Bedürfnisse und Interessen in der Öffentlichkeit zu artikulieren und sich gemäß der eigenen Wertvorstellungen zu engagieren.5

Aus psychologischer Sicht kann man somit zusammenfassend dann von einem Übergang von der Jugend- in die Erwachsenenphase sprechen, wenn die vier Entwicklungsaufgaben des Jugendalters bewältigt und damit die Selbstbestimmungsfähigkeit des Einzelnen erreicht ist. Das bedeutet nach Hurrelmann und Quenzel:

1. Die Entwicklung der intellektuellen und sozialen Fähigkeiten für die Übernahme einer selbstverantwortlichen Erwerbstätigkeit, von der man leben kann, ist erfolgt.

2. Eine weitgehende Loslösung von der emotionalen Abhängigkeit von den Eltern hat stattgefunden, und Fähigkeiten zum Aufbau tiefer emotionaler Bindungen zu anderen Menschen in Freundschaft oder Partnerbeziehung wurden erworben.

3. Souveräner Umgang mit Freizeit- und Konsumangeboten, sodass diese zur körperlichen und psychischen Regeneration genutzt werden können.

4. Das Werte- und Normensystem ist entfaltet und hat eine vorläufige Stabilität erreicht, sodass individuell und sozial verantwortliches Handeln möglich ist.

Durch die folgende Abbildung soll dies noch einmal dargestellt werden.

Idealtypische Gegenüberstellung Entwicklungsaufgaben Jugend- und Erwachsenenalter:

Entwicklungsaufgaben des Kindesalters

Entwicklungsaufgaben des Jugendalters

Entwicklungsaufgaben des Erwachsenenalters

Entwicklung der Intelligenz

Qualifizieren: Aufbau intellektueller und sozialer Kompetenzen

Übergang in die Berufsrolle

Wirtschaftliche Selbstversorgung

Aufbau von emotionalem Grundvertrauen

Binden: Aufbau einer eigenen Geschlechtsrolle und Partnerbindung

Übergang in die Partner- und Familienrolle

Familiengründung mit Kinderbetreuung

Entwicklung von motorischen und sprachlichen Fähigkeiten

Konsumieren: Fähigkeit zur Nutzung von Geld und Warenmarkt

Übergang in die Konsumentenrolle

Selbständige Teilnahme am Kultur- und Konsumleben

Entwicklung von grundlegenden sozialen Kompetenzen

Partizipieren: Entwicklung von Werteorientierung und politischer Teilhabe

Übergang in die politische Bürgerrolle

Verantwortliche politische Teilhabe

Abb. 2, zitiert nach: Hurrelmann und Quenzel, 2016.

Bei der Aufzählung dieser Entwicklungsaufgaben fällt schnell auf, dass sie weitgehend mit dem übereinstimmen, was die meisten Eltern als ihr Erziehungsziel beschreiben würden: Wir wollen unsere Kinder zu selbständigen Menschen erziehen, die ihren Platz im Leben finden, ausfüllen und behaupten können, die eine gute Partnerschaft leben und vielleicht eine Familie gründen. Nur: Wie so oft im Leben stellen wir auch bei unseren Erziehungszielen – oder auch bei den Entwicklungsaufgaben – fest, dass bei Weitem nicht alles so glatt läuft, wie wir es gerne hätten. Wieder einmal landen wir Eltern bei der Erkenntnis: „Wenn erst mal … – dann ist es trotzdem nicht geschafft.“ Es kommen nur wieder neue Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Auch am Ende der Erziehungsphase …

Werden nämlich einzelne Entwicklungsaufgaben nicht oder nur unzureichend bewältigt, führt das zu Unzufriedenheit beim jungen Erwachsenen selbst und stößt auf Ablehnung durch die Gesellschaft – inklusive uns Eltern. Beides kann zum Problem werden.

Andererseits ist es auch eine Entlastung für Eltern, die sorgenvoll auf manche Unreife ihres Sprösslings schauen: Viele Bereiche dürfen sich noch entwickeln! Es ist gar nicht nötig, dass eine 18-Jährige schon alle Kriterien einer selbständigen Erwachsenen erfüllt – das kann auch erst mit Mitte oder Ende der 20er so weit sein und liegt trotzdem noch im normalen Entwicklungsbereich. Die Frage ist, wie wir Eltern diesen Prozess sinnvoll unterstützen können, auch wenn die Erziehung abgeschlossen ist.

Den Wechsel von der Erziehung zur Beziehung gestalten

Der Übergang von der Jugend- in die Erwachsenenzeit vollzieht sich also bei unseren Kindern meistens nicht so eindeutig und auf einen Rutsch, sondern eher schrittweise in einzelnen Bereichen in jeweils unterschiedlichen Zeiträumen. Dennoch gibt es meistens markante Ereignisse, die alle Beteiligten besonders deutlich als Ende einer Lebensphase und Neubeginn einer anderen erleben. Etwa der 18. Geburtstag, der Ausbildungsbeginn oder der Auszug eines Kindes. Könnte man da nicht diesen Übergang bewusst gestalten, um seine Bedeutung zu würdigen?

Als Kind hatte ich ein Bilderbuch, das die Geschichte eines jugoslawischen Dorfmädchens etwa um den Anfang des 20. Jahrhunderts erzählte. Am Vorabend der Konfirmation war es bei ihnen üblich, dass das Kind seine Eltern für Fehler um Verzeihung bat, die es in seiner Kindheit gemacht hatte und ihnen für ihre Liebe und Fürsorge dankte. Die Konfirmation galt damals als Ende der Kindheit und Beginn des (beinahe) Erwachsenseins – viel Jugendzeit, wie sie für uns heute selbstverständlich ist, schien es dort nicht zu geben. Das war für mich als Kind zwar ungewohnt, auch schien mir das Ritual etwas gekünstelt. Dennoch faszinierte mich der Grundgedanke, einen wichtigen Übergang im Leben bewusst zu begehen. Später las ich dann in einer Zeitschrift, wie Eltern beim Auszug eines Kindes dieses bewusst losließen, indem sie mit ihm bei einem Abschiedsessen die Erziehungszeit Revue passieren ließen und dann ihren Erziehungsauftrag sozusagen offiziell abgaben. Diese Idee begeisterte mich und ließ mich nicht los. Als der Auszug unseres älteren Sohnes Johannes dann anstand, baten wir ihn zunächst, sich Gedanken darüber zu machen, wo er sich von uns ungerecht behandelt, allein gelassen oder verletzt gefühlt hatte. Bei einem gemeinsamen Essen wollten wir das mit ihm besprechen. Er ließ sich darauf ein, suchte ein Restaurant aus und wir wagten das Abenteuer – wahrscheinlich alle gleichermaßen aufgeregt. Er sprach dann auch ein paar Punkte an, für die wir Eltern ihn um Verzeihung baten. Im Vorhinein hatten wir um eine gute Ge­sprächs­atmosphäre gebetet und auch darum, dass wir wirklich offen für Kritik sein und sein Erleben stehen lassen könnten, ohne gleich in die Defensive zu gehen. Ich denke, das gelang dann auch, und es kamen ebenfalls viele schöne Erinnerungen zur Sprache. Außerdem überreichten wir ihm eine Art Abschiedsbrief. Darin haben wir noch einmal ausgedrückt, wie sehr wir ihn von Anfang an geliebt und als wunderbares Geschenk von Gott erlebt hatten. Als Eltern hatten wir unseren Erziehungsauftrag so gut wie möglich erfüllen wollen, dabei aber natürlich auch Fehler gemacht. Wir haben unsere Liebe gezeigt und tun das weiterhin – aber vielleicht kam das bei ihm nicht immer so an, und wir wissen nicht, ob er sich immer geliebt gefühlt hatte. Wenn er nun ein eigenständiges Leben anfinge, wünschten wir uns, dass er dies von möglichst wenigen unvergebenen und unausgesprochenen Verletzungen belastet tun konnte. Dazu dienten der Brief und das Essen. Dabei erklärten wir auch unseren Erziehungsauftrag für abgeschlossen und gaben Johannes frei in ein eigenständiges Leben – das wir natürlich gerne mit unserer Liebe und, wo von ihm gewünscht, mit unserem Beistand begleiten wollten. Außerdem versicherten wir ihm noch einmal, dass er immer unser Sohn bleiben würde und wir ihn liebten, egal, was passieren oder er jemals tun würde.

Als drei Jahre später Sebastian, der jüngere Sohn, auszog, schrieben wir auch ihm einen ähnlichen Brief und wollten ihn zum Essen einladen. Damals wollte er das aber nicht. Mein Mann und ich waren beide ein bisschen enttäuscht, akzeptierten aber seinen Wunsch und beließen es bei dem Brief.

Natürlich wünsche ich mir, dass dieser Brief – wie auch die Liebe, die wir beiden Söhnen hoffentlich vermittelt haben – eine positive Auswirkung in ihrem Leben hat und einmal eine wertvolle Erinnerung an uns Eltern ist. Und wenn ich ganz ehrlich bin, wünsche ich mir irgendwie auch eine Bestätigung unserer Kinder, dass wir es gut gemacht haben … Unausweichlich bringt mich dieser Gedanke zu der Frage, ob ich das eigentlich meinen Eltern gegenüber genug ausgedrückt habe. Kann ich ihnen dieselbe Bestätigung geben, die ich mir insgeheim irgendwann einmal von meinen Kindern wünsche?

Zusammenfassung

1 Sich weiterentwickeln bedeutet, bestimmte altersgemäße Anforderungen zu bewältigen. Dazu ist ein ständiges Abgleichen von inneren und äußeren Anforderungen nötig.

1 Der Übergang zum Erwachsensein ist fließend. Er kann in manchen Bereichen früher vollzogen sein als in anderen.

1 Dennoch kann man diesen Übergang bewusst gestalten, indem man in einem Bereich exemplarisch die neue Unabhängigkeit feiert.

1 Insgesamt bedeutet Erwachsensein weitgehende Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Dazu gehören eine Erwerbstätigkeit, eventuell Partnerschaft und eigene Familie, verantwortungsvoller Umgang mit Konsum und Freizeit sowie eigene Wertvorstellungen, mit denen man sich auch in die Gesellschaft einbringt.

1 Je nachdem, wie gut die jeweiligen Anforderungen bewältigt werden, fühlt sich ein Mensch mehr oder weniger gut aufgehoben in der Gemeinschaft.

1 Am Ende der Erziehung soll die Beziehung bleiben und wachsen.

Fragen Sie sich:

1 Welche Lebensaufgaben für sein Alter hat mein Kind schon erfolgreich bewältigt?

1 Kann es seine Stärken benennen?

1 Hat es starke Beziehungen zu Gleichaltrigen?

1 Wo ist es auf einem guten Weg zur Bewältigung?

1 An welchen Stellen sehe ich noch Ausbaubedarf?

1 Wie sieht mein Kind das?

1 Wie könnten wir als Familie den Übergang in die Nach-Erziehungszeit bewusst gestalten?

1 Oerter, R., Montada, L. (Hg): Entwicklungspsychologie. Beltz PVU, 4. Auflage, Weinheim 1998.

2 Hurrelmann, K., Quenzel, G., Lebensphase Jugend, Beltz Juventa, Weinheim 2016, S. 27.

3 Die Produktive Realitätsverarbeitung nach K.Hurrelmann, 3/08, https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Schaubild_Produktive_Realit%C3%A4tsverarbeitung_neu.jpg, Letzter Zugriff 01.04.2020.

4 Kopp-Wichmann, Roland: „Wie erwachsen sind Sie eigentlich?“ Undatiert, https://www.persoenlichkeits-blog.de/article/4403/wie-erwachsen-sind-sie-eigentlich

5 Hurrelmann und Quenzel: Lebensphase Jugend, 2016, S. 27.

II Fokus Kind: Was, wenn es Probleme gibt?

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