Abel - Alessandro Baricco - E-Book

Abel E-Book

Alessandro Baricco

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Beschreibung

Er ist siebenundzwanzig Jahre alt, als er zur Legende wird. Abel Crow ist der Sheriff einer Kleinstadt und verhindert einen Raubüberfall, indem er mit zwei Pistolen gleichzeitig zwei verschiedene Ziele trifft. Mit einer solchen Präzision hat das noch nie jemand geschafft! Abel ist verliebt in die geheimnisvolle Hallelujah Wood, die ihn ebenfalls liebt, aber immer wieder fortgeht, ohne dass er weiß, wohin. Sie kommt jedes Mal zurück. Abels Mutter hingegen ist Jahre zuvor gegangen und nicht mehr zurückgekehrt. Sie nahm die vier besten Pferde mit und überließ ihn, seine Brüder und seine Schwester ihrem Schicksal. Es ist die Geschichte eines Helden, der sich seiner Vergangenheit stellen muss, während die Zeit alte und auch neue Wunden heilt, und der nebenbei sein Städtchen bewacht und beschützt.

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Seitenzahl: 180

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alessandro Baricco

Abel

Ein metaphysischer Western

Roman

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Kampa

Für Gloria

Der Westen in Western ist größtenteils ein imaginärer Ort. Für den Westen dieses Buches gilt das noch mehr. Auch dort, wo Namen und Länder genannt werden, die es tatsächlich gegeben hat, oder Ereignisse, die wirklich geschehen sind, handelt es sich um eine erfundene, ausschließlich der Phantasie entsprungene Welt. Sollte ich bei der Gestaltung eines solchen Nicht-Ortes unabsichtlich das Feingefühl einzelner Leser oder ganzer Gemeinschaften verletzt haben, tut es mir leid. Andererseits aber auch nicht allzu sehr, gebe ich zu, denn die absolut uneingeschränkte Freiheit ist das Privileg, die Bedingung und das Schicksal allen literarischen Schreibens.

Ich spüre eine Vibration, also schieße ich

Ich spüre eine Vibration, also schieße ich.

Was weiß ich, so etwas wie eine Vibration.

Ich ziehe und schieße.

Ein leises Zittern der Welt, ja. Es dauert weniger als einen Augenblick. Ich habe von klein auf gelernt, es wahrzunehmen, in den großen Einöden, wo ich erst Kind, dann mit elf Jahren Mann und schließlich mit neunzehn alt war, als mein Vater John John uns verließ – sie stachen ihn ab, gelangweilt, würde ich sagen, so lief das – und mich, den Ältesten von sechs Geschwistern, zurückließ, um die Arbeit zu beenden.

Die Arbeit bestand darin, zu überleben.

Damals gingen ihr viele nach, aber nicht alle mit der Methode, die wir uns ausgesucht hatten – wir arbeiteten wie Tiere. Das taten wir stumm in jenen großen Einöden, die ich schon erwähnte, an den Rändern der bekannten Welt, so weit weg von allem, dass wir alles waren und unser Nichts die einzige Nachricht. Ringsumher die Schöpfung – unendlich, so meine Erinnerung an sie. Dazu gehörten auch die wenigen menschlichen Wesen, die sich an nicht vorher angekündigten Tagen am Horizont abzeichneten und wie Luftspiegelungen im Schritttempo näher kamen. Die Hände an die Waffen zu legen, war damals ein natürlicher Reflex, unwillkürlich, wie man sich an einer wunden Stelle kratzt. Oft schossen wir, bevor wir fragten. Doch manchmal empfing mein Vater sie auch am Tisch, wo er erwartete, dass sie erzählten, während sie ihren Löffel leerten und wieder füllten. Wir standen an die Wände gelehnt. Beobachteten sie. Mich beeindruckte, dass keiner einen wirklichen Grund dafür angeben konnte, warum er das Unsagbare durchquert hatte – man verstand nicht, wie zum Teufel sie es bis hierher geschafft hatten. Man konnte nicht mal sagen, dass sie sich verirrt hätten. Sie waren vorangekommen, indem sie eine beträchtliche Reihe von Teilzielen miteinander verknüpft hatten, das Ergebnis belangloser, nicht selten mutloser Projekte. Das ist alles. So lernte ich, dass die zeitliche Überlappung unbedeutender, von Feigheit durchzogener Entscheidungen dich weit bringen konnte, sogar bis zu einer Art von poetischem Heldentum. Die Epoche der Vollidioten.

Den einen oder anderen erledigten wir im Schlaf. Es war fast eine Gefälligkeit. Wir hatten keine Ärzte in der Gegend, natürlich nicht. Also erledigten wir sie, machten den Leiden ein Ende, die keinen Sinn gehabt hätten. Leiden an zerstörten inneren Organen oder Verletzungen ohne Umkehr.

Nur drei, wenn ich mich recht erinnere, sind bei uns angekommen, weil sie sich von einem Schicksal geleitet fühlten, an das sie bedingungslos glaubten.

Einer behauptete, der Bruder meines Vaters zu sein. Sie zogen sich in die Ställe zurück, um darüber zu sprechen, sie beide mit einer Flasche Whisky.

Ein anderer suchte Gott.

Den Dritten habe ich nicht vergessen, ein alter Mann mit goldenen Sporen. Er sagte, er sei gekommen, um meine Mutter zu treffen.

Aber von meiner Mutter habe ich noch nicht gesprochen.

Diese stummen Weiten

Diese stummen Weiten, die sich tief im Westen an den Rändern des Bekannten erstreckten, gibt es nicht mehr, sie sind weg. Wir sind weitergegangen, um Eisenbahnschwellen zu verlegen, indem wir sie zählten, um Gedanken loszuwerden, indem wir Pferde zum Schäumen brachten, bis uns am Scheitelpunkt dieses Gehens der Ozean erwartete und so unseren Hunger nach Land für immer erstickte.

Damals jedoch nicht, es gab sie noch – nie zuvor gesehene Weiten, Ländereien, von denen man keine Kenntnis hatte. Hob man den Blick von der Arbeit, sah man sie, hinter dem Stacheldraht. Das war das Unberührte. Es weilte in der offensichtlichen Abwesenheit des Menschentieres, also eins mit sich, ein einziger Hauch aus Staunen, Blut, Samen und Schrecken. Man konnte es leicht als eine Art Geheimnis wahrnehmen, doch in manchen Augenblicken der Offenbarung konnte das Unberührte uns auch wie ein Ursprung oder wie das Ziel, jedenfalls als ein Schicksal erscheinen. Anscheinend war es seit sehr langer Zeit da, mit der konkreten Aufgabe, uns zu erwarten.

Na, wollen doch mal sehen, ob es uns erwartet hat.

Nicht uns. Alle.

Du bist komisch, Abel.

Es erwartet uns seit Jahrtausenden.

Ach, geh doch zum Teufel.

Dann hieb mein Bruder David dem Pferd die Sporen in die Flanken und furchte, laut schreiend, im Galopp einen Riss in das Unberührte, dem Braunen reichte das hohe Gras bis zum Schenkel. Ich weiß, David bildete sich ein, etwas zu entweihen, und das gefiel ihm. Aber ich spürte, dass das Unberührte uns erwartete und dass es schon immer mit diesem Riss gerechnet hatte – es wusste früher davon, als mein Bruder sich vorstellen konnte. So ist es bei allem, habe ich später am Grund meiner Schlaflosigkeiten entdeckt. Wir sind schon dort gewesen, wo wir nie waren, ja, um die Wahrheit zu sagen, wir kommen von dort.

Mein Bruder galoppierte, bis er genug hatte, dann blieb er lange dort drüben, reglos, im Sattel, als wären ihm seine Absichten verloren gegangen. Er war eine Marionette im Nichts, klein. Um ihn herum tanzte das Gras noch im Wind, aber über Meilen und Meilen hinweg.

Dann murmelte mein Vater etwas.

Soll er doch weiden.

Er sah ein Vorhaben, wo es vorerst nur die Essenz gab, er sah eine Nützlichkeit, wo alles ohne Zweck war, seinen eigenen Reichtum, wo es nichts als Gras gab.

Soll er doch weiden.

Und da er nichts hinzuzufügen hatte, zog er ohne die geringste Hast das Sharps aus dem Sattel. Ein großartiges Werkzeug. Fünfhundertneunundfünfzig Millimeter Lauf, Perkussionshinterlader, vertikaler Blockverschluss. Wenn das Gewehr mit Patronen Kaliber 52 geladen wurde, genügten drei Gramm Schwarzpulver, um 475 Kugeln eine Dreiviertelmeile weit zu schießen. In dieser Entfernung, so hatte der Meister mich gelehrt, ist ein Mann ein Insekt und auf ihn zu schießen eine Kunst. Dann hatte er erklärt, dass man die erste Hälfte der Arbeit mit dem Auge macht, alles andere danach mit der Seele. Denn bei dieser Entfernung bringt das Auge dich nur bis kurz vor das Ziel, weiter reicht es nicht. Es ist wie eine Verneigung, hatte er gesagt, ohne das bis in alle Einzelheiten erklären zu können. Dennoch, hatte er hinzugefügt, spürt die Seele, wenn der Mann, auf den du zielst, sich genau auf den Lauf deiner Waffe ausrichtet, und in diesem Moment wirst du etwas wie einen flüchtigen Atemzug oder ein unsichtbares Lasso wahrnehmen, das zwischen deinem und seinem Herzen gespannt ist. Dann musst du schießen, hatte er zum Schluss gesagt.

Mein Vater legte sich den Kolben des Sharps auf die Schulter und hob langsam die 559 Millimeter des Laufs, als rückte er ein Detail zurecht, das die Schöpfung übersehen hatte. Er hielt die Millimeter auf einer immateriellen Geraden, die durch das kreisförmige Korn auf dem Lauf führte und sein linkes Auge mit der winzigen Silhouette meines Bruders verband. Ich wusste nicht, was er vorhatte, aber ich erinnere mich auch nicht, ob ich mich das gefragt hatte. Die nun folgende lange Stille gefiel mir. Ich war an jenem Tag fünfzehn Jahre und siebenundneunzig Tage alt. Mein Vater drückte ab.

Aus dem Lauf kam das allererste Projektil, von dem das Unberührte durchpflügt wurde. Es ritzte das Licht wie ein tödlicher Diamant die Oberfläche eines Zauberspiegels. Dieses Geräusch habe ich nie mehr vergessen.

Es war der absolute Anfang. Alles sollte darauf folgen.

Es war die Morgendämmerung einer Welt. Alles sollte darauf passieren.

Darum verstand ich den ersten Vers des Johannesevangeliums, und seither kenne ich die Bedeutung des Wortes, das im Anfang war und bei Gott war. Meist verbinde ich es mit dem Geruch von Schießpulver. Noch heute kann ich den Abzug nicht drücken ohne das Gefühl, die ersten Worte dieses Evangeliums zu sprechen. Deshalb tue ich es, ohne danebenzuschießen. Offenbar hat dieser Schuss aus dem Sharps mich geprägt: In gewissem Sinne komme ich von da her. Einmal habe ich mir die unbegreifliche Leichtfertigkeit erlaubt, es Hallelujah zu sagen – ich bin eines Tages am Rand des Unberührten geboren, als mein Vater einen Schuss aus der Sharps abgab und ich begriff, dass ich etwas erschaffen und das Geheimnis enthüllen würde, indem ich den Abzug drückte. Ich wollte ihr erklären, warum ich von meinen Pistolen und einer Winchester 44 lebte. Sie drehte sich müde um und fragte mich etwas, aber zwischen ihren Haaren.

Jahre später gestand mir mein Bruder David, dass er erst das Pfeifen der Kugeln gehört hatte, die ihn streiften, und danach das scharfe Klacken, den mechanischen Biss des Sharps. Darum hatte das Wort, das am Anfang war, für ihn die Erscheinungsweise eines Hauchs, auf Lateinisch Spiritus, auf Griechisch Pneuma, das für Anaximenes der Urgrund von allem ist. Wahrscheinlich endete David darum als Prediger auf Socorro, wo er Legionen von Gläubigen aufforderte, Gott, den Vater, zu lieben.

Damals drehte er sich erschrocken zu uns um. Mein Vater bedeutete ihm mit weit ausholenden Bewegungen, er solle zurückkommen. Es war ein Befehl, doch, wie ich Jahre später verstanden habe, auch eine Bitte, eine Zärtlichkeit.

Natürlich gab es auch die Wilden

Natürlich gab es auch die Wilden. Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen. Bei uns hießen sie Absaroka oder Makah. Und an der Küste gab es die Nootka. Es kam uns nicht einmal in den Sinn, dass sie Menschen sein könnten. Dafür brauchte es Zeit. Sie gehörten zum Unberührten, zu seinem Samen. Wie die Hirsche, die Adler oder die Wölfe. Tiere, wir töteten sie. Wilde Tiere, sie töteten uns. Doch jetzt muss ich erklären, dass ich nur eine einzige Frau geliebt habe, und sie war bei den Dakota aufgewachsen. Mein Vater wurde von zwei Absaroka umgebracht – sie stachen ihn fast gelangweilt ab, so lief das. Was der Atem der Welt ist, habe ich dann in einem Dorf der Paiute gelernt, während eines Winters, den ich dort verbrachte, um zu sterben und noch einmal zu sterben und dann zu leben. Was soll man zu alldem sagen? Diese Wilden stecken im wichtigsten Nervensystem meines Lebens. Wie ein Riss in einer Mauer. Hat vielleicht irgendeine Erde gebebt, um ihn zu erzeugen, oder war es eine zufällige Zerrüttung, Folge eines Schicksalsschlags?

Einmal fragte ich Joshua, meinen Bruder, den sie für verrückt halten.

Ich ging ihn im Gefängnis besuchen und fragte ihn, ob es den Zufall gab.

Erst trällerte er lange leise vor sich hin, was für ein Lied, weiß ich nicht. Dann beugte er sich zu mir vor und sprach flüsternd. Er sagte, dass der Zufall existiere, ja, aber er sei selten. Er sei eine periphere Variante der Wirklichkeit. Dann fügte er hinzu, wenn man lange genug gelebt habe, um zu verstehen, erkenne man, dass wir Segmente von größeren Gebilden sind. Unfähig, sie zu entziffern, sehen wir nur zufällige Ereignisse, wo stattdessen der Umriss von Formen vorüberzieht, in denen die Namen der Welt geschrieben stehen – ungeheuerliche Piktogramme. Viele bezeichnen diese dem Menschen angeborene Schrift etwas ungenau mit dem Wort Schicksal.

Er riss die Augen auf, als er das sagte.

Also habe ich das, was mir von meinem Leben blieb, damit zugebracht, die Zeichnung zu finden, von der ich ein kleiner Teil und ein Segment war.

Es ist das Beste, was ich je getan habe.

Die Nootka jagten seit jeher Wale

Die Nootka jagten seit jeher Wale. Pferde waren ih nen völlig egal. Bisons erst recht. Sie jagten Wale. In einem Frühling, zur Zeit der Schneeschmelze, fand ein Schmied mit Namen Bill Hamerton einen Nootka vor seinem Haus sitzen, gekleidet wie ein Weißer, und das ereignete sich gut fünfzig Meilen von der Küste entfernt. In einem Städtchen von Minenarbeitern in den Bergen. Bill Hamerton sagte zu ihm, er solle abhauen. Der Nootka-Mann lächelte und entblößte überraschend strahlende Zähne. Er rührte sich nicht vom Fleck. Am nächsten Tag konnte man vier weitere Nootka-Männer sehen, die ebenfalls wie die Weißen gekleidet waren – Jackett, Hose, Schuhe, Hut – und an einer Mauer lehnten oder auf dem Rand einer Treppe saßen. Sie schienen sehr müde, aber auch entschlossen und unabwendbar. Dann fand die Frau von Reverend Smith einen in ihrem Haus sitzen. Der Sheriff musste einschreiten. Durchaus höflich, das muss man sagen, aber so konnte es nicht weitergehen. Der Erste, der schoss, war Rogers, der Jäger. Der Nootka-Mann brach am Boden zusammen, und unter ihm breitete sich ein ungewöhnlich kleiner Blutfleck aus. Danach schossen viele andere, doch je mehr Nootka fielen, desto mehr von ihnen begegneten dir in den Straßen, mit dem Rücken an einen Torbogen gelehnt oder die Hinterbacken auf einen Zaun gedrückt. Sie sprachen nie. Sie starben ohne einen Klagelaut. Als die ersten Hitzewellen mit den Wüstenwinden aus dem Süden kamen, fiel auf, dass sie nicht mehr lächelten. Von da an konnte man sie beim Aufwachen im Schlafzimmer finden, in einer Ecke hockend, oder am Eingang der Kirche, bevor sie öffnete. Sie sahen dich an. Dutzende von ihnen starben, dann tauchte, auf einem Schemel vor den Ställen von Cormack sitzend, die erste Nootka-Frau auf. Sie hatte lange graue Haare, die von einem Band aus menschlicher Haut zusammengehalten wurden. Da begannen in den Familien die Mütter nachts zu schreien, und die Kinder hatten unnatürlich weit aufgerissene Augen. Die Prestons waren die Ersten, die die Stadt verließen. Sie luden ihre ganze Habe auf einen Karren und gingen. Dann die Reynolds und die Stentons und John Gwyn, dann die Marbles, die Scotts und einer der beiden Brüder Green, der andere schoss sich mit dem Gewehr in den Mund, nachdem er der Nootka-Frau, die er auf seinem Bett sitzend fand, die Kehle durchgeschnitten hatte. In den ersten Augusttagen gingen die Letzten, das waren die Nortons. Ihre Gesichter sahen gespenstisch aus. Eine große Stille senkte sich über das Bergbaustädtchen, man hörte nur den Atem Hunderter Männer und Frauen der Nootka, überall verstreut, stumm. Es dauerte vielleicht Tage. Dann begannen die Ladenschilder herunterzufallen, die Mauern, die Arkaden stürzten ein – wie von innen zerfressen. Das Holz wurde zu Staub, vielleicht zu Asche. Eines Tages im Morgengrauen, niemand erinnert sich, wann das war, stand eine Nootka-Frau auf und bewegte sich langsam in Richtung Küste. Die anderen folgten ihr; während sie vorangingen, zischten sie tonlose Melodien durch die Lippen. Sie schienen müde, aber entschlossen und unabwendbar. Und als die ganze Main Street in sich zusammenfiel, konnte man noch sehen, wie sie in kleinen Grüppchen auf dem Weg zum Meer einen Fuß nach dem anderen auf den Boden setzten. Das Holz verfaulte, das Kupfer wurde verschluckt, alles Glas schmolz, das Metall verbog sich, das Silber lief schwarz an, das Gold verschwand, die ganze Stadt verschwand vor den Augen und dem Fühlen des Herzens.

In den stürmischen letzten Tagen des Sommers gingen die Nootka wieder auf die Jagd, sie hofften auf ein paar verspätete Wale.

Doch um kurz auf den Schuss aus dem Sharps zurückzukommen

Doch um kurz auf den Schuss aus dem Sharps zu rückzukommen – den Schuss, mit dem mein Vater meinen Bruder streifte, dort, in den unendlichen Graswiesen –, es hat Jahre gedauert, bis ich davon etwas mehr verstanden habe. Oft musste ich an das wahnsinnige Risiko zurückdenken: dreißig Zentimeter weiter rechts, und sein Schädel wäre zerborsten wie eine faule Frucht. Aus dieser Entfernung, auch das muss gesagt werden, ist eine Abweichung von dreißig Zentimetern mit einem Sharps 559 nicht mal eine Abweichung, sie ist etwas, was der Wind entscheidet, wenn er will. Also hatte mein Vater in Kauf genommen, dass der Schädel seines Sohnes durch den Schuss zerbarst. Blieb noch zu verstehen: Welch einen Abglanz von sich oder von der Welt, das eine so kostbar wie das andere selten, wollte mein Vater sich bewahren, als er beschloss, den Abzug zu drücken?

Jahre später, als Hallelujah Wood zum dritten Mal aus meinem Leben verschwinden wollte, schob ich im ersten Stock des Star-Hotels die Gardine vor dem Fenster zur Seite und beobachtete sie, während sie unter einem feinen Regen, den sie nicht zu bemerken schien, die Main Street hinaufging. Nur Hunde waren auf der Straße – und sie. Sie hatte diesen eigenen, stolzen Schritt. Ich wusste genau, dass sie nicht stehen bleiben oder sich umdrehen würde, um nach mir zu schauen. Sie ging weg, es war richtig so. Ich beobachtete sie. In ihrer Einsamkeit und Entschlossenheit war sie objektiv unwiderstehlich. Je weiter sie sich entfernte, desto kleiner wurde sie, und irgendwann spürte ich, dass sie kurz davor war, etwas wie eine Schwelle zu überschreiten, und ich ahnte, dass sie jenseits dieser Schwelle für immer verloren gehen würde. Ich wusste nicht, was sie tun würde, aber es erschien mir unmöglich, dass sie es allein tun sollte. Ohne mich, dachte ich. Ja, ohne mich. Also nahm ich meine Winchester, schob die Fensterscheibe hinunter, beugte ein Knie, legte den Lauf auf das Fensterbrett, sodass er bis in den Regen hinausragte, ließ den Kolben in die Schulterbeuge gleiten, neigte den Kopf, schloss das rechte Auge und zielte ohne Eile. Ich erwog alles: Der Wind war mir nicht entgangen, ich wusste, wie viel ich getrunken hatte, ich kannte den Störfaktor des Regens seit vielen Jahren, seit ich ein Mann war. Ich fragte mich, was ich wollte – sie streifen, antwortete ich. Du könntest sie töten, sagte ich mir – ich weiß. Andererseits würde sie einen etwas weiter entfernten Schuss nicht einmal hören, dachte ich angewidert. Also bleib nah dran, aber zittere nicht, dachte ich.

Auf diese Entfernung, hätte der Meister gesagt, bist du nicht Herr über dein Schicksal und über ihres. Wer ist dann der Herr?, fragte ich ihn. Die Absicht, sagte er. Er war überzeugt, dass jemand, der mit Klarheit und Kraft einer Vorstellung folgt, die Fehlerwahrscheinlichkeit auf einen Hauch, eine Nuance verkleinert. Er sagte, wenn ein starkes Herz der Schöpfung eine Absicht aufprägt, erschafft er sie. Also ist sogar dort, wo Genauigkeit unmöglich ist, die Reinheit einer gerechten Tat für einen gerechten Mann immer möglich.

Ich wartete. Ich spürte eine Vibration. Ich schoss.

Sie blieb stehen. Einen Augenblick lang rührte sie sich nicht. Dann drehte sie sich um und schrie meinen Namen, Vornamen und Nachnamen. Abel Crow. Ich war zu weit weg, um sie wirklich zu hören, aber es war klar, dass sie meinen Namen mit all der Wut herausgeschrien hatte, die sie im Körper hatte. Sie fügte noch etwas hinzu wie Hurensohn oder einen ähnlichen Ausdruck. Sie war zu weit entfernt, ich konnte es nicht recht verstehen. Doch meinen Namen hat sie geschrien, da bin ich sicher. Abel Crow.

Damit will ich sagen, dass mein Vater meinen Bruder David liebte, und darum streichelte er ihn. Oder er sagte ihm Bleib stehen. Oder er sagte leise Komm zurück. Das hätte er genauso gut tun können, indem er ihm einfach eine Hand auf die Schulter legte und den Druck seiner Finger langsam verstärkte. Doch mein Bruder hatte sich sehr weit entfernt, er stand schwankend auf einer Schwelle, dort hinten mitten im hohen Gras, mit einem Fuß schon im Graben einer gewissen Einsamkeit. Was kann man aus einer solchen Entfernung tun, wenn nicht schießen? Sag mir irgendetwas, das du tun kannst, wenn du dort stehst, wo du stehst, dir selbst treu bleibst, den Ort bewohnst, der dir gehört, wahrhaftig bleibst. Wenn du das Glück hast, zu wissen, wie man ein Sharps benutzt, kannst du schießen. Dann schaffst du eine Verbindung. Bewahrst eine Nähe. Du verknüpfst etwas neu, was drauf und dran war, sich zu trennen, eine wertvolle Einheit.

Daran denke ich oft, wenn ich schieße.

Einmal schlüpfte eine Frau, der ich den Mann erschossen hatte, schließlich in mein Bett, und da sie mich mit einer Wut bestieg, die mich erschreckte, wagte ich, sie zu fragen, was los sei. Sie sagte nichts, aber danach, als alles vorbei war, sagte sie, dass sie ihn gesucht habe. Ihren Mann. Sie erklärte mir, obwohl sie vier Jahre lang mit diesem Mann zusammengelebt habe, Tag für Tag, bei ihm geschlafen und Liebe mit ihm gemacht habe, hätte sie kaum jemals die Intimität – sie sagte Intimität – erreicht, die ich erfahren durfte, als ich ihm am Eingang der Stadt gegenüberstand, die Hände an den Pistolen, alle Sinne hellwach, das Hirn auf eine Schießscharte reduziert. Sie stellte sich den Tabernakel vor, aus dem einer der beiden Männer in diesem Moment die letzten Augenblicke eines ganzen Lebens hervorgeholt hatte, und sie sagte, etwas so Heiliges habe sie mit diesem Mann nicht erlebt, nicht einmal, als sie ihn entjungfert oder seinen Sohn geboren oder ihm den Vater begraben und seinen Bart mit Erde und Spucke bedeckt hatte. Sie beharrte sehr entschieden auf diesem Punkt und sagte zuletzt noch: Wer einen Mann tötet, vermischt sich für immer mit ihm.

Ich sagte, sie solle mich in Ruhe lassen und ihren Mann in den Gesichtszügen ihrer Kinder, in der Farbe ihrer Stimmen suchen gehen. Sie war zwanzig Jahre alt.

Das Jahr der großen Kälte

Das Jahr der großen Kälte war mein sechzehntes Lebensjahr. Im Herbst hatte es noch kaum Anzeichen für einen solchen Winter gegeben. Doch im Januar stürzte die Temperatur ab, als hätte sie jemand fallen gelassen. Sie fiel und hielt nicht an. Dann blieb sie stehen und bewegte sich nicht mehr. Die Sonne kam heraus, und nichts änderte sich. Die Nacht brach herein, und nichts änderte sich. Die Erde hatte angehalten – in der Umdrehung, die wir kannten, hatte sich etwas verklemmt, und das war in dem Moment geschehen, als das Wasser in der Tasse gefror, die Flüsse zu Glas wurden, ohne Strömung, die Tiere sich auf die Seite fallen ließen, alle Farben weiß waren.