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Auf geht’s in die Karibik! Oder man strandet halt in Bayern ...
Für Lucy steht unvermittelt die Welt Kopf: Ihre beste Freundin zieht ans andere Ende der Republik, und Lucy hat einen Grund zu befürchten, dass sie ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erlebt. Sie beschließt, sich einen Traum zu erfüllen und in die Karibik zu reisen. Doch vor der Abfahrt passiert ein Unfall. Anstatt mit Schweinen im Meer zu schwimmen, hängt sie mit Gipsbein und Halskrause bei ihrem Onkel und dem jungen Koch Matteo in einer Kneipe auf dem Land fest. Matteo überrascht sie mit einem Urlaub der besonderen Art und Lucy erkennt, dass Mut dem Schicksal ein Schnippchen schlagen kann …
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Seitenzahl: 353
Veröffentlichungsjahr: 2025
Autorin
Angelika Schwarzhuber lebt mit ihrer Familie in einer kleinen Stadt an der Donau. Sie arbeitet auch als erfolgreiche Drehbuchautorin für Kino und TV, unter anderem für das mehrfach mit renommierten Preisen ausgezeichnete Drama »Eine unerhörte Frau«. Zum Schreiben lebt sie gern auf dem Land, träumt aber davon, irgendwann einmal die ganze Welt zu bereisen.
Von Angelika Schwarzhuber ebenfalls bei Blanvalet erschienen:
Liebesschmarrn und Erdbeerblues · Hochzeitsstrudel und Zwetschgenglück · Servus heißt vergiss mich nicht · Der Weihnachtswald · Barfuß im Sommerregen · Das Weihnachtswunder · Ziemlich hitzige Zeiten · Das Weihnachtslied · Ziemlich turbulente Zeiten · Das Weihnachtsherz · Ziemlich runde Zeiten · Die Weihnachtsfamilie · Ziemlich bunte Zeiten · Die Weihnachtsüberraschung · Dich schaff ich auch noch
Buch
Für Lucy steht unvermittelt die Welt Kopf: Sie hat einen Grund zu befürchten, dass sie ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erlebt. Und dann zieht auch noch ihre beste Freundin ans andere Ende der Republik. Sie beschließt, sich einen Traum zu erfüllen und in die Karibik zu reisen. Doch vor der Abfahrt passiert ein Unfall. Anstatt mit Schweinen im Meer zu schwimmen, hängt sie mit Gipsbein und Halskrause bei ihrem Onkel und dem jungen Koch Matteo in einer Kneipe auf dem Land fest. Matteo überrascht sie mit einem Urlaub der besonderen Art, und Lucy erkennt, dass Mut dem Schicksal ein Schnippchen schlagen kann …
Angelika Schwarzhuber
Fast ein Urlaubs-Roman
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Copyright © 2025
by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Alexandra Baisch
© Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung einer Illustration von Max Meinzold
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
LH · Herstellung: DiMo
ISBN 978-3-641-31039-4V001
www.blanvalet.de
Für die Retter der Kulturkneipe »Zum Haber« und für Sandra, die gute Seele des Hauses. Und vor allem für Helmut, mit dem alles begann.
»Lucy, es gibt eine Programmänderung!«, rief Jacky und wechselte so abrupt die Spur, dass der Fahrer des Wagens hinter uns wütend hupte.
Ich zuckte zusammen.
»Was … was meinst du damit?«, stotterte ich erschrocken und umklammerte vorsichtshalber den Griff der Beifahrertür.
Doch meine beste Freundin grinste nur und schaltete schwungvoll in den nächsten Gang, was ihr aber erst beim zweiten Versuch so richtig gelang und dem Getriebe unangenehme Geräusche entlockte. Jacky, die eigentlich Jacqueline hieß, hatte erst sehr spät beschlossen, den Führerschein zu machen, und ihn vor zwei Wochen im dritten Anlauf schließlich bestanden. Leider war Jacky etwa genauso talentiert am Steuer, wie ich singen oder irgendein Instrument spielen konnte. Also grottenschlecht bis unterirdisch. In meinem Fall konnte ich keine musikalischen Fortschritte mehr erwarten. Doch es war schwer zu hoffen, dass sich bei ihr mit zunehmender Praxis zumindest eine deutliche Verbesserung erkennen lassen würde. Noch war es allerdings nicht so weit, und ehrlich gesagt wäre ich die zwei Stationen zu meiner Lieblingspizzeria viel lieber mit der Straßenbahn gefahren. Doch Jacky hatte darauf bestanden, mich in ihrem nigelnagelneuen VW Polo abzuholen. »Schließlich hast du heute Geburtstag!«
Ich hatte keine Chance gehabt, ihr das auszureden.
»Wo fährst du denn hin?«
Jacky zuckte mit den Schultern, während sie Gas gab, um noch rasch bei gelb über die vielbefahrene Kreuzung zu düsen.
Mir stockte der Atem. Doch Jacky schaffte es. Gerade noch.
»Geht es vielleicht ein kleines bisschen langsamer?«, bat ich leise. Schließlich wollte ich die Fahranfängerin nicht verunsichern oder verärgern, schon gar nicht, solange ich noch im Wagen saß. »Es soll heute ja nicht der letzte Geburtstag sein, den ich erlebe«, fügte ich bemüht scherzhaft hinzu.
»Keine Sorge, Lucy. Das wird ganz bestimmt nicht dein letzter sein«, beteuerte sie.
So sicher wie sie war ich mir da im Moment allerdings nicht.
»Gleich stoßen wir mit Prosecco auf deinen 29. an.«
»Ach ja? Und wo werden wir das tun?«
»Lass dich überraschen.«
Ich hasse Überraschungen!
»Überraschung!«
Fünfzehn Minuten später prosteten mir sechs Leute mit einem fröhlichen Grinsen im Gesicht zu und stimmten ein Geburtstagslied an. Die Hälfte der Gäste am Biertisch waren Kolleginnen von Jacky und mir aus der Steuer- und Rechtsanwaltskanzlei Glück & Finke, in der wir als Fachangestellte beschäftigt waren. Dann war da noch Jackys Tante Karin, in deren mit Girlanden und Luftballons geschmückter Doppelgarage die Überraschungsfeier stattfand, ihr Lebensgefährte Tobias und ein mir völlig unbekannter attraktiver Typ, der als Einziger einen Bierkrug in der Hand hielt. Offenbar stand er nicht so auf Prosecco.
»Wow!«, rief ich, als das Lied zu Ende war. »Das ist ja, also … wirklich eine Überraschung!«
Eine, auf die ich gern verzichtet hätte.
Jacky umarmte mich und drückte mich fest an sich.
»Ich hoffe, du freust dich, Lucy!«
»Klar«, log ich. Schließlich wollte ich ihr und den anderen den Spaß nicht verderben. Doch die Wahrheit war, ich hasste Überraschungen genauso wie Geburtstagsfeiern. Gerade deswegen hatte ich mich auf einen gemütlichen Abend nur mit Jacky in der Pizzeria gefreut. Eigentlich wusste Jacky das auch, und ich war gelinde gesagt irritiert darüber, dass sie trotzdem eine solche Aktion geplant hatte. Darüber würden wir noch reden müssen. Später.
Als wir uns voneinander lösten, waren meine Kolleginnen aufgestanden und gratulierten mir ebenfalls mit Umarmungen, Luftschlangen und einem gemeinsamen Geschenk. Sie hatten sich etwas vermeintlich ziemlich Originelles einfallen lassen. Ich holte einen Mini Airfryer aus dem Karton, passend für den kleinsten Single-Haushalt, also auch für meine Mini-Wohnung.
»Den Tipp haben sie von mir«, meinte Jacky. »Weil du doch meine luftfrittierten Austernpilze so gerne magst.«
»Die bekommt aber niemand so gut hin wie du! Also lasse ich mich lieber weiterhin von dir bekochen«, erklärte ich.
Kurzzeitig rutschte Jacky das Lächeln aus dem Gesicht. Doch der Moment war so schnell vorüber, dass ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet.
»Ja, äh, klar«, sagte sie rasch und griff dann nach der Hand des mir unbekannten Gastes, der inzwischen neben sie getreten war. Er trug eine eng sitzende Jeans und ein schwarzes Muscle-Shirt, das seinen durchtrainierten Oberkörper ziemlich gut in Szene setzte.
»Lucy, da ist jemand, den ich dir vorstellen möchte.« Jackys Wangen hatten sich gerötet.
Plötzlich war ich alarmiert. »Doch nicht etwa einen Stripper?!«, rutschte es mir heraus. Keine Ahnung, auf was für verrückte Ideen Jacky und meine Kolleginnen neben der Überraschungsparty noch gekommen waren.
»Stripper?« Der Mann zog amüsiert die etwas buschigen Augenbrauen hoch.
»Also bitte, als ob ich einen Stripper engagieren würde«, protestierte Jacky. »Das … das ist Sven!«
Sven?
»Yep. Auch von mir: Alles Gute zum Geburtstag!« Er griff nach meiner Hand und schüttelte sie fest. Etwas zu fest für meinen Geschmack. »Freut mich, dass wir uns endlich kennenlernen.«
»Danke, äh, Sven.« Ich wandte mich etwas verdattert an Jacky und senkte meine Stimme. »Du meinst aber ganz sicher nicht diesen Tinder-Sven, den du …«
»Na ja, doch!«, unterbrach sie mich. Ihr Wangen hatten sich noch intensiver gerötet, und sie lachte ein wenig verlegen.
Jacky hatte Tinder-Sven vor fünf Monaten während eines Fortbildungskurses in unserer Zweigstelle in Hamburg auf der gleichnamigen Online-Dating-Plattform kennengelernt und sich spontan mit ihm getroffen.
»Aber ich dachte, du wolltest dich nicht mehr …«
Jacky bedeutete mir mit einem heftigen Kopfschütteln, nicht weiterzusprechen. Und sicherlich wäre es auch nicht sonderlich schmeichelhaft für Tinder-Sven, zu erfahren, dass Jacky ihre Begegnung als eine Vollkatastrophe bezeichnet hatte. Mehr noch. Als einen peinlichen Totalausfall – wie immer man das deuten mochte. Das Erlebnis damals war offenbar so unangenehm für sie gewesen, dass sie mir noch nicht einmal ein Foto von ihm gezeigt hatte. Umso weniger verstand ich, wieso ausgerechnet dieser Typ jetzt hier neben ihr stand.
»Ich hab noch eine Überraschung für dich, meine liebe Lucy!«, rief sie, offenbar in dem Versuch, mich von ihm abzulenken, und klang ein klein wenig überdreht.
Habe ich schon mal erwähnt, dass ich Überraschungen hasse?
»Warte kurz!«
Sie verschwand durch die hintere Garagentür ins Haus. Tinder-Sven sah ihr verzückt hinterher, die hellblauen Augen auf ihr knackiges Hinterteil gerichtet.
»Jacqueline ist toll, nicht wahr?«, schwärmte er mit einem Seufzer, und jetzt registrierte ich auch seinen Hamburger Dialekt.
»Äh, ja. Das ist sie.«
Wenn sie nicht gerade irgendwelche blöden Überraschungen für mich ausheckt. Denn auch bezüglich Tinder-Sven würde sie mir einiges erklären müssen.
Es dauerte keine Minute, bis die Tür sich wieder öffnete und ein Kopf in der Garage erschien.
Brad Pitt? Die Überraschung war Brad Pitt? Er war es tatsächlich. Seine offenen Haare fielen über die Schultern auf ein elfenbeinfarbenes, schon etwas vergilbtes Leinenhemd mit Rüschen. Der Blick aus den faszinierend grünen Augen in dem bleichen schönen Gesicht war magisch.
»Auch er wünscht dir alles Gute zum Geburtstag!«, rief Jacky vergnügt und stellte den lebensgroßen Pappaufsteller vor mir auf: Brad Pitt in der Rolle des traurig-schaurigen Louis de Pointe du Lac in dem Filmklassiker der 90er Jahre: Interview mit einem Vampir.
Die anderen applaudierten und lachten – und ich musste nun doch grinsen.
»Der wird ab jetzt bei dir wohnen.«
»Du bist so eine verrückte Nudel, Jacky! Aber danke!« Ich fiel ihr um den Hals und umarmte sie.
»Ich weiß ja, wie sehr du auf das ganze Vampirzeugs stehst«, murmelte sie und löste sich wieder von mir.
Es stimmte. Das hatte schon in meiner Kindheit mit Büchern wie Der kleine Vampir von Angela Sommer-Bodenburg angefangen und war später mit der Twilight Saga von Stephenie Meyer und den Dracula-Filmklassikern mit Christopher Lee weitergegangen. Vor allem aber hatte es mir Brad Pitt als melancholischer Unsterblicher angetan. Keine Ahnung, wie oft ich diesen Film – oder andere, in denen der Schauspieler mitgespielt hatte – in den letzten Jahren angesehen hatte. Dennoch wäre ich nie auf die Idee gekommen, mir so einen Pappaufsteller zu kaufen. Trotzdem war es ein besonderes Geschenk, über das ich mich wirklich freute.
Jacky und ihre verrückten Ideen!
»Hach, Brad Pitt«, murmelte Karin mit einem verträumten Seufzer und schob ihre randlose Brille ein Stück nach oben. »Von dem würde ich mich auch beißen lassen.«
Zwei Kolleginnen nickten, während Karins Freund sie mit einem gutmütigen Kopfschütteln angrinste. Tobias nahm die Schwärmerei offenbar nicht sonderlich ernst. Im Gegensatz zu Tinder-Sven.
»Ich krieg das echt nicht in meinen Kopf, dass so viele Mädels auf diesen Typen stehen. Außerdem ist der inzwischen doch schon uralt«, warf er ein und erntete dafür einige böse Blicke, vor allem von Karin.
»Von wegen uralt …«, protestierte Jackys Tante empört, die kaum jünger als der Hollywood-Schauspieler war.
»Jedenfalls freue ich mich über eure Geschenke«, warf ich ein, damit diese Kontroverse hier nicht noch in einer ausufernden Diskussion endete. Ich hasste nämlich nicht nur Überraschungen, sondern auch Streitereien. Die ganz besonders.
»Ich kann das nicht so einfach …«, wollte Karin nicht lockerlassen, doch in diesem Moment wurde das Essen angeliefert. Und zu meiner Freude stammten die Pizzen von meinem Lieblingsitaliener.
Zwei Stunden später legte Tobias Musik auf, und es wurde ausgelassen getanzt. Wenigstens hatten die Gäste auf meiner Party Spaß. Ich saß mit meinem dritten Prosecco am Biertisch und sah zu, wie sich alle vergnügten. Tanzen war leider überhaupt nicht mein Ding.
Ich spürte, wie mein Handy in der Hosentasche vibrierte, und holte es heraus.
»Hey, Onkel Mike … Moment, ich geh nur kurz raus, hier ist es so laut«, rief ich und verließ die Garage.
Onkel Mike war der Bruder meiner bereits verstorbenen Mutter und mein einziger noch lebender naher Verwandter, zumindest der einzige, von dem ich wusste. Ich hatte nämlich keinen blassen Schimmer, wer mein Vater war. Mein Erzeuger war ein One-Night-Stand meiner Mutter auf dem Oktoberfest gewesen. Nach Mamas Tod, nur wenige Tage vor meinem 14. Geburtstag, wuchs ich im Dachgeschosszimmer in der Wohnung über Onkel Mikes Kulturkneipe »Zum Denker« auf. Denker war sowohl sein wie auch mein Familienname, da meine Mutter nie geheiratet hatte.
»Alles Gute zum Geburtstag, meine Kleine«, gratulierte er mir vergnügt.
»Danke, Onkel Mike!«, sagte ich, während der Wind mir eine Haarsträhne ins Gesicht blies. Für fast Mitte Juni war es ziemlich kühl und regnerisch, und man konnte die langen hellen Abende kurz vor der Sommersonnwende leider nicht im Freien genießen.
»Tut mir leid, dass ich mich heute nicht schon früher gemeldet habe. Aber es war wieder mal so viel los …«
»Kein Ding. Offiziell dauert mein Geburtstag ja noch eine Stunde und zwanzig Minuten, also ist es noch nicht zu spät«, witzelte ich.
»Das ist auch wieder wahr … So wie sich das eben angehört hat, bist du am Feiern?«
»Eine kleine Überraschungsparty. Jacky hat das organisiert. Schließlich wird man nicht alle Tage 29, hat sie gemeint.«
Er lachte.
»Gute Idee von Jacky. Ich hatte mich schon ein wenig gewundert, weil du ja sonst mit Partys eher nicht so viel am Hut hast.«
»Ach, das ist schon okay!«, beteuerte ich.
Er sollte unbedingt denken, dass ich Spaß hatte. Ich wusste, wie wichtig es ihm war, dass es mir gut ging.
»Das freut mich. Und nächstes Jahr feiern wir deinen runden Geburtstag hier bei mir in der Kneipe. Mit Live-Musik und allem, was dazugehört.«
»Klar«, antwortete ich. Wobei ich einen ganz anderen Plan für diesen Tag hatte, von dem ich ihm bei Gelegenheit in Ruhe erzählen würde. Meinen 30. Geburtstag wollte ich irgendwo am Meer in der Südsee oder Karibik verbringen – so hatte ich mir das immer schon vorgestellt, es aber noch nie jemandem gesagt. In einem Liegestuhl, einen riesigen Tequila Sunrise in der Hand, die Zehen im Sand vergraben. Im besten Fall mit Jacky – oder vielleicht sogar mit einem neuen Partner an meiner Seite? Wer weiß? In einem Jahr konnte sich viel ändern.
»Aber jetzt halte ich dich nicht länger auf, Lucy«, riss er mich aus meinen Gedanken. »Und dein Geschenk kriegst du wie immer …«
»… bei meinem nächsten Besuch bei dir«, unterbrach ich ihn und beendete den Satz. »Vielleicht schaffe ich es an einem der nächsten Wochenenden.«
»Das würde super passen. Also, bis dann, meine Kleine!«
»Ciao, Onkel Mike.«
Als ich zurück in die Garage kam, schallte mir der Gute-Laune-Hit Wannabe der Spice Girls entgegen. Karin, Tobias und zwei meiner Kolleginnen sangen lauthals mit. Genauso wie Jacky, die auf mich zutänzelte, meine Hand ergriff und mich auf die kleine improvisierte Tanzfläche ziehen wollte.
»Komm!«
»Bitte, Jacky, du weißt doch, dass ich nicht tanzen mag«, protestierte ich.
»Jetzt stell dich doch nicht so an, Lucy! Du musst auch mal ein bisschen aus dir rausgehen! Das macht echt Spaß!«
Mir war klar, dass sie es nur gut meinte. Jacky meinte es immer nur gut. Trotzdem stieg leise Wut in mir hoch.
»Warum tust du das?«, platzte es schließlich aus mir heraus. Und da sie meine Hand immer noch festhielt, zog ich sie mit nach draußen in den Hinterhof. Inzwischen hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt, aber das war mir im Moment egal.
»Lucy, ich …« Sie sprach nicht weiter.
»Du kennst mich schon seit fast neun Jahren, und als meine beste Freundin weißt du doch ganz genau, dass ich nicht auf so was stehe. Eine Überraschungsparty für mich? Tanzen? Echt jetzt? Und dann taucht auch noch dieser Tinder-Sven hier auf?«
»Musst du ihn so nennen?«
»Was macht der hier? Ich dachte, den wolltest du nach der ätzenden Nacht in Hamburg nie wieder treffen. Was soll das alles, Lucy? Ich verstehe das nicht.«
Der Blick aus ihren hellbraunen Augen wirkte hilflos, und das schlechte Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben. So kannte ich sie gar nicht.
Plötzlich machte sich ein mulmiges Gefühl in mir breit. Irgendwas war hier im Busch, und instinktiv war mir klar, dass es mir nicht gefallen würde.
»Eigentlich wollte ich es dir erst morgen sagen. Nicht ausgerechnet an deinem Geburtstag«, begann sie schließlich zerknirscht und strich sich fahrig eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr.
Das hörte sich tatsächlich schon mal gar nicht gut an.
»Sven und ich – weißt du, das war alles ein wenig verrückt. Klar, diese schräge Nacht war ein Reinfall, aber dann hat er sich zwei Wochen später noch mal bei mir gemeldet, um sich zu entschuldigen, und …« Jacky schien nach den passenden Worten zu suchen. »Also, es war das erste Mal, dass er sich auf so ein spontanes Date eingelassen hat, und deswegen hat das Ganze auch so peinlich geendet. Darüber war er ziemlich unglücklich. Wir haben lange telefoniert und gemerkt, dass wir uns eigentlich doch ziemlich gut verstehen und vieles gemeinsam haben. Und wir sind in Kontakt geblieben. Bei meiner zweiten Fortbildung in Hamburg vor sechs Wochen haben wir uns wiedergetroffen. Und … und da lief dann alles ganz anders. Es … es war schön – sogar ziemlich schön.« Ihre Wangen waren inzwischen knallrot. »Seitdem telefonieren und schreiben wir uns täglich. Und jetzt bleibt er ein paar Tage bei mir in München, und nun ja … er ist eben hier und … irgendwie gehört er zu mir.«
Das ist es also!
»Aha. Und warum hast du mir das alles nicht einfach schon längst erzählt?«, fragte ich, ein wenig angefressen über ihr mangelndes Vertrauen.
»So abfällig, wie ich damals über ihn gesprochen habe, war mir das echt peinlich. Ich wusste ja nicht, ob wirklich was draus werden könnte.«
»Aber jetzt weißt du doch schon seit mindestens sechs Wochen, dass es offenbar ganz gut mit ihm läuft. Und da bist du nie auf die Idee gekommen, mir das vielleicht mal zu erzählen?« Ungläubig sah ich sie an. »Ich weiß immer, welches Buch du gerade liest, wie oft du mit deinen Eltern quatschst, wann genau du deine Tage hast oder wann das Baby deiner Nachbarin in der Nacht geschrien hat – aber das mit diesem Typen konntest du mir nicht sagen?«
Der Regen war inzwischen stärker geworden, doch keine von uns machte Anstalten, ins Trockene zu gehen.
»Weil es eigentlich um etwas völlig anderes geht, Lucy, Sven dabei jetzt aber mehr oder weniger zufällig auch eine Rolle spielt«, rief sie kryptisch, fast schon verzweifelt, und meine Verwirrung wurde nur noch größer.
»Um was anderes? Wie meinst du das? Jetzt sag schon endlich!«, forderte ich sie auf.
Sie atmete tief durch, so, als ob sie Anlauf nehmen würde.
»Lucy … Es ist so … während der Fortbildung in der Zweigstelle in Hamburg ist die Geschäftsführerin auf mich aufmerksam geworden.«
»Frau Finke?«
»Genau. Sie hat mir ein Superangebot gemacht. Sie möchte unbedingt, dass ich den frei gewordenen Job als ihre persönliche Assistentin übernehme.«
»Was? Aber … aber das wirst du doch nicht machen, oder?«
Sie sagte nichts. Ihr Blick war Antwort genug.
»Du … du gehst nach Hamburg, Jacky?«, fragte ich fassungslos.
Sie nickte.
»Ich wusste die ganze Zeit nicht, wie ich dir das beibringen soll«, platzte es aus ihr heraus. »Deswegen habe ich fast gar nichts mehr erzählt, was irgendwie mit Hamburg zu tun hatte. Auch nicht das mit Sven. Damit ich mich nicht versehentlich verplappere. Niemand aus der Firma weiß bisher davon. Aber das ist eine ganz tolle Gelegenheit für mich. Das verstehst du doch, oder?«
Ich versuchte zu schlucken, doch meine Kehle war wie zugeschnürt. Meine beste Freundin würde ans andere Ende der Republik ziehen. Ohne mich!
»Bitte sag doch was, Lucy!«, bat Jacky eindringlich.
»Wann fängst du an?«, fragte ich leise.
»Am 1. Juli. Tatsächlich kann ich aber schon Ende nächster Woche Sachen in die möblierte Wohnung bringen, die mir die Kanzlei zur Verfügung stellt. Sven wird mir beim Umzug helfen. Für das WG-Zimmer in meiner jetzigen Wohnung habe ich auch schon eine Nachmieterin gefunden.«
Ich nickte nur und kämpfte mit den Tränen. Das ging alles so schnell. Viel zu schnell für mich.
»Insgeheim ist das heute also wohl eher deine Abschiedsfeier und nicht meine Geburtstagsparty, nicht wahr?«, fragte ich heiser.
Endlich hatte ich eine Erklärung für alles, auch wenn sie mir nicht sonderlich gefiel.
Sie sah mich unglücklich an. Ihre Tränen vermischten sich mit den Regentropfen auf ihren Wangen.
»Kann sein«, gab sie leise zu. »Aber den anderen sag ich es erst morgen. Bitte sei mir nicht böse, Lucy. Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht. Aber das ist echt eine große Chance für mich. Und ich bin mit Sven inzwischen so verdammt glücklich.«
Solche Worte hatte ich tatsächlich noch nie aus ihrem Mund gehört.
»Ich bin dir nicht böse.«
Nur enttäuscht, dass du mir das alles nicht eher gesagt hast. Trotzdem konnte ich es irgendwie verstehen. Mir wäre es an ihrer Stelle wahrscheinlich ebenfalls schwergefallen.
Man muss gönnen können, hörte ich in Gedanken Onkel Mike sagen.
Und auch wenn ich sie furchtbar vermissen würde, so neidete ich ihr weder den Job noch das Glück mit Tinder-Sven, falls es denn tatsächlich anhalten sollte. Schließlich war sie meine beste Freundin. Und der wünschte ich alles Glück der Welt.
»Ich freue mich für dich, Jacky. Wirklich«, beteuerte ich und strich eine nasse Haarsträhne hinter mein Ohr. »Das kommt nur alles ein bisschen plötzlich.«
»Ach, Lucy!«
Wir fielen uns in die Arme, und sie drückte mich ganz fest.
»Du wirst mir trotzdem schrecklich fehlen!«
»Du mir auch. Aber vielleicht wird in Hamburg ja über kurz oder lang noch eine weitere Stelle in der Kanzlei frei. Dann könntest du nachkommen, Lucy! Stell dir vor, wie toll das wäre, so nah am Meer zu leben. Das würde dir doch bestimmt auch total gut gefallen.«
»Mal sehen.« Die Vorstellung war eigentlich verlockend. Ich löste mich von ihr. »Und jetzt lass uns reingehen, bevor wir beide uns noch eine Lungenentzündung holen.«
Als wir wieder zurück zur Party kamen, lief gerade der Rolling-Stones-Song Sympathy for the Devil in der Version von Guns N’Roses aus der legendären Schlussszene von Interview mit einem Vampir. Karin hatte sich die Pappfigur geschnappt und tanzte ausgelassen mit Brad Pitt durch die Garage.
»Ihr seid ja pitschnass!«, rief Tinder-Sven und reichte Jacky und mir je eine Küchenrolle, damit wir uns notdürftig trocken tupfen konnten. Zum Glück war es in der Garage ziemlich warm.
Ich versuchte immer noch, die Tatsache zu verdauen, dass Jacky bald nicht mehr in München sein würde und dass sie nun einen festen Freund hatte, mit dem sie sich in Hamburg ein neues Leben aufbauen wollte. Das würde dann ja auch heißen, dass damit unsere gemeinsamen Serienabende, endlose Plauderstunden in ihrer WG-Küche, während Jacky für uns kochte, die Joggingrunden im Englischen Garten oder unser Kinoabend einmal im Monat Geschichte waren – und das mochte ich mir kaum vorstellen. Und nachdem meine letzte Beziehung nicht einmal die Dauer eines Steuerquartals überstanden hatte und derzeit kein neuer Freund in Sicht war, würde mein Leben ohne Jacky in meiner Nähe in absehbarer Zeit wohl ziemlich einsam sein.
Traurig ging ich zum Kühlschrank und wollte schon nach der offenen Weinflasche greifen, doch dann fiel mein Blick auf den Himbeergeist. Kurz entschlossen schenkte ich mir ein doppeltes Stamperl ein und kippte den Schnaps hinunter. Er brannte wie Feuer in meiner Kehle. Keuchend schnappte ich nach Luft und verzichtete mit tränenden Augen auf ein weiteres Glas. Mein Handy meldete eine Text-Nachricht. Lisa, eine ehemalige Schulfreundin aus Niederbayern, gratulierte mir auf den letzten Drücker. Es war zwei Minuten vor Mitternacht, und ich war froh, dass mein unrunder Geburtstag gleich zu Ende sein würde.
Es war kurz nach zwei Uhr nachts, als ich, den Karton mit dem Mini Airfryer unter dem Arm, aus dem Taxi stieg. Jacky hatte ihren Wagen bei ihrer Tante Karin stehen lassen. Sie schob Brad Pitt, den wir vorher nur unter Mühen ins Taxi bekommen hatten, mit den Beinen voran zu mir auf den Bürgersteig.
»Danke euch noch mal – und gute Nacht.«
»Gute Nacht, Lucy. Bis morgen im Büro!«, rief Jacky. Sie und ihr neuer Freund winkten mir noch einmal zu, bevor das Taxi losfuhr. Zum Glück hatte es inzwischen aufgehört zu regnen, doch es war ziemlich windig und meine Kleidung war immer noch etwas klamm. Mich fröstelte. Ich sehnte mich nach einer heißen Dusche und meinem kuscheligen Schlafanzug. Vorsichtig stellte ich Brad Pitt neben der Haustür ab und fischte in der Tasche nach dem Schlüssel. Ein plötzlicher Windstoß hätte die Pappfigur fast umgerissen, und ich konnte sie gerade noch vor dem Sturz in eine dreckige Pfütze retten.
»Jetzt kommst du gleich in dein neues Zuhause, mein lieber Brad«, keuchte ich leise mit leichtem Zungenschlag, während ich ihn und den Karton kurz darauf in den vierten Stock schleppte.
Als ich endlich oben war, schloss ich die Tür zu meiner Wohnung auf, stellte den Airfryer in der Küche ab und brachte Jackys lebensgroßes Geschenk ins Schlafzimmer. Obwohl ich hier wirklich nur die unbedingt nötigen Möbel hatte, war es trotzdem so eng, dass ich den Kleiderschrank morgens beim Aufstehen buchstäblich direkt vor der Nase hatte. Kurzerhand warf ich Brad auf die linke Seite meines 140 Zentimeter breiten Bettes.
»Heute schläfst du hier bei mir, und morgen suchen wir ein besseres Plätzchen für dich. Einen Sarg kann ich dir zwar leider nicht anbieten«, bei der Vorstellung musste ich kurz kichern, »aber solange ich dich nicht anzünde, wirst du auch im Sonnenlicht nicht zu Asche zerfallen, nicht wahr, Brad?«, witzelte ich. »Oder soll ich besser Louis zu dir sagen?«, überlegte ich laut und schüttelte dann den Kopf über mich selbst. Jetzt redete ich schon mit einer Pappfigur! Aber nachdem Jacky München bald den Rücken kehrte, würde er in einsamen Stunden wohl noch öfter mein Ansprechpartner sein. Vermutlich hatte sie ihn mir genau deswegen auch geschenkt. Ich versuchte, den Gedanken an Jacky zu verdrängen. Wir würden die Entfernung schon irgendwie überwinden und zukünftig einfach viel mehr telefonieren und per Video quatschen. Das würden wir schon hinbekommen. Zudem arbeiteten wir beide immer noch in derselben Kanzlei, wenn auch zukünftig in verschiedenen Zweigstellen. Und vielleicht ergab sich ja tatsächlich eine Möglichkeit, mich beruflich ebenfalls nach Hamburg zu orientieren. Wir würden uns jedenfalls nicht aus den Augen verlieren.
Ich zog mich aus, ging mit einem frischen Schlafanzug ins Bad und stellte mich unter die Dusche. Das heiße Wasser prasselte auf meinen Kopf, war angenehm warm. Hoffentlich hatte ich mir in den nassen Klamotten heute keine Erkältung eingefangen! Das wäre die Krönung für diesen bescheuerten Tag, den ich mir noch heute Morgen ganz anders vorgestellt hatte.
Ich gönnte mir einen Klecks des sündhaft teuren Duschgels, das ich mir ab und zu leistete, und rieb meinen Körper damit ein. Der sinnliche Duft stieg in meine Nase, und ich seufzte wohlig. Bei meiner linken Brust angelangt, spürte ich plötzlich etwas. Was war das denn? Ich erschrak. Doch nicht etwa – mein Herz schlug plötzlich schneller: Nein! Das konnte doch nicht sein, oder? Ich strich noch einmal über die Stelle, drückte leicht und erstarrte. Tatsächlich – ein kleiner Knubbel. Meine Beine begannen zu zittern, gleichzeitig erstarrte mein restlicher Körper, und ich war nicht fähig, den Wasserhahn abzudrehen, geschweige denn aus der engen Duschkabine zu steigen. Das, wovor ich mich am meisten gefürchtet hatte und das schon so viele Jahre wie eine bedrohliche schwarze Wolke über mir schwebte, war tatsächlich eingetreten. Nun hatte es also auch mich erwischt. Genau wie meine Mutter. Schreckliche Erinnerungen von damals schossen mir durch den Kopf, und ich schloss die Augen. Als ob ich die Bilder dadurch vertreiben könnte. Eigentlich war es keine Überraschung, denn ich hatte es die ganze Zeit befürchtet. Trotzdem war da immer diese Hoffnung gewesen, dass ich vielleicht doch davonkommen könnte, oder es erst viele Jahre später passieren würde, ich war ja noch so jung. Diese Hoffnung rann nun zusammen mit dem schaumigen Wasser den Abfluss hinunter.
Die schreckliche Krönung eines fucking Scheißtages!
Ich wusste nicht, wie lange ich so dastand. Erst als nur noch kaltes Wasser aus der Dusche kam und nicht mehr nur meine Beine zitterten, schaffte ich es, den Hahn abzudrehen und nach dem Handtuch zu greifen. Wie ein Automat trocknete ich mich ab, zog den Schlafanzug an und legte mich neben den Vampir ins Bett.
Als ich am nächsten Morgen aufstand, hatte ich eine Horrornacht hinter mir und kaum eine Sekunde geschlafen. Ich schrieb eine Mail an die Kanzlei und meldete mich krank. Vermutlich würden alle denken, ich hätte an meinem Geburtstag etwas zu viel über den Durst getrunken und wäre deswegen verkatert. Das war mir nur recht. Denn in den schrecklichen Stunden, die hinter mir lagen, hatte ich mir geschworen, vorerst niemandem etwas von meiner Befürchtung zu erzählen. Schon gar nicht Jacky. Vor allem ihr nicht. Sie sollte ganz unbeschwert nach Hamburg ziehen und dort mit ihrem Sven glücklich werden.
»Hier spricht Lucy Denker. Kann ich bitte so schnell wie möglich einen Termin bekommen?«, bat ich die medizinische Fachangestellte an der Rezeption meiner Gynäkologin, bei der ich regelmäßig einmal jährlich zur Vorsorge war, eine Stunde später mit kratziger Stimme. Das letzte Mal war ich im Januar dort gewesen.
»Moment, ich schau nach, Frau Denker …« Es dauerte fast eine Minute, bis sie sich wieder meldete. »Frau Denker? Ich könnte Ihnen einen Termin am 9. Oktober um 16.45 Uhr anbieten. Soll ich Sie da eintragen?«
»Am 9. Oktober? Das ist … aber das ist ja erst in vier Monaten! Das ist viel zu spät«, rief ich. »Es ist wirklich … ich also …« Ich konnte es nicht aussprechen. »Wissen Sie, ich habe akute Beschwerden. Ziemlich akute«, sagte ich deswegen nur.
Für einige Sekunden herrschte Stille, und ich dachte schon, sie hätte aufgelegt.
»Okay … Wissen Sie was?«, begann sie dann jedoch. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, womöglich etwas länger zu warten, dann kommen Sie doch heute zum Ende der Sprechstunde gegen 18 Uhr.«
Offenbar hatte die Dringlichkeit in meiner Stimme sie überzeugt.
»Es macht mir nichts aus.«
»Gut. Dann trage ich Sie da ein.«
»Danke.«
»Gern. Wiederhören.«
Ich legte auf und starrte lange auf das Handy, ohne mich zu bewegen. Eine Erleichterung über den baldigen Termin verspürte ich nicht. Ganz im Gegenteil. Es fühlte sich so an, als begänne heute um 18 Uhr ganz offiziell der Anfang meines Endes, und jetzt hatte ich noch mehr Angst.
Schließlich raffte ich mich auf und kochte mit der Bialetti einen starken Espresso, in den ich großzügig heiße Milch goss. Doch schon nach dem ersten Schluck wurde mir so übel, dass ich es gerade noch ins Bad schaffte, wo ich mich übergab.
Verdammte Scheiße!
Zitternd wusch ich mein Gesicht mit kaltem Wasser und starrte mich im Spiegel an. Ich war blass, hatte dunkle Augenringe, und meine immer etwas verwuschelt aussehenden, knapp schulterlangen blonden Naturlocken hatten innerhalb der letzten Stunden jeglichen Glanz verloren. Sie wirkten stumpf, genau wie meine grüngrauen Augen.
Ich werde sterben wie meine Mutter!
Um die Zeit bis zum Termin totzuschlagen – was für eine üble Redewendung für jemanden, der weiß, dass er womöglich nicht mehr lange zu leben hat –, setzte ich mich in die Trambahn und fuhr ziellos durch die Stadt. Nachdem das Wetter tagelang trüb und regnerisch gewesen war, strahlte ausgerechnet heute die Sonne von einem tiefblauen Himmel. Während ich mich mit jeder verstreichenden Minute immer mieser fühlte, präsentierte sich München, entgegen aller Vorhersagen, von seiner besten Seite, als wolle die Stadt mich irgendwie verspotten. Bei der Haltestelle Müllerstraße hielt ich es nicht mehr aus. Ich stürzte aus der Trambahn und wechselte in der Fraunhoferstraße zur U-Bahn. Unter der Stadt war das Wetter draußen egal. Besser fühlte ich mich deswegen aber auch nicht. Es war, als hätte die dunkle Wolke über mir sich nun wie eine eiskalte Decke um mich gelegt.
Die Stunden vergingen wie im Flug, und gleichzeitig fühlte sich der Tag wie eine kleine Ewigkeit an, bis ich schließlich die Praxis meiner Frauenärztin betrat.
Angst schnürte mir die Kehle zu, und ich musste mich mehrmals räuspern, bis ich der Frau an der Rezeption meinen Namen sagen konnte.
»Lucy Denker. Ich sollte um 18 Uhr kommen.«
Ich reichte ihr meine Versichertenkarte.
»Danke. Leider wird es noch eine Weile dauern, Frau Denker.« Sie deutete in Richtung Wartezimmer. »Nehmen Sie doch bitte Platz.«
»Klar.«
Ich setzte mich auf einen bequem aussehenden Stuhl neben dem Fenster, das gekippt war, damit frische Luft hereinkam. Es warteten noch drei weitere Patientinnen. Eine hochgewachsene ältere Dame in einem eleganten Hosenanzug und pfiffiger grauer Kurzhaarfrisur. Eine schwangere Frau etwa in meinem Alter, die beide Hände auf ihren runden Bauch gelegt hatte und versonnen vor sich hin lächelte. Die dritte Patientin trug ein Kopftuch mit buntem Blumenmuster. Sie wirkte blass und hatte dunkle Augenringe. Da ihr die Augenbrauen und Wimpern komplett fehlten, ging ich davon aus, dass sie das Kopftuch trug, um den Haarausfall durch eine Chemo zu verbergen. Genau wie damals meine Mutter. Und mir wird genau das Gleiche blühen.
Vor Furcht raste mein Herz. Rasch holte ich das Handy aus der Tasche, um mich abzulenken. Jacky hatte mehrmals versucht, mich zu erreichen. Doch ich schaffte es noch nicht, mit ihr zu sprechen. Sie würde mir sofort anmerken, dass etwas mit mir nicht stimmte. Deswegen tippte ich nur eine Nachricht, in der ich die Wahrheit ein wenig zurechtbog.
Sorry, Jacky. Fühl mich immer noch nicht so gut. Ich geh heute früh schlafen. Melde mich morgen bei dir. Bussi – Küssendes Smiley.
Es dauerte keine Minute, bis sie zurückschrieb.
Wirklich? Oder gehst du mir aus dem Weg wegen Hamburg? Bist du mir doch böse deswegen? – Trauriges Smiley.
Ich seufzte leise und tippte:
Bin ich nicht! Das ist eine coole Chance, und ich werde dich oft besuchen kommen – Flugzeug- und Zug-Emojis.
Und ich dich! – Ebenfalls Flugzeug- und Zug-Emojis und ein Herz.
Dann stellte ich mein Handy auf Flugmodus und steckte es wieder in die Tasche.
»Die Nächste bitte!«, rief die Sprechstundenhilfe ins Wartezimmer, und die Schwangere stand umständlich aus dem Stuhl auf und ging lächelnd in Richtung des Sprechzimmers. Die Frau mit dem Kopftuch sah ihr mit einem schmerzlichen Ausdruck im Gesicht hinterher. Es war nicht schwer zu erahnen, was sie bewegte. Und mir wurde mit einem Schlag bewusst, dass wohl auch ich niemals mit einem dicken Schwangerschaftsbauch herumlaufen würde.
»Das dauert ja ganz schön lang heute!«, murmelte die ältere Dame mit einem Blick auf ihre teuer aussehende goldene Armbanduhr.
Ich nickte nur. Die Frau mit dem Kopftuch schwieg. Bald darauf war auch sie an der Reihe.
»Armes Ding. Bestimmt Krebs, oder?«, flüsterte die Grauhaarige in einem mitleidigen Tonfall und sah mich irgendwie komplizenhaft an. So, als ob wir beide zu einer privilegierten Spezies gehörten, weil wir – zumindest ihrer Wahrnehmung nach – nicht das Schicksal dieser armen Frau teilten.
Ganz unvermittelt wurde ich von den unterschiedlichsten Gefühlen überrollt, die ich alle gar nicht richtig zuordnen konnte. Eine Mischung aus Angst, Wut und Hilflosigkeit. Das war alles so unfair. Es konnte jeden treffen, egal wann. So wie diese Frau mit dem Kopftuch. Oder wie meine Mutter. Oder – wie mich!
Plötzlich hielt ich es nicht mehr aus. Verdammt noch mal, was machte ich hier? Die Ärztin würde mir sowieso nur das sagen, was ich bereits wusste. Ich hatte es ja bei meiner Mutter hautnah miterlebt, die verzweifelt einen Arzt nach dem anderen aufgesucht hatte. Und was hatte es ihr am Ende gebracht? Nichts! Nur leidvolle Behandlungen, unzählige Arzttermine und Krankenhausaufenthalte und immer wieder zerstörte Hoffnungen, die alles noch viel schlimmer machten, bis sie schließlich … Nein! Daran konnte und wollte ich jetzt nicht denken. Ich wusste, was auf mich zukam. Nur allzu gut. Mein Schicksal war besiegelt.
Ich griff nach meiner Handtasche und stand auf. Vielleicht hatte ich mit ganz viel Glück noch ein einigermaßen gutes Jahr vor mir. Und das wollte ich nicht damit verbringen, die mitleidigen Blicke in meinem Umfeld zu ertragen und irgendwelche Behandlungen über mich ergehen zu lassen, die mich quälten und mir die Kraft raubten, auch wenn sie mir vielleicht noch ein paar Monate mehr schenkten. Auf diese Monate konnte ich verzichten. Ich hatte weder Mann noch Kinder, für die es sich lohnte, das alles auf mich zu nehmen, um noch ein bisschen mehr Zeit geschenkt zu bekommen. Zeit, die man sich zu einem hohen Preis ohne irgendwelche Garantien erkaufen musste. Ich war nicht bereit, diesen Preis zu zahlen. Bis jetzt ging es mir noch gut. Und solange das der Fall war, wollte ich die Zeit nutzen, um so viel zu erleben wie nur möglich. Das konnte ich ganz sicher nicht, wenn ich allein und völlig geschwächt durch aggressive Therapien und Übelkeit kaum meinen normalen Alltag bewältigen konnte. O nein! Nicht mit mir!
Ohne einen Gruß stürzte ich aus dem Wartezimmer und spürte förmlich den verwunderten Blick der älteren Dame in meinem Rücken.
»Frau Denker, es dauert jetzt nicht mehr lang!«, rief die Mitarbeiterin an der Rezeption mir zu, als ich an ihr vorbeieilte, doch ich schüttelte nur den Kopf und verließ die Praxis.
Nachdem ich das Gebäude verlassen hatte und die Straße an einer grünen Ampel überqueren wollte, spürte ich eine Hand, die mich grob an der Schulter packte und zurückzog.
»Halt!«
In diesem Moment fuhr ein Kleinbus mit hoher Geschwindigkeit direkt vor meiner Nase vorbei. Nur einen Schritt weiter und das Fahrzeug hätte mich voll erwischt.
»Der Irre ist bei Rot durchgefahren! So ein rücksichtsloser Raser!«, rief der attraktive ältere Herr, der mich festgehalten hatte, aufgebracht. »Der hätte Sie fast umgebracht!«
Meine Beine begannen zu zittern.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte er besorgt. »Sie sind ganz blass.«
»Ich … ich bin nur erschrocken. Alles gut. Vielen Dank«, stotterte ich mit kratziger Stimme. »Echt, vielen Dank. Aber ohne Sie wäre ich jetzt wohl tatsächlich …« Ich konnte nicht weitersprechen. Obwohl mir der Schreck in den Gliedern saß, musste ich den verrückten Drang unterdrücken, laut loszulachen.
Der Mann hatte mich soeben vor dem Tod gerettet. Vor genau jenem Tod, der in meiner Phantasie nun auf der anderen Straßenseite an einer Straßenlaterne lehnte und mir frech zuzwinkerte. Schließlich hatte er mich bereits am Wickel und würde mich an einem nicht allzu fernen Tag sowieso einkassieren. War das nicht komplett crazy? Ich schluckte das hysterische Kichern hinunter, das erneut in mir hochstieg.
Gestern um genau diese Zeit hatte ich mich in meiner Wohnung gerade fertig gemacht, um meinen 29. Geburtstag mit Jacky gemütlich in der Pizzeria zu verbringen. Meine Welt war in Ordnung gewesen. Keine vierundzwanzig Stunden später hatte sich alles auf den Kopf gestellt. Meine beste Freundin zog ans andere Ende der Republik, ich wusste nicht, ob ich meinen 30. Geburtstag noch erleben würde, und jetzt wäre ich fast von einem Lieferwagen überfahren worden. Was zur Hölle sollte das alles bitte schön? War ich als Versuchskaninchen in irgendein kosmisches Experiment geraten?
»Es tut mir echt leid, aber ich habe nicht auf das Autokennzeichen geschaut. Den Kerl hätte ich angezeigt. Aber so was von!«, riss der ältere Herr mich aus meinen Gedanken und sah zuerst auf seine Armbanduhr, dann zu mir. »Ich hoffe, es geht Ihnen wirklich gut, junge Frau. Leider muss ich dringend zu einer Verabredung, sonst würde ich noch warten und Ihnen …«
»Es geht mir gut. Wirklich. Lassen Sie sich bitte nicht aufhalten. Und noch mal vielen Dank, Herr …«
»Cornelius … Frank Cornelius.«
»Danke, Herr Cornelius.«
»Gern. Und Ihr Name ist?«
»Lucy. Lucy Denker.«
Er lächelte.
»Bitte passen Sie gut auf sich auf, Lucy Denker. Ja?«
»Werde ich!«, versprach ich, und er machte sich eilig auf den Weg zu seinem Termin.
Ich sah ihm noch eine Weile hinterher und war dem Schicksal dankbar, das dafür gesorgt hatte, dass Frank Cornelius genau zur rechten Zeit hinter mir an der Ampel gestanden hatte, um mich zu retten. Sein Eingreifen hatte mir noch eine Galgenfrist geschenkt. Ich schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Der Vorfall eben verdeutlichte mir noch mehr, wie wichtig es war, die Zeit, die mir noch blieb, gut zu nutzen und soweit es mir möglich war zu genießen und auch nicht ständig daran zu denken, was mich demnächst erwartete. Schließlich hatte ich eben hautnah erlebt, wie schnell alles zu Ende sein konnte, egal ob mit oder ohne Knubbel in der Brust. Noch voller Adrenalin und erfüllt vom Glücksgefühl, dem Tod fürs Erste von der Schippe gesprungen zu sein, wartete ich, bis die Fußgängerampel erneut Grün anzeigte, versicherte mich dieses Mal trotzdem, dass wirklich kein Auto angerauscht kam, ehe ich über die Straße in Richtung U-Bahnstation marschierte.
Auf dem Nachhauseweg machte ich einen Zwischenstopp bei einem kleinen italienischen Laden in der Nähe meiner Wohnung. Ich kaufte zwei Flaschen Prosecco, verschiedene Käsesorten, Parmaschinken und Grissini.
»Gibt es was zu feiern bei Ihnen?«, fragte die Verkäuferin freundlich mit einem neugierigen Lächeln.
»Ja!«, antwortete ich nur. Es gab tatsächlich was zu feiern. Heute, am Freitag, den 13. – gut, dass ich nicht abergläubisch bin –, sollte das Ende der Angst vor meinem Ende beginnen. Zumindest war das mein Plan.
Ein kleines bisschen war mir schon übel und schwindelig, als ich, den Laptop im Schoß, auf dem Zweisitzersofa saß. Vielleicht hätte ich in den letzten Stunden doch etwas mehr essen und weniger Prosecco trinken sollen. Doch obwohl Schinken und Käse köstlich schmeckten, hatte ich kaum einen Bissen herunterbekommen.
»Scheiß drauf«, murmelte ich und schenkte den Rest der Flasche ins Glas. »Auf meine Zeit X, die große Unbekannte!«, murmelte ich Brad Pitt zu, der vor dem Bücherregal stand, und nahm einen weiteren großen Schluck. X – Mathematik war schon seit der 1. Klasse mein Steckenpferd – hatte ich die unbekannte Größe stellvertretend für die Dauer genannt, in der es mir noch weitgehend gut gehen würde. Das konnten Wochen, Monate, im besten Fall noch ein Jahr sein. Diese Zeit würde ich nutzen. Und danach? Das schob ich jetzt einfach mal nach hinten. Damit konnte ich mich auch dann noch befassen, wenn es so weit war.
»Was meinst du, Schnuckelchen? Werde ich meinen 30. Geburtstag noch erleben?«, lallte ich in Richtung des Papp-Vampirs.
»Wenn ich Glück habe, dann schon«, antwortete ich mir selbst. »Aber ob ich fit genug sein werde, ihn wie geplant mit Cocktails an einem Strand in der Südsee oder Karibik zu verbringen, das steht auf einem anderen Blatt.«
Ich nippte am Glas und spielte nachdenklich mit meinem linken Ohrläppchen, eine Angewohnheit, die ich schon seit Kindertagen hatte.
»Du hast recht, Brad! Ich sollte nicht warten. Auf keinen Fall! Schließlich bin ich keine Unsterbliche, so wie du als Vampir Louis!« Bei dem Wort Unsterbliche stolperte ich fast über meine Zunge. »Jawohl! Ich muss es sofort machen!« Ich zwinkerte ihm zu, als ob er mir tatsächlich diesen Rat gegeben hätte. Und obwohl ich wusste, dass es nicht möglich sein konnte, hatte ich den Eindruck, er würde zurückzwinkern.
Ein wenig aufgeregt tippte ich das Wort Karibikreisen in das Suchfeld bei Google ein. Gleich darauf schaute ich mir Bilder von schneeweißen Stränden und kristallklarem Wasser an, von Palmen und spektakulären Sonnenuntergängen. Es gab sogar einen pinkfarbenen Strand auf den Bahamas! Wie herrlich musste es sein, dort am Meer entlangzulaufen. Ich konnte mich gar nicht sattsehen an den wunderschönen Aufnahmen. Irgendwann stieß ich auf ein Video von schwimmenden Schweinen im Meer! Und in diesem Moment wusste ich es: Da will ich hin! Ich will mit den Schweinen auf den Bahamas schwimmen!
Gedankenverloren griff ich nach der Flasche, die jedoch leer war.