Aber der Sex war gut - Aly Mennuti - E-Book

Aber der Sex war gut E-Book

Aly Mennuti

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Beschreibung

Annie Shepherd ist eine der bekanntesten Autorinnen der Welt, ihre TRUST ME-Reihe verkauft sich millionenfach. Doch Annie hat auch ein sorgsam gehütetes Geheimnis, das ans Licht zu kommen droht, als ihr Freund, der preisgekrönte Literaturprofessor Joe Duke, überraschend stirbt. Um sich zu retten, muss sie sich mit ihrem größten Feind verbünden: dem Literaturagenten Henry Higgins. Der kommt ihr nicht gerade bereitwillig zu Hilfe, aber auch er hat alles zu verlieren. Und jeder weiß: Was sich neckt, das lernt sich lieben ... Oder doch nicht?

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INHALT

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumPROLOG1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253545556575859606162636465EPILOG

Über dieses Buch

Annie Shepherd ist eine der bekanntesten Autorinnen der Welt, ihre TRUST ME-Reihe verkauft sich millionenfach. Doch Annie hat auch ein sorgsam gehütetes Geheimnis, das ans Licht zu kommen droht, als ihr Freund, der preisgekrönte Literaturprofessor Joe Duke, überraschend stirbt. Um sich zu retten, muss sie sich mit ihrem größten Feind verbünden: dem Literaturagenten Henry Higgins. Der kommt ihr nicht gerade bereitwillig zu Hilfe, aber auch er hat alles zu verlieren. Und jeder weiß: Was sich neckt, das lernt sich lieben … Oder doch nicht?

Über die Autorin

Aly Mennuti hatte schon immer zwei Leidenschaften: Menschen zu helfen und Literatur. Der ersten kommt sie tagtäglich nach als Managerin einer internationalen gemeinnützigen Beraterfirma, die bereits zahlreichen hochrangigen Klienten dabei geholfen hat, ihre philanthropischen Ziele zu erreichen. Aber die Sehnsucht, sich kreativ auszudrücken und sich einen Platz als Autorin in einer Familie von Autoren zu verdienen, war stets präsent. Und endlich, mit 40 (und zwei Kindern in ihren Teens, die beschlossen, dass Mom uncool ist und dass man nicht länger mit ihr abhängen will) hatte sie die Zeit und Konzentration, ihren ersten Roman zu schreiben.

Aly Mennuti lebt in Washington, D. C., zusammen mit ihrem Mann Nicholas Mennuti, einem Autor und Drehbuchautor, sowie den gemeinsamen Kindern Charlie und Lilly und einem Golden Doodle – einem Mix aus einem Golden Retriever und einem Pudel.

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bauche-Eppers

l ü b b e

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der Originalausgabe:

»Real Fake«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2020 Aly Mennuti – Bolinda Publishing Pty Ltd

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anne Schünemann, Lektorat am Meer, Schönberg

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Einband-/Umschlagmotiv: Cover illustration© 2020 Bolinda Publishing PTY LTD

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0982-8

luebbe.de

lesejury.de

PROLOG

Ein Geständnis …

Einige von euch werden meinen Namen kennen, einige vielleicht nicht. Aber auch wenn euch mein Name nichts sagt, seid ihr bestimmt schon mal über meine Bücher gestolpert. Und falls es auch da noch nicht Klick macht, die Filme habt ihr unter Garantie gesehen. Die mit Julia Roberts in der Hauptrolle. Jep. Julia Roberts. Pretty Woman höchstpersönlich. Jetzt habt ihr’s erraten, stimmt’s?

Ich bin Annie Shepherd. Schriftstellerin für Frauenliteratur. Seit mehr als zehn Jahren an der Spitze der Beststellerlisten weltweit. Keine Sorge, die Bezeichnung »Frauenliteratur« stammt aus dem elitären Sprachschatz meines Agenten, für mich ist das, was ich schreibe, »Chick-Lit«. Er behauptet aber, meine Romane seien anspruchsvoller als der Durchschnitt, mit Anklängen an das gehobene Thriller-Genre. Immer noch überfordert? Ich auch. Das ist okay.

Um nochmal auf meinen Agenten zurückzukommen, er liebt es, über Literatur zu reden. Alle Arten von Literatur. Französische, russische, amerikanische, britische. Aus dem 19. Jahrhundert, 20. Jahrhundert, bis zu den Veröffentlichungen von letzter Woche. Ihr werdet’s noch merken. Tatsächlich redet er mit Begeisterung über alle Bücher der gesamten Weltliteratur – nur über meine nicht. Und sollte er nicht umhinkönnen, sie zu erwähnen, dann auf eine Art, die ich höflich als »herablassend« bezeichnen würde. Und weniger höflich? Na ja, dann würde ich vermutlich sagen, dass er ein aufgeblasenes, arrogantes Arschloch ist. Aber er ist Brite. Vielleicht kann er nicht anders. »Wir haben der Welt Shakespeare geschenkt, Annie.« Damit kommt er mir jedes Mal, wenn ich mich über sein erhabenes Getue beschwere. Aber genug von ihm. Ihr lernt ihn noch früh genug kennen.

Warum erzähle ich euch das alles? Weshalb ist es mir wichtig, dass ihr mich in diesem Vorwort kennenlernt? Schließlich habe ich noch ein ganzes Buch, um einen guten Eindruck zu vermitteln. Die Sache ist die: Ich möchte wirklich, dass ihr mich mögt. Und ich will nicht auf mein Geheimnis reduziert werden.

Ich bin nämlich wirklich ein netter Mensch, ganz ehrlich. Aber wenn ich will, dass ihr mich wirklich kennenlernt, die echte Annie Shepard, müsst ihr alles erfahren, das Gute wie das Schlechte. Deshalb: Los geht’s. Bereit?

Der Ort: eine Kirche, randvoll bis auf den letzten Stehplatz. Der Anlass: eine Beerdigung, die Totenmesse für Joseph Duke Eszterhazy, kurz Joe Duke. Gewinner des National Book Award 1985. Bei euren Eltern steht wahrscheinlich eins seiner Bücher im Regal, und ebenso wahrscheinlich wurde es nie gelesen. Joe war diese Art von Schriftsteller. Der Besitz einer seiner Romane sollte Bildung und sozialen Status demonstrieren, man kaufte einen Joe Duke nicht für die entspannte Lektüre am Kamin. Außerdem war Joe mein Professor für Kreatives Schreiben an der Uni. Ach so, und in den letzten dreizehn Jahren die Liebe meines Lebens.

Und ich habe ihn umgebracht.

1

ANNIE

Autsch, das klang jetzt noch schlimmer als befürchtet. Ich bin ja auch nicht wirklich eine Mörderin. Aber wie soll ich es anders ausdrücken …

Ich habe ihn nicht im strengen Sinne ermordet, ich habe ihn nur totgevögelt. Was immer noch ziemlich übel klingt. Vermutlich geht es nicht ohne ein bisschen mehr Kontext, ohne ein paar unschöne Details, auch wenn es noch so peinlich und unangenehm wird. Das ist es doch, was große Schriftsteller tun, oder? Sie zapfen eine Ader an und bluten Wahrheiten aufs Papier. Macht euch bereit, hier kommt Annies Aderlass.

Ehrlich, ich hatte im Traum nicht die Absicht, ihn umzubringen. Da war ich, Annie Shepherd, mitten in einer heißen Rodeonummer. Mehr muss ich, glaube ich, nicht sagen, ihr habt das Bild vor Augen. Ich ließ genüsslich die Hüften kreisen, hinter meinen geschlossenen Lidern explodierte ein Feuerwerk, da umklammerte Joe mit beiden Händen meine Hüften und keuchte: »Annie! Hör auf, ich kann nicht mehr. Stopp, um Himmels willen.«

Für mich klang es nach Ekstase und so, als wollte Joe jetzt noch nicht zum Ende kommen. Deshalb – und das klingt fast noch schlimmer – beschloss ich, ein bisschen zu spielen: ordentlich Gas geben, Pause, Tempo wieder anziehen. Stellt euch vor, wie überrascht ich war, als mir klar wurde, dass seine Worte nicht die Aufforderung gewesen waren, den Weg zum Gipfel lustvoll zu verlängern, sondern dass er ernsthaft gewollt hatte, dass ich aufhöre. Denn als ich schließlich zu ihm hinunterschaute, war er tot.

Ich weiß, ich bin ein schrecklicher Mensch, weil ich so mit meiner eigenen Lust beschäftigt gewesen war, dass ich ihn erst jetzt richtig ansah. Aber ich bin fünfunddreißig Jahre alt und ziehe mich nur aus, wenn es sich auch lohnt. Ich hätte bloß nie für möglich gehalten, dass mein entschlossenes Streben nach einem Höhepunkt einen ehedem großen amerikanischen Autor das Leben kosten könnte. Das liegt einem wie eine Zentnerlast auf dem Gewissen.

Und es ist noch nicht einmal das Schlimmste. Ich hoffe, dass niemand je erleben muss, was danach kam. Zum Beispiel der Anruf bei der Notfallambulanz, während dessen ich immer wieder bestätigen musste: »Ja, er ist tot, ganz bestimmt«, und gefragt wurde, weshalb ich mir so sicher sei. Oh, wegen Kleinigkeiten … Unter anderem, weil ich ihn umgebracht habe.

Dann sprang ich schnell unter die Dusche, damit die Rettungssanitäter nicht gleich merkten, dass Joe und ich gerade Sex gehabt hatten. Während ich mich einseifte und gründlich abschrubbte, betete ich, dass seine enorme Erektion abflaute, bevor sie eintrafen. Deshalb könnt ihr euch vielleicht vorstellen, dass mich fast der Schlag traf, als ich aus der Dusche kam und feststellen musste, dass das verdammte Ding noch größer geworden zu sein schien. Wie konnte das sein? Er war immerhin tot. Als er noch lebte, konnte ich ihm einen schönen Ständer bescheren, aber nicht einmal annähernd so einen Mast wie diesen da. Es war grotesk. Und für einen kurzen Moment war ich fast beleidigt. Warum hatte er nie mit diesem Riesenwuchs auf mich reagiert? Erst als mir einfiel, dass wahrscheinlich eine Art Blutstau im Körper nach Eintritt des Todes dafür verantwortlich war, fühlte ich mich wieder besser.

Nein, stimmt nicht ganz. Ich fühlte mich besser, bis die Sanitäter kamen und die Decke wegzogen, die ich in der Hoffnung, sie würden pietätvoll darauf verzichten, den Verstorbenen zu entblößen, über Joes untere Körperhälfte ausgebreitet hatte. Fehlanzeige. Es gelang ihnen, professionell zu bleiben, aber ich sah, wie sie bedeutungsvolle Blicke tauschten, miteinander flüsterten und den Atem anhielten, um nicht loszuprusten. Als sie schon auf dem Weg nach draußen waren, sagte einer von ihnen halblaut:

»Verdammt, so einen Abgang würde ich mir auch wünschen.«

Woraufhin ich ihnen nachrief: »Das habe ich gehört!«

So. Jetzt kennt ihr mein Geheimnis. Ich habe Joe Duke das angetan, was ich laut meines Agenten seit Jahren der englischen Prosa antue. Er sollte seine Zunge hüten. Annie Shepherd hat schon einmal gemordet.

Aber zurück in die Gegenwart. Trauergottesdienst, wie gesagt. Ich sitze ganz vorn in der Kirche, mit freier Sicht auf Joes Sarg aus poliertem Mahagoni und das Foto von ihm, auf dem er mit der Sonne von Maui um die Wette strahlt. Es war unser fünfter Jahrestag. Er trägt seine schwarze Ray-Ban und hält einen Fisch hoch, mit dem er sich einen epischen Kampf à la Hemingway liefern musste, bis er ihn endlich an Land ziehen konnte. Der Schmerz trifft mich, als würde mir jemand ein Messer in den Bauch stoßen, jedes Mal, wenn ich den Kopf wende und realisiere, dass Joe nicht neben mir sitzt. Ich kann immer noch nicht fassen, dass ich ihn niemals wiedersehen werde.

Ich werde ihn niemals wiedersehen.

Der einzige Mensch, von dem ich mir vorstellen kann, dass er mein Gefühl des Aus-der-Bahn-Geworfenseins teilt, ist mein Agent. Aber nicht etwa, weil wir und der Rest der Welt durch Joes Tod einen unersetzlichen Verlust erlitten haben. Das wird ihm erst später bewusst werden, falls überhaupt. Nein, er trauert, weil er nun nicht mehr für lau in der Weltgeschichte herumreisen kann. Wenn alles so gelaufen wäre wie geplant, wären wir jetzt auf dem Weg nach Dublin, wo ich im Rahmen mehrerer literarischer Veranstaltungen über die Kunst, einen feministischen Thriller zu schreiben, diskutieren sollte.

Warum besteht ein Agent darauf, seinen Schützling auf allen Reisen zu begleiten? Gute Frage. Die Gründe eines Agenten sind nie selbstloser Natur, egal, was er behauptet. Er wird wahrscheinlich sagen, er opfere sich auf, weil er glaube, mir fehle als Markenbotschafterin ein gewisser Schliff oder, wie er es gern ausdrückt, es mangele mir »an der erforderlichen Contenance.« So ein Schwachsinn. Er klebt mir an den Hacken, weil mein Leben aufregend ist und seins nicht. Würde man unsere beiden Karrieren auf den Enden einer Großartigkeitswippe platzieren, würde sein Hintern innerhalb von dreißig Sekunden in der Luft schweben.

Ach so, und wisst ihr, was der Mistkerl noch tut, während ich in einer Podiumsdiskussion sitze? Er konfisziert mein Handy! Er hat Angst, ich könnte der Versuchung erliegen, damit herumzuspielen, während andere Teilnehmer reden. Dabei habe ich das nur ein einziges Mal gemacht. Und das auch nur, weil mir langweilig war. Alle anderen waren auch mit ihrem Handy zugange, nur unauffälliger als ich. Aber auch seine angebliche Sorge, ich könnte mich in der Öffentlichkeit danebenbenehmen, ist eine Lüge. Er kassiert mein Handy ein, um durch meine privaten Accounts bei Twitter und Instagram zu scrollen und sich in meiner Berühmtheit und der Lobrede meiner Millionen Fans zu suhlen, während er, ein Möchtegern-Topagent, kaum fünfhundert Freunde auf seinem Facebook-Account zählen kann.

Aber er beschränkt sich nicht auf Reisen ins Ausland, er begleitet mich auch zu all meinen Signierstunden im Inland. Ich versuche, so viele öffentliche Auftritte in meinen Terminkalender zu quetschen wie nur möglich, weil ich es liebe, mit meinen Fans in Kontakt zu bleiben. Ich kommuniziere gern und viel mit ihnen in den sozialen Medien. Einige meiner Schriftstellerkollegen sind der Meinung, sich derart ansprechbar zu machen, grenze an Anbiederung und zeuge von einer aggressiven Verkaufsstrategie. Von mir aus. Mein Agent denkt das auch. Aber ich will einfach nur meinen Fans dafür danken, dass sie meine Bücher lesen. Sie haben so viele andere Freizeitangebote, besonders heutzutage, deshalb möchte ich, dass sie wissen, wie sehr ich mich freue, dass sie sich immer wieder für Elizabeth entscheiden.

Da wir gerade von Fans sprechen, wir waren auch eingeladen, dem Set des neuen Trust-Me-Films auf dem Studiogelände in Los Angeles einen Besuch abzustatten, wo momentan die Innenaufnahmen gedreht werden. Ich konnte es kaum erwarten, Julia wiederzutreffen. Sie ist unfassbar liebenswürdig und so großzügig mit ihrer Zeit. Sie verschiebt ihre Termine, damit wir wenigstens einmal zusammen essen gehen können. Und sie zuckt nicht mit der Wimper, wenn ich in den Super-Fan-Modus verfalle und sie mit Vivian Ward anrede.

Zufälligerweise ist auch mein Agent Julias größter Fan. Er himmelt sie an und wird nicht müde, zu beteuern, Notting Hill sei der großartigste aller Filme, in denen sie je mitgespielt habe. Für gewöhnlich beglückt er sie dann mit seiner besten Imitation von Hugh Grants charmantem Liebesgestammel. Nicht zu fassen. Muss er uns beide auf sein Niveau runterziehen? Und wenn meine Romane um Elizabeth Sunderland in seinen Augen so trivial sind, weshalb flirtet er so hemmungslos mit der Besetzung von Elizabeth?

Ich schaue mich in der Kirche um – wo steckt der verdammte Kerl eigentlich? Aus welchem Grund ist Henry Higgins nicht da, wo er sein müsste, nämlich hier, bei mir? Wenn er ohne mich schon zu unserem nächsten Termin abgereist ist, kann er was erleben. Sähe ihm ähnlich. Erst das Vergnügen, dann die Arbeit, lautet sein Motto.

Ihr habt recht. Der Name. Wie konnte ich den übergehen? Henry Higgins. Das erinnert doch stark an My Fair Lady, nicht wahr? Treffer! Es war der Lieblingsfilm seines Vaters. Nebenbei bemerkt, mein Henry – nicht der fiktive – leidet unter ernsthaften Vater-Problemen, und ich vermute, diese Probleme beschränken sich nicht nur darauf, dass er seinem alten Herrn diesen bescheuerten Namen verdankt, aber geholfen hat es ihrer Beziehung sicher nicht.

Zurück zu My Fair Lady. Sowohl im Film als auch im Theaterstück verwandelt Henry Higgins die junge Eliza Doolittle in eine Dame von Welt, mit Stil, Geschmack und tadellosen Umgangsformen. Anfangs will er nur eine unter zwei bornierten Snobs – ihm und seinem Freund – abgeschlossene Wette gewinnen, am Ende überfällt ihn wie ein Schock die Erkenntnis, dass das einstige Versuchsobjekt bisher ungekannte menschliche Gefühle in ihm erweckt hat. Die große Ironie des Henry Higgins von Leinwand und Bühne liegt darin, dass er gar nichts hatte, was er Eliza beibringen konnte: Er lernte von ihr. Mein Henry Higgins, Literaturagent der Extraklasse, betrachtet mich wie eine unbefristete Haftstrafe in einem Luxus-Knast, die er absitzen muss, wenn er seine Prozente kassieren will. Und die Gefühle, die er für mich hegt, sind nicht romantischer Natur, sie gelten den Summen, die er für den Verkauf meiner internationalen Rechte einstreichen kann, und den coolen Extras, die mein Ruhm ihm beschert. Die Vorstellung, einer von uns könne von dem anderen etwas lernen, ist ein Witz. Ein schlechter.

Aber selbst im besten Fall, was sollte ich denn von ihm lernen? Von meiner Romanreihe Trust Me über die im Film von Julia Roberts verkörperte Heldin Elizabeth Sunderland sind einhundertfünfzig Millionen Exemplare verkauft worden. Ups, wieder zu schnell. Hier eine kurze Inhaltsangabe für die Uneingeweihten:

Elizabeth Sunderland, das Opfer einer Trennung weit jenseits von einvernehmlich, lässt sich den ihr zustehenden stattlichen Unterhalt in einer Summe auszahlen und eröffnet damit eine Detektei, die ihre Dienste ausschließlich Frauen anbietet, die in einer schmutzigen Scheidung stecken. Je aussichtsloser der Fall, je dringender das Opfer einen Mitstreiter braucht, um die Sünden des Ex auszugraben und als Munition zu verwenden, desto entschlossener stürzt sie sich ins Gefecht.

Die Welt braucht jemanden wie Elizabeth, auch wenn Henry Higgins das nicht begreift. Sie ist Wonder Woman für Trennungsgeschädigte. Habt ihr je eine betrogene Frau mit gebrochenem Herzen getroffen? Jede einzelne wird euch berichten, dass es Kränkungen gibt, deren Schmerzen auch mit der Hälfte des gemeinsamen Vermögens nicht annähernd zu lindern sind. Manchmal muss eine höhere Macht eingreifen. In Gestalt von Elizabeth Sunderland. Inzwischen ist sie zu einer Ikone des Feminismus geworden, mit einer eigenen Parole:

»Rosenkrieg und kein Ende? Vertrauen Sie mir!«

Es klingt unglaublich gut, wenn Julia es sagt.

Wenn Julia es sagt. Manchmal muss ich mich immer noch selbst kneifen. Nimm das, Henry Higgins. Erzähl mir doch nochmal, wie du über hundert Millionen Bücher verkauft und einen der größten weiblichen Filmstars Hollywoods dazu gebracht hast, die Protagonistin deiner Romane auf der Leinwand zu verkörpern. Moment. Irrtum meinerseits. Das warst ja gar nicht du, sondern ich. Du Versager.

Oh mein Gott, Annie. Wieso denkst du ausgerechnet jetzt an diese taube Nuss? Weil du nicht an Joe denken willst? Oder daran, wie unmöglich es ist, sich eine Welt vorzustellen, in der es ihn nicht gibt?

Weil er faszinierend war, wirklich und wahrhaftig der faszinierendste Mensch, der mir je begegnet ist. Er sprengte jede Schablone. Das Universum könnte keinen zweiten wie ihn erschaffen, selbst wenn es das Rezept hätte.

Zugegeben, er war vom Typ her eher rustikal: Vollbart und die Statur eines Grizzlys. Es stimmt, dass er als Rausschmeißer in einer Bar gearbeitet hat, bevor sein erstes Buch anfing, sich zu verkaufen. Er liebte Motorräder und schnelle Autos, andererseits auch Dichter der Romantik, wie Keats und Coleridge. Er liebte Schusswaffen, je größer, desto besser, aber weil ich mich damit nicht anfreunden konnte, trennte er sich von ihnen, bereitwillig, ohne Diskussion. Und er war total verrückt nach mir, genau wie ich nach ihm. Wir hatten so viel gemeinsam. Manches davon war nicht gerade vorteilhaft. Wir sind beide vor unseren Familien davongelaufen und haben jeden Tag so gelebt, als sei es unser letzter.

Tja, und da sind wir nun, hier und jetzt. Joe ist tot. Nie wieder werde ich seine raue Stimme hören, die mir sagt, dass wir Seelenverwandte sind. Nie wieder werde ich die Wärme und Geborgenheit seiner bärenhaften Umarmung fühlen.

Ich fühle die Tränen in mir aufsteigen, den Druck hinter meinen Augen. Schau woanders hin, nicht auf den Sarg. Heute geht es nicht um dich. Heute geht es darum, Joes Leben zu feiern. Dreh den Kopf zur Seite. Tu’s.

Kopf drehen in fünf, vier, drei, zwei, eins …

… und da ist er.

Henry Higgins. Beehrt uns endlich mit seiner Anwesenheit. Er sitzt in der fünften Reihe und trägt einen seiner maßgeschneiderten Nadelstreifenanzüge, die ihre schlanke Linienführung bewahrt haben, im Gegensatz zu ihm. Dieser Mann muss mindestens zwanzig Pfund zugenommen haben, seit ich seine Klientin bin. Wenigstens hat er heute Gel für seine Haare benutzt, statt sie wie sonst so lässig zerzaust zu tragen, als wäre er ein gelackter Eliteinternatsbubi an einem stürmischen Tag. Und das Einstecktuch mit Paisleymuster sieht ebenfalls gut aus. Aber was ist das?

Er trägt eine Sonnenbrille? Hier, im andachtsvollen Halbdunkel? Und mit wem redet er da? Ist das etwa …? Tatsache, Henry Arschloch Higgins unterhält sich mit Lacey, Joes ältester Tochter. Sie sitzen in einer Bankreihe mit den zahlreich erschienenen Größen der schreibenden Zunft und, wie es scheint, jedem einzelnen Agenten der Stadt. Oh, und da entdecke ich meine beste Freundin Christine, ganz am Ende der Bank. Sie ist von Europa herübergeflogen. Ich werde später mehr Zeit mit ihr verbringen. Jetzt schicke ich ihr nur einen kurzen Blick zu, der ihr sagen soll: Hi, Christine, du hast mir gefehlt.

Aber diese Lacey. Gott, ich hasse sie. Sie ist ein absolutes Ekel. Sie ist ein Jahr älter als ich, und unser Verhältnis ist, vornehm ausgedrückt, kontrovers. Oder auf der fiktiven Ebene, zum Beispiel in einem meiner Romane, wäre Lacey die Nemesis, die schrille Gegenspielerin, die meine Elizabeth fast in die Knie zwingt. Aber das hier ist kein Roman. Das hier ist mein Leben. Lacey konnte mich nicht ausstehen, als Joe noch lebte. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie ausgesprochen unangenehm die Situation sein wird, jetzt, da er nicht mehr unter uns ist. Und Henry Higgins, die treulose Tomate, hat nichts Besseres zu tun, als mit ihr zu sprechen. Selbst wenn es nur flüchtig ist.

Lass das. Solltest du nicht auf meiner Seite sein?

Na wunderbar, endlich hat er mich gesehen. Aber er winkt. Tatsächlich, er winkt, und das, während er noch seine blöde Sonnenbrille trägt. Henry, das hier ist eine Beerdigung und kein roter Teppich!

2

HENRY

Wer um Gottes willen ist diese Vollidiotin, mit der ich mich der Höflichkeit halber unterhalte? Auf jeden Fall ist sie noch bescheideneren Geistes als die, der ich gerade zuwinke. Lächeln, Henry, lächeln, sie ist deine Klientin. In der Tat, meine Klientin. Annie Shepherd. Nennt mich einen Glückspilz.

Und lasst euch gesagt sein, keiner hat je schwerer für seine Prozente geackert als ich bei ihr. Sie ist ein Fulltime-Job. Erst letztes Jahr hat sie während eines Aufenthalts in Frankfurt, bei dem sie an einer Podiumsdiskussion teilnehmen sollte, ihren Reisepass verbummelt und versucht, ohne dieses Dokument wieder aus Deutschland auszureisen. Sie hat sich wahrhaftig eingebildet, man würde sie wegen ihres netten Lächelns einfach zu ihrer Maschine durchwinken. Natürlich wurde sie umgehend in Gewahrsam genommen, und ich musste ein Krisentreffen mit dem amerikanischen Konsulat einberufen – als wäre die Tochter des Präsidenten entführt worden –, damit wir den Rückflug antreten durften.

Die halbe Zeit frage ich mich, ob ich ihr Agent bin oder ihr Betreuer. Könnt ihr euch vorstellen, dass ich ihr bei öffentlichen Auftritten ihre verdammte Chloé-Tasche hinterhertragen muss? Ich bin Seniorpartner einer internationalen Agentur, die annähernd siebzig Prozent dessen, was man wohlwollend als kulturellen Zeitgeist bezeichnen kann, unter ihrem Dach versammelt, aber interessiert sie das? Keine Spur. Ich muss mich behandeln lassen wie ein Lakai.

Ein Lakai, der seine beste Zeit so ziemlich hinter sich hat. Ich musste mich praktisch mit Butter einschmieren, um in diese Hose hineinzukommen, und ich kann das Jackett nicht zuknöpfen. Ich war Frust-Raucher, bis ich vierzig wurde, danach bin ich zum Frust-Esser mutiert. Zwei oder drei Schachteln Zigaretten entsprechen heute zwei oder drei Packungen Kekse, zwei oder drei Esslöffeln Mayonnaise auf der Pizza, zwei oder drei Litern Diätcola vor dem Mittagessen.

Ich würde wieder anfangen zu rauchen, das Einzige was mich davon abhält, ist der Blick, den mein Sohn mir zuwirft, wenn ich etwas Dahingehendes äußere. Er sagt, er wolle seinen Vater noch lange bei sich haben, am liebsten für immer. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass dieses Sich-Vollstopfen mit Fett und Kohlenhydraten besser fürs Herz sein soll als Nikotin. Ich werde es ohnehin nicht mehr lange machen. Leb wohl, Will, ich habe dich mehr geliebt als alles andere auf der Welt, aber die Buchindustrie ist ein Nullsummenspiel. Da wir gerade von Kindern sprechen, möchte ich auf Vollidiotin Nummer eins neben mir zurückkommen. Da sie Schwarz trägt und Joe wie aus dem Gesicht geschnitten ist, vermute ich, dass es sich bei ihr um ein Exemplar seiner vielköpfigen Brut handelt. Nach meinem Stand beläuft sich die Zahl seiner Sprösslinge auf elf, verteilt auf vier oder fünf Mütter. Ab einem gewissen Punkt verliert man den Überblick. Elf Kinder! Der Mann war erschreckend potent.

Warum konnte ich nicht Joe Duke Eszterhazy als Klienten erben, einen richtigen Schriftsteller, statt seines instagramsüchtigen, weiße Jeans tragenden, nahezu analphabetischen, Schrägstrich, Viagra in den Schatten stellenden Schützlings? Ja, warum nicht? Weil sich Joe in der Minute, als Annie Shepherd die Elizabeth-Sunderland-Geldlawine ins Rollen brachte, däumchendrehend zurücklehnte und nie wieder ein Wort zu Papier brachte. Und der Teufelskerl schien glücklicher zu sein denn je.

Ein alter Spruch im Literaturbetrieb lautet: Wenn ein Schriftsteller nicht schreiben müsste, um seine Brötchen zu verdienen, würde er dann trotzdem schreiben? In Joes Fall lautete die Antwort kurz und knapp: Nein.

Welch Ironie. Joe Duke und ich waren, respektive sind, beide finanziell von Annie Shepherd abhängig. Und man kann nicht sagen, dass es ihm gut bekommen ist. Ein Geistlicher schwenkt soeben das Weihrauchfass über seinem Sarg. Schöne Aussichten für meine Wenigkeit.

Nicht immer alles negativ sehen, Henry. Das predigt mir mein Therapeut ständig. Also schiebe ich unauffällig die Hand in die Innentasche des Jacketts, vorbei an den puddingweichen Brustmuskeln und fördere die Packung Adderall zutage, die ich in ein Papiertaschentuch eingewickelt habe.

Runter mit der Pille. Zurücklehnen. Auf den Kick warten. Ah, es geht los. Du bist ein Hai, Henry Higgins. Du bist ein Hai in einem zwei Nummern zu kleinen Anzug. Ein Hai mit Gummizähnen. Offen gestanden hast du kaum noch Ähnlichkeit mit einem Hai, sondern mutierst im Zeitraffer zu einem aufgedunsenen, quäkenden Delfin. Nicht mehr lange, und man wird dich zu einem Freizeitpark auf Jamaika transportieren, wo du den Rest deines traurigen Daseins damit verbringen wirst, zur Belustigung der Touristenkinder alberne Kunststücke zu vollführen.

Schluss mit dem Selbstmitleid! Du bist kein Delfin. Das hier ist mehr als bloß eine Beerdigung, das hier ist ein Schlachtfeld. Vergiss das nicht.

Sondiere das Terrain wie ein guter Soldat. Deshalb trägst du doch die Sonnenbrille, um die Angst und Paranoia in deinen Augen vor den anderen Agenten zu verbergen. Denk dran, sie sind alle Haie und verspeisen dich zum Frühstück. Und ihre nächste Beute ist …

… deine Gans, die goldene Eier legt. Annie Shepherd.

Sie riechen das Blut im Wasser, sie halten sie für Freiwild. Warum? Weil sie nicht wirklich deine Klientin ist, du hast sie nicht selbst an Land gezogen, du hast sie geerbt, weshalb du dir immer ein Bein ausgerissen hast, um sie bei Laune zu halten, obwohl sie dir den letzten Nerv raubt. Niemand, erst recht niemand so Talentbefreites wie sie, dürfte so viel Erfolg haben. Glaubt mir, ich hätte sie nie als Klientin haben wollen, aber leider ist ausgerechnet sie es, die verhindert, dass ich in der Bedeutungslosigkeit versinke. Und ja, ihr verdanke ich es auch, dass ich noch einen Job habe. Hört ihr, wie ich mit den Zähnen knirsche? Ich bin ihr ausgeliefert, dieser Annie Shepherd, auf Gedeih und Verderb.

Der Sermon nähert sich dem Ende. Klingt aus mit einem Psalm hier, einem Matthäus dort. Der erste Trauergast begibt sich für eine kurze Rede gemessenen Schrittes nach vorn, und wer sollte es anderes sein als mein alter Herr, Edward Higgins? Der Mann, der Joe Duke im reifen Alter von achtundzwanzig unter Vertrag nahm, weil er die Brillanz seines Erstlingswerks Burn erkannte und ihn in der Folge zu der geachtetsten und am meisten gefeierten Stimme seiner Generation aufbaute. Aber sie waren mehr als Autor und Agent. Sie waren Freunde. Sie standen sich nahe. Der gute alte Edward liebte ihn, liebte ihn mehr, als er mich je geliebt hat. Ja, schon gut, es klingt, als würde ich einen Groll auf alles und jeden hegen.

Aber die Beziehung zwischen meinem alten Herrn und Joe ist ein gutes Beispiel für den Punkt, an dem unsere Auffassungen von der Funktion eines Literaturagenten auseinandergehen. Dad betrachtete es als seine Pflicht, seine Autoren in jeder Hinsicht zu fördern und zu unterstützen: finanziell durch günstige Vertragsbedingungen, menschlich, indem er ihnen den geistigen Freiraum für ihre Arbeit ließ, emotional, indem er sie behandelte wie Wesen von einem anderen Stern, mit Fähigkeiten gesegnet, wie sie uns Normalsterblichen nicht gegeben sind. Kurz, er umsorgte sie, als wären sie seine Kinder. Vermutlich hatte er sich damit in Wirklichkeit manchmal ins eigene Fleisch geschnitten, denn bei einer Rekordzahl seiner Schützlinge erlosch der schöpferische Funke nach kurzem Auflodern, so auch bei Joe. Sie wurden nachlässig und ließen ihr Talent verkümmern. Edwards Methode produzierte ebenso viele One-Hit-Wonder wie Klassiker. Was mich angeht, ich halte Schriftsteller nicht für überirdische Wesen. Ich glaube, sie brauchen uns, damit wir ihnen in den Hintern treten, um ihnen beizubringen, dass Talent eine gute Basis ist, Erfolg aber das Ergebnis von Disziplin und Fleiß. Und wenn es dafür nötig ist, dass harte Worte fallen, dann muss es eben sein. Hemingway wurde erst durch seinen Lektor Max Perkins zu dem Hemingway, den die Welt heute kennt. Ich möchte jemandes Max Perkins sein. Ich möchte einem Schriftsteller helfen, ein Werk zu erschaffen, das Tiefe und Gewicht hat. Etwas von zeitloser Bedeutung. Mein Vater weiß nicht einmal, wer Max Perkins ist, geschweige, dass er sich wünscht, Max Perkins zu sein. Nein. Edward liebte das Produkt, die Ware. Er ist im Herzen Kaufmann, nicht Künstler. Deshalb hat er, als er vor fünf Jahren beschloss, sich zur Ruhe zu setzen, seine Agentur an einen Medienkonzern verkauft, der wie ein Vampirkrake am Gesicht der Unterhaltungsindustrie klebt und sie aussaugt, statt mich zu seinem Nachfolger zu machen. Ich will nicht ungerecht sein, er hat mich nicht ganz vergessen. Neben einem rein dekorativen Titel, den mir die neuen Chefs bei der erstbesten Gelegenheit aberkennen werden, hinterließ er mir seine goldene Klientenkartei mit dem Star Annie Shepherd.

Ja, er hatte in den Vertrag schreiben lassen, dass ich als Seniorpartner im Unternehmen verbleibe, aber das war nie in Stein gemeißelt worden, und die obwaltenden Mächte haben vom ersten Tag an überlegt, wie sie mich loswerden können. Neuerdings wittern sie ihre Chance, durch meine eigene Schludrigkeit, wie ich zugeben muss, und wenn ich Annie verliere, können sie mich mit Fug und Recht vor die Tür setzen …

Ah, er räuspert sich, mein alter Herr.

»Joe und ich haben uns lange gekannt, fünfunddreißig Jahre. Wir sind zusammen in dieser Branche aufgestiegen. Meine Erfolge waren seine Erfolge. Ich glaubte, ihn gut zu kennen, aber wirklich kennengelernt habe ich ihn erst, als er mit Annie zusammenkam. Ich sage das als jemand, der viele Schriftsteller gekannt hat, aber die Art, wie ein Schriftsteller liebt, sagt mehr über ihn aus als die Art, wie er schreibt. Ich durfte Zeuge einer großen Liebe sein, Joes Liebe zu Annie und Annies Liebe zu Joe. Durfte erleben, wie der Mann den Schriftsteller überstrahlte, und mein Gott, was für ein prachtvoller Mann er war! Deshalb möchte ich dir meinen Dank aussprechen, Annie, denn ohne dich hätte ich nur den Schriftsteller Joe gekannt, nicht den Joe, den du mir gezeigt hast. Aber, Annie, und vielleicht möchtest du dir jetzt kurz die Ohren zuhalten, vor dir haben Joe und ich schon ein buntes und reiches Leben geführt. Zum Beispiel habe ich eine Agentur gegründet, und Joe hat elf Kinder gezeugt. Einer von uns hat zuerst graue Haare bekommen. Ihr dürft raten, wer …«

Zur Hölle mit dir, Edward!

Man beachte dieses Lächeln unter Tränen. Das ist alles improvisiert. Keine Notizen. Irgendwie denkt dieser Mann, der nie ein Buch zu Ende gelesen hat, in druckreifen Absätzen mit Pointe. So war das schon mein ganzes Leben lang, und deshalb kennt mich auch niemand als Henry Higgins. Ich bin entweder der Sohn von Edward Higgins. Oder Annie Shepherds Lakai.

So oder so bin ich ein Witz.

3

ANNIE

Vor weniger als zwei Stunden haben wir Joe zu Grabe getragen, und jetzt stehe ich als Gastgeberin inmitten der Trauergäste, die zum Leichenschmaus in unsere Wohnung an der Upper East Side geladen wurden. Die fünfzehn Zimmer sind voller Menschen, und ich habe das Gefühl zu ersticken. Alle kommen zu mir herüber, um ihr Beileid auszusprechen und mich an ihrem kleinen Schatz bittersüßer Erinnerungen und Gefühle teilhaben zu lassen, und ich weiß, meine Aufgabe besteht darin, zuzuhören und zu nicken. Dazu bin ich hier. So läuft dieser Tag für mich. Und nachdem sie ihre Trauer zum Ausdruck gebracht haben, fragen alle, ob ich Hilfe brauche. Ich spiele die gute Gastgeberin und bedanke mich. Ich halte die Tränen zurück und versichere ihnen, dass ich zurechtkommen werde, mit der Zeit.

Ich möchte wirklich nicht undankbar erscheinen, aber vielleicht bin ich’s. Alle sind heute gekommen, um, nachdem sie Joes Tod betrauert haben, sein Leben zu feiern. Aber damit sie Trost in ihren ganz persönlichen Erinnerungen an ihn finden können, darf ich mir nicht anmerken lassen, wie es in mir aussieht. Ich habe die Pflicht, mit einem aufgesetzten Lächeln herumzugehen und »die Contenance zu wahren«, wie Henry es ausdrücken würde, damit niemand glaubt, er müsse mich bemitleiden. Ich habe zu warten, bis jeder, der Joe gekannt hat, seinen eigenen Schmerz verarbeitet hat, bevor ich zusammenbrechen darf. Bevor ich mir erlauben kann zu begreifen, dass ich allein bin, und ich weiß nicht, wie lange ich es noch aufhalten kann. Es fühlt sich an wie Nadelstiche bis in die Finger- und Zehenspitzen. Mir ist, als lägen meine Nervenenden bloß und ich wäre schutzlos allen äußeren Einflüssen ausgeliefert. Reiß dich zusammen, Annie!

Mein Blick irrt durch unser Wohnzimmer. Kaum eine Lücke zwischen all den Leuten. Sie stehen dicht an dicht vor dem Kamin, den Joe schon mit Holz bestückt hat, damit wir mit einem wärmenden Feuer den Beginn der Adventszeit einläuten können. Vor den raumhohen Bücherregalen mit der fahrbaren Leiter, die man braucht, um an die obersten Reihen heranzukommen. Vor unserem Entertainmentcenter samt dem riesigen Flachbildfernseher, auf dessen Festplatte eine riesige Sammlung alter Spielfilme gespeichert ist, die er liebte. Slipper von Ferragamo und Louboutins auf dem Orientteppich. Eingeschlossen von diesen schwarzgekleideten Gestalten habe ich das Gefühl, erdrückt zu werden. Alles hier erinnert mich an Joe, erinnert mich daran, dass ich jetzt allein bin.

Dann sehe ich Christine mit einem Umschlag in der Hand in Richtung Küche gehen, um nach den Leuten vom Partyservice zu schauen und sie zu bezahlen. Sie hat mich nicht nach Geld gefragt und überhaupt die ganze Organisation dieser Feier übernommen. Sie wusste sofort instinktiv, wie sie mich entlasten und mir wenigstens diese Sorge abnehmen kann. Deshalb ist sie meine beste Freundin. Wir verstehen uns ohne Worte. Wohlgemerkt ist sie zu alldem imstande, während ihr Baby in weniger als einem Monat das Licht der Welt erblicken wird.

Ihre hyperfunktionelle, perfektionistische Art ist auch der Grund, weshalb sie keine Schriftstellerin geworden ist. Dabei hätte sie das Talent dazu gehabt. Joe war unglaublich beeindruckt von ihr. Sie war die Beste in unserer Abschlussklasse. Doch schlussendlich hat ihr vermutlich ihr eigener Verstand gesagt, das Schreiben zu seinem Beruf zu machen sei eine frivole Verschwendung wertvoller Lebenszeit, mit der man Besseres anfangen könne. Und sie hat vollkommen recht. Schreiben ist eine wunderbar frivole Betätigung. Reiner Selbstzweck, im Grunde genommen nutzlos und gerade deshalb so besonders. Auch wenn das Schreiben mir Ruhm und Reichtum gebracht hat, war das nie meine Motivation. Meine Motivation war, Menschen glücklich zu machen, ihnen Freude zu bereiten, ihnen mit meiner Elizabeth Sunderland die Möglichkeit zu geben, für ein paar Stunden ihrem Alltag zu entfliehen.

Christine hat das nie so gesehen. Sie sah nur, wie schwer man darum ringen muss, etwas halbwegs Sinnvolles zu Papier zu bringen, erst recht etwas, das ihren Ansprüchen genügte, und entschied, dass es die Mühe nicht wert war. Folglich sitzt sie heute im Vorstand einer Non-Profit-Umweltschutzorganisation mit weltweiten Niederlassungen. Sie hat Karriere gemacht. Sie hat einen tollen Ehemann, einen drei Jahre alten Sohn und erwartet momentan das zweite Kind. Ich habe nichts davon vorzuweisen, stattdessen vierzehn Bücher mit meinem Namen in Großbuchstaben auf dem Einband und einen toten Lebensgefährten, an dessen Ableben ich nicht ganz unschuldig bin.

Jetzt seht ihr das Autorendasein in einem anderen Licht, stimmt’s? Ist es vielleicht noch möglich, das Hauptfach zu wechseln? Aber wem versuche ich was vorzumachen? Schreiben ist meine Bestimmung. Alle diese Zweifel entspringen nur der Leere, die Joe in meinem Leben hinterlassen hat.

Und gerade, als ich in ein neues seelisches Tief rutsche, kommt Christine aus der Küche zurück, signalisiert mit einem erhobenen Daumen, dass alles okay ist, und wirft mir einen dicken Luftkuss zu.

Mir fällt eine Last von den Schultern. Für das leibliche Wohl der Gäste ist gesorgt. Genau so hätte Joe es sich gewünscht. Er liebte es, Gäste zu bewirten, und er liebte seine Freunde. Er würde nicht wollen, dass auch nur einer nüchtern von seiner Lebewohlparty nach Hause geht. Ich atme auf. Vielen Dank, Christine.

Dann registriere ich, wie sich eine Gruppe in der Zimmerecke auflöst. Ich sehe Henry aus der Mitte herauskommen und auf mich zusteuern. Das Wohlgefühl der Erleichterung verpufft schlagartig. Er kommt näher. Sein Blick fixiert mich, ich kann nicht entkommen, ohne eine Szene zu machen. Hilfe! Mir wird nichts anderes übrigbleiben, als mit ihm Smalltalk zu halten, ausgerechnet heute. Ich wünschte, ich könnte mit der Wand hinter mir verschmelzen. Ich wünschte, der Teppich würde mich verschlingen.

Völlig unerwartet kommt die Rettung. Während ich wie hypnotisiert Henry entgegenstarre, steht plötzlich eine Frau neben mir. Ich habe keine Ahnung, wer sie ist oder was sie will. Ich bin eigentlich nicht in der Stimmung für höfliche Konversation, aber wenn sie mich davor bewahrt, von Henry in die Ecke gedrängt und festgenagelt zu werden, bin ich bereit für neue Bekanntschaften.

Sie ist attraktiv, klein und zierlich. Ihre natürliche Haarfarbe scheint Rot zu sein, aber sie hat sie aufhellen lassen. Bis auf etwas Mascara ist sie ungeschminkt. Ihre grünen Augen sind voller Wärme, und doch betrachtet sie einen mit einem durchbohrenden Blick. Als wollte sie ihrem Gegenüber bis auf den Grund der Seele schauen. Und habe ich schon erwähnt, dass sie fantastisch aussieht? Ihr ist das seltene Privileg einer vollkommenen, natürlichen Schönheit zuteilgeworden, einer Schönheit, die auch in dreißig Jahren noch zum Niederknien sein wird. Man könnte neidisch werden, okay, ich bin neidisch, aber in diesem Moment überwiegend dankbar für ihre Anwesenheit.

Sie streckt mir die Hand entgegen. »Amber Rosebloom.«

Vielen Dank, Amber Rosebloom, vielen Dank, dass du mich gerettet hast. Wer auch immer du sein magst.

Und mein Gott, sie ist nicht nur meine Retterin, sie ist ein Engel! Sie hat mir ein Glas Champagner gebracht, mein Lieblingsgetränk, und Kaviar mit Blinis, elegant auf einer Serviette arrangiert. Ich liebe diese Frau.

4

HENRY

Wie kann sie es wagen? Wie kann sie es gottverdammt wagen? Ich hasse sie!

Amber Rosebloom. Sie ist wie eine Bombe in unseren etablierten Agentenzirkel eingeschlagen. Sie ist das neue It-Girl der Branche. Das Wunderkind mit eigener Agentur – The Bloom – und einer Armee von Mini-Ambers, die für sie auf Beutefang gehen. Sie ist die Person, die man kennen muss, wenn man in unserer Branche auf dem aktuellen Stand ist.

Aber daher kommt nicht meine Feindseligkeit. Amber Rosebloom hat so viele Klienten gewildert – auch bei mir –und so knallharte Verträge ausgehandelt, dass mittlerweile viele, die einst über die Methoden des guten alten Edward Higgins gelästert haben, nun für seine Rückkehr beten. Wenn man schon Edward den »Pfähler« genannt hat, wäre für Amber »Die rote Axt« eine passende Bezeichnung.

In einem Punkt hingegen ist sie der ehrwürdigen Tradition von Edward Higgins treu geblieben, denn sie ist nicht daran interessiert, etwas zu schaffen, das die Zeiten überdauert. Sie ist das, was man in der Wirtschaft eine Heuschrecke nennt, die kommt, alles kahl frisst und dann weiterzieht. Kein sehr zukunftsfähiges Konzept, aber aktuell bringt sie uns alle in Bedrängnis.

Schwing die Hufe, Henry, schieb deinen Alabasterkörper dahin, wo die Musik spielt. Die Teufelin hat Annie Kaviar und Alkohol gebracht, die beiden Hauptbestandteile ihres Nahrungsspektrums. Und sie scheinen sich anzulächeln. Schneller, Higgins, schneller.

Aber es soll nicht sein. Wenige Meter vor dem Ziel wird mein von Panik beflügelter Eilmarsch gestoppt. Ausgerechnet von Josh Kendall. Ich kann ihn nicht ignorieren und einfach weitergehen. Er ist der CEO eines der fünf größten Verlage, und wir haben regelmäßig geschäftlich miteinander zu tun. Ich kann nicht einfach an ihm vorbeihuschen und so tun, als hätte ich ihn nicht bemerkt. Himmelherrgott, Josh! Nie konnte ich dich weniger gebrauchen als gerade jetzt.

»Henry«, sagt er. »Tragisch, das mit Joe.«

Ich nicke. »Ja, wirklich. Und komplett unerwartet. Wer hätte gedacht, dass der Tod diesem Bären von einem Mann etwas anhaben könnte.« Mehr bringt mein mit Adrenalin geflutetes Hirn nicht zustande – Amber ist im Begriff, meine goldene Gans zu entführen. Für absolut niemanden kann Joes Tod eine Überraschung gewesen sein. Der Kerl hat gesoffen wie ein Rodeoreiter am Ende seiner Karriere, geraucht, als würde er von der Tabakindustrie nach Menge bezahlt, und wie ein Weltmeister eine Frau gevögelt, die dreißig Jahre jünger ist als er. Wer hätte da gedacht, dass ein Herzinfarkt nur eine Frage der Zeit ist?

»Man kommt ins Grübeln«, sagt Josh.

»Allerdings.« Ich tätschele meinen Bauch. »Vielleicht sollte man sich überwinden, regelmäßig Sport zu treiben.«

»Meine Frau und ich haben vor Kurzem mit Pilates angefangen. Es ist lebensverändernd. Ich hatte keine Ahnung, wie extrem mein seelisches und körperliches Gleichgewicht gestört war. Die gesamte Ausrichtung meines Körpers hat sich verändert.« Er stellt sich in Positur. »Siehst du?«

Hör auf, Josh, halt keine Vorträge. Und verschone mich mit der Zurschaustellung deiner Pilates-optimierten Wirbelsäule. Ich habe gerade echt andere Probleme.

»Unsere Trainerin sagte, ich wäre krumm wie ein Fragezeichen.«

Ich lache gezwungen. »Überaus charmant.«

Er lässt die Arme kreisen wie Windmühlenflügel, um seine Beweglichkeit zu demonstrieren. »Ich fühle mich wie ein neuer Mensch.«

Fast hätte ich vergessen, dass Josh die Angewohnheit hat, sich beim Sprechen unendlich viel Zeit zu lassen. Man könnte sagen, er ist der ungekrönte König der antiklimaktischen Gesprächspause, an deren Ende regelmäßig eine Äußerung von unfassbarer Belanglosigkeit steht. Ich werde die aktuelle Schweigeminute zum Anlass nehmen, mich grußlos zu entfernen und, falls er mir nachruft, was mir einfiele, ihn einfach stehenzulassen, mit gespielter Betroffenheit signalisieren, ich hätte geglaubt, die Unterhaltung sei beendet. Irgendwann wird sich die Gelegenheit bieten, mit überschwänglichen Entschuldigungen wieder gut Wetter zu machen.

Gerade will ich den Gedanken in die Tat umsetzen, als er mich mit der Hand auf der Schulter festhält und fragt:

»Bleibt es übrigens bei unserem Trip nach Aspen im Februar?«

»Selbstverständlich!«, versichere ich ihm und habe eine schlimme Vorahnung. Fang nicht mit Aspen an, Josh, bitte nicht.

»Großartig«, sagt er und lächelt. »Oh, Moment noch …«

Einer der befrackten Kellner tänzelt an uns vorbei. Josh hält ihn an, nimmt ein paar Shrimps-Häppchen von seinem Tablett und führt sie sich eins nach dem anderen zu Gemüte. Kaut hingebungsvoll. Und weil man ihm piekfeine Manieren anerzogen hat, würde er natürlich unter keinen Umständen mit vollem Mund sprechen. Er strahlt mich nur über seine malmenden Kiefer hinweg wohlwollend an.

Ich schaue nervös zu Annie hinüber. Sie ist von Amber hingerissen. Sie lachen sich an, synchronisieren ihre Körpersprache. Und was ist das? Hat Annie gerade Ambers Arm getätschelt? Das war definitiv ein Tätscheln! Ich wende den Blick wieder zu Josh. Er kaut und kaut. Am liebsten würde ich seine Eier packen und zudrücken, bis er in die Knie geht. Er macht mich wahnsinnig. Seine Kinnlade wandert träge hin und her, hin und her. Geht das vielleicht auch etwas schneller?

Ah, es sieht aus, als wäre er im Begriff, den letzten Bissen hinunterzuschlucken. Die Lippen spannen sich über seinen Zähnen, der Adamsapfel hüpft. Schluck endlich. Runter damit!

»Wo ich dich gerade hier habe«, sagt er, »lass uns doch gleich ein Datum festmachen.«

Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Gute Idee.«

Er zückt sein Handy und öffnet die Kalender-App. Fängt an, seinen Anzug abzuklopfen, greift in alle Taschen. Was braucht er denn so unbedingt? Und warum dauert das so lange? Wie viele Taschen hat dieses Jackett? Dem Anschein nach mehr als der Utensiliengürtel eines Superhelden. Gott sei Dank, er hat’s gefunden, und es ist …

… ein verdammter Eingabestift. Warum nicht? Jeder braucht den. Er sticht damit auf die Tastatur los, als würde er versuchen, die letzte Olive auf einem Teller aufzuspießen.

Meine Aufmerksamkeit kehrt wie magisch angezogen zu Annie und Amber zurück. Amber hat aus ihrer Handtasche eine Visitenkarte zutage gefördert. Du Hexe! Untersteh dich, meiner Klientin heimtückisch deine Kontaktdaten unterzujubeln. Denk nicht mal dran. Okay. Sie reicht ihr die Karte. Verdammt nochmal! Annie. Annie Shepherd. Nach allem, was ich für dich getan habe. Wehe, du nimmst diese Karte. Loyalität, kennst du das Wort? Weiß du, wie man das schrei…

Sie hat die Karte genommen.

Mit dieser einen Handbewegung, dem Griff nach der feindlichen Visitenkarte, bist du zum Judas geworden, Annie Shepherd.

Und wenn es mir irgendwann in ferner Zukunft gelungen sein wird, die letzten paar Meter bis zu ihr zurückzulegen, werde ich ihr diese Karte aus der Hand schnappen und vor ihren Augen zerreißen.

Josh fängt plötzlich an zu lachen und zeigt mir das Display seines Smartphones. »Du wirst es nicht glauben, Henry. Das ist nicht mein Arbeitshandy, das ist mein privates. Ich habe den falschen Kalender.«

Ich unterdrücke den Impuls, ihn zu schütteln, bis seine Zähne klappern, und höre mich durch das Rauschen in meinen Ohren säuseln: »Ist mir auch schon mehr als einmal passiert. Ruf mich wegen des Termins im Büro an, und stell dich schon mal darauf ein, dass du auf der Piste nur meinen Kondensstreifen sehen wirst.«

Und bevor er begreift, dass das meine Abschiedsworte waren, stehe ich schon vor Annie Shepherd, die mit selbstzufriedener Miene ihr Champagnerglas leert.

»Gib mir die verdammte Visitenkarte«, fordere ich.

Sie tut, als hätte sie mich nicht gehört, und sagt verträumt: »Ambers Lieblingsbuch aus der Trust-Me-Reihe ist Tropisches Inferno, wo Elizabeth sich nicht zwischen dem Kartellboss und dem verdeckten Ermittler, der ihn hopsnehmen will, entscheiden kann. Welches hat dir denn am besten gefallen, Henry?«

Ich kann mich beim besten Willen nicht an die Handlung eines dieser überlangen Groschenromane erinnern. Denk nach! Sie sind alle gleich. Immer wieder dasselbe. Aber ich darf mich nicht von Amber übertrumpfen lassen, irgendwas muss mir einfallen.

»Mein liebstes Buch ist immer das, an dem du gerade arbeitest«, sage ich aalglatt, »weil deine Geschichten von Mal zu Mal besser werden. Jetzt her mit der verdammten Karte.«

»Lügner.« Sie schwenkt die Karte vor meinem Gesicht hin und her: elegant geschwungener Prägedruck auf garantiert handgeschöpftem Büttenpapier. »Du hast noch keinen einzigen meiner Romane gelesen.«

»Aber ja doch«, antworte ich. »Und ich fiebere deinem nächsten Werk entgegen, das ich in sechs Wochen auf meinem Schreibtisch zu finden hoffe. Wirst du den Abgabetermin halten können?«

»Meinen Abgabetermin?«

Das klingt, als hätte ich einen Nerv getroffen. »Ja. In sechs Wochen.«

»Als wenn ich das nicht wüsste!«

»Natürlich weißt du das. Deshalb verstehe ich nicht, warum du mich anschreist.«

»Weil ich heute die Liebe meines Lebens beerdigt habe, du kaltherziges Ungeheuer.«

»Eben hast du noch mit Amber zusammen gekichert wie ein Schulmädchen. Was habe ich denn falsch gemacht?«

»Alles. Und das ist immer das Problem mit dir, Henry. Sie sagt, sie wird meinen Verleger anrufen und ihn bitten, mir etwas mehr Zeit zu geben. Sie steht auf bestem Fuß mit ihm. In diesem Monat hat sie mit meinem Verlag schon drei Verträge über Neuerscheinungen abgeschlossen.«

»Ich hoffe, du hast sie daran erinnert, dass du bereits einen bis zur Selbstaufgabe für dich schuftenden Agenten hast.«

»Musste ich gar nicht. Amber tut es als Fan und als Freundin. Willst du wissen, was sie mir sonst noch angeboten hat? Einen Aufenthalt auf der Spring Creek Ranch in Jackson Hole. Matthew McConaughey verbringt da regelmäßig seinen Winterurlaub. Sie meint, eine Zeit der Ruhe und inneren Einkehr könnte mir helfen, nach diesem schweren Schicksalsschlag meine kreativen Säfte wieder zum Fließen zu bringen.«

»Kreative Säfte?«, frage ich spöttischer als beabsichtigt.

Sie wirft mir Ambers Visitenkarte ins Gesicht, eine Ecke trifft mich an der Schläfe. »Amber weiß, wie man mit mir umgehen muss. Vielleicht solltest du bei ihr in die Lehre gehen.«

In mir beginnt es zu brodeln. »Ich soll bei ihr in die Lehre gehen? Sie ist bei mir in die Lehre gegangen. Ich habe sie ausgebildet.«

Annie muss so unmäßig lachen, dass ihr die Luft wegbleibt. »Oh Mann, erzähl mir mehr davon.«

»Keine Chance«, entgegne ich. »Und komm nicht auf dumme Gedanken, was sie betrifft. Du stehst bei mir unter Vertrag. Ich bin dein Agent.«

Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Verträge sind nicht für die Ewigkeit, Henry.«

»Meine Verträge sind es.«

»Was bist du? Jemand von Scientology?« Sie hebt maliziös eine Augenbraue. »Ich habe das ganze Kleingedruckte nicht gelesen, aber ich glaube, ich würde mich erinnern, wenn ich denen beigetreten wäre und ein Treuegelübde über eine Million Jahre abgelegt hätte.«

Ich kontere: »Vielleicht hättest du dir doch die Mühe machen sollen, das Kleingedruckte zu lesen.«

»Vielleicht solltest du dir die Mühe machen, eins meiner Bücher zu lesen.«

Ich hebe Ambers Visitenkarte auf und zeige damit auf Annie. »Werde ich. Das neue, das in sechs Wochen fällig ist, wie du ja weißt. Ich freue mich drauf. Man sieht sich.«

5

ANNIE

Endlich allein. Die Gäste sind alle gegangen, die Wohnung ist leer. Den ganzen Tag habe ich mich nach Ruhe gesehnt, aber jetzt, da alles ruhig ist, wünsche ich mir die Geräuschkulisse von vorhin zurück. Alles ist besser, als in der Stille meinen Gedanken ausgeliefert zu sein. Und das Gespräch mit Henry hat es nicht besser gemacht.

Sechs Wochen, um das Buch fertigzustellen. Ich weiß, kaum zu glauben, dass ich den Termin vergessen habe, aber die Stunden, die vergangen sind, seit ich von Joe Abschied genommen habe, sind mir vorgekommen wie Jahre.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich sechs Wochen ohne ihn anfühlen werden. Ich lebe nur noch von Minute zu Minute. Schließlich entscheide ich mich, das neue Buch aus meinem Kopf zu verbannen und in etwas Bequemeres zu schlüpfen. Ich wanke ins Schlafzimmer, nicht ganz nüchtern und kolossal übermüdet. Ich will nur noch dieses Kleid loswerden, die High Heels und die elende figurformende Strumpfhose. Warum soll man an Tagen wie diesem neben dem unermesslichen Schmerz eines gebrochenen Herzens auch noch die Qualen von Shaping-Unterwäsche ertragen müssen? Noch bevor ich das Licht einschalte, ziehe ich den Reißverschluss meines Kleides nach unten. Verträumt denke ich daran, gleich in meine Jogginghose und in ein T-Shirt zu schlüpfen und mir die Haare entspannt zu einem Pferdeschwanz zu binden.

Aber die Stille scheint hier noch bedrückender zu sein. Ich greife nach der Fernbedienung für die Soundanlage und natürlich, als wäre ich nicht schon deprimiert genug, dröhnt mir Joes Lieblingssong entgegen: »Wild Horses« von den Rolling Stones. Wahrscheinlich ist es der letzte Song, den Joe vor seinem Ableben gehört hat. Er war ein fanatischer Rolling-Stones-Fan und hat mich sogar auf ein Konzert von ihnen geschleppt. Mick und Konsorten turnten auf der Bühne herum, und Joe tat es ihnen an seinem Platz gleich. Ich stand daneben und fragte mich, wer sich zuerst die Hüfte ausrenken würde, Mick oder er. Mag sein, dass Rock ’n’ Roll niemals stirbt, aber die Musiker und die mit ihnen gealterten Fans tun es. Ich sollte es wissen. Ich habe einen der Letzteren heute Vormittag beerdigt.

Endlich habe ich mich aus dem Kleid und der beengenden Strumpfhose herausgewunden. Meine Haut kann wieder atmen. Ich schlüpfe in die Jogginghose, beuge mich über das Waschbecken, knipse das Licht an und mustere mein Gesicht im Spiegel. Mein Make-up bröckelt an einigen Stellen. Kein Wunder, nachdem ich mich über Stunden hinweg bemühen musste, die Tränen zurückzuhalten.

Und während ich mich im Spiegel anstarre, singe ich plötzlich mit den Stones mit. Mir war gar nicht bewusst, dass ich den Text auswendig kann. Seltsamerweise kommt es mir vor, als wäre dies mein letzter Gruß an Joe. Als würde er mir sagen: »Hey, schade, dass ich nicht länger bleiben konnte, aber du wirst drüber wegkommen. Hör dir diesen Song an, Annie, und erinnere dich, wie wir uns damals gefühlt haben. Vergiss es nie, denn was wir hatten, wir beide, das war echt und groß. Und wir werden uns wiedersehen.«

Ich schaue zur Wand rechts neben unserem Himmelbett, wo das gerahmte Cover des Buchs hängt, das sein Durchbruch war: Burn. Plötzlich bekomme ich Lust, es zu lesen, was ich bisher trotz meiner gegenteiligen Beteuerungen nicht getan habe. Nun entdecke ich den Autor nach seinem Ableben. Aber was soll ich sagen? Ich bin ein wandelndes Klischee. Fragt jemanden, der meine Bücher gelesen hat.

Im Gegensatz zu meinem Agenten.

Liebe Güte, nicht er schon wieder! Es sieht wirklich danach aus, dass Henry Higgins Dauermieter in meinem Kopf ist. Wann immer ich mich in letzter Zeit bedrückt oder einsam fühle, denke ich an ihn, aber bestimmt nicht, weil ich glaube, bei ihm Halt zu finden oder ein mitfühlendes Ohr.

Ein Poltern ertönt aus dem begehbaren Kleiderschrank. Ich bin nicht allein.

Wer kann das sein? Ich habe alle die Wohnung verlassen sehen. Hat der Concierge unten jemanden übersehen, der sich in die Wohnung geschlichen hat? Mir bleibt keine Zeit zum Nachdenken. Mit dem Smartphone in der Hand, um blitzschnell den Notruf wählen zu können, gehe ich auf Zehenspitzen zum Schrank und reiße die Tür auf.

Es ist Lacey.

»Was machst du in meinem Kleiderschrank?«

Sie rückt ein Stück von den Umzugskartons ab, in denen Joes Manuskripte und Notizen verstaut sind sowie Aktenordner und ungefähr ein Dutzend Lederjacken, die er sich im Lauf der Jahre zugelegt hat. »Ich suche nach etwas, das ich zur Erinnerung an meinen Vater behalten möchte.«

Wie rührend. Ich weiß nicht, was sie wirklich will, aber ich traue ihr nicht. »Hast du nicht gemerkt, dass die anderen schon gegangen sind?«

»Willst du mich rausschmeißen, Annie?«

»Bewahre. Aber ich wäre jetzt gern allein. Ich habe einen furchtbaren Tag hinter mir und keine Energie mehr, um mit dir zu streiten.«

Sie setzt ihr falsches Lächeln auf. »Du bist nicht die Einzige, die heute einen schweren Tag gehabt hat, aber weshalb sollte dich das interessieren?«

»Und dein Tag war so anstrengend, dass du beschlossen hast, noch kurz nachzuschauen, ob es hier etwas für dich zu holen gibt.« Ich kann auch biestig sein. »Jeder trauert auf seine Art, nehme ich an.«

»Du hast kein Recht, über mich zu urteilen. Du weißt nicht, wie ich mich fühle.«

»Seit wann hast du Gefühle? Hat der neue Therapeut, den Joe dir besorgt hat, einen Durchbruch erreicht? Nebenbei bemerkt, er wird von meinem Geld bezahlt.«

»Ich habe dich nie um Geld gebeten.«

»Oh doch. Weil jeder Dollar, den Joe dir zugesteckt hat, von mir kam. Du kannst nicht so naiv sein zu glauben, dass die Tantiemen von Burn noch so üppig fließen. Wie viel hat er dir letztes Jahr in den Rachen geworfen? Hunderttausend? Hundertfünfzigtausend?«

Lass gut sein, Annie. Mach jetzt lieber keine Szene. Aber es bricht aus mir heraus, alles, was ich ihr schon lange an den Kopf werfen wollte.

»Was mich stört, Lacey, ist nicht, dass du von meinem Geld lebst, was mich stört, ist dein Verhalten. Dein Dank dafür, dass wir dich durchgefüttert haben, besteht darin, dass du ein verfluchtes Enthüllungsbuch über deinen Vater und mich schreibst, worin du mich als strunzdummen Bauerntrampel bezeichnest oder, Verzeihung, als Schlampe. Zwischendurch beschuldigst du mich, meine Bücher nicht selbst geschrieben zu haben. Es war ein Albtraum für deinen Vater und mich.«

Sie gibt nicht klein bei. »Du bist mein Albtraum.«

»Ich hoffe, dein Enthüllungswerk bringt dir genug ein, um ohne die Zuschüsse von Daddy auszukommen.«

»Darum mache ich mir keine Sorgen. Ich werde bald finanziell ausgesorgt haben.« Sie schlägt mit der geballten Faust gegen die Wand. »Das einzig Gute am Tod meines Vaters ist, dass ich dich nie wiedersehen muss.«

Ich verliere den letzten Rest Beherrschung. »Das kannst du sofort haben! Hau endlich ab!«, schreie ich sie an.

Lacey schreit zurück: »Du hast mir meinen Vater gestohlen! Als du aufgetaucht bist, war ich für ihn gestorben!«

In diesem Moment und nicht eine Sekunde zu früh rauscht Christine ins Zimmer, die im Gästebad unter der Dusche gestanden hat. Sie bewährt sich wieder einmal als Friedensstifterin. Sagt zu Lacey, dass sie versteht, wie furchtbar dieser Tag für sie gewesen sein muss. Dass, auch wenn sie mich hasst, jetzt nicht der Zeitpunkt ist, Konflikte auszutragen. Wir hätten beide einen tragischen Verlust erlitten. Ich muss weinen. Dann bricht auch Lacey in Tränen aus. Fast bekomme ich Mitleid mit ihr.

Ich erinnere mich noch daran, wie es war, als mein Vater gestorben ist. Den eigenen Vater zu verlieren, und sei er noch so schlecht gewesen, stellt dein Leben von jetzt auf gleich auf den Kopf. Und zu Laceys Verteidigung muss ich sagen, dass Joe die meiste Zeit ihres Lebens der denkbar schlechteste Vater gewesen ist. In den ersten zwanzig Jahren kannte sie ihn nur betrunken, zugekokst oder abwesend, weil er wieder eine neue Affäre hatte. Dann kam die Phase, in der er von einer Entzugsklinik zur nächsten tourte, immer wieder rückfällig wurde und bei seiner Tochter Halt suchte. Kurz nachdem er den Absprung endlich geschafft hatte, kam er mit mir zusammen, und seine Tochter war wieder abgeschrieben.

Am Anfang unserer Beziehung habe ich wirklich versucht, Lacey in unser Leben einzubeziehen, trotz Joes Warnung vor ihrer Launenhaftigkeit.

Dann aber hatte sie nichts Besseres zu tun, als dieses Buch zu schreiben, in dem sie mich gnadenlos heruntermachte und an den Pranger stellte. Ich bin kein nachtragender Mensch, aber seither ist sie bei mir unten durch. Ein für alle Mal.

Christine legt den Arm um Lacey, führt sie aus dem Schlafzimmer und kommt dann zu mir zurück, während Lacey hinausgeht. Wir lauschen beide stumm auf das Klackern ihrer Absätze auf dem Parkett, das Geräusch der Wohnungstür, die geöffnet wird, und schweigen weiter, bis wir hören, wie das Schloss einschnappt.

Endlich ist sie weg. Meine Anspannung löst sich, ich gehe mit weichen Knien zum Bett und lasse mich auf den Kissenberg plumpsen. Ich schaue Christine an, dann auf Joes leere Betthälfte. »Kannst du bei mir bleiben, bis ich einschlafe?«

Christine kommt im typischen Watschelgang der Hochschwangeren zum Bett herüber, die Hände in den Rücken gestemmt, sodass ihr kugelrunder Babybauch gleich noch ein wenig größer wirkt. Sie lässt sich vorsichtig auf die Matratze sinken, streckt sich lang aus, und als sie den Kopf zur Seite wendet, um mich anzuschauen, lässt sie den lautesten Schwangerschaftswind rauschen, den ich je gehört habe. Wir müssen beide lachen und können nicht aufhören.

»Ich schwöre, dieses Kind wird mit einer üppigen Haarpracht zur Welt kommen«, schnauft sie. »Diese Blähungen und das Sodbrennen bringen mich um.«

Ich wedele mit gespieltem Entsetzen mit der Hand vor meinem Gesicht. »Mich auch, fürchte ich.«

Sie lächelt. »Ich kann noch ein oder zwei Tage bleiben, wenn du mich brauchst.«

»Kommt nicht infrage. Du gehörst in die Obhut deines Arztes. Das Kind kommt in einem Monat, du hättest dir die Reise gar nicht antun sollen.«

»Ich hab’s für dich getan. Und für Joe. Ich habe eure Beziehung all die Jahre miterlebt. Es war mir wichtig, mich von ihm zu verabschieden.«

Ich nehme ihre Hand in meine. »Ich weiß.« Dann streiche ich behutsam über ihren Bauch. Es ist überwältigend, die Bewegungen des Babys zu spüren, des neuen Lebens, das da in ihr heranwächst.

»Ich werde erst fahren, wenn ich weiß, dass du das Schlimmste überstanden hast.«

Ich nehme mir Zeit zu überlegen, was ich antworten soll. Christine redet nie einfach so daher – sie meint immer, was sie sagt. Deshalb mag ich sie ja so. Andererseits kann ich sie deshalb auch nicht mit den üblichen Phrasen abspeisen, was absolut nervtötend ist, wenn man nicht zu den Leuten gehört, die anderen gern ungehemmt ihr Herz ausschütten.

»Es ist komisch. Ich kann’s mir selbst nicht erklären. Natürlich bin ich traurig, schließlich habe ich den Mann verloren, mit dem ich dreizehn Jahre zusammen gewesen bin. Aber es ist mehr als das. Ich habe Angst und nicht nur vor dem Leben ohne ihn, von dem ich noch nicht weiß, wie es aussehen wird. Es kommt mir vor, als wäre meine Kindheit zu Ende. Als wäre ich heute auf einen Schlag erwachsen geworden. Dabei kann ich mich nicht erinnern, je eine Kindheit gehabt zu haben.«

Sie nickt. »So ist es mir ergangen, als dein Patensohn geboren wurde. Es war ein Schock. Mir wurde bewusst, dass da nun ein Lebewesen ist, für das ich die Verantwortung trage und immer tragen werde, und zwar eine verdammt große Verantwortung. Wenn man Kinder hat, hört man auf, Kind zu sein, damit sie es sein können.«

Genau bei Christines letztem Wort verkündet das Ping meines Smartphones eine neue Nachricht. Ich angle es vom Nachttisch und schaue nach. Sie ist von Joes Anwalt. Er habe mich während der Trauerfeierlichkeiten nicht behelligen wollen, aber ich solle ihn bitte morgen in seiner Kanzlei aufsuchen, es gebe einiges zu regeln und etliche Dokumente zu unterzeichnen. Alles nur Formalitäten.

6

ANNIE

Ich sitze im Vorzimmer der Kanzlei von Joes Anwalt, blättere in einer fast zwei Jahre alten Ausgabe von Bon Appétit und nippe an dem Mineralwasser, das einem standardmäßig angeboten wird. Wenn ich so darüber nachdenke, wird mir bewusst, dass ich den guten Mann seit einer halben Ewigkeit nicht gesehen habe und gar nicht mehr weiß, wie er aussieht. Glücklicherweise trage ich meine Sonnenbrille, deshalb wird er meinen leeren Blick nicht bemerken, wenn er vor mir steht und ich keine Ahnung habe, wer er ist. Lieber Gott, nicht einmal an seinen Namen kann ich mich erinnern. In meinem Handy ist er nur als Joes Anwalt eingespeichert.