Aber die Nacht ist noch jung - Liat Elkayam - E-Book

Aber die Nacht ist noch jung E-Book

Liat Elkayam

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Beschreibung

Flitterwochen, die Geburt des ersten Kindes, eine wilde Nacht in einem Club – drei Stationen im Leben einer Frau verwebt Liat Elkayam zu einem dichten Roman, der von der Sehnsucht nach Jugend erzählt, vom Glanz und vom Elend, heute in einem weiblichen Körper zu stecken. Liat Elkayam erzählt in diesem herausragenden Roman von drei Stationen aus dem Leben einer Frau, die hofft, worauf wir alle hoffen, auf die großen Momente im Leben, in denen sich zeigt, dass wir die richtigen Entscheidungen getroffen haben. Doch das reale Leben schiebt sich wie ein Zerrspiegel vor das gewünschte. Oder ist es andersrum? Mit diesem so einfühlsamen wie schonungslos ehrlichen, lakonischen Roman erkundet Liat Elkayam, wie wir uns in unserer Sehnsucht nach ewiger Jugend, nach Vollkommenheit und Effizienz verstricken und damit Gefahr laufen, uns selbst zu verlieren. Vier Uhr morgens am Strand von Tel Aviv. Die Hochzeitsparty ist vorbei, die Füße schmerzen, der Whiskey war gut, nur wo ist der Hotelzimmerschlüssel? Bei der jungen Frau schleichen sich erste Zweifel an der Ehe ein. Vielleicht, denkt sie sich, kehrt die Magie in den Flitterwochen zurück? Als einige Jahre später ihr Kind zu früh und mit Kaiserschnitt auf die Welt kommt, ist das erhoffte mütterliche Glück überlagert vom Piepen der Kontrollmaschinen, der Angst um das Baby im Brutkasten und ihren eigenen körperlichen Schmerzen. Sie fängt an, ein »Tagebuch der Erniedrigung« zu führen. Mann, Kind und Erfolg im Beruf – mit vierzig kann das doch nicht schon alles gewesen sein. In einer langen Nacht in einem angesagten Club lockt ein Seitensprung. Die Nacht ist ja noch jung! Mit diesem so einfühlsamen wie schonungslos ehrlichen, lakonischen Roman erkundet Liat Elkayam, wie wir uns in unserer Sehnsucht nach ewiger Jugend, nach Vollkommenheit und Effizienz verstricken und damit Gefahr laufen, uns selbst zu verlieren.

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Über das Buch

Flitterwochen, die Geburt des ersten Kindes, eine wilde Nacht in einem Club – drei Stationen im Leben einer Frau verwebt Liat Elkayam zu einem dichten Roman, der von der Sehnsucht nach Jugend erzählt, vom Glanz und vom Elend, heute in einem weiblichen Körper zu stecken.

Liat Elkayam erzählt in diesem herausragenden Roman von drei Stationen aus dem Leben einer Frau, die hofft, worauf wir alle hoffen, auf die großen Momente im Leben, in denen sich zeigt, dass wir die richtigen Entscheidungen getroffen haben. Doch das reale Leben schiebt sich wie ein Zerrspiegel vor das gewünschte. Oder ist es andersrum? Vier Uhr morgens am Strand von Tel Aviv. Die Hochzeitsparty ist vorbei, die Füße schmerzen, der Whiskey war gut, nur wo ist der Hotelzimmerschlüssel? Bei der jungen Frau schleichen sich erste Zweifel an der Ehe ein. Vielleicht, denkt sie sich, kehrt die Magie in den Flitterwochen zurück?

Als einige Jahre später ihr Kind zu früh und mit Kaiserschnitt auf die Welt kommt, ist das erhoffte mütterliche Glück überlagert vom Piepen der Kontrollmaschinen, der Angst um das Baby im Brutkasten und ihren eigenen körperlichen Schmerzen. Sie fängt an, ein »Tagebuch der Erniedrigung« zu führen.

Mann, Kind und Erfolg im Beruf – mit vierzig kann das doch nicht schon alles gewesen sein. In einer langen Nacht in einem angesagten Club lockt ein Seitensprung. Die Nacht ist ja noch jung!

Mit diesem so einfühlsamen wie schonungslos ehrlichen, lakonischen Roman erkundet Liat Elkayam, wie wir uns in unserer Sehnsucht nach ewiger Jugend, nach Vollkommenheit und Effizienz verstricken und damit Gefahr laufen, uns selbst zu verlieren.

Die Autorin

Liat Elkayam, 1975 in Tel Aviv geboren, studierte u.a. Bildende Kunst, Jura, Philosophie und Drehbuch. Sie war Redakteurin der Literaturbeilage von Haaretz, für die sie heute eine Kolumne schreibt. 2015 erhielt sie das Berlin-Stipendium der Akademie der Schönen Künste. Aber die Nacht ist noch jung wurde 2019 mit dem Preis des israelischen Kultusministeriums für das beste Debüt ausgezeichnet. Sie lebt mit ihren zwei Töchtern in Tel Aviv und lehrt Journalismus und Kreatives Schreiben am Sapir College.

LIAT ELKAYAM

ABER DIE NACHTIST NOCH JUNG

ROMAN

AUS DEM HEBRÄISCHENVON GUNDULA SCHIFFER

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

VERLAG ANTJE KUNSTMANN

Für Zoë, meinen Augapfel

FLITTER

 

Sie war überglücklich, dass sie die Hochzeit hinter sich hatte. Der ungeschmückte Wagen hielt vor dem Hotel am Ende der Promenade. Sie stiegen aus, und er umarmte zum Abschied den Fahrer, seinen besten Freund. Sie hatte gute Lust, den Freund, der ihr die ganze Hochzeit über auf die Nerven gegangen war, anzuspucken, entschied aber, dass sich das nicht gut mit ihrem puderrosafarbenen Kleid vertrug. In der einen Hand hielt sie ihr Täschchen, in der anderen die silbernen Servierplatten mit den Resten vom Catering. Hätte sie eine dritte Hand gehabt, sie hätte sich auch noch die Stirn gehalten, die auf dem Boden aufzuschlagen drohte. Was ein Segen, dachte sie, dass sie sich die Haare nicht mit Tausenden Nadeln auftürmen hatte lassen, sonst hätte sie jetzt Stunden damit zu tun, die Nadeln wieder zu entfernen. Die sieben Gläser Whisky, die sie getrunken hatte, machten sich mit einem Prickeln in den Fingerspitzen bemerkbar.

Das Schönste am Brautsein war, dass sie ständig jemand gefragt hatte, ob sie etwas trinken wolle, woraufhin sie diesem bloß das Zauberwort »Whisky« zuraunen brauchte, um sofort mit einem Glas versorgt zu werden. Sie stürzte ihre Drinks in wohlüberlegten Intervallen von mindestens zwanzig Minuten hinunter. Weil sie genug aß und zwischen den Drinks immer wieder ein Glas Wasser trank, wurde ihr nicht übel. Auch das jahrelange Training half vermutlich dabei, dass sie sich nicht besinnungslos betrank. Sie grinste breit, leicht beduselt, aber nur ein kleines bisschen beschwipst. Sie erinnerte sich an eine Hochzeit, bei der sich die Braut auf der Toilette vollgekotzt hatte; an eine Hochzeit, bei der der Bräutigam in Ohnmacht gefallen war, sich den Kopf an der Treppe aufgeschlagen und die Lippe aufgerissen hatte; an eine, bei der sich der Vater des Bräutigams an die Mutter der Braut herangemacht hatte; und an eine, bei der der beste Freund des Bräutigams so viel blauen Whisky aus dem Flachmann gesoffen hatte, dass er vom Rand der Tanzfläche aus das ganze Steak in hohem Bogen auf das Parkett reiherte. Die Szenen hatten sich so sehr in ihr Gedächtnis eingebrannt, dass sie einen Vollrausch unbedingt vermeiden wollte.

Auf der Hochzeit hatte sie wie wild getanzt. Die Fotografin beschwerte sich nachher, man könne sie unmöglich erwischen, weil sie nicht mal für eine Sekunde nicht in Bewegung war (und der Satz, den sie hinterherschob, gab ihr einen Stich ins Herz: Und du blinzelst auch die ganze Zeit). Doch jetzt, hier in der Hotellobby, hielt sie einen Moment inne und atmete unter den Millionen wirbelnden Glitzerlichtern des riesigen Kronleuchters mehrmals tief durch.

Jonatan hielt ihre Hand nicht, als sie hineingingen, er war zu beschäftigt mit seinen Servierplatten voller Essensreste, beschwerte sich über sein zerknittertes Ralph-Lauren-Sakko, das er nur deshalb zu tragen bereit gewesen war, weil sie es sich gewünscht hatte. Im Aufzug stellte er sich vor den Spiegel, begutachtete sich kritisch, zog die Wangen ein wie ein Model und hielt sie so. Eine vertraute Geste. Jeden Morgen zog er die Wangen auf diese Art ein, nachdem er sich etwa dreißigmal gekämmt und sein Spiegelbild geprüft hatte; auch jedes Mal, wenn er fotografiert wurde, darum sahen seine Lippen auf Fotos immer aus wie zu einem kleinen, wulstigen 0 geschrumpft. Das Neonlicht gab seinem blassen Teint einen rosafarbenen Ton mit einem Stich ins Graue. Was für ein schrecklicher Fehler, dass sie ihm das pinkfarbene Hemd gekauft hatte, auch noch für sechshundert Schekel! Der V-Ausschnitt lag eng am Hals an, erwürgte ihn fast. Sie selbst war in einem noch viel schlimmeren Zustand, wie sie bei einem flüchtigen Blick in den Aufzugspiegel feststellte. Sie hätte besser nicht gewagt, genauer hinzusehen. Von der Schminke war kaum etwas übrig, nur wenige Partien ihres Gesichts hielten sich noch tapfer – ein kreisrunder Fleck beigen Make-ups um das linke Nasenloch, die akkurate und ebenmäßige Schicht auf der Stirn –, doch die roten Lippen waren aufgesprungen, und der Pickel am Kinn war zwar abgeklungen, aber die trockene, rissige Haut drumherum blätterte ab. Sie hörte, wie etwas leise auf den Boden des Aufzugs trommelte. Sie bückte sich und entdeckte lauter kleine Perlen, die sich von einem gerissenen Faden ihrer bestickten Vintage-Tasche gelöst hatten.

Als sie den mit einem meerblauen Teppich ausgelegten Korridor entlanggingen, dessen Ende im Licht des Vollmonds schimmerte, fragte sie sich, ob er sie wohl in seinem Armen über die Schwelle heben würde wie im Film. Vor der Tür ihres Hotelzimmers stellte sich heraus, dass ihre Schusseligkeit diese Option – sollte sie je bestanden haben – zunichte gemacht hatte. Im Trubel der nachmittäglichen Hochzeitsvorbereitungen, auf dem Höhepunkt des Dramas aus Schminken, Mutter, begleitender Freundin und dem unablässig vor sich hin bürstenden und schwatzenden Friseur, hatte sie keine Sekunde an den Zimmerschlüssel gedacht, und jetzt, wie Tausende Male zuvor in ihrem Leben, war sie sich nicht mehr sicher, ob sie ihn eingesteckt hatte. Sie standen vor der richtigen Tür, nur nicht auf der richtigen Seite. Er schaute sie an.

»Hast du den Schlüssel?«

Schlagartig wurde ihr klar, und ihm auch: Sie hatte ihn nicht.

Erschöpfung und Enttäuschung standen ihm ins Gesicht geschrieben, ihr auch, nur dass sie sich trotz allem zusammenriss, noch einmal Hoffnung schöpfte und in ihrer Handtasche kramte. Sie fischte einen Lippenstift, ein Plastiktütchen mit Lidschatten und Wattestäbchen, das kaputte Telefon, eine Haarnadel und das Band vom Brautstrauß aus dem schmalen Täschchen. Während sie weiter in der kleinen, jetzt leeren Tasche wühlte, verzweifelt nach einem verborgenen Reißverschluss, nach irgendwas suchte, bemerkte er ein Zimmermädchen, schritt mit strammer Brust auf sie zu und fragte äußerst höflich, sogar mit einem warmen Lächeln: »Könnten Sie uns vielleicht ins Zimmer lassen? Wir finden den Schlüssel nicht.« Das Zimmermädchen nuschelte etwas Unverständliches auf Russisch. Er antwortete ihr auf Jiddisch, woraufhin ihm das Zimmermädchen ein Lächeln schenkte, sich zerstreut in den Haaren nestelte und eine kurze Antwort gab. Unterdessen wühlte sie weiter in ihrer Tasche und verhakte sich dabei in dem widerspenstigen Faden. Zehn weitere Perlen kullerten über den Korridor. Er wandte sich ihr mit einem hörbaren Seufzer zu, weil er das natürlich hatte kommen sehen, sogar noch Schlimmeres, und bestimmte: »Wir gehen runter in die Lobby.« Sie streifte die Ballerinas ab, die sie zum Wechseln mitgenommen hatte. Ihre Füße erinnerten sich noch immer schmerzlich an die fünf Stunden in den Riemchenpumps, die ihr das Fußgewölbe verkrümmt und den kleinen Zeh zerquetscht hatten. Sie schleppten sich den Korridor hinunter, der plötzlich grün wurde.

Im Aufzug achtete sie darauf, ihren Blick nicht zu heben. Die französische Maniküre hatte sich ausgezahlt, die rosa Grundierung ihrer Zehennägel war unbeschadet, doch ein dunkelroter Strich zog sich über die ganze Breite des Fußrückens, dort, wo sie der Riemen der silbernen Pumps malträtiert hatte. Er nahm ihre Hand, und sie wusste nicht, wessen Hand die kalte und wessen die warme war.

An der Rezeption saß ein Hotelangestellter mit laufender Nase. Vor ihm stapelte sich benutztes Toilettenpapier. Er putzte sich die rote Nase, es klang wie ein Trompetenstoß. »Gesundheit«, sagte sie. »Hören Sie, wir haben den Zimmerschlüssel nicht.«

Neugierig begutachtete der Rezeptionist den Inhalt seines Taschentuchs und fragte: »Ihre Zimmernummer?«

»219.«

Selbst die Nummer ihres Hotelzimmers ließ sich nicht durch zwei teilen, schoss es ihr durch den Kopf. Der Rezeptionist stöberte im Computer und in der Nase. »Wir sind schrecklich müde«, sagte sie.

Er musterte sie von oben bis unten, hämmerte auf die Tastatur ein und verkündete: »Dieses Zimmer wurde noch nicht bezahlt.«

Hitze stieg ihr von den schmerzenden Füßen bis hoch in den Kopf, und die Scham ließ sie erröten. Ihre Mutter war wieder einmal schusselig gewesen, oder sie hatte die Rechnung absichtlich nicht beglichen. »Dann bezahle ich eben«, sagte sie bestimmt, »aber um meine Tasche mit der Kreditkarte zu holen, muss ich ins Zimmer.«

Der Rezeptionist verzog den Mund. »Und woher soll ich wissen, dass das wirklich Ihr Zimmer ist?« Sie hatte keine passende Antwort. »Keine Ahnung, weiß ich nicht.«

Jonatan lief unterdessen hinter ihr hin und her, seine ausholenden Schritte hallten durch die leere Lobby. Ein Panther im Käfig. Der Rezeptionist zog geräuschvoll die Nase hoch und sah ins Licht. »Ich möchte Hatschi machen, aber es kommt nicht«, stellte er fest. Und gähnte. Sie gähnte zurück. Auf dem Tresen stand eine Tasse mit dem Hotellogo, gefüllt mit einer gräulichen Flüssigkeit, in der zwei Stückchen Zitrone schwammen. Der Rezeptionist nahm die Tasse, um den Inhalt zu begutachten, der eine Antwort barg, allerdings nicht auf ihre Frage. »Wir haben eine lange Nacht hinter uns. Sie sehen es ja, wir sind frisch verheiratet. Ich hatte den Schlüssel, ich habe bloß vergessen, ihn mitzunehmen. Bitte machen Sie uns doch endlich auf, schicken Sie jemanden aufs Zimmer, dann finden Sie unsere Sachen dort, mein Name steht auf der Reservierung.«

Zu seiner Erleichterung konnte der Rezeptionist nun endlich niesen, doch da kein Papier mehr auf der Rolle war, suchte er sorgfältig eines aus den benutzten auf dem Tresen heraus, eines mit langem, sauberem Schwanz, und schnäuzte sich erneut mit einem Trompetenstoß.

»Jetzt reicht’s, das ist doch eine Zumutung.« Ihre Stimme schwoll an, beinah jaulte sie, ein kaltes, aggressives Jaulen. »Es ist vier Uhr morgens, und ich will in mein Zimmer.«

Sie bemerkte, wie Jonatan ihr eine Hand auf die Schulter legte, und wusste, dass er sie in diesem Moment verabscheute. Wieder einmal überkam sie einer ihrer hysterischen Anfälle. Aus irgendeinem Grund trafen diese zügellosen Attacken stets die einfachen Angestellten. Einmal hatten sie furchtbar in einer Handy-Reparaturwerkstatt gestritten, nachdem sie die Mitarbeiterin anschrie, die ihr angeblich nicht gesagt hatte, dass beim Umstieg auf ein neues Gerät alle ihre Nummern gelöscht würden. Er sagte ihr, so könne man nicht mit den Leuten umspringen, es sei unverschämt. Was hatten sie schon getan? Sie taten nur ihre Arbeit, folgten penibel den Anweisungen, die sie bekamen, und es gab absolut keinen Grund, derart auszurasten. Was war bloß in sie gefahren? Wozu diese Respektlosigkeit?

Sie wusste, wie sehr er dieses Verhalten verabscheute und wie unglücklich der Zeitpunkt war, und biss die Zähne zusammen, um nichts mehr zu sagen. In der Stille ertönte der Schrei in ihrem Kopf wie eine Sirene mit tausend Dezibel. »So geht man nicht mit Kunden um, das ist kein Service. Und hören Sie endlich auf, sich vor mir die Nase zu schnäuzen, das ist ja widerlich.«

Der Rezeptionist musterte sie wieder, dieses Mal aber interessiert, als hätte er sie endlich gehört. Ohne Kommentar zückte er eine weiße Plastikkarte, tippte eine rote Zahl ein, sodass ein grünes Licht aufblinkte, und legte die neue Chipkarte auf den Tresen. Als sie in den Aufzug stiegen, gähnte sie wieder: Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass sich der Grad der Empathie eines Menschen auch darin ausdrückt, wie viel Zeit vergeht, bis er sich vom Gähnen des anderen anstecken lässt. Und hier war weniger mehr: Je weniger Zeit vergeht, umso größer die Empathie.

Jonatan steckte die Karte in den Schlitz, und das Licht leuchtete auf – allerdings rot. Er versuchte es noch einmal, rieb die Karte an seiner Hose, das Licht blieb rot. »Fuck«, sagte sie. »Funktioniert nicht«, sagte er. Sie setzte sich auf den Teppich. »Vergiss es, ich kümmere mich darum«, sagte er. Sie sammelte die Perlen ein, die zuvor auf dem Korridor in alle Richtungen gesprungen waren, rutschte auf zerkratzten Knien über den Boden, in einem Kleid, das viel luftiger und leichter aussah, als es in Wirklichkeit war, während er sich auf den Weg hinunter in die Lobby machte. Als er zurückkam, lehnte sie an der Wand, rasselte mit ihrem perlenbeladenen Täschchen wie mit einer einsamen Kastagnette. Sie hatte das Bedürfnis nach etwas Lärm, um nicht denken zu müssen. Er setzte sich neben sie. »Er hat gesagt, er schickt gleich jemanden rauf.«

»Danke, Pu«, sagte sie.

Plötzlich lächelte er, legte seinen Kopf in ihren Schoß. Sie streichelte über sein glattes Haar und die rauen, molligen Wangen.

Nach einigen Minuten kam ein junger Mann mit einem Stapel Chipkarten und öffnete ihnen die Tür. Die Sache mit der Schwelle hatte sie längst vergessen, er hastete aufs Klo, um zu pinkeln. Auf dem Tisch standen die bananenpunschfarbenen Blumen vom Nachmittag. Eine billige grüne Flasche Champagner, Geschenk des Hotels, thronte lauwarm und anklagend auf einem silbernen Tablett neben dem Bett. Sie öffnete die Reisetasche und zog mit heiliger Ehrfurcht das Nachthemd heraus, das sie sich extra für diesen Anlass gekauft hatte. Er kam in den neuen weißen Unterhosen aus dem Badezimmer. Seine Schenkel waren dünn, aber muskulös. Das Haar hell und feucht, unendlich schön.

»Ich habe mir die Haare nass gemacht, zum Duschen habe ich keine Lust mehr, Pu«, sagte er. Sie war so beschäftigt damit, was sie jetzt zu tun hatte und ob er in dieser Nacht wohl mit ihr schlafen würde und was es zu bedeuten hatte, dass er sie den halben Abend lang ignoriert, ihr nicht einmal in die Augen geschaut hatte, dass sie nur sagte: »Gut, aber ich möchte schon duschen, okay?«

Beladen mit Utensilien ging sie ins Badezimmer, um gleich wieder herauszukommen, weil sie die Zahnbürste vergessen hatte. Er saß auf dem Bett und stocherte in dem Essen vom Catering herum, kaute auf den Resten eines Steaks und besudelte die Bettwäsche mit blutigen Fettspritzern.

Im Badezimmer nahm sie die Badehaube aus der weißen Plastiktüte und verstaute ihre Mähne darunter, damit die glänzende Hochzeitsfrisur möglichst noch einen Tag länger hielt. Duschte rasch, aber gründlich, besonders sorgfältig wusch sie die Vagina, einschließlich der Schamlippen, dann zückte sie eine frische Rasierklinge, um etwaige Borsten am After zu eliminieren. Sie benutzte das harte Seifenstück des Hotels. Hätte sie eine Flüssigseife von zu Hause mitgebracht, hätte sie riskiert, dass der Spender in der Tasche auslief, und das hatte ihr gerade noch gefehlt. Inspizierte ihr Gesicht im Spiegel. Die Haut war vom Make-up ausgetrocknet, es musste dringend eine Feuchtigkeitscreme her. Sie kramte in der Tasche. Hatte vergessen, welche einzupacken. Kratzte die trockene Haut um den Pickel am Kinn herum ab, auf die Gefahr hin, dass es zu bluten begann, überkleisterte den Schandfleck mit Make-up. Sie wollte unbedingt schön aussehen, und noch mehr wollte sie, dass er ihr sagte, sie sei schön. Lächelte sich selbst im Spiegel an, es sah erbärmlich aus. Wie zum Trost prüfte sie ihren weißen, flachen, von den Alkoholdämpfen brodelnden Bauch. Trug rotes Lipgloss auf und zog das Nachthemd aus der Stofftasche; mit der cremeweißen Spitze am Abschluss war es fast schön genug, um als Brautkleid durchzugehen. Nur die Träger waren schwarz, aus weichem Samt. Das Dekolleté war tief ausgeschnitten. Durchschimmernde rosa Brustwarzen, enge, betonte Hüften und vom Stoff verhüllte dickliche Knie. In der Hoffnung, dass er nicht eingeschlafen war, ging sie zu ihm. Er lag schon im Bett, seine Kleider hatte er wild durcheinander aufs Bett geworfen, sein Blick war schläfrig, aber er lächelte. Auf Spitze sprang er immer an. »Komm«, sagte er mit seiner sanften, niedlichen Kinderstimme, und sie freute sich, dass er wach war, kroch zu ihm unter die weißen Laken. In Sekundenschnelle waren sie ineinander verschlungen. Er unter ihr, doch offenbar hatte er die Stellung bestimmt, nicht sie. Seine Augen waren glasig, ihre von einem dünnen Schleier überzogen. Er kam, ohne etwas zu sehen. War im Nu eingeschlafen.

Sie lag neben ihm und sagte sich: »Mein Ehemann, mein Ehemann. Mein Mann. Mein Mann.« Wieder. Vielleicht diesmal. Vielleicht ein Flüstern. Nur im Herzen. Mein Ehemann, mein Ehemann. Es ist wahr. Wirklich. Sie versuchte, sich selbst zu überzeugen.

Gedanken an die Hochzeit prasselten auf sie ein. Kann es sein, dass Milka wieder schwanger ist? Warum hat Jochai sich nicht gegen den aufdringlichen Doron gewehrt? Warum ist Avischag nicht gekommen? Wie sehr sie sich verausgabt hatte. Sie war hin- und hergependelt zwischen seinen Kiffer-Kumpanen und ihren nerdigen Kollegen einerseits und seiner religiösen Familie und ihrer Clubgänger-Clique andererseits. Der Ort hatte mit seinen zwei Etagen für die Trennung der verschiedenen Welten gesorgt und sie mehr als sechzigtausend Gesichter gestreift.

Auf der Hochzeit von Catherine und David vor einem Monat hatten sich Braut und Bräutigam so wenig um die Gäste gekümmert, dass sie sich für sie schämte. David behauptete, er sei auf einem Trip, obwohl er nicht einmal einen Joint angerührt hatte, ließ sich einfach treiben, während Catherine sich die ganze Zeit mit ihrem Asthmaspray auf die Toilette flüchtete, wo sie sich vor ihrer Schwester versteckte, die ihr mit Puder und Lippenstift dicht auf den Fersen war und immerzu »Touch-up, Touch-up« kreischte. Wegen Catherine und Davids Hochzeitstermin hatten sie ihren eigenen um einen Monat verschoben. Vielleicht wäre aber genau das der richtige Zeitpunkt für sie gewesen, um zu heiraten. Wer weiß das schon. Wirklich. Am meisten wünschte sie, es würde bei ihnen genauso sein wie bei Adam und Carmela, die sich die ganze Nacht geküsst und einander gefragt hatten: »Erinnerst du dich noch, wie …« »Hast du gesehen, dass …« »War das ein Spaß, als …« Immerhin hatten sie sich nicht wie Dafna und Lior gegenseitig die eingegangenen Schecks vorgezählt.

Sie stand auf, ließ Wasser in die Wanne ein, und tänzelnd wie bei einer Verführung kehrten all die kleinen Demütigungen des Abends zu ihr zurück. Alex, der Jonatan nach der Chuppa sein »Beileid« ausgesprochen hatte. Rotem, der, mit der Videokamera betraut, diese aus Versehen ruiniert hatte, sodass niemand die Trauung filmen konnte. Gal, der beinahe die Party verdorben hätte, weil er mit Schirli und Dafna flirtete, bis seine neue Freundin nach der Hälfte des Abends ging. Dafna, die die ganze Nacht wie ein kaputtes Spielzeug auf der Stelle auf und ab gehüpft war, bis ihr das trägerlose Kleid runterrutschte. Rotem, der ihrem gesamten Team aus der Arbeit halbe Ecstasypillen angeboten hatte. Und schließlich ihr Vater und ihre Mutter, die kein einziges Wort miteinander gesprochen hatten.

Er schlief wie ein Stein, und sie wagte es nicht, laut zu schreien und ihn zu wecken. Hellwach und nervös ging sie vom Bett ins Badezimmer und wieder zurück ins Schlafzimmer, vermaß im Kopf die Schritte und Augenblicke. Zog das spermabefleckte Babydoll aus. Sie mussten früh aufstehen morgen, das Zimmer bis elf Uhr räumen, er wollte bestimmt nicht das Frühstück verpassen. Sie hätte am liebsten eine Woche lang auf dem Teppich geschlafen, aber an Schlaf war nicht zu denken. Sie zog das Hemd ihres Mannes an, knöpfte es bedächtig zu und trat auf den Korridor hinaus, wobei sie die Champagnerflasche in die Tür klemmte, damit sie nicht zufiel, und schlich auf Zehenspitzen über den trockenen Teppich zum Fenster am Ende des Korridors. Mondlicht fiel auf den Strand, drei Palmen und eine gelbe Tankstelle. Auf der anderen Seite färbte sich der Himmel bereits violett. Sie presste die Nase gegen die Scheibe, atmete aus und malte mit dem Finger ein Herz auf das Glas. Dann kehrte sie ins Zimmer zurück und kuschelte sich wie immer von hinten fest an ihn und schlief ein. Gut möglich, dass er ihre Hand nahm, aber selbst wenn nicht, änderte es nichts.

Der Morgen zog mit einem starken, gleißenden Licht herauf. Sie hatte versäumt, die Jalousien zu schließen. Alles erstrahlte in Gelb, und sein Haar funkelte, jedes einzelne in einer anderen Farbe. Sie lugte auf die Uhr neben dem Bett. Zehn. Sie waren nicht rechtzeitig für das Buffett aufgewacht. Was ein Glück. In einer Stunde war Check-out. Sie stand auf, um zu duschen. Sie musste das Gesicht noch einmal waschen, frische Abdeckcreme auf den Pickel auftragen. Sie hatte Lust, wenigstens den Swimmingpool auszuprobieren. Sie packte den Lippenstift, seine Kleidung und das hauchdünne Nachthemd zusammen. Putzte sich die Zähne und ließ all die kleinen, verzierten Fläschchen des InterContinental samt Seife und Conditioner mitgehen. Dann schlüpfte sie in den roten Badeanzug und verbarg die schwarzen Ringe unter den Augen hinter der riesigen schwarzen Sonnenbrille, die sie für die Flitterwochen gekauft hatte. Auch er stand auf und folgte ihr lustlos hinunter. Der Hotelpool war mit kleinen Kindern und jauchzenden Familien bevölkert. In ihrem Kopf schallte noch immer die Diskomusik. Lovely day, lovely day, lovely day. Sie ging allein ins Wasser, schwamm auf dem Rücken bis zum Ende des Pools, der so angelegt war, dass man meinte, das Wasser ergösse sich von hier aus geradewegs ins Mittelmeer. Er trat an den Beckenrand, ragte über ihr, ein weißer, schattenwerfender Körper, die Augen zusammengekniffen. Ein Kind feuerte einen bunten Ball ab und traf ihn am Hintern. Verblüfft fuhr er herum, das Kind lachte. Er hob den Ball hoch, schoss ihn hinüber auf die andere Seite des Pools, wandte sich dann an sie und fragte, ob sie Geld für ein Eis hätte, aber sie hörte es nicht. Nur die Stille des Wassers in den Ohren, trieb sie Richtung Meer.

Sie warteten auf das Taxi, das sie bestellt hatten. Zwei Menschen. Zwei Koffer. So früh am Morgen, und schon brannte die Sonne. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, der Wind, den es nicht gab, hätte es zerzausen sollen. Sie holte ihre neue Sonnenbrille heraus; stets ragten ihre Augenbrauen über den Rahmen, mochte der auch noch so riesig sein.

Als sie sich ins Taxi setzten, tastete sie nach seiner warmen Hand, schloss die Augen. Bei der Auffahrt auf die Ajalon-Schnellstraße wurde ihr übel. Sie hatte schon seit drei Tagen nicht mehr richtig geschlafen und nickte beinahe ein, da piepste plötzlich sein Telefon. Er ging ran: »Wir sind eben losgefahren«, und dann: »Das glaube ich nicht. Wirst du jetzt etwa emotional? Ich habe gerade geheiratet, und du jammerst mir die Ohren voll.« Es folgte eine sehr lange Pause, während der Jonatan, so beobachtete sie es aus dem Augenwinkel, nickte, wieder und wieder den Kopf schüttelte, obwohl sein Gegenüber es nicht sehen konnte. Die Person am anderen Ende der Leitung hörte offenbar gar nicht mehr auf zu sprechen; das konnte nur Alex sein. »David und Catherine sind also mit dem Fahrrad die französische Riviera hinuntergefahren. Und dann was?«, fragte Jonatan und gestikulierte wild mit den Händen. Riss sie hoch und beschrieb Kreise in der Luft. »Er trainiert also. Aus Angst, dass er wieder Letzter wird? In einem Monat fahren wir die ›Meer-zu-Meer‹-Tour, vom Norden runter zum See Genezareth, dann werden wir schon sehen, wer fitter ist.« Es folgte wieder eine lange Pause, dann lachte Jonatan und sagte: »Als wäre er der erste Mensch, der einen großen Fisch geangelt hat. Na klar doch, klar, und die Angelrute war aus Bambusrohr. Und der Fisch ein Meerbarsch, eine Seltenheit, sieben Kilo. Der konnte bestimmt auch reden, der Fisch, hat ihm ein Chanson vorgeträllert, sicher doch …«

Als sie am Flughafen ankamen und aus dem Taxi ausstiegen, zerbrach der Griff des riesigen Koffers, den sie sich von ihrer Mutter geliehen hatte. Vergeblich versuchte sie, ihn zusammenzusetzen. »Hast du mir auch Socken eingepackt?«, fragte Jonatan. Sie nickte. Der Griff fiel wieder auseinander, sie hielt die einzelnen Plastikteile und den Knauf in Händen. Reglos verharrte sie einige Sekunden auf der Stelle, bis er verkündete: »Damit werde ich schon fertig.« Er schubste den schweren, schlingernden Koffer mit Gewalt vorwärts und verzerrte sich dabei die Armmuskeln. Sie versuchte, mitzuhalten, schleppte sich neben ihm vorwärts, in der einen Hand den Strohhut, in der anderen ihren kleinen, leichten Trolly, der enthielt, wovon sie sich unmöglich trennen konnte: zwei Paar in Stofftaschen eingeschlagene, unglaublich teure Schuhe und einen Beutel mit einem Großvorrat an Kosmetika, der die Katastrophe ihrer alternden Gesichtshaut aufhalten sollte.

Am Schalter der Fluggesellschaft sagte die junge Frau mit Halstuch: »Okay, ist das jetzt alles? Ihr Koffer hat zwei Kilo Übergewicht.« Jonatan schaute sie an, wackelte tadelnd mit dem Finger und zog eine Augenbraue hoch oder versuchte es zumindest, denn ungewollt ging die andere mit. Sie summte leise »Lovely day, lovely day, lovely day«, um nicht daran zu denken, was er sich jetzt wohl dachte.

Vor der Passkontrolle hatte sich eine lange, gewundene Schlange gebildet. Jonatan reihte sich ausgerechnet in die längste ein, just hinter eine Gruppe schwarz gekleideter Orthodoxer. Ein Greis, zwei Erwachsene, vier Kinder. Ein Stapel runder Schachteln für ihre Hüte. Er stellte sich absichtlich dicht hinter sie, die Hände hinter dem Rücken, die Brust nach vorn geneigt, den Kopf schiefgelegt. Sein Kinn berührte fast den unteren Hals. Er sah aus wie einer von ihnen. Jonatan zupfte eine Weile an seinen Bartstoppeln und rempelte dann absichtlich einen der Jungen an, der sich auch sofort umdrehte. »Verzeihung«, sagte Jonatan. Der Junge lächelte und neigte den Kopf. »Wohin fahrt ihr?«, fragte Jonatan. »Nach Hause«, antwortete der Junge mit amerikanischem Akzent und maß sie mit einem kurzen Blick. »Und wo ist das?«, versuchte Jonatan, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Der Junge lächelte wieder, schenkte Jonatan einen kleinen Magneten, und noch bevor er ihm danken konnte, wurde der Junge von einem der anderen Kinder am Schaufaden seines Hemds weitergezogen und von dem schwarzen Haufen verschluckt. Die religiöse Karawane hatte die Ausweiskontrolle schon fast erreicht und stimmte lauten Gesang an: »Ein Wallfahrtslied. Ich hebe meine Augen zu den Bergen, woher kommt meine Hilfe?« Jonatan zupfte wieder an seinen Bartstoppeln, fasste sich in den Schritt, beäugte den Magnet mit dem Reisesegen. »Gauner, böse Bestien«, murmelte er, »eine Religion für Paranoide.«

Sie sah auf die Uhr im oberen Bereich der Halle und zählte rückwärts. Die Zeiger bewegten sich im Kreis. Der Flughafen als Transitstation hat tatsächlich keine Stunden für sich allein, die Zeit ist hier relativ, wird vom Moment des Abflugs diktiert. Sie hatten nur noch zwanzig Minuten. Sie ahnte, dass sie durch den Duty-Free-Shop würde hetzen müssen. Bei ihrer ersten gemeinsamen Auslandsreise hatte er sie schnurstracks in einen Elektroladen gesteuert und alle Kopfhörer mit Adapter durchprobiert, bis fast keine Zeit mehr blieb; erst in allerletzter Sekunde hatte sie sich allein zum Parfüm und zum Schmuck durchgeschlagen und im Handumdrehen zweihundert Dollar ausgegeben. Als sie in den Elektroladen zurückkehrte, hatte er sich nicht vom Fleck gerührt, stand mit offenem Mund da, die Unterlippe voller Wut über sie, die ihn alleingelassen hatte, trotzig vorgeschoben. »Warum bist du einfach weggegangen?«, fragte er, und sie erinnerte sich, dass er ihr einmal davon erzählt hatte, wie er als Kind im Kaufhaus verloren gegangen war und seine Mutter ihn nicht wiederfand, sodass er noch Jahre später Albträume davon hatte. Da war sie wütend auf sich selbst geworden. Bei ihrer zweiten Reise wich sie nicht von seiner Seite. Selbst dann nicht, als er im Spielzeugladen eine intelligente Tanzmatte kaufen wollte, die man an den Computer anschließt, um dann zu allen möglichen Popsongs darauf zu tanzen. Sie pflichtete ihm enthusiastisch bei, auch wenn sie sich zur Begeisterung zwingen musste, denn sie war sich absolut sicher, sie würden diese Tanzmatte, sobald die erste Euphorie abgeklungen war, nie wieder benutzen, nicht einmal als Badvorleger. In Gedanken rechtfertigte sie den Kauf mit dem Argument, dass sie das Spiel gut für ihre Arbeit testen könne, und schwor sich parallel, eine Lehre aus dieser Sache zu ziehen. Und tatsächlich, jetzt, zu Ehren ihrer Flitterwochen, bat sie ihn zärtlich und äußerst vorsichtig, sich im Duty-Free-Shop doch bitte zu trennen. Er war einverstanden, sie würde ihn bei den CDs antreffen, und ging leichten Schrittes davon. Vielleicht macht der Ehering es ja leichter, sich auch mal zu trennen, obwohl er sie ein bisschen am Finger juckt. Sie wanderte rüber zu den harten Getränken, griff, ohne zu überlegen, nach einer Packung Zigaretten und legte sie gleich wieder zurück, denn Jonatan ging davon aus, dass sie mit dem Rauchen aufgehört hatte. Stattdessen warf sie eine Flasche Glenfiddich in den Korb und krönte ihr Einkaufsritual mit einem Chanel-Lippenstift Nummer 226, der den sprechenden Namen »Die Nacht ist noch jung« trug, zum Preis von fünfunddreißig Dollar. Eines Tages würde die Produktion exakt dieser Nummer eingestellt werden. Was für ein Horror. Das hatte die Heldin eines Buches erleben müssen, das sie gelesen hatte. Und war deswegen glatt durchgeknallt. An der Kasse kaufte der junge Mann vor ihr einen Berg M&Ms für fünfhundert Dollar. »Die kleinen Flacons von Cacharel hier packen Sie bitte auch noch ein.« Als sie mit dem Bezahlen dran war und die Bordkarte vorzeigen sollte, fand sie den blauen Umschlag mit dem Reiseplan nicht, den sie von der Frau aus dem Reisebüro ihrer Mutter bekommen hatte. Darin befanden sich natürlich auch die beiden Flugtickets. Das schiere Grauen. Sie stürmte durch den neonbeleuchteten Gang zurück zum Whisky; die etwa hundert Meter dorthin schienen ewig, eine endlose Reihe aus Fläschchen über Fläschchen in allen erdenklichen Formen. Welch große Erleichterung, als der Umschlag in dem Regal gegenüber vom Whisky auf sie wartete, versteckt unter dem dämlichen Strohhut, den sie ebenfalls liegen gelassen hatte.

Im Flugzeug dann, als ihnen die Stewardess ihre Sitzplätze zuwies, mussten sie feststellen, dass sie auf verschiedenen Seiten des Gangs saßen. Sie geriet in Stress, es erschien ihr wie ein schlechtes Omen. Die Dinge sprachen wieder zu ihr. In weinerlichem Ton wandte sie sich an die Stewardess: »Aber das sind unsere Flitterwochen.« Die Stewardess zog eine perfekt gezupfte Augenbraue hoch; ja, sie war eine echte Meisterin im Hochziehen nur einer Augenbraue. »Es tut mir wirklich leid«, sagte die Stewardess, der es ganz und gar nicht leidtat, mit dem Gesichtsausdruck von jemandem, der schon unzählige Beschwerden gehört hat. »Der Flug ist ausgebucht, und Sie haben Ihre Sitzplätze nicht beim Vorab-Check-in reserviert.« Sie ging weiter, schloss nacheinander die prallvollen Gepäckfächer über den Köpfen der Passagiere.

»Aber es sind unsere Flitterwochen«, sagte sie noch einmal zu Jonatan, jetzt in einem etwas schrilleren Jammerton. Sie merkte, wie ihre Stimme brach, sie beinah schon weinte, was sie selbst überraschte.

»Soll ich nach jemandem rufen?«, fragte Jonatan. Sie nickte und machte sich innerlich auf eine vierstündige Katastrophe gefasst. Wo sollte sie nur ihren Strohhut verstauen? Ihn aufzusetzen, war lächerlich, und in den vollgestopften Ablagen würde er zerknautscht. Jonatan beugte sich zu ihr herüber, wollte die beiden Mädchen, die neben ihr saßen, dazu überreden, den Platz zu tauschen. Die beiden kicherten und wollten sich partout nicht voneinander trennen, also wandte er sich an den bärtigen Mann neben sich und sagte: »Wären Sie vielleicht so nett? Ich möchte neben meiner Frau sitzen.« Dieser eine Satz allein war die ganze Reise wert. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Der Bärtige wechselte sogar sehr gern, ein hübsches Plätzchen neben den zwei glucksenden Mädchen, deren Kichern sich allerdings beruhigte, als er sich neben sie setzte. Die eine der beiden bemerkte verzweifelt, dass ihr neuer Nachbar nach Schweiß roch.

Für sie aber war die Welt jetzt wieder in Ordnung. Sie hoben ab in ihre Flitterwochen und saßen nebeneinander. Der Hut ruhte auf ihren Knien, seine Hand lag in ihrer. Jetzt nur nichts essen, dann würde sie sich auch nicht übergeben müssen.

Nach der Landung schlug ihnen schon in der Gangway heiße Luft entgegen und blies ihr den Hut vom Kopf. Sie rannte dem Hut hinterher, bis er mit einer Drehung zu Füßen eines Reisenden landete. Als sie sich nach dem Hut bückte, strich sie mit der Hand versehentlich über ein Paar braune, butterweiche Mokassins, über denen die Kuppel eines strammen Wanstes in modisch geschnittenem Streifenanzug hervorragte, gekrönt von einem rosafarbenen Halstuch, weißem Bart und einer hohen zerklüfteten Stirn. Ein älterer Herr mit dunkler, offenbar gepuderter Haut und dünnem Schnäuzer warf ihr einen warnenden Blick zu. Dann schlurfte er in seinen Mokassins ein paar wenige Schritte vorwärts, drehte sich zur Wand und zündete sich hinter vorgehaltener Hand eine Zigarette an; er nahm drei tiefe Züge und atmete zweimal aus. Anschließend spuckte er geräuschvoll auf die Zigarette, die er zuvor hinter der gewölbten Hand versteckt hatte, und die Glut erlosch.

Sie überlegte, wann sie selbst die Zeit dazu haben würde, sich kurz davonzustehlen, um eine zu rauchen. Der Mann hob seine geballte Hand, es sah aus, als wollte er sie im nächsten Moment ansprechen, doch da hörte sie Jonatan rufen. Hand in Hand machten sie sich auf den Weg zum Gepäckband. Auf nichts freute sie sich jetzt mehr als auf das Wiedersehen mit ihren schönsten Kleidern. Sie betete zum Gott der Luftfahrt und des Shoppens, dass nur ja nicht die geflügelten Sandalen von Hermès verloren gingen. Jedes Mal, wenn das mechanische Riesenmaul einen weiteren Koffer ausspuckte, reckte sie erwartungsvoll den Hals. Aber nein, ein Koffer nach dem anderen sprang heraus, nur ihrer wollte nicht kommen. Es waren allesamt metallisch blitzende Plastikkoffer auf vier Rollen, während sie nach einem schwarzen, weichen, zerbeulten Koffer Ausschau halten mussten. Da überkam sie das heftige Verlangen, so, wie sie war, zu den Koffern auf das Gepäckband zu hüpfen und sich dort oben im Kreis zu drehen.

Auf der Fahrt nach Venedig aß er drei Sandwichs mit Rucola und Prosciutto für je acht Euro. Die weitläufige Landschaft zog in einem Gemisch aus Grün und Braun vorbei. Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder, aber die farbige Leinwand draußen blieb genauso hässlich wie zuvor. Sie musste versuchen, zu schlafen. Als sie endlich in einen leichten Schlummer fiel, legte er seine Hand auf ihr Bein. Sie war sofort ganz aufgeregt, griff nach dem Telefon, um ein Foto zu machen. Seine Hand mit dem großen Ehering umschloss ihren Oberschenkel.

Als sie entschieden, am Bahnhof ein privates Wassertaxi zu nehmen – auch wenn das die teuerste Option war –, schien für einen Augenblick alles in Ordnung: Ganz Venedig tat sich vor ihnen auf. Der Himmel war strahlendblau, das Wasser grün und trüb, der große Palast zeigte sich am Horizont, die Kuppel von Gerüsten umstellt. Im Schlepptau des Bötchens tanzten Wassertropfen, die sich in allen Farben des Regenbogens brachen; am Hals des Fahrers, ihres Steuermanns, wehte ein rosafarbenes Tuch. Es war wirklich alles sehr ruhig, die Republik machte ihrem Namen alle Ehre: Selbst der geflügelte Löwe schien träge zu gähnen.

Jonatan lächelte ein wohlbedachtes Lächeln, damit man ja nicht seine unvollkommenen Zähne sähe, sie streckte die Zunge heraus. Und er machte ein Foto von ihnen beiden.

Die Reise war das Hochzeitsgeschenk ihrer Mutter. Ein Geschenk, das sie sich nicht gewünscht und darum auch nicht freudestrahlend entgegengenommen hatte. Sie traute sich normalerweise nicht, sich etwas zu wünschen, und ein Geschenk annehmen will auch gelernt sein, ein Talent, das sie nicht besaß. Doch weil sie so gern nach Venedig wollte, ja unbedingt sogar, riss sie sich zusammen und nahm das Geschenk an, unterwürfig und innerlich grollend. Er meinte zwar, Venedig sei zu touristisch, aber sie bestand darauf: Venedig oder gar nichts.

Sie konnte sich gut an die Stadt erinnern. Die erste Italienreise hatten ihre Eltern ihr zum Abschluss des Armeedienstes geschenkt. Als sie aus dem prächtigen Rom nach Venedig kamen, wurde ihr klar, dass sie sich nie in diese Stadt verlieben könnte. Schon auf den ersten Blick war sie abgestoßen von all den arg modrigen, verfallenen Gebäuden. Ihre Eltern und sie waren an der Haltestelle, die nur rund zweihundert Meter vom Hotel entfernt lag, aus dem Vaporetto gestiegen; doch trotz des Stadtplans irrten sie mit den schweren Koffern, bis oben hin vollgepackt mit den in Rom gekauften Schuhen, etwa eine halbe Stunde lang treppauf, treppab und über unzählige Bogenbrücken durch die kleinen Gässchen. Verwöhnte Göre, die sie war, hatte sie ihrer Mutter, der von dem Schiffsgeschaukel noch ganz schlecht war, vorgeworfen, das alles sei nur ihre Schuld: Warum nur waren sie solche Geizhälse, dass sie sich kein Wassertaxi bis direkt vor die Tür leisteten? Und schämte sich gleich darauf natürlich, dass sie sich so dreist und undankbar benahm. Es war schon spät, als sie endlich ihr Hotel erreichten; etwas zu essen bekamen sie jetzt nur noch in dem zum Hotel gehörigen teuren Restaurant. Doch an diesem Abend schmeckte ihr das venezianische Essen aus süßen Sardinen, Polenta und schwarzer Tintenfischsoße zu den Spaghetti ganz und gar nicht. Es schmeckte nach Verzweiflung. Im Morgenlicht dann verwandelte sich Venedig in eine Art touristische Parodie: Sie traten aus dem Hotel, um die Stadt zu erkunden, und die Gondelwettfahrt auf den Kanälen, all die Schiffe mit den bunten Flaggen, hob ihre Stimmung. Sie ließen nichts von dem aus, was der Touristenführer empfahl und Venedig zu bieten hatte: den »O sole mio« singenden Gondoliere, die Buntglasbläser von Murano, die Korallenketten, die Tauben auf dem Markusplatz, Aperol Spritz, Prosciutto und Melone. Sie trug ein Kleid, das sie sich extra für Venedig aufgehoben hatte: kurz, in Gelb und übersät mit roten Blumenblüten. Als sie es anprobierte, philosophierte ihre Mutter: »Gelb passt nicht zu uns sterblichen Menschen.« Und: Wann sie sich endlich die Haare waschen würde? Doch sie beharrte und wusch sich während der ganzen fünf Tage ihrer Reise das Haar nicht ein Mal. Sie hatte es zuvor sorgfältig zurechtgeföhnt, denn mit ihren neunzehn Jahren ertrug sie sich nur mit geglättetem Haar. Später, beim Betrachten der Fotos von der Reise würde sie sich dafür schämen, wie sehr das Kleid ihre kurvigen Formen betonte. Auch an ihrer glatten weißen Haut, den glänzenden Augen und Haaren würde sie sich nicht erfreuen. Trotzig sollte sie sich nicht über ihr breites Becken, die molligen Arme hinwegtrösten lassen und sich erinnern, wie nach vier Tagen, als sich das Boot langsam von Venedig entfernte und sie ans trockene Festland brachte, mit einem Mal, ohne dass sie gewusst hätte, warum, die Tränen nur so geflossen waren. Sie hatte ihre feuchten Wangen berührt und sich gewundert. Seit Jahren hatte sie nicht mehr geweint, und jetzt diese Tränenbäche, deren Herkunft sie sich nicht erklären konnte. Vielleicht kamen sie aus der Zukunft? Denn siehe da, jetzt war sie wieder zurück, war wieder in Venedig. Für ihre Flitterwochen.

Von dem Augenblick an, da sie das Hotel betraten, spürte sie, wie sich etwas in ihr veränderte. Ein übler Gestank wehte vom Pier herüber. Sie waren in dem wunderbarsten Hotel an den Ufern des Kanals untergebracht, das sie je gesehen hatte. Es war eigentlich kein Hotel, sondern ein richtiger Palast; an den Wänden hingen riesige, schwere Ölporträts von gepuderten Schönheiten, die Decken schmückten goldene Schnitzereien und ausladende Muranoglas-Leuchter in der Gestalt von Sepien, die ihre langen, dünnen Tentakeln in alle Richtungen ausstreckten. Es fehlte nur ein Zwerg im Concierge-Anzug vor einem kirschroten Samtgebirge und der Soundtrack zu »Twin Peaks«.

Als sie die Tür zu ihrem Zimmer öffneten, war es, als zerfiele die Wirklichkeit in zwei eng verbundene Teile, wie eine Schwarz-Weiß-Fotografie, auf die jemand ein transparentes Pergament gelegt hat, um darauf Formen und Räume mit zartem Buntstift abzupausen. In der einen Wirklichkeit wirken die Farben bunt und einladend. Gelbe Rosen sind in einer Vase drapiert, die Wände in einem kräftigen Hellblau gestrichen, die Spiegel vergoldet. Das Zimmer ist typisch venezianisch, zauberhaft. Weitläufig, mit in den Boden eingelassener Badewanne, in der man zu viert baden könnte, und Wänden aus Marmor, deren schwarz-weiße Adern sich ineinander verschlingen.

In der anderen Wirklichkeit ist alles verzerrt. Das Bett besteht aus zwei eng nebeneinanderstehenden Hälften, wie es bei den Europäern üblich ist. Das Zimmer ist lang und schmal wie ein Korridor. Ein mächtiger Spiegel hängt so an der Wand, dass er das Bett spiegelt – sie würde gezwungen sein, sich selbst splitternackt beim Sex zuzusehen. Sie öffneten das Fenster, das auf ein Stück Kanal, größtenteils aber auf die Wand des Gebäudes gegenüber blickte. Warum hatten sie kein Zimmer nach vorne raus bekommen, eines mit wunderbarem Ausblick, fragte sie sich, warum nicht die Honeymoon Suite? Sie schauten aus dem Fenster, er umarmte sie von hinten, so wie sie es gernhatte, und legte sein Kinn auf ihre Schulter.

»Ich will runter in die Lobby, die sollen uns ein anderes Zimmer geben«, sagte sie.

Aber er hatte Lust, sich verwöhnen zu lassen, hauchte ihr ins Ohr: »Ich will lieber mit dir schlafen.«

»Nein«, erwiderte sie mit einer Entschiedenheit, die sie selbst verwunderte. »Wir müssen sofort umziehen, noch bevor wir auspacken.« Er weigerte sich, und sie blieb stur; schließlich ging sie allein hinunter, wo man ihr mitteilte, es gebe keine freien Zimmer mehr. Daraufhin erkundigte sie sich, ob es Massage gebe, und man sagte ihr, schon in einer halben Stunde sei ein Termin frei.

Die Masseure, ein Mann und eine Frau, waren um die dreißig, genau wie sie beide, nur eben zwei Italiener, sonnengebräunt und mit wallendem Haar, ein gesunder Glanz umgab sie wie ein Glorienschein. Er war schön wie ein griechischer Gott, sie schön wie eine Göttin, ihre Arme muskulös und behaart. Die Frau fragte sie, ob sie lieber vom Mann oder ihr selbst massiert werde. Sie drehte sich fragend nach Jonatan um, doch der winkte ab, es war ihm egal.

Sie überlegte, was schlimmer wäre: Wenn die Frau ihn berührte und er einen Ständer bekäme, würde sie vor Eifersucht darüber sterben, dass er die andere anziehender fand als sie, die ihm so vertraut war. Aber wenn der Mann sie massierte, würde sie vor Scham vergehen, dass ein fremder Mann sie berührte. Sie kam zu keinem eindeutigen Ergebnis. Es wäre viel weniger peinlich, wenn die Frau sie massieren würde, aber umso grauenhafter, wenn der Mann ihn massierte und ihn das scharfmachte. War ja schon vorgekommen. Zumindest bei ihm.

Sie entschied sich für die Variante mit den offensichtlich weniger negativen Folgen und wählte für ihn die Frau. Die Masseure zogen die Betten auseinander, holten eine Lage blitzsauberer, gebügelter Laken und legten sie mit großen Wogen wie zwei synchronisierte Maschinen über die Betten. Anschließend sollten sie duschen. Jonatan ging zuerst, er würde schneller fertig. Schon nach zwei Minuten war er zurück, ein Handtuch um die Hüften gebunden wie ein russischer Boxer. Als sie dann im Bademantel aus der Dusche kam, nahm sie erstaunt zur Kenntnis, dass der Mann damit beschäftigt war, Jonatan durchzuwalken. Was sollte sie dazu sagen? Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich der Berührung einer fremden Frau zu überlassen, die nur ihre Arbeit tat.

Die Masseurin nahm eine Flasche klebriges Jasminöl, das alles andere als betörend roch, und gab ihr zu verstehen, dass sie sich, nachdem sie allen Schmuck abgelegt hatte, auf den Bauch legen sollte. Beim Abstreifen des Eherings kam eine trockene, gerötete Stelle zum Vorschein. Die Masseurin knetete die Muskeln an ihren Schulterblättern, ein angenehmes Gefühl, das allerdings an der Oberfläche blieb. Sie hätte es vorgezogen, wenn die muskulöse Italienerin ihren Daumen tiefer in den verspannten Muskel ihrer Klientin gedrückt hätte, um den Schmerz und die Anspannung zu lindern, die sich in den letzten Wochen vor der Hochzeit darin angesammelt hatten. Der Mann schien seinen Dienst besser zu verrichten, sie lugte rüber und sah ihn gekonnt Jonatans Schienbein bearbeiten. Der genoss es sichtlich, mit geschlossenen Augen und entspanntem Gesichtsausdruck.

Aber konnte es vielleicht sein, dass die Berührung der Masseurin auf geheimnisvolle Weise doch mehr bewirkte, als sie dachte? Denn irgendwann zwischen Schultern und Fußsohlen schlief sie zum ersten Mal seit drei Tagen ein. Der Schlaf war nicht tief, aber süß. Als sie aufwachte, ging Jonatan telefonierend im Zimmer auf und ab. Er sprach ein so gebrochenes und stotterndes Englisch, dass sie zusammenfuhr. Dieser israelische Akzent. Offensichtlich hatte man ihn von der Rezeption aus angerufen, um Bescheid zu geben, dass ein anderes Zimmer für sie bereitstand. Nur dass sie das Zimmer jetzt nicht mehr wechseln wollte. Aber nachdem sie derart gedrängt hatte, musste sie es durchziehen. Alles andere wäre unverschämt. Nachdem sie offiziell die Augen aufgemacht hatte, teilte er ihr außerdem mit, es habe sie jemand von der Arbeit angerufen, und zwar ganze drei Mal. Sie sank in sich zusammen, saß fest zwischen Skylla und Charybdis, dem Satan und dem tiefblauen Meer. Vor ihrer Abreise hatte Jonatan sie darum gebeten, keine Arbeit mit in die Flitterwochen zu nehmen, und widerwillig hatte sie sich gefügt. Doch wenn Aviad dreimal anrief, musste etwas vorgefallen sein. Hoffentlich würde es ein kurzes Gespräch. Die Sekretärin ihres Büros stellte sie in eine Konferenz durch, die bereits im Gange war, und sie wusste gleich, warum er angerufen hatte. Auf dieses Gespräch mit dem Venture-Capital-Fonds, der sie unterstützen wollte, hatten sie lange gewartet. Als sie zugeschaltet wurde, nahm Gal, der stellvertretende Geschäftsführer, gerade richtig Fahrt auf, skizzierte poetisch und geistreich den Plot in dem neuen Spiel »Prometheus und Pandora«, das sie gerade entwickelten. »Wir beginnen die Quest bewusst am allbekannten Ende der Geschichte«, sagte Gal, »und erzählen sie weiter: Was passiert, wenn sie die Hoffnung aus der Büchse entlässt. Wir servieren hier ja keine Quiche, ich meine, Verzeihung, keinen Kitsch.«

Aviad sprang ihm zu Hilfe: »Was danach mit Pandora geschieht, das hat bisher noch niemand als Geschichte erzählt.«

»Und was passiert am Ende, wenn Sie all das schon am Anfang verschleudern?«, fragte eine ihr unbekannte Frauenstimme.

»Wir gehen zurück zum Anfang der Geschichte, hören mit dem Konflikt auf, ob sie die Büchse öffnen soll oder nicht«, sagte Gal.

»Und wem soll das gefallen?«, fragte die Frauenstimme kalt.

Sie beschloss, sich einzumischen: Die User würden das Spiel mehrmals spielen, um immer schlauer zu agieren. »Hören Sie auf zu quatschen, erklären Sie mir lieber, wie Sie genügend Werbeanzeigen akquirieren wollen«, erwiderte die Investorin und legte auf.

»Das war Tacheles, sie hat recht«, fasste Gal die Konferenz zusammen. Sie sackte in sich zusammen. Jonatan starrte sie an. »Meiner Meinung nach geht es hier gar nicht um die Anzeigen«, sagte sie, während Jonatan sich betont langsam vor ihr anzog, sein Hemd zuknöpfte, den Rücken streckte, seine Brustmuskeln spielen ließ, ohne sie aus den Augen zu lassen. Eine lebendige Werbeanzeige. »Wie meinst du das?«, fragte Aviad.

Sie zuckte mit den Schultern, wollte schon zu einem Plädoyer ansetzen, klarstellen, dass sie keine Wahl hatten, doch der Spalt zwischen Jonatans Lidern wurde von Sekunde zu Sekunde schmaler und schmaler. »Was an Geld hereinkommt, ist das eine, wie viele Anzeigen, das andere. Konzentrieren wir uns doch einfach auf das Geld, das reinkommt. Das ist das Wichtigste«, sagte sie.

»Schon wieder du und dein buddhistischer Schmu. Weil das Denken die Wirklichkeit bestimmt, ja?«, fragte Gal. Sie wies darauf hin, dass ihre Argumentation in diesem Punkt absolut wissenschaftlich sei, so unzweifelhaft wie der Schnurrbart von Schrödingers Katze, aber ihre Kollegen schienen nicht überzeugt. Als sie das Gespräch beendete, sagte Jonatan vorwurfsvoll: »Du nimmst deine Arbeit nicht mit? Leere Versprechungen.« Er verdrehte die Augen und verließ das Zimmer. Das neue Zimmer war deprimierend. Kleiner, Standardausstattung. Eine Holzdecke ohne einen von diesen Kronleuchtern mit Tentakeln, die denjenigen, der ihn anblickt, auf den Meeresboden des Schlafes ziehen. Als sie die Koffer auspackte, musste sie feststellen, dass sie ausgerechnet die Gesichtsseife vergessen hatte. Sie fühlte sich mies.

Abends gingen sie in »Harry’s Bar« zum Essen. Selbst Jonatan konnte sich dafür begeistern, weil sie ihm erzählte, dass Orson Welles immer hierhergekommen war und das Lokal noch immer einem Sohn oder Enkel von Giuseppe Cipriani gehörte, dem Erfinder des Carpaccio. »Wer ist dieser Harry eigentlich?«, überlegte er. Das Lokal lag in unmittelbarer Nähe zu ihrem Hotel; unterwegs kamen sie an den vier Pferden vorbei, die aus dem Hippodrom in Konstantinopel entführt worden waren, und es schien, als würde eines von ihnen sie mit seinem funkelnden, rubinroten Auge verfolgen. Sie blieb neben einem Schaufenster von Missoni stehen, überschlug, ob sie genug Geld für das Kleid mit dem Zickzack-Muster

DIE SÄUGER-MASCHINE

 

DAS WISSEN DES KÖRPERS

Tag: 1

Datum: 25.12.

Zeitpunkt des Blasensprungs: 1:38 Uhr

Sie hatte großen Durst, wollte aber nicht um etwas zu trinken bitten, aus Angst, wieder auf die Toilette zu müssen.

Wie spät es wohl war? Vielleicht war es schon Zeit, aufzustehen. Sie öffnete die Augen.

In einem mit strahlend weißen Bettlaken bezogenen Eisenbett, nur eine Handbreit von ihr entfernt, lag eine rothaarige Frau auf der Seite und stopfte Sachen aus dem Nachtschränkchen in eine große Nylontasche von Hello Kitty. Der dicke Bauch der nackten Frau hing nach unten. Die Wangen waren gerötet. Der Vorhang ihres Bettes war zurückgezogen, und sie trug das Lächeln einer Gesalbten.

»Sie haben ganz schön geschnarcht. Es war so laut, dass ich dachte, Sie wachen selbst davon auf. Ihre erste Geburt?«

Sie nickte.

»Kaiserschnitt?«

Sie nickte.

»Ich hab schon zwei hinter mir und lebe noch. Ich bin Chaja. Im Badezimmer sind Badelatschen, sie sind ganz neu, können Sie mir glauben, da müssen Sie sich nicht ekeln.«

Flüsterstimmen weckten sie. Eine flackernde Neonbirne. Der Vorhang rundum zugezogen. Eine dunkelgrüne, mit rosa Blümchen übersäte Wand aus Stoff.

»Gott sei Dank. Dreimal auf Holz geklopft. Wir haben es nur dem Segen von Rabbiner Schimschoni zu verdanken, dass bei Schirani trotz Steißlage alles gut gegangen ist. Sein Name sei gepriesen. Ohne PDA. Umso besser.«

»Schirani, Liebes, trinkst du auch Dunkelbier? Und iss ein paar Mandeln, das ist gut fürs Stillen.«

»Ich trinke ja. Mama, es reicht jetzt.«

Um die eine Hand war ein dünnes, weißes Nylonband gebunden, an der anderen der Verschluss befestigt, der sie mit dem tropfenden Infusionsbeutel verband. Trotz der groben blauen Wolldecke fror sie an den Zehenspitzen. Sie wollte jemanden rufen, aber da war niemand, nach dem sie hätte rufen können. Sie war allein. Wollte nicht nach dem Unterleib tasten. Wollte nichts wissen. Wollte nur aufstehen. Das Gesicht des kleinen Mädchens sehen.

Dieses Mal weckte sie ihr trockener Mund. Die Zunge klebte am Gaumen. Und wieder diese Stimmen. Fremd. Kaum zu unterscheiden.

»Hier, nimm sie. Das ist Iris, Schirani.«

»Mein Spatz, wie geht’s? Sie haben mich in Stücke gerissen.«

»So hat es Gott gewollt.«

»Du hast keine Ahnung, was da draußen los war. Ich und Jossi standen mitten auf der Ajalon-Schnellstraße im Stau, es war fünf Uhr morgens, und ich hatte alle drei Minuten Wehen. Die Motorhaube fing an zu rauchen, Jossi stellte ein Warndreieck auf, ich wand mich vor Schmerzen auf dem Rücksitz. Ich war außer mir, und kein Taxi in Sicht, nichts. Leben in mir und die Straße tot. Schließlich hielt auf der anderen Seite ein Auto mit zwei jungen Burschen um die zwanzig, unterwegs nach Hause von irgendeiner Party, und die haben uns mitgenommen. Das ganze Auto stank nach Bier und Zigaretten. Wir sagten: ›Zum Ichilov.‹ Aber die haben gar nicht kapiert, wovon wir reden. ›Wo, was für ein Ichilov?‹«

Schirani war also die neue Wöchnerin im Zimmer. Sie wollte den Vorhang beiseiteschieben, doch als sie versuchte, sich aufzusetzen, wurde ihr schwindlig. Sie zögerte kurz, dann drückte sie auf den Notknopf. Eine Frau in Weiß erschien und zog den Vorhang auf. Fünf Uhr dreißig morgens. »Jetzt sehen wir doch mal, ob Sie Wasser lassen können. Was ist Ihnen lieber, Tabletten oder eine Spritze gegen die Schmerzen? Sie können auch beides haben. Und das Trinken nicht vergessen, hier ist Wasser für Sie. Ziehen Sie bitte Krankenhaushemd und Unterhosen an und nehmen Sie einen frischen Verband mit.«

Die Schwester half ihr aus dem Bett und begleitete sie zur Toilette, viereinhalb Schritte. In der einen Hand hatte sie den Infusionsbeutel und die Utensilien, mit der anderen hielt sie sich das Krankenhaushemd zu – hinten offen, dass Schirani und Schiranis Mutter jetzt bloß nicht guckten.

Sie löste einen Knoten hinten und setzte sich.

Sie spürte nichts. Es war nicht so, dass sich nichts verändert hätte, es hatte sich extrem viel verändert. Der Bereich, in dem operiert worden war, vom Bauchnabel abwärts, war wie taub, sie fühlte dort nichts. Keinen Schmerz, kein leichtes Prickeln. Nicht mal einen Luftzug auf der Haut. Aber sie konnte Pipi machen. Ein Wunder. Das Gehirn sendete den Befehl dorthin, wo sie selbst nichts als Leere spürte. Und siehe da, es lief, deutlich hörbar. Das Wissen des Körpers.

Sie nahm den roten Verband ab und linste nach unten. Eine breite, mit kleinen Nadelstichen stramm zusammengehaltene Schnittwunde. Der Bauch sah aus wie ein Gesicht: Brüste – Augen, Bauchnabel – Nase und, seit Neuestem, darunter der Schnitt – ein breiter, rosafarbener Mund. Sie hatten offensichtlich einen ziemlich langen, geraden und gleichmäßigen Schnitt von rechts nach links gezogen und, als das nicht reichte, entlang einer etwas kleineren, diagonalen Linie noch nachgeschnitten. Darum lächelte sie der Mund von da unten jetzt leicht schief an.

Nach dem Waschen öffnete sie die Box mit der Einwegunterwäsche, die die Schwester ihr zugesteckt hatte: weiße Netzschlüpfer, geschnitten wie Hot Pants. In Schwarz wären sie fast sexy. Solche Schlüpfer hätten eigentlich in ihrer Krankenhaustasche sein sollen, denn sie hatten auf der Was-in-die-Krankenhaustasche-kommt-Liste gestanden. Natürlich war die Tasche jetzt nicht hier. Sie hatte sie nämlich noch gar nicht gepackt. Zwei Monate vor dem Termin. Damit hatte niemand gerechnet.

Sie kam aus der Toilette, wollte der Schwester von ihrem Erfolg erzählen, aber die war verschwunden.

Zu ihrer Überraschung fand sie im Regal neben dem Tisch ihre Schuhe, sie warteten dort geduldig zusammen mit den gebrauchten Strümpfen. Sie bückte sich, doch der Körper streikte, ein unerklärlicher Widerstand blockierte sie. Sie nahm die Zehen zur Hilfe, um einen Strumpf herauszufischen und in den Schuh zu gleiten. Trat aus dem kleinen Zimmer auf den Korridor der Abteilung, den Infusionsständer neben sich her rollend und dabei mit dem Schwanz aus Plastikschläuchen wedelnd.

Alle Zimmer mündeten in den zentralen Raum, der vor ihr lag: Linoleumboden, Formica-Stühle und ein riesiges, leeres Buffet auf einem Metalltisch, hinter dem sich das Stationszimmer befand. Sie ging zu der Station, wartete, lehnte sich gegen die Säule am Empfangstresen. Eine Schwester spähte hinter dem Vorhang hervor.

»Wer sind Sie?«

»Ich muss zu ihr, zu meinem Baby.«

»Aber wer sind Sie?«, wiederholte die Schwester leise, sprach langsam jede Silbe einzeln aus. »Wie lautet Ihr Familienname?«

»Schneider.«

Die Schwester schaute in den Computer, und ihr Gesicht färbte sich safrangelb. »Sie hatten erst vor wenigen Stunden einen Kaiserschnitt, Sie sollten überhaupt nicht herumlaufen.«

Ganz in ihrer Nähe stand ein Rollstuhl. Vielleicht schaffte sie es bis dahin, sie musste nur noch einmal durchatmen. Die Schwester kam aus der Station heraus, schob den Rollstuhl zu ihr, setzte sie hinein und fuhr sie durch schwere Türen hindurch in einen größeren, kühlen Korridor.

Im orangenen Licht des weitläufigen Korridors leuchtete grell ein Neonschild: »Geburtshilfe – Wartezimmer«. An den Wänden hingen riesige Bilder in Schwarz-Weiß. Die Schwester steuerte mit einer Hand den Rollstuhl, mit der anderen den Infusionsständer. Die Bilder folgten rasch aufeinander wie in einem Film. Das erste zeigte eine jemenitische Hochzeit. Ein kleiner Bräutigam kniete unter der Last der traditionellen Gewänder nieder. Die Augen der Braut waren mit blauem Lidschatten geschminkt, sie hatte kleine Silbersternchen im Haar, das Hennaornament eines Kreises auf der Handinnenfläche. Kaftane hüpften im Kreis. Die Bilder waren nicht nach einer erkennbaren Logik aufgehängt. Dann, am Ende der Reihe ein einziges, ungewöhnliches Bild: eine alte Eisenbahn in klassischer Zentralperspektive, die einen Tunnel verließ und in eine offene, europäisch anmutende Landschaft aus immergrünen Tannen und dornigen Büschen fuhr. Hinter der Eisenbahn, wo alles verschwand, stand ein Schild und wünschte Gute Fahrt.

WO GOLD FLIESST

Tag: 1

Datum: 25.12.

Neugeborenes: lebt

Kopflage

Tag der Entbindung: 32. Schwangerschaftswoche + drei Tage

Räderquietschen. Und stopp. »Da sind wir«, sagt die Schwester. Auf dem Schild an der weißen, schweren Tür vor ihnen steht: »Neonatologische Intensivstation. Zutritt nur für Angehörige von Patienten. Kein Zutritt für Kinder.« Die Schwester schiebt sie behutsam vorwärts, öffnet die schwere Tür. Mit einem »Wusch« und »Klack« schlägt sie hinter ihnen zu.

Die Reise geht weiter durch einen langen, engen Neonkorridor mit gelben Fliesen, an vielen verschlossenen Türen vorbei bis zu einem großen Waschbereich am Ende. Die Schwester parkt sie vor den Waschbecken, öffnet mit einem kleinen goldenen Schlüssel ein Schränkchen, zieht einen Packen gelben Stoffs daraus hervor, zeigt auf ein Schild und sagt: »Machen Sie, was hier steht, und dann ziehen Sie sich bitte wieder an.« Bevor sie sich abwendet, weist sie auf eine große, weiße Tür: »Das ist der Eingang.«

Auf dem Schild über dem Waschbecken wird alles detailliert erklärt. Zunächst muss man Schmuck und Uhren ablegen und sich dann zwei Minuten lang mit der rosafarbenen Flüssigseife die Hände und Unterarme waschen. Ordentlich schrubben, anschließend mit Wasser nachspülen, damit die Bakterien durchs Becken abfließen. Eine ältere Frau kommt hinzu und stellt sich neben sie. Bestimmt eine Oma. Die Frau ist über und über mit Ringen und Armreifen behangen, legt sie aber nicht ab. Sieht sie nicht, was auf dem Schild steht? Das gehört sich nicht. Sie schrubbt sich mit der rosafarbenen Seife die Hände. »Oma, die Verschlüsse Ihres Goldschmucks wimmeln nur so vor Bakterien«, müsste man ihr sagen. Müsste ihr klarmachen, wie rücksichtslos das von ihr ist. Sie hat ihr Zeitgefühl verloren. Warum hängt hier keine Uhr? Sie schrubbt weiter. Die Bakterien-Oma ist fertig mit Waschen, dann kann sie auch aufhören, sie hat sich viel länger gewaschen. Sie desinfizieren sich beide. Ich soll mich einreiben, denkt sie. Eine Minute lang mit der blauen Septol-Lösung. Was ist Septol? Es ist kühl und brennt. Also, gut damit einreiben. Kurz abtrocknen und dann die Hand erneut eine Minute lang damit einreiben. Flüssige Minze. Im fünften Schritt muss man ein steriles, gelbes Krankenhaushemd überziehen.

Und jetzt ab durch die weiße Tür mit dem roten Schild »Zimmer 1«.

In Zimmer 1 flackern überall winzige, zuckende Lichter, und es ertönt ein ständiges Piepen in allen möglichen Tonlagen wie in einem deutschen Techno-Club. Rings um sie herum stehen durchsichtige Kästen, Puppenhäuser für Säuglinge. Am Kasten gleich neben ihr hängt ein Zettel: »Schneider, die Tochter von«. Der Adrenalinstoß lässt sie taumeln.

Da ist sie ja, sie liegt nur mit einer kleinen Windel bekleidet in dem aquariumartigen Inkubator und bewegt die Lippen, als würde sie saugen. Aber ihr Körper sieht gar nicht aus wie der eines Säuglings, sie ist unglaublich dünn, da ist kein Fettpölsterchen, nur Haut und Knochen, der Kopf fast wie von einem Alien. Man darf nur die Hand reinstecken, mit einem Nylonhandschuh, sie aber nicht berühren.

Schneider, die Tochter von hängt an einem Wirrwarr aus verzweigten Kabeln. Auf dem Monitor, mit dem die Kabel verbunden sind, flimmern Zahlen, aus denen man die Funktion jedes einzelnen ableiten kann. Eines misst den Puls, ein anderes den Rhythmus der Atemzüge, eines grün, das andere rot, wie bei einer explosiven Fracht. Und noch etwas wird hier gemessen, eine Reihe grauer, wechselnder Zahlen zieht flink über den Monitor. Was kann das sein?

Jemand legt ihr die Hand auf die Schulter, sie fährt hoch und dreht sich um. Aus einem grünen Kittel blickt sie die Schwester an. »Was hat diese Zahlenreihe zu bedeuten?«, fragt sie mit zitternder Stimme.

»Wollen Sie sich setzen?«, fragt die Schwester.