Aber du bist doch behindert - Sven Marx - E-Book

Aber du bist doch behindert E-Book

Sven Marx

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Beschreibung

49.000 Kilometer, 29 Länder, 20 Hauptstädte, 4 Kontinente, 1 Audienz beim Papst Das Paradies auf Erden ist für jeden Menschen etwas anderes - zum Glück. Für Sven Marx und seine Frau Annett hatte das Paradies in jedem Fall etwas mit Wasser zu tun, was wohl der Grund dafür war, dass sie mit ihrem Sohn nur fünfzig Meter vom Roten Meer entfernt lebten. Nach einem Tauchgang im Dezember 2008 war Sven, dem begeisterten Tauchlehrer, schwindlig und er bekam Sehstörungen. Als er im darauffolgenden Januar in Berlin zur Untersuchung ging, bekam er die Diagnose: Tumor am Hirnstamm. Eine sofortige Operation mit Komplikationen brachte ihn drei Monate auf die Intensivstation. Von Maschinen am Leben gehalten, für die Ärzte nur noch ein Pflegefall, war es das Aus für sein Paradies? Der damals 42-Jährige schwor sich, dass er mindestens 50 werden und dann eine 18-monatige Weltreise machen würde. Mit diesem Schwur begann der nun stark Sehbehinderte sein neues Leben: einen harten Kampf um jeden Kilometer. Jetzt, an der Schwelle zur Weltreise, hat er auf dem Rad bereits 49.000 Kilometer durch 29 Länder und 20 Hauptstädte auf 4 Kontinenten bewältigt und er konnte Papst Franziskus in einer Sonderaudienz die Hand reichen. Der Einblick in sein spannendes Leben mit vielen Abenteuern beginnt für Sie genau hier.

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Inhalt:

Vorwort

1. Flucht aus der Matrix – Erwachen nach dem Koma

2. Meine frühen Jahre

-

Ein Kind der Liebe

-

Stubenarrest ist nicht das Schlimmste

-

Meine Liebe: Zweiräder

-

Mein erstes eigenes Rad

-

Wie ich mit Hunden meine Jugendweihe rettete

-

Im Seitenwagen in der Luft

-

Wir werden Kaskadeure

-

Ich bekomme ein Motorrad

-

Das Bike erblickt das Licht der Welt

-

In der DDR musst du arbeiten

-

Die Badewanne der Berliner

3. Wende- und Nachwendegeschichten

-

Unglaublich – das Ereignis meines Lebens

-

Alles strömt in eine Richtung

-

Was für ein Wiedersehen!

-

Ein Ende und ein Anfang 1—12

-

Unser Leben im Paradies 1—8

4. Mein Leben mit dem Tumor

-

Plötzlich ein Pflegefall

-

Flucht aus der Matrix – Fortsetzung

-

Wieder auf eigenen Beinen

-

Schwankend zum Standesamt 1—4

-

Radfahren nicht nur zur Muskelstärkung 1—2

-

Die erste große Tour 1—4

-

Forrest Gump ist nicht zu halten 1—9

-

Forrest Gump trifft „Inklusion braucht Aktion“

-

In Aktion für Inklusion 1—2

-

Auf der Schwelle zur Weltreise auf dem Fahrrad 1—3

5. Mein Nachwort

6. Inklusion braucht Aktion

Vorwort

ABER DU BIST DOCH BEHINDERT – für einige meiner Freunde ist das nicht der richtige Titel, für andere passt er genau. Ich weiß nicht, wie Sie es empfinden, ich will Ihnen aber eine kurze Erklärung geben. Als ich meine ersten Reisen machte, waren einige Leute entsetzt, weil ein Mensch mit Handicap ja solche Reisen unmöglich planen kann. Weil sie dachten, das wäre eine Nummer zu groß für mich. Nur wenige trauten mir das zu. Alle anderen dachten: ABER DU BIST DOCH BEHINDERT!?

Die Presse nennt mich mittlerweile oft den „Mutmacher“, und in meinen Vorträgen höre ich von den Menschen, die zu mir kommen, Vergleichbares. Wohin hat mich meine Reise geführt und wohin wird sie mich noch führen?

Ich selbst fühle mich immer noch als der Junge aus Berlin, der wie eh und je das macht, was ihm gerade einfällt. Ja, natürlich heute etwas überlegter als früher, als meine Weltreise aus den Abenteuern bestand, die ich auf dem Nachbarspielplatz erlebte. Aber immer noch stehen Abenteuer und Kennenlernen anderer Menschen im Vordergrund. Unterwegs sein, ruhe- und rastlos. Vielleicht aus Angst, irgendetwas zu verpassen, das es zu entdecken lohnt. Ich weiß es nicht genau.

Was ich sehr wohl weiß, ist die Tatsache, dass ich trotz meiner Behinderung – diese ist einem Tumor am Hirnstamm geschuldet – immer noch voll im Leben stehe und anderen mit meiner Geschichte etwas geben möchte. Mut und Zuversicht, dass das Leben irgendwie weitergeht – wenn man will.

Der Körper kann nur das machen, was der Kopf will. Und so treibt mein Geist meinen Körper an, immer weiterzumachen und mich aus der Diagnose „Pflegefall“ weiter und weiter zu befreien.

Zum Glück habe ich für mich entdeckt, dass das Leben auch weitergeht, wenn man seinem Lebensinhalt – in meinem Fall Motorradfahren und Tauchen – von jetzt auf gleich nicht mehr folgen kann.

Ein viel zitierter Ausspruch von mir dazu ist:

„Es ist nicht leicht, mit zwei lebensgefährlichen Diagnosen zu leben. Ich kann jedem nur raten, der eine lebensverändernde Krankheit hat: „GEBT AUF! Aber gebt nicht EUCH auf, gebt euer altes Leben so schnell wie möglich auf!!!“

So kann man es auch auf meiner Website lesen, die am Beginn meiner Reise als „Mutmacher“ steht, und die eigentlich nur als Ergebnis des Drängens von Freunden und Bekannten entstanden ist, mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen.

Die Website und mein erstes Video sind der Start für viele Dinge, die mir seit 2014 passiert sind. Denn seit nunmehr drei Jahren habe ich einen großen Teil meines Lebens mit der Öffentlichkeit geteilt, in der Hoffnung, dass meine Geschichte immer noch mehr Menschen ermutigt weiterzumachen.

Was ich durch meine Arbeit in der Öffentlichkeit für mich gelernt habe, ist, dass es da draußen in der Welt noch viele „Mutmacher“ gibt: Menschen wie du und ich. Zum Beispiel ein Rollifahrer, der mit dem Handbike ebenfalls der legendären Route 66 fast 4.000 Kilometer durch die USA folgte.

Oder eine blinde Frau, die ich auf meiner Reise durch das wunderschöne Japan traf. Der Wunsch dieser Frau war es schon immer gewesen, mit dem Rad durch Japan zu fahren; nun saß sie hinter ihrem Mann auf dem Tandem.

Ich lerne täglich dazu, und solange dies so ist, stehe ich nicht umsonst auf und das Leben hat einen Sinn.

Durch diese Begegnungen kann ich auch „Zweiflern“ weitere Beispiele liefern und sie ermutigen, weiterzumachen. Es gibt andererseits betroffene Menschen, denen meine Gehbehinderung mit Gleichgewichtsproblemen, ständigen Doppelbildern beim Sehen, Verlust des räumlichen Sehens und immer wieder auftretenden starken Hustenanfällen, weil mein Schluckreflex nicht mehr funktioniert und der Körper versucht, dem Speichel im Rachenraum den Zugang zur Lunge zu verwehren, „nicht behindert genug“ sind.

Mein Leben ist jetzt irgendwie anders und trotzdem für mich so gleich geblieben. Ich reise noch, tue alles für die Menschen, die ich in mein Herz geschlossen habe, und lasse den lieben Gott so oft wie möglich einen guten Mann sein.

Das Reisen geschieht auf eine andere Art und die Menschen, denen ich helfen kann, für die ich mich teilweise aufopfere, sind heute andere als früher. Trotzdem bin ich wie ich bin und war: sozial und reiselustig. Eigentlich hat sich für mich nichts geändert.

Und um dies alles den Menschen um mich herum näherzubringen und ihnen ein Verständnis für einen ganz normalen Typen von nebenan zu geben, habe ich dieses Buch geschrieben. Es startet nur aus einem Grund schon in meiner Kindheit – ich möchte die mir am meisten gestellte Frage beantworten: „Hast du allein unterwegs keine Angst?“

Ich habe mich an viele schlimme Ereignisse in meinem bewegten Leben erinnert, aber auch an noch viel mehr tolle, unvergessene Erlebnisse mit Freunden und Familie.

Ich wünsche mir, dass ihr nun Lust auf mein Buch bekommen habt. Denn die Reise beginnt für uns hier und jetzt. Viel Spaß bei den Geschichten eines ganz normal schwerbehinderten Typen aus Berlin!

1. Flucht aus der Matrix – Erwachen nach dem Koma

Dunkel. Es ist so dunkel, unsagbar dunkel.

Was ist das, warum ist es so dunkel? Wo bin ich? Warum ist es so dunkel? Was ist das für ein Ton, ein hohes Piepen, das sich immer im selben Abstand wiederholt? Ich kann hören, aber nichts sehen. Wenn ich hören kann, funktionieren ja vielleicht auch die anderen Sinne.

Mein Geruchssinn verrät mir nicht viel – es riecht sehr steril, wie frisch geputzt. Ja, als wenn Mütter putzen, die nicht wollen, dass ihre Kinder mit irgendwelchen Bakterien in Berührung kommen, weil sie ja Keime aufnehmen könnten. Kinder, deren Körper nie lernen, Abwehrstoffe zu entwickeln. Mensch, wie habe ich bloß überlebt? Wir haben dutzendweise Sandkuchen gegessen im Buddelkasten und man konnte den ganzen Tag mit schmutzigen Fingern auf dem Hof spielen.

Warum kann ich nur nichts sehen? Verdammt!

Das Schmecken funktioniert auch nicht richtig.

Aber halt mal, was ist das? Fühlen geht, aber was fühlt denn bitte meine Zunge da? Was ist das in meinem Mund? Warum bekomme ich eigentlich so schlecht Luft?

Jetzt wird dieses Piepen auch noch schneller. Mann Sven, wo bist du? Was ist hier los?

Fühlen ist doch einer der Sinne, der am nützlichsten ist, wenn man eine Sache nicht sehen kann. Fühlen zeigt dir Dinge vor deinem geistigen Auge. Wo ist meine Hand? Ich spüre meine linke Hand nicht. Wo ist sie? Egal, ich spüre meine rechte Hand. Was ist das in meinem Hals? Finde es heraus. Meine Hand ertastet einen Schlauch, der in meinen Hals geht, er kommt irgendwo von der Seite, ein Ende kann ich nicht erreichen. Das andere Ende führt auf jeden Fall in meinen Mund. Oh, und was ist das? Ein weiterer, viel schmalerer Schlauch verschwindet in meiner Nase. Was ist das hier alles nur? Wo befinde ich mich?

Dieses Piepen wird weiterhin schneller. Bleib ruhig, ganz ruhig, mein Freund!

Warum hab ich nur eine Hand? Warum sind Schläuche in Mund und Nase? Das muss ich doch herausbekommen.

Halt mal, was ist denn das nun noch? Ein ganzes Bündel von Schläuchen führt in meinen Hinterkopf. Und auch vorn steckt ein Schlauch in meinem Kopf.

Mann, was ist das hier? Das kann doch nur ein böser Traum sein.

Oder auch nicht? Vielleicht war alles, was ich bis jetzt erlebt habe, nur ein Traum, ein eingespieltes Bild. Ein Leben aus dem Computer, eingespielt über die vielen Anschlüsse an meinem Kopf.

MATRIX. Ja, Matrix würde passen. Du bist hier in der Matrix und dir wurde dein bisheriges Leben nur vorgegaukelt.

Du musst hier weg, das ist Fakt. Es gibt da draußen ein Leben, du musst dich nur befreien und dich dann den Leuten um Morpheus anschließen. Ja, das ist der Plan!

Dein Körper muss irgendwo festgemacht sein. Bestimmt kannst du dich darum nicht bewegen und spürst deine linke Seite nicht.

OK, fangen wir systematisch an. Die Anschlüsse an deinem Kopf spürst du. Du kannst sie sogar erreichen. Die müssen weg.

Die, die direkt in den Kopf führen, rühren sich nicht. Warum wird dieses Piepen nur immer schneller? Ist das ein Alarm, der anzeigt, dass ich hier weg will? Ich muss mich beeilen, bevor die Alarmierten hier erscheinen.

Der Schlauch in der Nase ist nur angeklebt, der lässt sich lösen. Ja, super, ein erster Schritt. Du kommst hier raus, kannst dein Leben selbst steuern und wirst nicht länger von Maschinen überwacht. Die Matrix wird dir nicht weiter ein Leben mit Tauchen, Motorradfahren und all den anderen Dingen einspielen. Ich weiß nicht, was mich in der Wirklichkeit erwartet, aber ich will hier weg.

Weg, weg, weg. Ich will leben und nicht von Maschinen zur Energiegewinnung genutzt werden.

Dieses verdammte Piepen wird schneller und schneller. Es kann nur ein Alarm sein. Sieh zu, dass du hier weg kommst. Bevor sie entdecken, dass du flüchten willst.

Der Schlauch in deinem Hals ist auch nicht besonders gut befestigt. Er muss raus, ja raus, das wäre ein weiterer Schritt in Richtung Freiheit. Wenn dieser verdammte Schlauch raus ist, bekommst du bestimmt auch wieder richtig Luft, kannst atmen, Luft in die Lungen saugen und spüren, wie sich dein Brustkorb hebt. Die Luft in den Lungen, den Blutbahnen, wird dir Kraft geben. Kraft, die du brauchst, um von hier zu verschwinden.

Auf in ein Leben ohne Steuerung von außen, von Maschinen am Leben erhalten um Energie zu spenden.

Gleich kannst du durchatmen und dann müssen nur noch die Anschlüsse an deinem Kopf weg. Du schaffst das, du bist ein Kämpfer, einer, der nie aufgibt. War das aber vielleicht auch alles nur dein Leben in der Matrix? War der Typ, der sich immer wieder aufrappelte, nur Illusion?

Werd jetzt nicht verrückt, dreh nicht durch. Du schaffst das, Sven! Der Schlauch, zieh den Schlauch und du bist dem Ziel wieder etwas näher.

Geschafft, der Schlauch ist raus. Das Piepen spielt verrückt, gleich kommen die Aufpasser, beeil dich, du musst hier weg ...

2. Meine frühen Jahre

Ein Kind der Liebe

Ein schicksalsreicher Tag in meinem Leben, wenn nicht der schicksalsreichste: Der 12. Mai 1967, meine Geburt, ich bin da und werde ein Leben mit vielen Höhen und Tiefen erleben. Ein Leben, das mich dahin bringt, wo ich jetzt bin.

Ich stehe an der Schwelle zu meinem bisher größten Abenteuer: Ich will einmal um die Welt fahren. Nichts Besonderes in der heutigen Zeit, viele haben diesen Weg schon beschritten. Einige davon sogar mit dem Fahrrad – ja, das wird auch meine Form der Fortbewegung sein.

Verrückt! Nein, auch das ist nichts Besonderes mehr, viele haben das schon getan oder tun es gerade. Das ist nichts Besonderes.

Was mich von den meisten dieser Menschen unterscheidet, ist wohl die Tatsache, dass ich schwerbehindert bin. Wenn etwas an dieser Reise besonders ist, dann vielleicht das. Aber auch das würde ich nicht überbewerten.

Nur was der Kopf will, kann der Körper auch schaffen.

Aber machen wir mal beim Zeitpunkt meiner Geburt weiter. Denn da gibt es einiges zu berichten.

Ich glaube, meine Eltern haben mich aus Liebe gezeugt. Ich kam im Mai zur Welt und stelle mir vor, wie meine Eltern an einem lauen Sommerabend im zarten Alter von etwa 18 Jahren eine verrückte Zeit durchmachten.

Mein Vater spielte früher Gitarre und hat so bestimmt einige Mädels in seinen Bann gezogen. Die Sechziger waren eine Zeit, in der man mit einer Gitarre die Welt erobern konnte.

Fakt ist, dass mein Vater mich sehr liebte und das bis heute so ist. Er fragt immer besorgt, ob es mir gut geht und ob alles OK ist.

Meine Mutter war vermutlich mit der Situation überfordert, mit 19 ein Baby zu haben, dessen dazugehöriger Vater bei der Nationalen Volksarmee seinem Vaterland dienen musste. Sie ließ mich oft allein und hatte wohl auch die eine oder andere Bekanntschaft außerhalb der Beziehung zu meinem Vater.

Eine Mitbewohnerin im Haus, in dem meine Mutter wohnte, berichtete meinem Vater davon in einem Brief zur Armee. Ich las den Brief durch Zufall, als meine liebevolle Tante Trautchen starb und wir schauten, welche Dinge in ihrem Nachlass für ihre Nachkommen und Verwandten wichtig und interessant waren.

Mein Vater war Hundeführer bei der Armee. Ich denke, dies war eine Tätigkeit, die ihm viel Spaß machte, ihn aber auch nachdenklich stimmte. Er erzählt heute noch manchmal davon, wie die Hunde dort scharf gemacht wurden, um den Menschen an der Grenze die Flucht zu erschweren. Grausam, wie man Hunden, den besten Freunden des Menschen, zusetzte, um Menschen, die eine andere Gesellschaftsform wählen wollten, dies mit Gewalt zu verwehren. Der Mensch ist grausam.

Eines Tages stand mein Vater in der Tür der gemeinsamen Wohnung und erwischte meine Mutter mit einem anderen Mann. Das war es, meine Mutter hatte da schon die Weichen für mein weiteres Leben gestellt. Und die Weichen führten nicht ins Lummerland der Augsburger Puppenkiste, zusammen mit Jim Knopf und der Wilden 13.

Die Augsburger Puppenkiste, na, da kommen doch bei vielen bestimmt tolle Erinnerungen hoch, unvergessliche Abenteuer aus der Kindheit. Geschichten, die gleich auf den Hof hinuntergetragen und nachempfunden wurden, toll.

Soweit ich mich erinnern kann, wollte mein Vater mich immer bei sich haben, meiner Mutter war dieser Gedanke hingegen zuwider. Ich weiß nicht, was damals wirklich passierte, aber ich werde im Lauf dieses Buches meinem Vater dazu mal ein paar Fragen stellen. Dies ist sehr wichtig für mich, da diese Informationen aus frühster Kindheit sonst für mich für immer verloren gehen.

Es leben nicht mehr allzu viele meiner Familie, die mir darüber Auskunft geben könnten. Es wird auch so etwas einseitig, da ich nur noch meinen Vater befragen kann. Meine Mutter starb vor ein paar Jahren an Lungenkrebs. Sie ist übrigens nicht die einzige in meiner Familie, die an Krebs gestorben ist. Vielleicht ist man ja wirklich schon von Geburt an mit der Anlage zu Krebs belastet. Aber es gibt auch genügend Beispiele, wo trotz Anlage kein Krebs ausgebrochen ist. Ich weiß es nicht und glaube, selbst die Gelehrten sind sich da nicht einig.

Oh ja, man kann sich, je nach seinen Wünschen und Hoffnungen, auf die eine oder andere Seite von Ansichten und Veröffentlichungen stellen. Meine Mutter verlor wohl sehr schnell den Bezug zu ihrem Sohn Sven. Sie war bestimmt damit überfordert, ein Kind aufzuziehen in einer Zeit, als sich in Deutschland einiges veränderte. Sie gehörte zu einer Generation, die nach dem Krieg aufwuchs und nichts von den Geschichten der Eltern von Krieg und Vertreibung wissen wollte. Eine Generation „Flower Power“. Schnell wurde klar, dass meine Mutter mich nicht aufziehen konnte. Mein Vater bemühte sich um das Sorgerecht. Damals war das noch aussichtsloser als heute. Es führte kein Weg dorthin.

So kam ich über viele Umwege zu meiner Tante Trautchen. Für mich war sie eigentlich meine Mutter und ihre Söhne waren wie meine Brüder. Brüder, von denen der eine mein Leben schon sehr früh prägte.

„Nimm den Quaden mit“, musste sich mein Cousin immer anhören. Ich denke, er war oft genervt, wenn er das Wort „Quade“ hörte.

Ein „Quade“, was ist das denn? „Der/die Quade“ ist die liebevolle Bezeichnung für die/den Jüngste/n in der Familie. Ein Wort, das man heute leider nicht mehr benutzt in Berlin. Schade, es verschwindet wie so viele tolle Wörter aus der Kindheit. Die Welt dreht sich weiter und ich vermute, jede Generation glaubt, dass früher alles besser war.

Peter, der eine Cousin, ist fünfzehn Jahre älter als ich und Wolfgang, der andere, zehn. Peter, der ältere von beiden, war mein großes Vorbild. Er fuhr Rad, sogar Rennrad. Er hatte all diese tollen Wimpel, Schleifen und Medaillen. Sogar ein Siegerkranz zierte seine Ehrenwand in dem kleinen Zimmer in Berlin Weißensee. Peter, der Radsportler beim TSC Berlin, war für mich der stärkste Mensch der Welt. Ein Gewinner, ein Superheld.

Die Leute in unserem Haus stellten meinem Cousin den Hauskeller zur Verfügung, der sonst für die Gemeinschaft genutzt wurde. Man unterstützte so sein Talent. Oh ja, die Menschen in unserem Haus unterstützten seine Leistung, indem sie auf ihre Stellplätze verzichteten und Peter mit all seinen Rädern dort einziehen konnte. Ich war so stolz, wir hatten eine eigene Werkstatt in unserem Keller, die tollsten Rennmaschinen und ich war immer dabei.

Dann kam der Tag, an dem auch Peter zur Armee musste. Seine Karriere als Rennradfahrer würde so nach anderthalb Jahren ohne Training vorbei sein. Ein Anschluss wäre nicht mehr zu schaffen. Aus und vorbei. Tja, so schnell kann das gehen.

Nach der Armee gründete er relativ bald eine eigene Familie. Anfangs wohnten sie noch bei uns in der Wohnung mit den zweieinhalb Zimmern. Wir rückten zusammen, das Schlafzimmer seiner Eltern wurde zum Wohnzimmer für Peters Familie. Meine Tante und mein Onkel bekamen nun eine Klappcouch und schliefen fortan im Wohnzimmer.

Die Klappcouch war damals die Erfindung, um knappen Wohnraum zu ersetzen. Am Tage wohnte man in dem Zimmer, empfing seine Gäste auf der Couch, und am Abend verwandelte sich das Wohn- in ein Schlafzimmer. So war das früher.

Stubenarrest ist nicht das Schlimmste

Doch Peter war nicht derjenige, der mein Leben prägte, der Altersunterschied war wohl zu groß. Aber über viele Jahre hatte ich noch seine selbstgemalten Postkarten, die er mir von der Armee gesandt hatte, in meinem Schrank. Goofy und Micky Maus waren auf den Vorderseiten.

Als drei-, vielleicht vierjähriger Pimpf hatte ich die Karten immer bei der Hand. Ja, am Abend, wenn ich ein Hörspiel im Radio hörte um einzuschlafen, hatte ich stets die Postkarten bei mir. Meine Tante legte sie dann vorsichtig beiseite, wenn sie später nach mir schaute, um das Radio auszuschalten. Diese Karten besaß ich noch sehr lange, sie sind erst irgendwie abhanden gekommen, als ich mit zwanzig Jahren zu Hause auszog. Ja, Peter war mein Held.

Aber geprägt hat mich das Zusammenhängen mit Wolfgang, meinem jüngeren Cousin. Falls „Zusammenhängen“ das richtige Wort ist, eher hatte er mich ja eigentlich immer an der Backe. Wie schon erwähnt hieß es immer: „Nimm den Quaden mit!“

Seine große Leidenschaft war Fußball. Er spielte noch bis kurz vor seinem Tod beim SV Blau-Gelb in Weißensee. Leider starb auch er zu früh an Krebs. Oh, Mann.

Ich war also immer dabei.

Manchmal werde ich gefragt, ob ich auf meinen Reisen keine Angst habe, wenn ich allein unterwegs bin. Die Antwort lautet auf jeden Fall „Nein“. Eine weitere Frage lautet, ob ich wisse, warum das so ist.

Warum ich keine Angst habe?

Ich glaube, jeder Mensch ist auf der Suche nach einer Art Medizin, einem Geheimrezept gegen die Angst. Das gibt es nicht, jedenfalls nicht für mich. Was ich glaube, ist, dass alles im Leben eines Menschen in seiner Kindheit manifestiert wird.

In meiner Kindheit wurde ich als Drei-, Vier-, Fünf-, ja Sechsjähriger in die Welt eines Jugendlichen gesteckt. Wo mein Cousin Wolfgang war, da war auch ich meistens. Ich machte in dem Alter also schon allen Blödsinn mit, den eigentlich erst Jugendliche machen.

Es gab zum Beispiel bei uns gegenüber eine große Fläche mit Kleingärten, dieser Landstrich war die Grenze von Weißensee nach Pankow. Auf der Seite von Pankow stand ein Mehrfamilienhaus, das im Krieg zerstört worden war. Dieses Haus betrachteten zwei Banden als ihre Festung. Aber nur eine konnte die Herrschaft über diese Festung haben. Also wurden Erbsengewehre, Katschies, Pfeile und Bögen gebaut. Ja, es ging so weit, dass Steindepots errichtet wurden, um das Haus zu verteidigen.

Das Haus hatte keine Treppe mehr, die war zerbombt worden. In die erste Etage konnte man nur über die Außenwand gelangen, die wie eine Treppe anstieg. Eine Wand, die knapp 50 cm breit war und in eine Höhe von etwa 4 Metern führte. Alle mussten da hoch, auch ich, man konnte mich ja nicht unten lassen. Die Pankower hätten mich bestimmt gefangen genommen. Unsere Jungs sicherten mich beim Klettern, niemand wollte ja, dass „dem Kleenen“ etwas passierte.

Oh ja, das ist nur eine Geschichte von vielen, die man erlebt, wenn man mit Jugendlichen unterwegs ist. Statt mich mit Gleichaltrigen „waghalsig“ auf die erste Stufe des Klettergerüstes zu trauen und zögerlich in die Tiefe zu springen oder zwei Stufen auf einmal im Hausflur herunterzuhopsen war ich mit den Großen unterwegs und habe allen Blödsinn mitgemacht.

Die Hauptregel bei allem war immer, zu Hause nichts zu verraten. Von Zeit zu Zeit ist mir dann doch mal rausgerutscht, wo wir gewesen waren. Nicht, dass ich etwas verraten wollte, es rutschte mir einfach raus, die Ereignisse waren eben sehr spannend und aufregend für so einen Zwerg.

Das gab Stubenarrest für Wolfgang, nicht einmal er sollte in dieser Ruine spielen, das wurde ihm immer wieder streng verboten. Aber was machte er? Er nahm mich gleich noch einmal mit.

Doch Stubenarrest war nicht das Schlimmste. Nein, am meisten getroffen hat meine Tante ihre Jungs immer mit Trainingsverbot. Au ja, das tat ihnen viel mehr weh.

Meistens, wenn es also eine Strafe gab, war es, dass Wolfgang nicht zum Sport durfte. Wir hatten dafür aber eine einfache Lösung: Wolfgang ging runter und ich sagte, dass ich keine Lust hätte mitzugehen.

Wenn er raus ging, passte meine Tante immer auf, dass die Sporttasche oben blieb. Ich wartete dann, bis meine Tante außer Reichweite war, und warf die Tasche aus dem Fenster oder stellte sie vor die Wohnungstür. Tja, und auf dem Rückweg stellte er die Sporttasche eine halbe Treppe höher ab – wir wohnten ganz oben – und am nächsten Tag wurde sie wieder hereingeholt.

Alle „ihre Männer“ waren sportbegeistert, ja, auch mein Onkel, er war Boxer. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, hat er damit sogar nach dem Krieg auf Rummelplätzen Geld verdient. Das war besser als Prügel von den Bauern im Berliner Umland zu beziehen. Die Stadtkinder fuhren mit der Bahn raus aufs Land und gingen auf den Feldern Rüben, Kartoffeln und so klauen. Man hatte eben großen Hunger. Auf dem Rückweg zum Bahnhof warteten oft die Bauern und dann gab es richtig Zunder.

Wir waren eine sportliche Familie, also fing ich früh an und lernte mit vier Jahren Radfahren. Ich bekam ein schönes blaues 20er Fahrrad, nagelneu aus dem Laden. Das war was.

Stützräder benötigte ich an diesem Rad nicht lange, ich hatte wohl Talent, die Dinger mussten ganz schnell ab. Ich wollte meine neue Freiheit voll genießen. Doch bevor ich richtig in meine neue Welt starten konnte, wurde ich jäh gebremst.

Alle in unserm Kiez übten für „Die Kleine Friedensfahrt“. Oh ja, jeder war dabei. Jedes Jahr organisierten ein paar Eltern in unserem Viertel diese Veranstaltung. Man startete in verschiedenen Altersgruppen und jeder, wirklich jeder, wollte einmal Sieger sein.

Man veranstaltete schon Wochen vor dem Rennen Touren um die Blocks, um zu trainieren. Der Sieger hieß dann automatisch Täve Schur, der Held des Radsports in der DDR.

Wolfgang und ich übten auf der kleinen Straße vor unserem Haus Kurven fahren. Das fiel mir aber noch sehr schwer. Der Übermut packte mich wohl, denn ich radelte los in Richtung Ende des Blocks. Dort war eine Kurve, die es zu nehmen galt.

Als ich nach links abbog, kamen gerade die ersten Rennfahrer um die Ecke. Es gab einen ungeheuren Schlag und mindestens zehn Fahrer stürzten. Ich lag unter dem Haufen aus jammernden Kindern und hatte gleich zum Anfang meiner Karriere mit dem Fahrrad einen Schlüsselbeinbruch.

Mein Rad war schneller wieder in Schuss als ich, es dauerte Wochen, bis ich wieder auf meinem blauen Renner unterwegs war. Man sieht heute noch die Folgen meiner ersten Versuche in die Welt aufzubrechen: Meine rechte Schulter hängt etwas.

Meine Liebe: Zweiräder

Irgendwie drehte sich in dieser Familie alles ums Rad.

Mein großer Cousin fuhr Rad, mein kleiner fuhr Rad. Mein Onkel fuhr noch bis ins hohe Alter, eigentlich bis kurz vor seinem Tod, überall mit dem Rad hin. Egal, wo er in Berlin arbeitete, er fuhr mit dem Rad auf die Baustelle. Noch als Rentner kaufte er für sich und meine Tante mit dem Fahrrad ein. Peter hatte den Rennsport wohl abgehakt, es musste ein Moped her, ein Habicht. Auch Wolfgang tauschte sein altes 28er Rad, das mit dem Kindersitz, der praktisch wie mein zweites Zuhause war, gegen ein Moped. Nun war ich der einzige, der sich mit zwei Rädern ohne Motor fortbewegen musste.

Ja OK, mein Onkel war noch da, aber mit ihm ging ich nicht auf Entdeckungsreise, mit ihm verbrachte ich eher Zeit in unserem Garten. Am Wochenende nahm er mich oft mit rüber. „Rüber“ heißt nichts anderes, als dass wir etwa drei Minuten entfernt unseren Garten hatten. Wir waren so eingespielt, dass meine Tante so zehn vor eins ein Zeichen gab und wir nach Hause gingen. Man konnte von unserem Fenster im Bad bis zum Garten rüberschauen.

Punkt eins gab es Essen, und „Wer nicht mit saß, der nicht mit aß.“ Diesen Spruch nutze ich heute noch. Oder „Es gibt, was die Kelle gibt.“ Beim Essen gab es keinen Spaß, gemäkelt wurde nicht. Es gab am Wochenende einen Tag Fleisch und am anderen Suppe. Ich mag Suppe heute noch nicht so richtig. Früher gab es darum oft Theater, ich verstand das erst, als ich älter war. Der Tisch war immer reich gedeckt, aber man meckerte trotzdem. Meine Tante und mein Onkel hatten das nach dem Krieg anders erlebt.

In unserem Garten hatten wir auch Kaninchen. Es gab immer wieder Junge und ich suchte mir dann regelmäßig eins aus, das zu meinem Liebling wurde. Irgendwann stand es auf dem Tisch und mir wurde erzählt, es sei weggerannt. Gut, dass Kinder so leichtgläubig sind.

Etwas ganz Besonderes war Prinz. Prinz war kein Kaninchen, oh nein. Bei uns in Weißensee gab es einen Kükenladen. Man kaufte dort Hühner und Gänse. Durch die Schaufenster konnte man die kleinen Küken unter ihren Wärmelampen beobachten. Dicht gedrängt machten die so einen Lärm, dass man sie durch die Fenster hindurch hörte.

Torsten, ein Freund von mir, kaufte sich damals dort ein Gänseküken, oder besser sein großer Bruder, denn er hätte keins bekommen. Die kleine Gans hatte es nicht leicht, denn Torstens Mutter erlaubte ihm natürlich nicht, die Gans in der Wohnung zu halten.

Mein Onkel und ich zogen sie auf. Er baute für sie ein Gehege, und immer wenn ich nicht mit Wolfgang unterwegs war und mein Onkel im Garten war, hing ich mit Prinz, dem Gänserich, rum. Prinz war besser als ein Hund.

Wenn ich vom weiten seinen Namen rief, kam er schon angerannt, er lief immer hinter mir her. Alle in unserer Gegend kannten den Jungen mit der Gans.

Eines schönen Tages gab es wieder einmal einen „Kaninchenbraten“. Niemand aß davon, nur mein Onkel und ich. Ich wunderte mich etwas und so kam raus, dass mein Freund, die Gans, nicht mehr unter uns war. Mein Freund Prinz war tot. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was bei uns los war.

Peter zog aus, als er nach langem Warten endlich eine Wohnung bekam, und Wolfgang übernahm nahtlos die Werkstatt. Keiner im Haus hatte etwas dagegen, dass Wolfgang aus der Fahrradschmiede eine Mopedwerkstatt machte.

Ich nutzte die Werkstatt, um an meinem Fahrrad zu basteln. Ja, mit acht Jahren schraubte ich schon an meinem Fahrrad rum. Wolfgang war immer da und half mir, wenn etwas nicht ging. Er schraubte am „Moppet“ und ich am Rad, wir hingen weiter zusammen.

Ich weiß es noch wie heute, ich kam mit den Beinen gerade so auf die Fußrasten von Wolfgangs Moped. Das bedeutete, ich war also groß genug, um sein S 50 zu steuern. Kupplung hier, Bremse da, Gas weg, kuppeln, schalten, Gas.

Ich fuhr zum ersten Mal in meinem Leben mit einem Zweirad mit Motor. Anhalten konnte ich nicht, ich kam ja nicht auf den Boden, aber Wolfgang saß ja zur Sicherheit hinten drauf und überwachte alles. Ich war heiß, so heiß.

Es war ganz klar: Wenn ich groß bin, habe ich ein Motorrad, ja und dann erobere ich unsere Gegend.

Doch bis dahin war noch etwas Zeit, und meine Fahrräder wurden größer, aber nicht unbedingt schöner …

Mein erstes eigenes Rad

Ich wuchs, und meine Fahrräder mit mir.

Mein erstes größeres Rad schenkte mir meine Oma, die Mutter meiner Mutter, es war das Rad, das wohl jede ihrer Töchter mal gefahren hatte. Es war ein 28er, natürlich ein Damenrad. Und weil es etwas in die Jahre gekommen und bestimmt nicht mehr so ansehnlich war, hatte irgendjemand einen Topf Farbe genommen und es in einem hellen Grün angestrichen. Das Rad war grausig und eigentlich viel zu groß, aber besser als mein 20er, das nun langsam zu klein wurde.

Es war die Zeit, als die Bonanzaräder auf den Markt kamen. Diese Räder gab es nur im Westen, so wie Matchbox-Autos und noch andere tolle Dinge.

Ich hatte ein solches Bonanzarad, aber bis zu meiner ersten Tour auf diesem Rad gab es viele Stationen. Das Rad hatte eigentlich zuvor einen anderen Besitzer gehabt, dieser stellte sich aber irgendwie zu dumm an beim Fahren oder hatte einfach nur Pech. Jedenfalls gab es einen Unfall und man erklärte das Rad zu Schrott, alle Teile wurden abgebaut und der Rest sollte auf den Schrott. Wolfgang sicherte sich den Rahmen, und so lag der über ein Jahr bei uns im Keller.

Niemand beachtete ihn, bis ich die Nase voll hatte und im Alter von zwölf Jahren mein erstes eigenes Fahrrad zusammenbaute. Der Rahmen wurde vom Fahrradhändler unseres Vertrauens vermessen. Alles gut! Die Gabel war jedoch wirklich Schrott.

Einige der fehlenden Teile konnte ich über den ursprünglichen Besitzer bekommen. Dabei handelte es sich um die Schaltung und das Hinterrad. Den Rest stellte ich aus Teilen zusammen, die wir im Keller hatten oder die man auch im Osten kaufen konnte. Der Sattel kam zu meinem Geburtstag direkt von meinem Onkel aus dem Westen auf den Tisch.

Ich glaube jeder Junge, der so ein Rad hatte, war der glücklichste Mensch der Welt. Ich war jedenfalls glücklich und unheimlich stolz. Jeder, dem ich erzählte, wie ich an das Rad gekommen war, sagte mit großen Augen, dass er kaum glauben könnte, dass ein Zwölfjähriger dazu in der Lage wäre.

Es folgten noch viele Räder, doch irgendwann war Schluss damit. Mädels hinten auf dem Bonanzarad waren schon cool, man konnte ja bequem zu zweit auf dem Sattel sitzen. Aber irgendwann hatten die ersten Jungen Mopeds, und das war natürlich noch viel cooler.

Du hast das Alter, warum hast du kein Moped??? Die Antwort war leicht: Es war kein Geld dafür da. Von meiner Mutter kam nichts, nicht einmal das Kindergeld, das mein Vater jeden Monat zahlen musste, landete bei meiner Tante. Sie und mein Onkel mussten mich also ohne Unterstützung großziehen.

Kein Geld, kein Moped. Daran änderte sich auch bis zu meiner Jugendweihe nichts, was ja eigentlich nicht schlimm war. Man konnte sowieso nicht fahren, bevor man 14 war.

Wie ich mit Hunden meine Jugendweihe rettete

Ich war fast 14 Jahre alt, ging in die achte Klasse und die Jugendweihe stand bald ins Haus. Mit 14 wurde man in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen. In der achten Klasse kam man in die FDJ, die Freie Deutsche Jugend, man hatte also die Thälmann-Pioniere, die Organisation für die Jüngeren, hinter sich gelassen.

Je älter man wurde, umso mehr wurde versucht, die Kinder/Jugendlichen auf die „richtige Bahn“ zu lenken. Schließlich hatte der Sozialismus ja unter Beweis zu stellen, dass er dem Kapitalismus überlegen war. Mit 14 stand für mich dagegen fest, dass ich mich von niemandem und für nichts einspannen lasse. Das hat sich bis heute nicht geändert.

Wenn ich von einer Sache nicht überzeugt bin, dann bleibe ich dabei. Das hatte zur Folge, dass ich nicht in die FDJ eintrat. Dieser Entschluss sollte in meiner Zukunft dann aber einige Folgen haben. Man versuchte vor der Jugendweihe Druck auf mich auszuüben, indem man mir sagte, ich würde nicht an den Feierstunden teilnehmen dürfen. Was bedeutete: meine Jugendweihe sollte nicht stattfinden. Die Begründung war einfach: Keine Mitgliedschaft – keine Jugendweihe, da man ja auch keine vorbereitenden Stunden im Kreise der anderen FDJler hatte.

„So bekommt ihr mich nicht auf eure Spur“, das stand für mich fest. Lieber hätte ich alles sausen lassen. In der sechsten Klasse hatte man uns schon mal nach unseren Berufswünschen gefragt, damals hatte ich die Idee, Hundeführer zu werden.

So lange ich denken kann, hatten wir Hunde, Schäferhunde und später einen lustigen Mischling, an dem mein Onkel nicht vorbeikam. Das zog sich noch weiter, bei meinem Auszug wurde gleich ein Hund aus dem Tierheim geholt. Ich konnte mir ein Leben ohne den besten Freund des Menschen nicht vorstellen. Heute hilft mir das auf meinen Reisen. Durch meine Kenntnisse über diese treuen Tiere hatte ich bis jetzt noch nie Probleme mit wilden Hunden. Ganz im Gegenteil – aber davon berichte ich später noch.

Tja, der Buschfunk funktionierte wohl sehr gut, denn die Polizei meldete sich kurz vor meiner Jugendweihe an meiner Schule und bei mir. Sie wollten mal nachfragen, wie es mit meinem Berufswunsch aussah. Zu der Zeit war die Vorstellung zur Volkspolizei zu gehen für mich so weit weg wie der fernste Planet in unserem Sonnensystem. Man ließ aber nicht locker und setzte sich sogar für mich ein. Es war kein Problem mehr, dass ich nicht in der FDJ war. Im Gegenteil, Vertreter der Polizei waren sogar zur Feierstunde da und gratulierten mir.

Immer wieder mal kam eine Nachfrage, ob ich noch als Hundeführer arbeiten wollte. Das hörte erst auf, als ich in der zehnten Klasse mit meinem Lehrvertrag zum Dachdecker in die Schule kam.

Bis zur Jugendweihe gab es aber noch eine andere Hürde zu nehmen, denn meine Mutter bestand darauf, mit mir Sachen für die Feier zu kaufen. Und viel schlimmer, sie war der Meinung, dass meine Haare mal wieder geschnitten werden müssten, dabei war ich gerade dabei, mir die Haare wachsen zu lassen.

Durch Wolfgang hörte ich schon sehr früh Alice Cooper, Led Zeppelin, Deep Purple und viele andere Bands. Mit 14 war ich KISS-Fan und stritt mit meinem Vater darüber, welche Band besser wäre. Er war überzeugter AC/DC-Fan und einen gemeinsamen Nenner fanden wir nur bei Jerry Lee Lewis. Zu Rockmusik gehörte damals, dass man lange Haare trug, und diese wurden gehütet wie der Augapfel.

Meine Mutter setzte alles auf eine Karte und sagte mir, dass es keine Jugendweihefeier geben würde, wenn ich mir die Haare nicht schneiden ließe. Eine Woche vorher ging ich zum Friseur und wollte mir eigentlich einen Igel schneiden lassen. Sie wäre bestimmt durchgedreht, aber sie hätte es schlucken müssen. Die Haare wären runter gewesen. Sie hatte ja immer gesagt: „Die Haare kommen runter, sonst gibt es keine Feier.“

Tja, ich ließ mir dann doch einen Deppenhaarschnitt wie alle machen und fühlte mich zum Kotzen, einen Igel hatte ich nicht übers Herz gebracht. Ich hasste sie für diese Nummer. Der einzige Trost war, dass durch die Feier 1400 Mark zusammenkamen, das war in der DDR richtig viel Geld. Jaaa, nun hatte ich Geld für ein Moped. Ich war wieder im Rennen.

Für ein neues Moped reichte das Geld nicht, aber ein gutes gebrauchtes hätte es gegeben. Immer wenn ich ein neues S 50 in Aussicht hatte, fuhr ich zu meiner Oma, denn sie bewahrte das Geld auf für mich. Geld bekam ich jedoch nie von ihr, nur eine Mappe voller Zeitungsberichte von Verunglückten im Straßenverkehr und am schlimmsten waren Moped- und Motorradfahrer dran.

Das ging echt ein Jahr so, die Mappe wurde immer dicker, meine Oma rückte das Geld nicht raus und so gingen wir im Streit auseinander. Ich habe meine Oma nie mehr besucht und auch mein Geld nicht wiedergesehen.

Heute denke ich, sie wollte eigentlich nur Gutes für ihren Enkel. Damals war sie für mich nur die Mutter meiner Mutter, sie war eine harte Frau und ich habe sie gehasst.

Im Seitenwagen in der Luft

Es war zum Verzweifeln, es war nichts zu machen, ich kam an kein Moped dran. Immer mehr Leute in meinem Umfeld hatten einen motorisierten Untersatz – NUR ICH NICHT. Was hatte ich bloß der Welt getan? Das Bonazarad hatte so gut wie ausgedient, ich war aus dem Alter raus, und cool war es bei den Mädels auch nicht mehr. Eine letzte Rettung gab es noch, ein Rennrad musste schleunigst her. Das akzeptierten die anderen noch und es brachte mich schnell von A nach B. Mit 14 ist die Welt schon etwas größer und man treibt sich nicht nur in der unmittelbaren Nachbarschaft herum.

Das gute Gefühl hielt leider nicht lange an, schuld war Wolfgang. Er hatte zu der Zeit schon einiges an Motorrädern am Start gehabt, und die neuste Errungenschaft war eine TS 250 mit Seitenwagen. Wir waren oft damit unterwegs, er holte mich manchmal von der Schule ab und dann boten wir eine Supershow. Er konnte den Seitenwagen so in die Höhe befördern, dass wir auf zwei Rädern fuhren. So fuhren wir dann an der Schule vorbei. Das war noch cooler als ein eigenes Moped.

Irgendetwas wurde immer an den Motorrädern gebastelt, und wenn es nur neuer Lack war, um die ganze Sache individueller und fetziger zu gestalten. Bei dieser Nummer hätten sie uns fast den Hauskeller weggenommen.

Wolfgang hatte sich mit einem Kumpel einen Kompressor und Sprühpistolen besorgt, und nun ging es ans Lackieren. Wir machten im Osten echt viele Sachen noch selbst, es wurde probiert, bis es ging. Beim Lackieren entsteht feiner Sprühnebel und darum wurde die Kellertür ordentlich mit Decken zugehängt, damit nichts raus konnte. Es kam, wie es kommen musste. Der Sprühnebel verteilte sich im ganzen Haus bis rauf zur zweiten Etage. Bei uns oben hingegen war alles gut. Tja, oben zu wohnen bringt auch Vorteile. Wolfgang hatte Glück. Das Ganze war wie Staub und man konnte die Farbe ganz einfach abwischen. Im Kellerbereich ging das allerdings nicht, da mussten die beiden ran und zweimal weiß streichen.

So wie der Hausflur zugerichtet war, möchte ich nicht wissen, wie es im Keller ausgesehen hatte, als sie dort lackierten. Sie müssen komplett in rotem Nebel gestanden haben. Danach war im Haus die Hölle los. Zum Glück beruhigten sich die anderen Bewohner wieder und unsere Werkstatt blieb uns erhalten.

Wir schraubten mal wieder vor der Haustür. Ich half sehr oft, weil ich es faszinierend fand zu verstehen, warum so ein Zweirad aus eigener Kraft rollte. Übrigens waren Physik und Mathe meine Lieblingsfächer in der Schule, sie erschienen mir einfach und logisch.

Wir mussten den Seitenwagen abnehmen, ich weiß nicht mehr, worum es ging, aber als alles fertig war, kam einer der größten Tage in meinem Leben auf mich zu. Die Frage von Wolfgang lautete: „Willst du mal fahren?“ – Boh, ich drehte fast durch vor Freude! Moped war ich mittlerweile schon sehr viel gefahren, auch ohne Führerschein, das war in dem Alter irgendwie so. Aber Motorrad? Das war die Krönung, dieses Gefühl vergesse ich nie. Man gab Gas und wurde mit einer ungeheuren Beschleunigung nach vorn getrieben. Nicht wie beim Moped, wo man die Kupplung schleifen lässt wie irre, um schneller von der Stelle zu kommen. Danach war klar: Du kaufst dir ein Motorrad, Sven! Mit 14 gab es für mich nur noch dieses eine Ziel: EIN MOTORRAD.

Es vergingen aber noch vier Jahre, ohne dass mein Traum erfüllt wurde. Ich sparte jeden Pfennig, verkaufte das Bonazarad und versuchte immer mal wieder das Moped eines Freundes zu ergattern, um damit fahren zu können. Mittlerweile hatte wirklich jeder um mich herum ein Moped. Aber ich verlor den Anschluss zu den anderen trotzdem nicht, ich war einer der besten „Schrauber“, obwohl ich nie ein eigenes Moped besaß. Durch die Stunden, die ich mit Wolfgang an den verschiedensten Bikes schraubte, war ich ein kleiner Tausendsassa geworden, und wir hatten eine Werkstatt im Keller.

Wir werden Kaskadeure

Mit sechzehn hatte ich noch immer mein Rennrad und schraubte an den Maschinen anderer. Fahren konnte ich schon wie ein Alter, weil ich ja immer testen musste, ob alles funktionierte. Manches Mal hatte ich Mopeds für mehrere Tage zum Testen.

Zehnte Klasse Prüfungen, oh Mann, wann ist das mit dieser blöden Schule endlich vorbei? Du willst deine Zeit sinnvoller nutzen, du musst Geld verdienen, du brauchst einen fahrbaren Untersatz, um die Welt zu erobern. Ich war schon viel in der Welt unterwegs gewesen, aber immer mit dem Zug oder per Anhalter. Ich empfand es nur als halbe Freiheit, wenn man vom Bahnhof mit dem tonnenschweren Seesack noch bis zum Zeltplatz laufen musste.

Vor den Prüfungen stand ich auf dem Prädikat Vier. Nicht weil ich zu blöd war, nein, Party, Mädels, Musik und, und, und … Alles, ja wirklich alles war besser als Schule und Lernen. Außerdem war für mich und meinen Kumpel Jan klar, dass wir „Kaskadeure“ werden wollten, heute sagt man „Stuntmen“. In Berlin gab es zwei Stellen, eine bei der DEFA und eine beim Deutschen Theater. Der Haken an der Sache war, du brauchtest eine abgeschlossene Ausbildung.

Na, da musst du dich wohl noch mal auf den Hintern setzen und lernen.

Ich hatte mir mit Jan überlegt, dass wir „hoch hinaus gehen“ wollten, er würde Dachklempner und ich Dachdecker, dazu musste ich aber erst noch an meinen Zensuren schrauben.

In drei Fächern, in denen ich schriftlich dran kam, schrieb ich Einsen oder Zweien. Zusammen mit der Vorzensur Vier ergab das zwar eine Drei, aber insgesamt reichte es noch nicht für ein besseres Prädikat, und das war für die Berufsschule schon von Wert. Man holte mich in den drei Fächern dann auch in die mündliche Prüfung. Dort schaffte ich wirklich dreimal eine Eins, somit hatte ich drei Zweien mehr auf meinem Zeugnis. Das reichte für eine Drei als Gesamtnote.

Jedoch Stuntmen sind wir nie geworden. Jan hatte bald andere Interessen, und wenn wir uns mal trafen, verlor er kein Wort mehr über unsere Pläne. All das Rumklettern auf Türmen in unserer Gegend, das Raus- und Runterspringen von Gebäuden, unser Kampfsporttraining waren umsonst gewesen. Allein hatte ich keine Lust dazu und so verfolgte ich meine anderen Interessen. Eine Arbeit hatte ich ja, meine Dachdecker-Lehre.

Ein (fast) eigenes Bike bekam ich von meinem Freund Bosa. Er wohnte nur ein paar Straßen weiter, war bei meiner aktuellen Freundin in der Klasse, hörte dieselbe Musik und hatte wie so viele in unserer Clique keinen Führerschein.

Wir teilten uns alle ein Moped, jeder musste mal tanken, und ich sah zu, dass das Bike rollte. Zu der Zeit hatte die Polizei es aber spitzbekommen, dass da einige rumfuhren ohne Fahrerlaubnis, und wir waren immer auf der Flucht. Mir wurde das zu blöd und ich machte mich auf ins Umland, da kannte niemand das Moped und man wurde nicht angehalten. Ich war frei wie ein Vogel, die Haare wehten im Wind und ich wäre am liebsten immer weiter gefahren. Bis ans Ende der Welt.

Irgendwann war das Moped weg. Ich glaube, Bosa bekam Ärger mit seinen Eltern, weil jeder damit fuhr und einige ohne Lappen erwischt wurden. Das Ding wurde also verkauft.

Ich war ja nun in der Lehre und hatte die Möglichkeit zu sparen. Jeden Monat wurde ein Teil beiseitegelegt und ein anderer ging für das Leben in vollen Zügen drauf.

Ich bekomme ein Motorrad

Es war im zweiten Lehrjahr, wann genau, weiß ich nicht mehr. Eddy, ein Freund von früher, der jetzt auch wieder bei mir im Kiez wohnt, sprach mich an und meinte, dass er abhauen wolle. Abhauen bedeutete, dass man in den Westen ging. Richtig abzuhauen trauten sich die wenigsten, denn man konnte an der Grenze beim Fluchtversuch sein Leben lassen.

Er wollte aber nicht flüchten, seine Eltern hatten wie viele in den Achtzigern einen Ausreiseantrag gestellt, sie wollten nach West-Berlin. Eddy hatte sich damals schon einige Motorräder zugelegt. Manche deshalb, weil er sie zerlegte und als Ersatzteilspender nutzte.

Er hatte eine JAWA, eine JAWA 350, das war damals mein großes Ziel. Diese Maschine hatte zwei Zylinder und war schneller als die gängigen Modelle in der DDR.

Ich kannte dieses Bike schon sehr lange und hatte mich in dieses Motorrad verliebt, als sich mein Vater so ein Modell kaufte, in Weiß – ein Traum in Weiß. Irgendwann war an der Maschine etwas defekt und sie stand lange Zeit bei uns im Keller. Ich war vielleicht zwölf, und immer, wenn es keiner merkte, schnappte ich mir den Kellerschlüssel und ging runter. Ich drehte in meinen Träumen eine Runde nach der anderen und hoffte, dass das nie enden möge. Ich war erst zwölf, das Bike war zu groß, dazu defekt, und es stand im Keller. Tja, eben ein Traum.

Nun stand also Eddy vor mir und fragte, ob ich nicht sein Bike kaufen wollte und alle Teile gleich dazu. Wenn es die Werbung damals schon gegeben hätte, wäre bei mir im Kopf bestimmt die Frage erschienen: „Ja, ist denn heute schon Weihnachten?“ Ich weiß nicht, was genau ich dachte, aber ich erinnere mich, dass ich vor Freude fast an die Decke gehopst wäre.

Sofort ging ich zu meinem Freund Atze, er hatte auch noch kein Motorrad und befand sich in einer ähnlichen Lage wie ich. Seine Eltern hätten das Geld vielleicht sogar gehabt, aber ich glaube, sie fanden seine Vorstellung vom Leben im Sozialismus – in Lederjacke, ohne vernünftigen Haarschnitt, auf einem Motorrad, zusammen mit anderen Halbstarken – nicht so toll. Sie waren irgendetwas Höheres in der Partei, es gab noch oft Ärger mit ihnen. Wobei sie mich sogar irgendwann akzeptierten.

Wir kauften die Bikes, also eigentlich ich, Atze hatte ja kein Geld. Er zahlte mir nach und nach das Bike ab, das wir für ihn zusammenbauten. Teile hatten wir genug. Wir konnten sogar Motoren verkaufen, damit wir Geld hatten für neue Teile.

Ab dem Punkt war mein Leben auf dem Fahrrad für viele Jahre erledigt. Ich saß mal im Urlaub auf dem Rad oder wenn mein Führerschein eingezogen wurde, aber nie wieder um Reisen zu erleben. ICH HATTE EIN MOTORRAD.

Das Bike erblickt das Licht der Welt

Ich brauchte Geld für mein Motorrad, für meine Verhältnisse sehr viel Geld. Ich verkaufte sogar mein tolles Rennrad – heute könnte ich mich dafür ohrfeigen, aber damals brauchte ich Geld, um das Bike weiter aufzubauen. Tja, nun hatte ich wirklich kein Fahrrad mehr. Damit begann eine Zeit, in der ich wie süchtig immer mehr Geld in alte Motorräder und später in tolle, alte Autos steckte.

Einen Führerschein hatte ich noch immer nicht, die Anmeldung ließ auf sich warten. Man ging nicht wie heute in eine Fahrschule und meldete sich einfach an. Man stand auf einer Liste und bekam irgendwann Post.

Etwas schneller ging es bei der GST, der Gesellschaft für Sport und Technik. Eigentlich wollte ich mit denen nichts zu tun haben, schließlich führten sie auch die vormilitärische Ausbildung durch, und damit waren sie für mich eine vom Staat gelenkte Institution, die ich ablehnte. Ich überwand mich, trat in die GST ein und schrieb mich in die Abteilung Motorsport ein. Danach ging eigentlich alles ziemlich schnell, doch bis dahin passierten noch ein paar Dinge zum Schmunzeln. Ja ich weiß, es ist verboten ohne Führerschein zu fahren.

Mein Motorrad war fertig, es stand die erste Probefahrt an. Hatten wir alles richtig gemacht? Wir schoben das Krad nach monatelangem Umbau raus aus dem Keller, es gab eigens dafür eine fette Bohle, die man auf die Treppe legen konnte.

Wir hatten die Kellerwerkstatt von Wolfgang übernommen. Er war mittlerweile in eine eigene Wohnung umgezogen, nachdem er zunächst das Schlafzimmer seiner Eltern mit seiner Freundin, ihrer Tochter und einer Klappcouch bewohnt hatte.

Ich war schon glücklich: Ich hatte ein eigenes Zimmer, eine Werkstatt, ein Motorrad, Freunde, die für mich wie Brüder waren, und eine Freundin, die mit mir in der Werkstatt beim Basteln saß. Bei fast jedem Teil, das man ihr zeigte, wusste sie, wo es hinkommt.

Das Bike erblickte nach Monaten des Umbaus zum ersten Mal wieder die Sonne. Schlüssel rein, drehen, Benzin am Schwimmergehäuse reinpumpen und antreten. Sie sprang gleich an. Von da an hatten wir immer, wenn ein Bike zum ersten Mal gestartet wurde, Wetten laufen, ob es mit dem Anspringen gleich klappt. Man konnte sich so gut ein paar Flaschen Bier verdienen.

Zu der Zeit wurden meine alten Filzlatschen zu meinem Markenzeichen und retteten mich auch mal vor der Polizei.

Ich hatte zwei Paar dieser Latschen. Eins ganz normal für die Wohnung und eins für den Keller. Die für den Keller waren voll mit Öl und sahen schon ziemlich mitgenommen aus. Bei Testfahrten hatte ich immer diese Latschen an, weil ich nicht extra noch einmal hoch in den dritten Stock wollte, um mir Turnschuhe anzuziehen. Alle in unserer Gegend freuten sich über den Typen mit dem aufgemotzten, chromblinkenden Bike und den abgeranzten Hausschuhen.

Ich war mal wieder auf Probefahrt, als das Bike urplötzlich ausging und nicht mehr anspringen wollte. Ich hopste mit meinen Hausschlappen auf dem Kickstarter rum und nichts geschah.