Abgefahren. Vom Mut, aufzubrechen und anzufangen - Michel Malcin - E-Book

Abgefahren. Vom Mut, aufzubrechen und anzufangen E-Book

Michel Malcin

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Unglaublich, aber wahr! Eine Geschichte voller Mut, Träume und Glück

Eine wahre Geschichte über Mut, Aufbruch und ein Café unterwegs zum Rande der Welt

Was hast du vor mit deinem einzigartigen und wilden Leben?

Diese Frage trifft Michel mitten im Burn-out – und sie verändert alles. Er kündigt, kauft einen alten Berliner Doppeldeckerbus und baut ihn ohne jegliches Fachwissen zum fahrenden Café um. Mit nichts als einer Wagenladung Vertrauen, Chaos und Kaffee bricht er auf – Richtung Santiago de Compostela.

Unterwegs steigt Helene ein, die eigentlich nur einen Cappuccino im Bus trinken wollte. Sie bleibt und wird Teil dieses großartigen Abenteuers.

Zwischen Kaffeeduft und staubigen Straßen erzählen die beiden von ihrer Reise. Sie stehen unter dem Eiffelturm und mitten im Nirgendwo auf dem Jakobsweg, geraten unter Raketenbeschuss und werden vom BND verhört. Doch das Besondere sind nicht die Orte, sondern die Menschen, die in den Bus eintreten und von ihrem Leben erzählen. Begegnungen, die unter die Haut gehen und das Herz berühren.

Der Bus, ein Sehnsuchtsort auf zwei Etagen, der Grenzen überwindet und Menschen zusammenführt.

Steig ein!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 477

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Eine wahre Geschichte über Mut, Aufbruch und ein Café unterwegs zum Rande der Welt

Was hast du vor mit deinem einzigartigen und wilden Leben?

Diese Frage trifft Michel mitten im Burn-out – und sie verändert alles. Er kündigt, kauft einen alten Berliner Doppeldeckerbus und baut ihn ohne jegliches Fachwissen zum fahrenden Café um. Mit nichts als einer Wagenladung Vertrauen, Chaos und Kaffee bricht er auf – Richtung Santiago de Compostela.

Unterwegs steigt Helene ein, die eigentlich nur einen Cappuccino im Bus trinken wollte. Sie bleibt und wird Teil dieses großartigen Abenteuers.

Zwischen Kaffeeduft und staubigen Straßen erzählen die beiden von ihrer Reise. Sie stehen unter dem Eiffelturm und mitten im Nirgendwo auf dem Jakobsweg, geraten unter Raketenbeschuss und werden vom BND verhört. Doch das Besondere sind nicht die Orte, sondern die Menschen, die in den Bus eintreten und von ihrem Leben erzählen. Begegnungen, die unter die Haut gehen und das Herz berühren.

Der Bus, ein Sehnsuchtsort auf zwei Etagen, der Grenzen überwindet und Menschen zusammenführt.

Steig ein!

Michel Malcin,Jahrgang 1979, war Pastor – bis ein Burn-out alles in Frage stellt. Er kündigt seinen sicheren Job, baut einen alten Doppeldecker zum rollenden Café um und reist damit durch Europa. Sein Ziel? Kein Ort, sondern Echtheit. Fragen statt Antworten, Zuhören statt Predigen, Kaffeemaschine statt Kanzel – sein Bus: ein Ort, an dem jeder einfach sein darf!

Helene Volkensfeld, Jahrgang 1980, ist Grundschullehrerin aus Leidenschaft. Doch nach fast zwanzig Jahren im Schuldienst spürt sie, dass sie eine Auszeit braucht. Sie steigt aus – und in den Bus ein. Und für eine Lehrerin eher ungewöhnlich: Sie bleibt sitzen. Seitdem folgt sie ihrer Sehnsucht und reist mit Michel und dem Doppellecker durch Europa.

Michel Malcin & Helene Volkensfeld

Abgefahren

Vom Mut, aufzubrechen und anzufangen

Geschichten aus dem Cafébus

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber.

Copyright © 2025 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich

Pflichtinformationen nach GPSR.)

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlag- und Inhaltsfotos: © Michel Malcin 

Innenillustrationen: Viola Nuhaieva, Bielefeld, https://www.instagram.com/ph.viola_nuhaieva

ISBN 978-3-641-33065-1V002

www.gtvh.de

Gewidmet

der Sehnsucht

einer Kraft, die uns aufbrechen und neu anfangen lässt

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Einsteigen bitte!

Vom Hirt zum Wirt

1. Fix & Fertig

2. Von der Kanzel zur Kaffeemaschine

3. Führerschein im Weltrekord

4. Alexander(s)platz

Das Abenteuer beginnt …

1. Wenn Träume rollen lernen

2. Voller Bus und leere Kasse

3. Verboten schön

4. Dann kommt alles auf einmal

5. Ein Nest aus Stahl und Hoffnung

... bis zum Rande der Welt

1. Der Abschied und ein alter Meister

2. DJ-Beats am Heimathafen

3. Stadtgespräch und Stempelglück

4. Blau-Weiß in Schwarz-Gelb

5. Große Stadt und kleines Glück

6. Kaiser. Kanzler. Kaffee.

7. Starkstrom fürs Herz

8. Yogaccino

9. Kein Plan ist auch ein Plan

10. Verloren und gefunden

11. Und dann kam der Bus

Doppelt unterwegs

1. Kaffeeduft und Größenwahn

2. Mehr Funken als Verstand

3. Kitsch und Kaffee unterm Eiffelturm

4. Man muss das Leben tanzen

5. Unterwegs mit leichtem Gepäck

6. 36 Grad und es geht noch heißer

7. Meer geht nicht

8. Au revoir Frankreich

9. Es stinkt!

Auf dem Camino

1. Camino Francés, wir kommen!

2. Cappuccino mit Aussicht

3. Zwischen Reben und Rucksäcken

4. Mein Hut, der hat drei …

5. Nicht alle Wege führen zum Bus

6. Gemeinsam auf Achse – Familie an Board

7. Wieder allein und doch nicht einsam

8. Unter der Brücke

9. Mein Traumplatz: Ein Ort, den ich immer kannte

10. Engel mit Dieselmotor

11. Ein Berg voller Geschichten

12. Kamera läuft – der Kaffee auch

13. Abschied und Aufbruch

Epilog

Die Klassiker – schon zigmal gefragt, hier endlich schwarz auf weiß!

Groß, laut, liebenswert – unser Bus in Zahlen

Dank

Aus Gründen einer besseren Lesbarkeit haben wir in diesem Buch auf eine geschlechterspezifische Schreibweise verzichtet. Selbstverständlich sind immer alle Menschen mitgemeint – unabhängig von Geschlecht oder Identität.

Prolog

Einsteigen bitte!

Das Wasser drückt sich mit Kraft durch den Siebträger, der gefüllt ist mit frisch gemahlenen Kaffeebohnen. Langsam läuft der Espresso in verschiedenen Brauntönen schokoladig in die vorgewärmte Tasse. Ich gieße in der Zwischenzeit frische Milch in ein Kännchen und fange an, diese mit der Dampflanze meiner alten FAEMA e61 aufzuschäumen. Es zischt und der Dampf kratzt an der Oberfläche und verwandelt die Milch in eine cremige glänzende Flüssigkeit. »Entschuldigung, aber darf ich mal fragen, wie man auf so eine geniale Idee kommt?«, wundert sich ein Gast, während ich die heiße Milch vorsichtig in den Espresso laufen lasse. Da ist sie wieder, diese Frage, die mir schon von so vielen Menschen gestellt wurde. Staunend und mit offenen Mündern betreten sie den Bus, meist begleitet von einem leichten, ungläubigen Kopfschütteln.

Was sie meinen, ist die Idee, einen alten Doppeldeckerbus in ein rollendes Café umzubauen, um damit bis ans Ende der Welt zu fahren. Meine erste Antwort ist oft: »Alkohol, man benötigt viiiel Alkohol!«, was natürlich nur ein Scherz ist. Die Idee mag außergewöhnlich klingen. Erst recht, wenn man meine Biografie kennt und weiß, dass ich handwerklich nicht besonders begabt bin, von Autos schon mal gar keine Ahnung habe und obendrein eigentlich auch keinen Kaffee mag. Aber all das ist auch nicht nötig für so eine abgefahrene Idee.

Verwunderte Augen schauen mich an und ich überreiche die rote Tasse mit dem mittlerweile fertig zubereiteten Cappuccino. Ein Herz ist auf der braunen Crema zu erkennen. »Oh, ein Herz!«, freut sich mein Gegenüber und lächelt.Und damit haben die Gäste die Antwort auf ihre Frage: Das Einzige, was es braucht, ist ein Herz! Ein Herz, das schlägt und bereit ist, sich zu fragen: ›Was hast du vor mit deinem einzigartigen und wilden Leben?‹

Es war nicht nur der Cappuccino mit dem kleinen Herz im Milchschaum. Es war die gesamte Atmosphäre, die mich sofort in ihren Bann zog. Ich spürte eine tiefe Sehnsucht, einen Lebenshunger, wie schon lange nicht mehr. Etwas hatte sich in mir entzündet, ein Feuer, das langsam größer wurde und sich nicht mehr zurückdrängen ließ. Eigentlich wollte ich nur einen Kaffee trinken in diesem alten Doppeldeckerbus, der eines Tages im Frühling in meiner Stadt am Rheinufer Halt machte. Wie aus einer anderen Zeit gefallen, stand er da. Ich stieg ein – als Gast. Nicht ahnend, was mich dort erwarten würde. Doch kaum hatte ich den Fuß auf die erste Stufe gesetzt, war ich wie verzaubert.

Bis dahin war ich Lehrerin aus Leidenschaft. Doch immer öfter meldete sich eine leise, aber eindringliche Stimme, die rief: ›Ich kann nicht mehr!‹ Und dann kam dieser Bus – oder vielmehr: Michel (französisch ausgesprochen), mit seinem besonderen Café auf Rädern. Wie aus dem Nichts – und doch genau im richtigen Moment. Er reichte mir die Hand und machte sichtbar, was längst in mir geschlummert hatte: Ich brauche eine Auszeit – nicht irgendwann, sondern jetzt! Acht Wochen später war meine Wohnung in Mainz vermietet, mein Auto verkauft und ich zu Michel in den Bus gezogen. Ich bin ausgestiegen und eingestiegen und habe etwas gemacht, was für eine Lehrerin eher ungewöhnlich ist: Ich bin sitzengeblieben. Mit einer kleinen Reisetasche, ohne großen Plan, aber mit einem klaren Gefühl: Ich will herausfinden, was passiert, wenn ich meinem Herzen folge. Seitdem lebe ich mit Michel in seinem Doppeldeckerbus, auf knapp 20 Quadratmetern. Und mein Leben hat sich im Zeitraffer um 180 Grad gedreht.

Wir sind durch Frankreich und Spanien bis nach Santiago de Compostela gereist, standen sowohl unter dem Eiffelturm als auch mitten im Nirgendwo auf dem Jakobsweg. Wir haben bei 42 Grad in Bordeaux Kaffee ausgeschenkt, dem Dauerregen in Galizien getrotzt und bei Sturm und Gewitter auf einem Berggipfel bei Pamplona gebibbert.

Doch das Besondere waren nie nur die Orte. Es waren die Menschen. Die Geschichten. Die Begegnungen. Gäste, die sich setzen, reden, lachen, weinen. Menschen, die etwas gespürt haben – so wie ich damals in Mainz.

Ich weiß nicht, an welcher Haltestelle du gerade im Leben stehst. Vielleicht bist du auf der Suche oder schon längst unterwegs mit einem klaren Ziel. Vielleicht bist du müde geworden von zu vielen Antworten und zu wenigen echten Fragen. Zumindest ging es mir so. In meinem alten Leben als Pastor ging es oft um richtige Antworten, um Gut und Böse, um Himmel und Hölle, um Schwarz und Weiß. Irgendwann musste ich erkennen, dass die von mir erlernten Antworten für mich nicht mehr gepasst haben. Ich wollte etwas anderes: fragen statt erklären, staunen statt urteilen. Ausbrechen aus diesem mir immer enger werdenden Korsett von Richtig und Falsch. Nicht ganz freiwillig, wenn ich ehrlich bin. Es brauchte eine Krise, um hinzuschauen: Ein Burn-out hat mich ausgebremst. Unfreiwillig – aber heilsam. Ich war gezwungen, mein Leben neu zu betrachten.

Dieses Buch erzählt von diesem Weg: Vom Zerbrechen. Vom Suchen. Vom Neuanfang. Von einem kleinen, rollenden Café, das mich langsam zurück ins Leben geführt hat. Von unerwarteten Begegnungen, die mich berührt und verwandelt haben. Und von einem alten Berliner Doppeldeckerbus – voll mit Geschichten, gutem Kaffee und magischen Momenten.

Wir laden dich ein: Steig ein in unser kleines, aber 16 Tonnen schweres Café auf Rädern! Setz dich zu uns, wenn auch nur in Gedanken. Begleite uns, auf dem Weg bis zum Rand der Welt und darüber hinaus. Denn unser Café ist im wahrsten Sinne abgefahren. Es steht nicht statisch an einem festen Ort, sondern ist unterwegs. Es hat keine feste Adresse mit Straßennamen und Hausnummer, dafür aber sechs große Reifen, ein Lenkrad und einen müden Dieselmotor. Und vor allem viel Platz zum Sein. Zum Staunen. Zum Fragen. Und zum Aufbrechen.

Wohin die Reise geht? Lass dich überraschen! Anschnallgurte gibt es jedenfalls keine, noch nicht einmal für uns. Es bleibt also ein kleines Risiko für dich bestehen. Ein Risiko, dass auch dich der Bus mit seinen Geschichten bewegt und berührt und zu einem Ort führt, von dem du vorher noch nie gehört hast.

Herzlich willkommen im Doppellecker!

Kurzer Hinweis: Wenn dir manche Wörter oder Sätze spanisch (oder französisch) vorkommen, dann findest du hier die Übersetzung. Einfach QR-Code einscannen und Seite anklicken.

»Ein Traum ohne

Unterstützung bleibt

eine Idee.

Mit Freunden wird

er zur Geschichte!«

Bonusmaterial

Vom Hirt zum Wirt

1. Fix & Fertig

Ich sitze im Wartezimmer einer Psychotherapeutin. Was soll ich ihr gleich erzählen? Eigentlich ist doch alles in Ordnung. Nichts ist gebrochen, ich habe keine Wunden, keinen sichtbaren Schaden. Äußerlich scheint alles intakt. Doch das ist eben nur das Äußere. In mir drin sieht es ganz anders aus. Da ist keine Freude mehr. Keine Hoffnung. Keine Leichtigkeit. Ich kann mich zu nichts mehr aufraffen. Jede noch so kleine Aufgabe scheint mir riesengroß und schier nicht mehr zu bewältigen. Dabei weiß ich genau, dass es leicht wäre – und das macht alles noch schlimmer. Ich kann nicht mehr.

Es dauert nicht lange, bis die Tür aufgeht. Eine freundliche, etwas ältere Dame mit warmem Blick bittet mich in ihr Sprechzimmer. Was dann kommt, habe ich nicht erwartet. Nach ein paar Fragen und einem kurzen Test steht für sie fest: »Sie leiden an einer mittelschweren Depression.« Ich? Eine Depression? Das kann nicht sein! Ich bin doch ein Optimist, der mit Leichtigkeit durchs Leben geht! Ein Macher. Einer, der andere aufbaut und nie den Mut verliert. Die Fragen der Therapeutin habe ich bewusst vorsichtig beantwortet, nicht zu negativ. Nicht zu dramatisch. Ich will die Dinge nicht schlimmer machen, als sie sind. Und jetzt das. Die Ärztin ist sehr deutlich: »Das wird mit ein bisschen positivem Denken nicht einfach so wieder verschwinden.« Sie füllt ein Formular aus und ich denke, dass ich jetzt einen weiteren Termin bekomme. Was sie mir in die Hand drückt, ist aber etwas ganz anderes – die Überweisung für eine stationäre Aufnahme in eine Klinik. Keine Diskussion. Kein »Mal-Schauen«. In diesem Moment wird mir klar: Das hier ist echt. Nicht eingebildet. Nicht übertrieben. Nicht nur eine Phase. Etwas in mir ist aus dem Gleichgewicht geraten. Und das lässt sich nicht länger schönreden.

Sieben Wochen später stehe ich mit vollgepackter Reisetasche vor dem Portal eines weitläufigen Klinikgeländes in der Nähe von Frankfurt. Mein Blick erfasst die Gebäude, die langen Wege, die fremden Gesichter. Ich atme tief ein und ahne: Was jetzt kommt, wird eine anstrengende, vielleicht sogar schmerzhafte, aber notwendige Zeit. Schon während der Wochen des Wartens zu Hause sind die Risse sichtbar geworden, die ich lange übersehen oder vielleicht auch bewusst ignoriert habe. Was zum Vorschein kommt, erschreckt mich. Wie kann es sein, dass ich weiß, wo meine Gemeindemitglieder arbeiten, aber nicht, wo der Lieblingsspielplatz meiner drei Kinder ist? Wie kann ich so viel über die Eheprobleme anderer wissen, aber für die meiner eigenen bin ich blind und taub?

Heute weiß ich: Mein Burn-out war nicht die Folge davon, dass ich zu viel für andere getan habe. Ich bin ausgebrannt, weil ich zu wenig für mich da war. Nicht die Menge der Aufgaben hat mich ausbrennen lassen, sondern das permanente Übergehen meiner eigenen Bedürfnisse. Die Tatsache, dass ich die leisen Hilferufe meiner eigenen Seele überhört habe.

Die nächsten drei Monate verbringe ich in der Klinik. Die Erfahrungen, die ich hier mache, gehen tief – so tief, dass ein »Weiter-so« keine Option mehr ist.

Über 16 Jahre lang war ich mit Leidenschaft Pastor. Dass ich einmal Theologie studieren und eine Gemeinde leiten würde, wurde mir wahrlich nicht in die Wiege gelegt. Aufgewachsen bin ich in der DDR – ohne frommes Elternhaus oder religiöse Prägung. Ich hatte keine Berührungspunkte mit Kirche, Gott oder Bibel. Und doch regte sich in mir früh ein Gespür für etwas Größeres. Eine Ahnung von einer Wirklichkeit jenseits des Sichtbaren. Eine Kraft der Liebe – abgrundtief und grenzenlos.

Als Jugendlicher wuchs in mir die Gewissheit: Ich bin getragen, gesehen, gewollt. Geliebt von einem unendlich gütigen Gott. Dieses große JA zum Leben, diese Liebesmacht, die nicht gegen, sondern bedingungslos für uns ist, begeisterte mich. Doch mit der Zeit und dem Älterwerden, mit dem tieferen Eintauchen in die Theologie und den Erfahrungen im Beruf veränderte sich etwas. Gott wurde definierter, seine Nähe an Bedingungen geknüpft. Und vor allem: Auf einmal gab es mehr und mehr Grenzen. Grenzen, die bestimmten, wer dazugehört – und wer nicht. Wer »richtig« ist – und wer »falsch«. Was gut und was böse ist. Und diese Grenzen wurden in meiner Wahrnehmung immer enger. Damals hätte ich das so noch nicht benennen können. Ich war Teil dieses Systems und habe selbst in diesen Kategorien gedacht. Dieses Gerüst aus Glaubenssätzen und klaren Antworten versprach Sicherheit und Halt. Doch je länger ich darin lebte, desto mehr fehlte mir die Weite. Ich begann mich wund zu scheuern an all den klar formulierten Grenzen. Ich fühlte mich nicht mehr wohl in dem »Wir-gegen-Die«. Ich gebrauchte Worte wie Barmherzigkeit, Annahme, Vergebung und war gleichzeitig daran beteiligt, Menschen auszugrenzen und zu verurteilen. Da war eine wachsende Kluft zwischen dem, was ich in meinem Herzen glaubte, und dem, wie ich glauben sollte. Zwischen dem, was ich zu sagen wagte und dem, was ich tief in mir fühlte.

Hier in der Klinik habe ich Zeit, meine innere Welt zu entdecken. Ich sitze nicht mehr auf dem Stuhl des Helfers. Diesmal sitze ich auf der anderen Seite. Habe keinen Titel, keine Aufgabe, keine Funktion. Kein Amt, das mich trägt oder schützt. Hier, in diesen nüchternen Fluren, bin ich nicht Pastor, Ehemann, Vater – oder irgendwer. Ich bin – ja: Wer bin ich eigentlich? Was bleibt von mir übrig, wenn alle Rollen abgestreift sind? Wenn niemand mehr etwas von mir erwartet?

Das Erste, was ich lerne, ist, überhaupt zu sein. Da zu sein. Bei mir zu sein. Mich auszuhalten, ganz ohne Funktion und Aufgabe. Ich habe Zeit, mich ganz neu kennenzulernen. Neu zu fragen, was mir wichtig ist und was da tief in mir verborgen liegt. Ängste anzuschauen, Verletzungen und offene Wunden endlich zu verbinden und Gefühle zuzulassen, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie habe bzw. haben darf. Ich unternehme viele Spaziergänge mit dem kleinen Michel in mir, den ich bisher übersehen habe. Dem Michel, für den ich nie Zeit hatte und dessen leise Stimme gegen all das Laute und Wichtigtuerische in mir und um mich herum nicht angekommen ist. Dem Michel, der mich an meinen Glauben an das Gute erinnert und an meine Leidenschaft, Freude zu verbreiten.

Kurz vor Weihnachten verlasse ich nach fast zwölf Wochen die Klinik. Doch bevor ich in mein altes Leben zurückkehre, mache ich einen Zwischenstopp im Kloster. Ich spüre: Da ist noch etwas offen. Ich sehne mich nach einem ehrlichen Vier-Augen-Gespräch mit Gott. Fünf Tage lang lebe ich in einer schlichten Zelle und teile den Alltag mit den Mönchen. Ich schweige viel und höre hin. Und ich spüre, wie mein Herz sich zurücksehnt. Zurück zu meinem ursprünglichen, weiten Vertrauen. Zu einem Glauben, der nicht kontrolliert oder misst, sondern einfach da ist.

Ich glaube nach wie vor. Aber anders. Weniger sicher. Weniger klar. Mit weniger Antworten, aber mit mehr Frieden. Zu diesem Zeitpunkt habe ich noch keine Zweifel an meiner Berufung als Pastor. Aber schon kurz nach meiner Rückkehr wird deutlich: Es passt nicht mehr. Nicht für mich, und nicht für meine Kirche. Zu viel hat sich in mir verändert – und zu wenig um mich herum. Meine Vorstellungen und die Strukturen meiner Gemeinde finden keinen gemeinsamen Nenner mehr. Ich will nicht um richtig und falsch kämpfen, keine Rolle mehr spielen, die nicht zu mir passt. Und vor allem: Ich will authentisch sein und nicht länger Werte vertreten, die nicht die meinen sind.

Ich bin ein Mensch, der neue Ideen liebt. Der spontan ist, lebendig, unkonventionell. Für Menschen, die das Traditionelle schätzen, die Stabilität und Verlässlichkeit hochhalten, kann das anstrengend sein. Ich merke, klare Strukturen, festgelegte Wege und eindeutige Antworten passen nicht mehr zu mir. »Alles hat seine Zeit«, heißt es in der Bibel. Und ich spüre: Für mich ist es Zeit, etwas Neues zu wagen.

Meine Familie und ich stehen an einem Wendepunkt. Wir wissen, dass ich meinen Beruf als Pastor aufgeben werde. Wir wissen, dass etwas Neues kommen muss. Aber was? Wie? Wo? Wir haben keine Ahnung und der Druck ist enorm. Ich bin Alleinverdiener und die Zukunft liegt vor uns wie ein leeres Blatt Papier – unbeschrieben und ungewiss.

Angebote, irgendwo als Pastor neu anzufangen, gibt es genug. Aber das steht nicht zur Diskussion. Uns ist klar, dass sich in einer neuen Gemeinde zwar die Leinwand ändern würde, der Film aber der gleiche bliebe. Außerdem wollen wir nicht umziehen. Wir fühlen uns heimisch, haben Wurzeln geschlagen und gute Freunde um uns. Auch unsere Kinder sind bestens integriert und glücklich. Ich habe nur ein abgeschlossenes Theologiestudium vorzuweisen – nicht gerade viel, um beruflich neu durchzustarten. Und doch ist das nicht das eigentliche Problem. Nicht irgendein Schein oder Zeugnis soll darüber entscheiden, womit ich meine Lebenszeit verbringen will. Auch Geld und Sicherheit sollen nicht die Richtung meines Lebens bestimmen.

Die Frage, die mich bewegt, ist: Was macht mich lebendig? An welchem Ort kann ich das, was tief in mir leuchtet, am besten zum Vorschein bringen? Wo blühe ich auf und kann das tun, was mich wirklich erfüllt?

An einem Abend bei unseren Freunden Alex und Silke geht es genau um diese Frage. Wie gut ist es, wenn Freunde einem helfen, Klarheit zu finden. Immer mehr verdichtet sich das Gefühl, dass ich etwas im Bereich der Gastronomie machen will. Vom Hirt zum Wirt, sozusagen. Ich liebe es, Gastgeber zu sein und es macht mir unsagbar viel Freude, Orte zu schaffen, an denen Menschen sich eingeladen und wohl fühlen. Vielleicht liegt es daran, dass ich im Hotel meines Großvaters aufgewachsen bin. Meine beiden Eltern sind Köche und so ist die Gastronomie gewissermaßen ein Teil meiner DNA.

Doch Menschen einfach nur satt zu machen, ist mir zu wenig. In meinem Kopf formt sich eine Vision von einem besonderen Ort, der Menschen inspiriert und hungrig macht auf Leben, auf Begegnung, auf Momente echter Tiefe. So wie das »Café am Rande der Welt. Eine Erzählung vom Sinn des Lebens« – ein Buch, das mich in meiner größten Erschöpfung tief berührt hat.

Ich träume davon, einen Ort zu schaffen, an dem sich jeder willkommen fühlt, unabhängig davon, was er glaubt oder woher er kommt. Ein Ort, an dem man nicht nur konsumiert, sondern an dem Menschen einander wirklich begegnen. Wo nicht nur zugehört, sondern Geschichten geteilt und Leben miteinander verwoben werden. Ein Ort, an dem nicht die richtigen Antworten entscheidend sind, sondern echte Fragen.

Aber ich kenne mich gut genug, um zu wissen: Ein klassisches Café mit festen Wänden wäre nichts für mich. Ich brauche Abwechslung, Ortswechsel, immer wieder neue Gesichter. Das macht mich lebendig. Menschen auf einem kleinen Stück ihres Weges begleiten, ihnen etwas Gutes tun – und sie dann wieder loslassen.

An diesem Abend bei Alex und Silke spinnen wir die Idee weiter. Wie könnte so ein Café aussehen? »Wie wäre es mit einer Jurte oder einem großen Zelt?«, schlägt Silke vor. »Damit wärst du mobil und flexibel!« Aber mir erscheint das zu kompliziert. »Vielleicht ein Bus«, höre ich mich plötzlich sagen. Der Satz ist einfach da. Ich weiß nicht, woher der Gedanke kommt, aber er hat mich sofort fest im Griff: ein Café in einem Bus! Noch am selben Abend setze ich mich zu Hause an meinen Laptop. Ich durchforste das Internet, suche nach geeigneten Fahrzeugen. All die diffusen Gedanken und Wünsche beginnen sich zu ordnen.

Am nächsten Morgen entwerfe ich eine kleine Präsentation. Ich überlege mir, wie ein solches Café funktionieren könnte, welche Möglichkeiten es eröffnen würde und welche Herausforderungen es zu bewältigen gäbe. Je länger ich mich damit beschäftige, desto mehr nimmt das Ganze Gestalt an.

Als ich meiner Frau Maria davon erzähle, sieht sie das Leuchten in meinen Augen und erkennt den Mann wieder, der sie einst begeistert hat und der in den letzten Monaten verschwunden war. Doch von Anfang an sagt sie, dass ein Café ganz und gar nicht ihr Ding ist. »Wenn du diesen Weg gehen willst, dann geh ihn. Aber ich kann dich dabei nicht unterstützen. Es wird ganz allein dein Projekt sein. Für mich ist das nichts!«, macht sie unmissverständlich klar.

So sehr wir uns gewünscht haben, ein Projekt zu finden, in dem wir uns gemeinsam einbringen können, wird uns einmal mehr deutlich: Unsere Wesen sind zu verschieden, unsere Herzen schlagen in einem anderen Takt. Das, was mich lebendig macht – neue Orte, viele Menschen, wechselnde Umgebungen, Adrenalin, Nervenkitzel – all das raubt Maria Kraft und Lebensfreude. Als hochsensibler Mensch nimmt sie Stimmungen und Emotionen viel intensiver wahr, als ich es je könnte. Um aufzublühen, braucht sie genau das Gegenteil von dem, was mir guttut: Ruhe, Sicherheit, Beständigkeit und so wenige Reize wie möglich. Ein gemeinsamer Ort, an dem wir beide gleichermaßen aufblühen? Den wird es wohl nie geben. Aber sie unterstützt mich trotzdem. Anders, als ich es mir vielleicht gewünscht habe – aber auf ihre Weise. Und am Ende zählt genau das. Denn wir können nur das geben, was wir haben. Und nur das sein, was wir sind. Alles andere wäre nicht echt und würde zerstören, was in uns liegt. Und das war etwas, das wir beide nicht wollen. Ganz im Gegenteil. Unser Wunsch ist, dass der andere glücklich ist.

Ich bin überzeugt davon, dass ich mit einem Cafébus meine Familie ernähren kann. Maria weiß, dass ich fähig bin, das zu schaffen und dass ich glücklich sein werde, wenn ich diesen Traum weiterverfolge.

2. Von der Kanzel zur Kaffeemaschine

Wie baut man eigentlich einen Bus in ein Café um? Ehrlich gesagt: Ich habe keine Ahnung. Aber genau das ist mein Vorteil. Ähnlich der Hummel, die nach den physikalischen Gesetzen der Aerodynamik nicht fliegen kann – aber zum Glück nichts davon weiß. Mit grenzenloser Naivität und dem festen Glauben, dass alles möglich ist, stürze ich mich ins Abenteuer. Ganz nach dem Motto meiner Lieblingstheologin Pippi Langstrumpf: »Das habe ich noch nie gemacht, also bin ich mir ganz sicher, dass ich das schaffe!«

Das Erste, was ich für mein Bus-Café brauche, ist – logischerweise – einen Bus. Aber nicht irgendeiner. Er soll Charakter haben. Ein Bus mit Geschichte. Kein seelenloses Fahrzeug mit glatten Oberflächen. Ich suche einen alten Schatz auf Rädern, der schon viel gesehen hat. Ein Bus, der nicht nur Platz bietet, sondern auch Persönlichkeit. Der Geschichten erzählt, bevor überhaupt jemand eingestiegen ist. Mindestens 35 Jahre alt soll er sein – nicht nur wegen der steuerlichen Vorteile oder dem historischen Kennzeichen, sondern weil in diesem Alter das Rostige, das Rebellische, das Romantische mitschwingt. Ich suche kein Fahrzeug, ich suche einen Gefährten. Einen Wegbegleiter, der knarzt, schnauft, brummt und mit seinem Charme die Menschen zum Lächeln bringt.

Ich durchsuche das Internet und durchforste alle möglichen Online-Portale nach einem passenden Gefährt. Ich finde unzählige Anzeigen für Doppeldeckerbusse, die jedoch alle weit über 500.000 Euro kosten. Das ist jenseits meiner Möglichkeiten und so gar nicht nach meiner Vorstellung. Nach langem Scrollen entdecke ich eine interessante Anzeige. Im Sauerland bietet jemand einen alten deutschen Doppeldeckerbus der Marke Büssing an. Baujahr 1974. 9.990 Euro soll das gute Stück kosten. Alle anderen Zahlen und Daten sagen mir nicht viel. Autos und Technik waren noch nie mein Ding, aber Farbe und Form und vor allem der Preis überzeugen mich. Ohne lange zu zögern, wähle ich die hinterlegte Nummer: »Guten Tag, Malcin mein Name!« Eine sanfte ältere Stimme entgegnet: »Wer ist da?« Ich wiederhole etwas lauter: »Michel, mein Name. Ich rufe an wegen Ihrer Anzeige vom Doppeldeckerbus. Können Sie mir mehr darüber erzählen?« Und ob er das kann. Der Mann fängt an, mir nicht nur die Geschichte des Busses, sondern auch seine eigene zu erzählen. »Vor vielen Jahren habe ich den Bus für ein Jugendprojekt erworben, das aber leider zum Erliegen gekommen ist.« Eine Geschichte folgt der nächsten. Der Mann berichtet von seiner fortschreitenden Krankheit und davon, dass er alles verkaufen muss. Sein Gesundheitszustand lässt ihm keine andere Wahl. »Ich habe immer gehofft, dass es irgendwann einmal weitergeht. Wir haben den Bus damals völlig entkernt und alle Fenster herausgenommen sowie neue Dichtungen besorgt. Rot sollte er werden; das haben wir auch noch geschafft, aber dann brach alles zusammen.«

Ganz genau habe ich nicht verstanden, warum, und was die genauen Gründe waren und wieso der Bus nie fertiggestellt wurde. Um ehrlich zu sein, stand das für mich nicht im Vordergrund – viel wichtiger war, was jetzt ist, und vor allem interessiert mich eine ganz andere Frage. »Entschuldigung, wenn ich Sie kurz unterbreche. Aber ist der Bus denn noch fahrbereit?« »Äh, ich denke ja, der Motor springt jedenfalls ohne Probleme an!« Das ist die Antwort, die ich hören wollte. »Aber der Bus ist schon vergeben!«, fährt er fort. »Was heißt vergeben?«, frage ich völlig schockiert nach. Warum sagt er das nicht gleich zu Beginn des Gesprächs? »Naja, jemand hat eine E-Mail geschrieben, dass er den Bus reservieren lassen möchte und sich melden wird!« – »Und wann genau war das?«, frage ich. »Eigentlich wollte er sich bis heute melden. Aber vielleicht ist ihm etwas dazwischengekommen!« Ohne lange zu überlegen, sage ich: »Ich will den Bus nicht nur reservieren, sondern garantiert kaufen! Wenn Sie wollen, überweise ich Ihnen noch heute eine Anzahlung!« Nach kurzem Schweigen höre ich ein schweres Atmen durch das Telefon und dann: »Okay, wenn das so ist, sende ich Ihnen jetzt gleich einen Kaufvertrag zu, dann kann ich dieses Kapitel endlich abschließen!« Wir verabschieden uns und ich atme tief durch. Was bitteschön habe ich da gerade gesagt? Wäre es nicht klug, mindestens eine Nacht darüber zu schlafen oder den Bus wenigstens einmal vor Ort zu begutachten? Doch was ist, wenn ein anderer den Bus vor mir kauft? Ich muss die Chance nutzen. Wie heißt es so schön: ›Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben‹ oder in meinem Fall: ›Wer zu spät kommt, der verpasst den Bus!‹ Gleich darauf finde ich in meinem Postfach einen Kaufvertrag inklusive Kontoverbindung.

Noch habe ich keine Ahnung, wie das gehen soll. Ich habe kein Geld, keine Sicherheit oder sonst irgendetwas. Alles, was ich habe, ist eine – wie ich finde – großartige Idee. Damit diese Wirklichkeit wird, muss ich Schritte ins Ungewisse tun. Ich kann nicht warten, bis ich jedes Detail kenne, bis jede Angst verschwunden ist. Ich muss ins kalte Wasser springen und die Chance nutzen. Machen ist tatsächlich so viel krasser, als nur zu wollen. Ich atme tief durch, unterschreibe den Kaufvertrag und überweise unser gesamtes erspartes Geld noch am selben Tag. Die einen nennen es Naivität oder Leichtsinn, andere Mut und Selbstvertrauen. Was es ist, entscheidet immer das Ende. Aber eins weiß ich: Nichts zu tun, ist der sicherste Weg, dass alles beim Alten bleibt.

Mut bedeutet eben nicht, das Ziel schon zu sehen, sondern loszugehen, auch wenn der Weg noch verborgen ist. Die größten Entdeckungen, Erfindungen und Abenteuer der Menschheit begannen mit einem Schritt ins Unbekannte. Wer nur dann handelt, wenn absolute Sicherheit besteht, wird nie über die Grenzen des Gewohnten hinausgelangen. Und was ist, wenn es schiefgeht? Die Frage werde ich noch so oft von allen möglichen Menschen hören. Meine Antwort darauf ist: »Dann geht es halt schief!« Fehler gehören dazu und Scheitern ist kein Verbrechen. Jeder große Erfinder und jede große Erfinderin hat Dinge scheitern sehen, bevor der Erfolg sich zeigte. Jeder Künstler und jede Künstlerin hat Skizzen verworfen, bevor das Meisterwerk entstand. Das Leben belohnt die Mutigen, nicht die Perfekten.

Jetzt möchte ich so schnell wie möglich meinen Bus in Augenschein nehmen. Ich frage meinen Freund Bogdan, einen gelernten KFZ-Mechaniker, ob er mich begleitet. Er willigt ein und ein paar Tage später sitzen wir im Auto Richtung Sauerland. Unser Plan ist, nicht nur den Bus genau zu begutachten und auszumessen, sondern ihn für die baldige Überführung vorzubereiten. Dazu müssen wir alle Fenster wieder einsetzen.

Das Leben belohnt die Mutigen, nicht die Perfekten. Gespannt wie ein Fünfjähriger vor der weihnachtlichen Bescherung erreichen wir nach dreieinhalb Stunden Fahrt endlich den alten Hof. Vor einer großen Scheune steht ein älterer Herr, der sich auf einen Stock stützt. Sein Rücken ist gebeugt, und mit müden Augen steht er da und wartet auf uns. Nach einem kurzen Smalltalk führt er uns zum großen Scheunentor. Dort angekommen, greift er in seine Hosentasche und zieht ein Bündel alter Schlüssel hervor. Es braucht ein paar Versuche, bis er den Richtigen findet. Dann klickt das Schloss und mit kräftigen, routinierten Bewegungen entriegelt er das massive Holztor. Er stemmt sich dagegen, doch das Tor gibt nur widerwillig nach. Bogdan eilt ihm zu Hilfe und schließlich schwingt das schwere Tor auf. Licht durchflutet den Raum. Die hereinbrechenden Sonnenstrahlen lassen die Staubpartikel wie funkelnde Sterne tanzen. Zwischen Gerümpel und Schrott, ganz hinten in der Ecke entdecken wir ihn: Einen großen roten, fensterlosen Doppeldeckerbus.

In meiner Vorstellung war der Umbau eines Busses in ein Café bisher eine zu bewältigende Aufgabe. Jetzt, als ich ihn zum ersten Mal in voller Größe sehe, bin ich mir nicht mehr ganz so sicher. Bogdan, der eigentlich immer zu allem etwas zu sagen hat, ist still. Ich schaue ihn an und frage: »Und? Ist das nicht großartig?« Seine Augenbrauen wandern langsam nach oben und seine Augen weiten sich zunehmend. »Großartig ist ein großes Wort!« Mehr sagt er nicht. Sein Gesichtsausdruck spricht dagegen Bände und ich meine in seinen Augen zu lesen: ›Junge, lass uns nach Hause fahren! – Ganz nach dem Motto: Schuster, bleib bei deinen Leisten – oder in meinem Fall: Pastor, bleib bei deiner Herde.‹ Aber das sagt er nicht. Als guter Freund verdirbt er mir nicht den Spaß mit lästiger Realität, sondern lässt mich in meiner Traumwelt.

Mir hat es noch nie an Fantasie gefehlt und ich stelle mir vor, wie der Bus einmal aussehen wird. »Bogdan! Glaub mir, das wird großartig!«, versuche ich erneut, ihn und vielleicht auch ein bisschen mich selbst zu überzeugen. Die Frage, ob der Bus geeignet ist, ist ohnehin irrelevant – ich habe ihn bereits gekauft. Also los: Ärmel hochkrempeln und das Beste daraus machen.

Ich möchte unbedingt die genauen Maße wissen, um zu Hause weiter planen zu können. Wir kämpfen uns durch den zugemüllten Innenraum des Busses. Mit Zettel, Stift und Metermaß schreiben wir alle Breiten, Höhen und Tiefen auf. »Was hältst du davon, wenn wir anfangen, die ersten Fenster einzubauen?« Bogdan nickt und begibt sich auf die Suche nach einer passenden Scheibe und Dichtung. Sechs Stunden später ist nicht nur das Repertoire unserer Flüche erschöpft, wir sind es auch und haben gerade einmal eine Scheibe eingesetzt – eine von ungefähr 40. Es wird ewig dauern, bis ich den Bus überführen kann. So habe ich mir das nicht vorgestellt. Zwischen Vorstellung und Wirklichkeit liegt manchmal ein ganzer Ozean aus Wahrheit – und genau auf diesem treibe ich gerade und drohe unterzugehen. Nicht nur der Zustand des Busses und die fehlenden Fenster sind eine Herausforderung. Auch die Inneneinrichtung und Aufteilung ist alles andere als ideal für mein Vorhaben. Ich muss der Wahrheit ins Auge schauen. Auf der Rückfahrt wird mir klar: Dieser Bus ist nicht der Richtige. Hatte ich Zweifel an meiner Idee? Nein. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Mein Traum ist immer noch lebendig. Nur weil etwas nicht funktioniert, heißt das nicht, dass alles falsch ist. Nur weil ich mich unterwegs einmal verlaufe, ist nicht der ganze Weg sinnlos. Ein Umweg macht aus einer Reise keine Irrfahrt – sondern führt immer zu Orten, die man sonst nie entdeckt hätte.

Manchmal gewinnt man, manchmal lernt man dazu. In diesem Fall gilt beides. Nicht nur, dass ich den Bus kurze Zeit später zu einem besseren Preis wieder verkaufen konnte; dieser Fehlkauf brachte mich auch auf eine entscheidende Spur. In den Unterlagen des alten Busses entdecke ich eine interessante Notiz: ›Bei Technikfragen oder Ersatzteilproblemen: AG Traditionsbus Berlin.‹ Daneben stehen eine Handynummer und der Name ›Stefan Freytag‹. Mir fehlen jedoch nicht nur ein paar Teile, sondern ein kompletter Bus. Und so beginnt meine Suche von vorne. Ich wähle die Nummer aus der Notiz und erreiche tatsächlich jemanden vom Traditionsbus-Verein in Berlin. Ich versuche, meine Situation und mein Anliegen zu erklären, doch soweit komme ich gar nicht. »Für dit ganze Gelaber hab' ick keene Zeit. Wenn de wat willst, musste schon selber anjetrabt kommen. Wir sind jeden Samstag hier im Verein, da findeste bestimmt wen, der dir weiterhelfen kann.« Dann nennt er mir noch die Adresse, verabschiedet sich und legt auf. Okay, denke ich, das ist bestimmt der berühmt-berüchtigte ›Berliner Charme‹. Wenigstens habe ich jetzt eine Adresse.

Eine Woche später sitze ich mit meinem Sohn Elia im Zug nach Berlin. Ein Vater-Sohn-Ausflug inklusive Abstecher zu einem Verein für alte Busse irgendwo in Spandau. Ich habe keine Ahnung, was mich dort erwartet, doch beim Betreten des Geländes stockt mir der Atem! Auch mein kleiner Sohn staunt nicht schlecht. Vor uns stehen riesengroße Hallen, die zum Teil vollgeparkt sind mit historischen Doppeldeckerbussen aus allen möglichen Zeitepochen. Einige davon sind liebevoll restauriert, andere sind ausgemustert und dienen als Ersatzteillager. Dazwischen meterhohe Regale bestückt mit Werkzeug und Fahrzeugteilen. Herr Freytag begrüßt uns – ein echtes Berliner Original, mindestens so authentisch wie die Busse in seiner Halle. Mit sichtlicher Freude führt er uns durch die Werkstatt. Wir hören gebannt zu, während er mit charmantem Berliner Dialekt von alten Motoren und noch älteren Zeiten berichtet. Zwischendurch erzähle ich auch immer wieder von mir, meinem Burn-out und meiner Idee, ein Bus-Café zu eröffnen. Schließlich fasse ich all meinen Mut zusammen und blicke ihn fragend an: »Ich suche einen fahrbereiten alten Bus – und ich hoffe sehr, dass Sie mir dabei helfen können.« Ich merke schnell: Für Träumereien und Spinner wie mich hat Herr Freytag wenig Verständnis. »Sie waren Pastor und wollen jetzt eenen Bus umbauen?«, fasst er meinen Vortrag zusammen, um wirklich sicher zu sein, dass er alles richtig verstanden hat. »Ja, genau das ist mein Plan!« Doch irgendwie klingt es anders, wenn er das sagt, denke ich. »Na dann kannste dir ja schon mal auf deinen nächsten Burn-out freuen.«

Ich schaffe es nicht, darauf angemessen zu reagieren, denn plötzlich entdecke ich neben der Halle einen weiteren Bus. Nicht senfgelb wie alle anderen. Dieser glänzt in den Farben blau und weiß. Ich weiß nicht warum, aber für mich ist in diesem Moment alles klar. Meine Suche ist beendet. Ohne abzuwarten laufe ich auf den Bus zu und sage: »Das ist er! Genau so einen habe ich gesucht!« Herr Freytag ist etwas irritiert. Dieser Bus steht nicht zum Verkauf!«, stellt er unmissverständlich klar. Dann erzählt er mir die Geschichte von dem Bus und davon, wie er ihn vor Kurzem aus Wuppertal nach Berlin überführt hat. »Dat jute Stück haben wir janz frisch erworben. Von den D2U jibt es nur noch ne Hand voll«, fährt er fort. Hektisch schaut er auf seine Uhr und blickt wieder auf. »Und wo, bitteschön bleiben all die anderen?« Mit seinen Augen scannt er das Gelände ab. Aber weit und breit ist niemand zu sehen. Wir sind die Einzigen. »Ick sehe schon, dat det mal wieder voll in die Binsen jeht!« Langsam wird mir klar, wovon Herr Freytag spricht. Eigentlich ist Samstag, der Vereinstag. Zeit, um gemeinsam zu schaffen und zu bauen. »In dit heutigen Zeit isses nicht mehr möglich, so eine Tradition aufrechtzuerhalten«, seufzt er. Es ist mit Sicherheit nicht das erste Mal, dass er frustriert alleine vor seinen geliebten Bussen steht. »Alle woll‘n nur noch bestimmen. Aba richtig anpacken und sich die Flossen dreckig machen, dit will keener mehr.«

Das ist mein Moment, denke ich. »Was passiert eigentlich, wenn keiner mehr kommt und hilft, die Busse zu restaurieren?«, frage ich vorsichtig. »Nüscht! Wat soll denn schon passieren?«, blafft er zurück. »Wäre es nicht schöner, wenn ich mich liebevoll um diesen blauen Bus kümmere und ihn in ein einzigartiges Café verwandle?« Herr Freytag verdreht die Augen. »Herjee, wat globste ejentlich? Datte dat mal eben so nach Feierabend zusammenwerkelst? Jibbet ejentlich nur noch Spinner!?« Ich weiß, dass ich nicht normal bin. ›Normal‹ wäre es, jetzt einfach aufzugeben und die Sache ruhen zu lassen. Aber genau das kommt für mich nicht infrage. Also bleibe ich hartnäckig – und versuche erneut, Herrn Freytag für meine Idee zu gewinnen. Frustriert über das mangelnde Engagement der Vereinsmitglieder und genervt von meiner penetranten Art, verspricht er mir, über einen Verkauf nachzudenken. Dieses kleine Stück Hoffnung reicht mir. Wir verabschieden uns voneinander und gemeinsam mit meinem Sohn verlasse ich das Gelände.

»Aber Papa, fahren wir nicht mit dem Bus nach Hause?«, fragt Elia und zerrt an meinem Arm. »Dieses Mal noch nicht«, antworte ich voller Zuversicht, während wir die nächstgelegene Eisdiele ansteuern. Nach einer Sightseeing- Tour durch Berlin treten wir erschöpft und müde die Heimreise an. Noch im Zug bestelle ich mir im Internet ein baugleiches Miniatur-Bus-Modell. Ein paar Tage später kommt endlich der ersehnte Anruf. Nach einer Mitgliederbefragung steht der Entschluss fest: Der Verein hat entschieden, den Bus zu verkaufen. Die Freude schießt mir durch den ganzen Körper und ich kann nicht anders – ich springe vor Glück. Dieses Kribbeln, wenn ein Traum plötzlich zum Greifen nah ist – es ist unbeschreiblich.

Neben der Entscheidung teilt Herr Freytag mir den Preis mit. Diese Information lässt mich nicht mehr ganz so hoch springen, sondern holt mich zurück auf den harten Boden der Tatsachen. Mir bleibt kurz die Luft weg. Der Preis liegt um ein Vielfaches über dem, was ich für meinen letzten Bus bezahlt habe. Für einen Moment stocke ich – aber nur kurz. Denn tief in mir weiß ich: Es spielt keine Rolle, was er kostet. Ich werde einen Weg finden, das Geld aufzubringen. Weil ich spüre, dass es genau dieser Bus ist. Es gibt keinen besseren für mich und meine Idee. Manche Entscheidungen im Leben trifft man nicht mit dem Verstand – sondern mit dem Herzen. Und das hier ist genau so eine Entscheidung.

3. Führerschein im Weltrekord

Jede große Idee beginnt mit einem Funken – doch der kann schnell verglimmen. Es sind die Menschen um uns herum, die ihn nähren, ihn zur Flamme machen und schließlich das Feuer Wirklichkeit werden lassen. Unterstützer sind wie Wind unter den Flügeln eines Traums, wie die Bausteine eines soliden Fundaments.

Alex, Silke und ihre Familie sind genau diese Menschen. Menschen, die nicht nur zuhören, sondern mitfühlen. Die nicht nur sagen »Das klingt gut«, sondern fragen: »Wie können wir dir helfen?« Sie glauben an meine Idee – und ihr Glaube bleibt nicht bei guten Worten oder wohlwollendem Nicken stehen. Nachdem ich meine Idee weiterentwickelt und einen Businessplan dazu erstellt habe, setze ich mich mit Alex und Silke zusammen, um ihnen mein Konzept zu präsentieren. Sie hören nicht nur zu – sie sehen das Leuchten in meinen Augen, sehen das, was ich sehe. Und dann passiert etwas, das mich tief berührt und womit ich nicht gerechnet habe: Sie steigen mit ein. Mit 40.000 Euro stellen sie die Hälfte des benötigten Startkapitals bereit und werden stille Teilhaber dieses Traums. Wir gründen gemeinsam eine KG – und mit dieser starken Rückendeckung im Gepäck gelingt es mir, auch die Bank zu überzeugen, mir einen Gründerkredit zu bewilligen. Der erste große Schritt ist getan: Ich kann meinen Bus kaufen.

Bus besorgen, check. Jetzt brauche ich noch eine Garage und – ach ja, einen Führerschein! Diesen Punkt habe ich doch glatt vergessen. In zwölf Tagen muss der Bus in Berlin abgeholt und bezahlt sein. Das ist die vertraglich vereinbarte Deadline. Dass jemand anderer die erste Fahrt mit meinem Bus übernimmt, kommt für mich nicht infrage. Es wäre schlauer gewesen, sich vorher darum zu kümmern. Aber daran kann ich jetzt nichts mehr ändern. Der beste Zeitpunkt, etwas zu tun, war gestern. Der zweitbeste ist jetzt. Ich google nach der nächsten LKW-Fahrschule und vereinbare einen Termin. Wenige Stunden später stehe ich im Büro der Fahrschule. »Guten Tag. Ich brauche so schnell wie möglich einen LKW-Führerschein, Klasse C. Was genau muss ich dafür tun?« Die Dame hinter dem Schreibtisch schaut kaum auf. »Schickt Sie Ihr Arbeitgeber? Oder das Arbeitsamt?« »Nein, ich schicke mich selbst«, antworte ich und lächle ein wenig verlegen. »Wir hatten heute Vormittag telefoniert.« Mein Anliegen scheint so ungewöhnlich, dass ich direkt zum Geschäftsführer durchgewunken werde. Genau da will ich hin. Denn, um ehrlich zu sein, habe ich auch das Geld für einen Führerschein nicht in meinem Businessplan einkalkuliert. Bis zu 5000 Euro kann dieser kosten. Wesentlich günstiger dagegen ist fragen, denn das kostet bekanntlich nichts. Also sitze ich wenig später dem Geschäftsführer gegenüber, atme kurz durch und lege los. »Ich hab' da einen Plan – und einen alten Bus, der bald ein rollendes Café wird. Ich werde damit Menschen begeistern, Geschichten servieren, Begegnungen schenken. Und Ihr Name könnte mitrollen – auf meiner Speise- und Getränkekarte. Exklusiv, dauerhaft und sichtbar. Sobald der Bus fertig ist, wird er garantiert überall auffallen. Das verspreche ich Ihnen.« Der beste Zeitpunkt, etwas zu tun, war gestern. Der zweitbeste Zeitpunkt ist jetzt.

Er lehnt sich leicht zurück. Ich sehe, wie er mich mustert. Offen, aber reserviert. Ich nehme all meinen Mut zusammen und frage einfach drauf los. »Was halten Sie davon? Führerschein gegen Werbefläche?« Ein kurzer Moment der Stille. Dann ein erstes Lächeln. Er streckt mir die Hand entgegen und sagt: »Deal. Wann möchtest du anfangen?« Ich bin mir noch nicht sicher, ob er sich über mich lustig macht oder ob er meinen Vorschlag tatsächlich annimmt. Ich strecke ihm zögerlich meine Hand entgegen und schlage ein. »Dann haben wir einen Deal«, erwidere ich. Keine Ahnung, ob ihn meine Idee, mein Charme oder meine naive Dreistigkeit überzeugt haben. Meine Gedanken fahren immer noch Karussell und ich kann es nicht glauben, dass ich soeben kostenlos einen Führerschein verhandelt habe. Also zumindest die Möglichkeit bekomme, einen zu machen. »Wann ich anfangen möchte? Also …«, stottere ich etwas überrumpelt, »am besten jetzt gleich. Geht das?« Der Geschäftsführer schaut auf seine Uhr und überlegt kurz. »Die Treppe hoch und dann rechts. Der Unterricht hat schon angefangen. Setz dich einfach dazu. Ich kläre alles Weitere.« Minuten später sitze ich in einem Klassenraum mit 20 weiteren Männern und lausche aufmerksam den Ausführungen des Fahrlehrers. Nach der ersten Pause werde ich nervös. Bisher habe ich nichts Neues gelernt außer, dass ein Blinker Blinker heißt und Scheinwerfer ab- und aufgeblendet werden können. Wenn das in dieser Geschwindigkeit so weitergeht, werde ich Weihnachten noch nicht fertig sein. In der Regel dauert so ein Kurs mehrere Wochen. Ich weiß jetzt auch, warum. Finanziert wird das Ganze meistens vom Arbeitgeber oder dem Arbeitsamt. Kann sein, dass die mehr Zeit haben, ich habe sie nicht und brauche deshalb eine andere Lösung. Nach ungefähr 30 Minuten verlasse ich den Unterricht und schleiche mich genau so still und heimlich aus dem Raum, wie ich ihn betreten habe. Im Büro erkundige ich mich, wann die nächste theoretische Prüfung ist. »Die findet jeden Montag in der TÜV-Zentrale statt«. »Können Sie mich bitte dort anmelden?«, frage ich zurück. »Sie haben doch gerade erst angefangen!«, bekomme ich als Antwort. Als wüsste ich das nicht selbst. »Es ist unmöglich, den Stoff bis dahin zu lernen!«, ergänzt die Dame leicht genervt. Doch ob etwas unmöglich ist, das entscheide immer noch ich. »Natürlich bezahle ich die Prüfung selbst«, versuche ich die Dame zu überzeugen. »Melden Sie mich bitte auf jeden Fall an!« Sie verdreht die Augen und reicht mir das Anmeldeformular.

Zu Hause angekommen lade ich mir eine passende App herunter und fange an, wie wild für die Prüfung zu lernen. Gleichzeitig buche ich in völliger Selbstüberschätzung mein Zugticket nach Berlin – natürlich nur die Hinfahrt. Zurück fahre ich ja mit dem Bus – mit meinem Bus! Franz von Assisi soll einmal gesagt haben: »Beginne mit dem Notwendigen, dann mit dem Möglichen – und plötzlich tust du das Unmögliche.« Das Notwendige ist, mich hinzusetzen und zu lernen. Das Mögliche, mich zur Prüfung anzumelden. Und dann geschieht tatsächlich das Unmögliche: Ich bestehe am Montagmorgen die theoretische Prüfung mit nur drei Fehlerpunkten. Damit bin ich für den praktischen Teil zugelassen. Ich bleibe die ganze Woche auf Abruf, damit ich alle Fahrstunden annehmen kann, die kurzfristig frei werden. Mit Ach und Krach schaffe ich es, alle nötigen Pflichtstunden zu absolvieren. Elf Tage nach meinem ersten Besuch stehe ich jetzt auf dem Fahrschulparkplatz und warte darauf, in den Prüfungs-LKW einzusteigen.

Mit schweißnassen Händen setze ich mich hinter das Lenkrad des Lastwagens. Mein Fahrlehrer erzählt mir beiläufig, dass alle Fahrschüler vor mir durchgefallen sind. Na toll, denke ich. Diese Information habe ich gerade noch gebraucht. Doch es bringt überhaupt nichts, sich mit anderen zu vergleichen. Oft sitzt unser größter Feind nicht auf dem Beifahrersitz, sondern in unserem Kopf. Bleib bei dir, rede ich mir ein und beschließe, die Prüfung zu bestehen. Selbstzweifel zerstören mehr Träume, als Misserfolge es je könnten. Dafür habe ich keine Zeit, und mit dieser Einstellung starte ich den Motor und warte auf meine erste Anweisung. Am Nachmittag halte ich stolz meinen provisorischen Führerschein in der Hand. Vielleicht musste einfach nur jemand die Quote erfüllen. Oder es sollte genau so sein. Eines aber ist sicher: Ich habe vermutlich den schnellsten LKW-Führerschein aller Zeiten gemacht.

Am Samstagmorgen stehe ich mit meinen beiden Jungs am Bahngleis. Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin! Sie sind mindestens genauso aufgeregt wie ich. Im Rucksack: Proviant für die lange Fahrt – und mein druckfrischer Führerschein. Nach über sechs Stunden Fahrt stehen wir endlich wieder auf dem Gelände des Traditionsbusvereins. Schon von Weitem sehen wir ihn: den blau-weißen Bus. Abfahrbereit steht er da, als hätte er nur auf uns gewartet. »Bevor du hier vom Hof fährst, will ick erst mal dein‘ Führerschein sehen!«, begrüßt mich Herr Freytag mit einem schelmischen Grinsen. Ich ziehe stolz das gute Stück aus der Tasche und halte es ihm hin. Im Gegenzug drückt er mir eine alte, vergilbte Mappe in die Hand. »Det is die Gebrauchsanweisung. An dener Stelle würd ick mir die janz jenau durchlesen!« Während meine Jungs längst den Bus gestürmt und den oberen Stock für sich erobert haben, steige auch ich ein – mit Herzklopfen, Führerschein und einer alten Mappe unter dem Arm.

Herr Freytag zeigt und erklärt mir in Berliner Gelassenheit jeden Knopf und was passiert, wenn die verschiedenen Hebel in Bewegung gesetzt werden. Bei den meisten passiert wenig bis gar nichts, bei andern zischt und brummt es. Viel Technik ist hier nicht verbaut. Licht an und aus. Blinker sowie je ein Knopf für den linken bzw. den rechten Scheibenwischer. »Falls die Reifen platzen, habe ick dir noch zwei alte Ersatzreifen reingelegt. Man kann ja nie wissen«, werde ich von Herrn Freytag ermutigt. »Das ist nett von Ihnen!«, sage ich. »Mag sein. Helfen wird dir dit aber auch nix. Heute is kaum noch eener in der Lage, alte Trilex-Felgen zu wechseln. Aber dit wirste früh jenug herausbekommen.« Herrn Freytag als pessimistisch zu beschreiben, wäre definitiv zu optimistisch. Aber eines steht fest: Er ist ein echtes Original. Und ich bin froh, dass ich ihn in den kommenden Jahren immer wieder um Rat fragen darf – und dabei auf seine ehrliche, kompetente Hilfe zählen kann. Jetzt ist es so weit: Zeit, den Zündschlüssel – oder besser gesagt den Starthebel – umzulegen.

Endlich sitze ich hinter dem riesigen Lenkrad. Meine ersten Fahrgäste wollen auf die Straße und rufen laut von oben herunter: »Wann geht‘s denn endlich los?« Ich würde sagen: genau jetzt, und ich rufe nach oben: »Einsteigen bitte! Nächster Halt Ibbenbüren!« Anschnallgurte gibt es keine und Kindersitze schon mal gar nicht, dafür jede Menge Beinfreiheit und viel Raum zum Herumturnen und Spielen. Ich trete vorsichtig auf das Gaspedal. Langsam, sehr langsam, setzt sich mein neuer Bus in Bewegung. Schwerfällig rollt er los, und ich manövriere ihn über den weiten Platz in Richtung Straße. Nach den ersten Kilometern wird mir klar, warum die Berufsbezeichnung »Kraftfahrer« heißt. Jede Lenkbewegung ist nur mit beiden Händen und vollem Krafteinsatz möglich. Angespannt und fokussiert schlängle ich mich durch den hektischen Berliner Stadtverkehr, immer mit dem bangen Blick auf mögliche Hinweisschilder, die mir Grenzen in Höhe oder Breite setzen könnten. Das Navi zeigt viereinhalb Stunden Fahrzeit an. Das stimmt vielleicht für einen normalen Bus, nicht aber für einen alten Doppeldecker aus dem Jahre 1959. Damals zählte nicht, wer am schnellsten ist, sondern wer am längsten durchhält. Dieses Rennen hat mein Bus eindeutig gewonnen. Nicht Geschwindigkeit war das alles entscheidende Kriterium, sondern Qualität und Beständigkeit. Die Fahrt dauert mehr als doppelt so lang und ich genieße jede Minute davon. Autos ziehen gemächlich vorbei, Fahrer und Beifahrer werfen bewundernde Blicke auf den alten Riesen. Immer wieder begegnen mir strahlende Gesichter mit einem nach oben zeigenden Daumen.

Als die Sonne in warmen Rottönen am Horizont versinkt, wird es Zeit für eine Pause. Meine Kinder brauchen eine Stärkung und der Bus verlangt nach neuem Kraftstoff. Ich wähle die LKW-Spur Richtung Tankstelle. Die Überdachung sieht verdächtig niedrig aus. Pass ich da drunter? Ein Zuschauer winkt mir entgegen und versichert mir mit einer Handbewegung, dass alles passt. Ich parke den Bus neben der Tanksäule. Doch leider ist der Tankdeckel nicht auf der Seite, auf der ich ihn vermutet habe. Ich lege den Rückwärtsgang ein und sehe, dass ich genau gar nichts sehe. Ich brauche dringend eine Rückfahrkamera, stelle ich fest. Erneut hilft mir ein Passant durch Handzeichen, an die andere Seite der Zapfsäule zu kommen. Das klingt viel leichter, als es ist. Hinzu kommt der Umstand, dass inzwischen mehr Menschen um den Bus stehen, als mir in dem Moment lieb ist. Mit einem angestrengten Lächeln im Gesicht schaffe ich es schließlich, den Bus auf der richtigen Seite zu parken. Ich steige aus und laufe zur Säule. Der Zapfhahn sieht winzig aus im Vergleich zum Einfüllstutzen. Ich drücke den Hebel und beginne, den Bus mit Diesel zu befüllen.

Nach einiger Zeit und einem Krampf in der Hand rufe ich nach meinen Jungs. »Seht mal unter dem Bus nach, ob da irgendwo was rausläuft?« Ich bin mir sicher, dass ein Loch im Tank sein muss. »Hier läuft nix!«, rufen mir meine Jungs zurück, während die Anzeige sich ununterbrochen weiterdreht. Bei 440 Euro unterbreche ich den Tankvorgang. Ich habe keine Ahnung, welche Mengen so ein Tank fasst, aber so viel Geld werde ich wohl nie besitzen, um das herauszufinden.

Nach über zehn Stunden Fahrt erreichen wir endlich die Autobahnausfahrt von Ibbenbüren. Am Straßenrand wartet bereits Maria mit meiner kleinen Tochter und filmt unsere erste Einfahrt in die Stadt. Vor der Garage stehen Silke und ihre Jungs, um uns zu empfangen. Nur noch eine letzte Herausforderung steht an: Der Bus muss in die Garage passen. Ich steige aus, öffne das elektrische Garagentor und nehme noch einmal mit den Augen Maß. Dann klettere ich wieder hinters Steuer und setze den Bus vorsichtig zurück. Ich halte die Luft an: Es passt! Nichts klemmt oder ruckelt. Wir sind angekommen. Stolz, erleichtert und völlig nassgeschwitzt stelle ich den Motor aus. Und während das Garagentor sich langsam wieder schließt, öffnet sich gleichzeitig ein neues Kapitel.

4. Alexander(s)platz

Der Umbau kann starten! Und das wird spannend, denn handwerklich bin ich ungefähr so begabt wie ein Pinguin beim Klettern. Und wenn es um den Umbau eines Busses in ein Café geht, habe ich davon so viel Ahnung wie ein Fisch vom Fahrradfahren. Als Theologe kann ich das Neue Testament aus dem Griechischen übersetzen. Ob mir das bei diesem Projekt hilft? Eher fraglich. Vielleicht ein bisschen. Denn da steht doch »Alles ist möglich dem, der da glaubt.« – Und glauben kann ich, vor allem an mich. Und das ist auch dringend nötig, denn vor mir türmt sich ein riesiger Berg an Arbeit. Berge versetzt man bekanntlich ja auch durch Glauben – und indem man Stein für Stein bewegt und loslegt. Anzug und Kollarhemd tausche ich gegen einen Blaumann, ziehe mir passende Arbeitshandschuhe an und mache mich ans Werk. Ich beschließe, dass erst einmal alles raus muss. Die Sitzbänke, die eingebauten Möbel, der Fußboden, die Wandverkleidungen und alles andere, was nicht niet- und nagelfest ist. Ich fülle einen Müllsack nach dem anderen und komme aus dem Staunen nicht mehr raus, was sich so alles unter den Bänken und hinter den Wänden versteckt! Wie ich mich immer weiter durch Relikte der Vergangenheit kämpfe, entdecke ich plötzlich etwas, das mir den Atem verschlägt. Unter einer der Bänke klemmt ein altes großes Schild. Verstaubt, die Ecken leicht verbogen, aber die schwarzen Buchstaben darauf sind noch gut lesbar:

Mir kommen die Tränen und ich muss mich setzen. Kann das wirklich sein? Der Name jeder beliebigen Berliner Haltestelle hätte auf diesem Schild stehen können. Aber nein, genau dieser Name ist es. Ich blicke aus dem Fenster, hinauf in den Himmel, und muss trotz meiner Tränen lächeln. Ohne ihn wäre ich jetzt nicht hier, nicht in diesem Bus, nicht am Beginn dieses verrückten Abenteuers. Als damals am Esstisch in seinem Haus die Idee des Busses Gestalt gewann, war Alex bereits schwer von der grauenhaften Krankheit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) gezeichnet. Seine Begeisterung und seine Unterstützung bremste das nicht, ganz im Gegenteil: Er glaubte an meinen Traum. Den Doppellecker hat er leider nie mit eigenen Augen sehen können. Kurz nachdem ich den Bus aus Berlin geholt hatte, kam der Tag, den wir alle so sehr gefürchtet hatten.

An einem Dienstagmorgen im April ist Alex im Beisein seiner Familie verstorben. Die Krankheit hat ihm nach und nach das Laufen, das Reden, das Schmecken – und am Ende auch das Atmen genommen. Aber eines hat sie ihm nie nehmen können: seinen Lebenswillen und seine Lebensfreude. Alex hat nicht aufgegeben. Er hat nicht resigniert. Er hat sich nie als Opfer gesehen. Bis zuletzt war er Gestalter seines Lebens. Ein Macher. Einer, der das, was möglich war, möglich machte.

Mein letzter Dienst als Pastor, mein letzter Gang zur Kanzel, meine letzte Predigt galten dem Freund, den ich zu beerdigen hatte. Begraben wurde an diesem Tag aber nur seine Hülle. Alex blieb und bleibt ein Teil unseres Lebens und er wird immer auch ein Teil vom Buscafé sein. Zusammen mit seinen Jungs und Silke haben wir etwas Neues erschaffen. In den folgenden Monaten wurde gemeinsam geschraubt, geschliffen, gebaut – und immer wieder versucht, das weiterzugeben, was wir von Alex gelernt hatten: nicht aufgeben. Sich auf das konzentrieren, was zählt, und sich an dem freuen, was wir haben. Und das sind Beziehungen, Freunde und die Möglichkeit, der Welt das zu geben, was in uns steckt.

Es gibt Menschen, die dein Leben begleiten – und es gibt Menschen, die es verändern. Alex und Silke sind genau solche Menschen für mich. Sie haben mich nicht nur mit Worten unterstützt, sondern sich auch ganz praktisch in das Projekt eingebracht – mit Zeit, mit Ideen, mit Herzblut. Und auch finanziell. Ihre Beteiligung war weit mehr als eine nette Geste. Es war ein Ausdruck tiefen Vertrauens. Ein mutiges, kraftvolles Zeichen dafür, dass dieser Traum nicht nur meiner war. Dass man große Ideen nicht allein verwirklicht und dass es Menschen gibt, die an dich glauben – lange bevor etwas sichtbar ist.