About Shame - Laura Späth - E-Book

About Shame E-Book

Laura Späth

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Beschreibung

Scham ist tabu, Scham ist schmerzhaft – und trotzdem muss sich jede:r von uns früher oder später mit ihr auseinandersetzen. Doch woher kommt diese Scham, was macht sie mit uns und wie können wir konstruktiv mit ihr umgehen? Ausgehend von ihrer eigenen Biografie, von schamvollen Momenten in unterschiedlichen Lebensphasen, zeichnet Laura Späth verschiedene Aspekte der Scham nach – Scham für bestimmte sexuelle Erfahrungen, für den Körper oder für das Frausein – und deckt gleichzeitig mit sozialpsychologischen Ansätzen auf, welche Rolle gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse für die eigene Scham spielen. Es gilt, die individuellen Schamgefühle an den richtigen Stellen zu hinterfragen, der Scham aber trotzdem mehr Raum in unserem Leben zu geben. Denn: Wir müssen uns nicht für unsere Scham schämen.

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Seitenzahl: 347

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Über die Autorin

Laura Späth hat Soziologie, Philosophie und Literaturwissenschaft in München studiert. Sie forscht zur Scham und setzt sich mit ihr als sozialem Phänomen und ihrem Wandel in der gegenwärtigen Gesellschaft auseinander. Auch in ihrem Podcast Unverschämt & Unbesprochen unterhält sie sich mit verschiedenen Gästen über unterschiedliche Formen der individuellen und gesellschaftlichen Scham. Sie schreibt seit vielen Jahren feministische und politische Texte für Magazine und Blogs und steht immer wieder mit ihren Poetry Slams auf der Bühne.

Über die Printausgabe

Die Printausgabe ist nachhaltig und klimapositiv gedruckt. Mehr Informationen dazu sind auf der letzten Seite des Buches zu finden.

LAURA SPÄTH

aboutshame

1. Auflage 2021

Copyright © 2021 &Töchter UG (haftungsbeschränkt), München

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

Umschlaggestaltung: Sigl Affairs, München

Lektorat: Sarah Zechel & Laura Nerbel, &Töchter

Satz: Sarah Zechel, &Töchter

eISBN 978-3-948819-51-4

Auch als Printausgabe erhältlich.

www.und-toechter.de

INHALT

VORBEMERKUNG

Kapitel EinsSÄEN

   Kapitel ZweiKEIMEN

        Kapitel DreiWURZELN

             Kapitel VierAUSTREIBEN

        Kapitel FünfGEDEIHEN

 Kapitel SechsBLÜHEN

            Kapitel SiebenÜBERWÄSSERN

    Kapitel AchtWELKEN

   Kapitel NeunGIESSEN

    Kapitel ZehnPFLEGEN

EPILOG

ENDNOTEN

WEITERFÜHRENDE LITERATUR

Für die, die nie über mich gelachthaben, sondern mit mir.

VORBEMERKUNG

Scham ist kein angenehmes Thema, das gleich vorweg.

Schamgefühle sind individuell. Auch wenn ich in diesem Buch versuche, sie gesellschaftlich zu kontextualisieren, gibt es doch mehrere sehr subjektive Faktoren, die unsere Scham beeinflussen: unsere Vorgeschichte, die Verfasstheit unserer Psyche, unsere Gene, unser Charakter, unsere Sozialisation und nicht zuletzt unsere Entscheidungen.

Genauso individuell, wie unsere Schamgefühle sind, sind auch unsere Geschichten – klar. Auch das, was uns bewegt, ist unterschiedlich, was uns berührt, beschäftigt, was uns wehtut, uns verletzt.

Deshalb will ich an dieser Stelle keine explizite »Trigger-Warnung« aussprechen. Ich kann nicht vorhersagen, was die Lesenden an unangenehme Erfahrungen erinnert oder was möglicherweise retraumatisierend wirkt, was sie »triggert«.

Gewalt kann man nicht dadurch begegnen, dass man sie verschweigt.

In diesem Buch werden Gewaltschilderungen eine Rolle spielen, sexualisierte Gewalt, Stalking, Ausgrenzung, Depressionen, Essstörungen und andere psychische Erkrankungen. Und es werden Suizidgedanken thematisiert. Denn all das kann eine Rolle bei und für Scham spielen.

Es kann sein, dass du während des Lesens auf die Darstellung oder Erläuterung eines Schamgrundes oder -phänomens wartest, die nie kommen wird. Weil ich sie nicht erlebt habe, du aber schon. Dann hoffe ich, dass andere Texte und Bücher diese hier verbleibenden Leerstellen bearbeiten.

Außerdem bemühe ich mich zwar an so vielen Stellen wie möglich bei meiner Version der Geschichte zu bleiben, wie ich sie erlebt und wahrgenommen habe. Aber zum Schutz der Persönlichkeitsrechte anderer habe ich an einigen Stellen fiktionale, verfremdende Elemente in die Erzählung eingefügt und Details abgeändert.

Kapitel Eins

SÄEN

Die Sinnlosigkeit des Erlebten in dem Moment, in dem man es erlebt,vervielfacht die Möglichkeiten des Schreibens.

ANNIE ERNAUX

Eine Geschichte schreiben …

»But really … Really, it was your storytelling. That is the true flower of free will. At least, as you’ve mastered it so far. When you create stories, you become gods of tiny, intricate dimensions unto themselves. So many worlds.« (Supernatural)

Metatron, ein Dämon aus der Serie Supernatural, beneidet die Menschen um ihre Geschichten. Er verschlingt Bücher, sein ganzes Haus ist voll von ihnen. Er möchte wissen, wie Geschichten funktionieren, wie sich Menschen durch ihre Geschichte hindurchbewegen, sie in ihr Leben einweben und ihr Leben in sie.

Das Geschichtenerzählen als ultimativer Beweis des freien Willens? Vielleicht ja auch als ein Akt, sich diesen freien Willen zu erkämpfen und sich seiner bewusst zu machen?

In einem Moment, in dem ich mich grenzenlos verletzt fühle, schreibe ich in mein Notizbuch:

»Du warst nur ein Kapitel. Ich bin die Geschichte. Und die geht weiter.«

Wir kämpfen alle um Geschichte. Zumindest um unsere: zuerst ums Überleben, dann darum, das in eine »erzählbare« Form zu bringen, dann darum, die Geschichte erzählen zu dürfen und schließlich um das Zuhören der anderen.

Bei dem Versuch, sie »erzählbar« zu machen, folgen wir bestimmten »Erzählzwängen« – so nennt man das in Teilbereichen der sozialwissenschaftlichen Forschung. Diese Erzählzwänge zielen darauf ab, den Zuhörenden erstens eine Geschichte verständlich zu machen, also alle wichtigen Kontexte zu benennen und die Geschichte innerhalb eines größeren Zusammenhangs zu verorten. Zweitens zu unterscheiden zwischen den relevanten und irrelevanten Facetten der Erzählung – nur die von dem*der Erzähler*in als bedeutsam befundenen Aspekte schaffen es in die Erzählung. Und drittens die Erzählung an einigen Stellen mit notwendigen oder ausschmückenden Details zu füllen, unterschiedliche Punkte der Geschichte miteinander zu verbinden und dadurch eine in sich konsistente und schlüssige Geschichte entstehen zu lassen.

Für uns sind konsistente Erzählungen selbstverständlich – ist eine Geschichte nicht konsistent, haben wir oft Verständnisschwierigkeiten, befinden sie als »schlecht«, »unzusammenhängend« oder »langweilig«. Und so, wie wir es mit diesen Erzählungen anstellen, machen wir es auch mit unserer eigenen Geschichte, unserem Leben. Auch hier unterliegen wir unbewusst ständig diesen Erzählzwängen, sowohl in Gesprächen mit anderen als auch in unserer eigenen Auseinandersetzung mit unserem Leben.

Wir vergessen, dass wir, jede und jeder Einzelne von uns, einen eigenen Kampf um Geschichte führen. Jeden Tag. Dabei geht es zum einen um die Entscheidungen, die wir tatsächlich treffen, die Handlungen, die wir wirklich ausführen und die Gedanken, die wir uns machen, während wir damit beschäftigt sind, unser Verhalten irgendwie zu koordinieren. Auf dieser, sagen wir mal, Handlungs- und Verhaltensebene gibt es den Kampf um Geschichte.

Und dann gibt es die Deutungs- oder Erzählebene. Es ist die Ebene, auf der wir versuchen zu bestimmen, wie wir unsere Geschichte erzählen, wie wir über uns sprechen. Auf dieser Ebene bewegen wir uns, wenn es um Selbstinszenierung geht, wenn es um die vielen Gespräche in Cafés oder an Küchentischen geht, bei denen wir von den Treffen mit anderen Menschen erzählen, von misslungenen Dates, von miesen Arbeitsverhältnissen, von unseren verständnislosen Eltern – und ja, von unseren Bedürfnissen, unseren Träumen. Davon, dass wir gerne mal ein schwedisches Landhaus hätten, um darin ein Buch zu schreiben.

Alles, was auf der Handlungsebene passiert, spielt auch für die Deutungsebene eine Rolle, weil es darin aufgearbeitet wird: Indem wir über uns und unser Verhalten sprechen, versuchen wir immer, es einzuweben in eine bestimmte Vorstellung von uns selbst, eine Geschichte über uns selbst, unsere Geschichte. Es geht um Sinngebung. Es geht darum, ein Bild von uns zu zeichnen – wer wir sind, was uns ausmacht, sich selbst einen Sinn zu geben.

Eine Aufgabe, die wir unter dem Begriff der »Selbstverwirklichung« fassen. Und es klingt zwar nach viel, tatsächlich machen wir es aber die ganze Zeit. In jeder Erzählung, schon in jedem Gedanken. Ganz automatisch versuchen wir, alle Ereignisse und Gefühle irgendwie in unser Erzählschema einzuordnen, sodass dabei am Ende eine spannende, wenn auch nicht zu dramatische, aber auf jeden Fall eine erfolgreiche, schöne Story rumkommt.

… übers Scheitern

Die Sache mit dem Erfolg steht in Verbindung mit dem Zwang, Konsistenz herzustellen. Wir sind so an Geschichten mit einem irgendwie – und sei es noch so verdreht – positiven Ende, oder zumindest einem kleinen Lichtblick im Drama, gewöhnt, dass wir Geschichten ohne Erfolgsmoment oft nicht einmal denken können. Aus jeder noch so beschissenen Situation versuchen wir, etwas »Gutes« zu machen, damit wir es danach auch genau so erzählen können. Wie mit der Zitrone, aus der man dann Limo macht und so: Es darf kein Scheitern geben! Die Zitrone darf unter keinen Umständen vergammelt oder eklig sein und genauso wenig dürfen wir etwas erleben, was sich nicht in unsere Geschichte einfügen lässt. Vollkommen sinnloses Leid beispielsweise. Wir unternehmen mentale Verrenkungen sondergleichen, um jede noch so leidvolle, schmerzhafte Dreistigkeit gewaltsam in die Geschichte einzuweben und ihr dadurch einen Sinn zu verleihen.

All das, um dem Scheitern keinen Raum zu geben. Weil in unserer Gesellschaft nichts so sehr schambehaftet ist wie das Scheitern.

Die Figur des Scheiterns: Sie erweckt meine Aufmerksamkeit in einem Uni-Seminar über Bekenntnisse und (Selbst-)Zeugnisse. Wir nehmen darin autobiografische Geschichten und Selbstzeugnisse in den Blick, untersuchen sie soziologisch und immer wieder fällt mir auf, wie sehr sich Leute bemühen, eine Geschichte des Erfolgs zu erzählen. Ab diesem Moment bin ich angefixt von der Frage, warum wir Geschichten, vor allem die Geschichten über uns selbst, so erzählen, wie wir sie erzählen. Und vor allem: Was wir dabei nicht erzählen. Worüber wir schweigen. Was wir fein säuberlich aussparen in den Erzählungen über uns selbst. Warum wir jeden Misserfolg und die Momente des Scheiterns außen vor lassen, wenn sie nicht dazu dienen, letzten Endes doch noch zu einem Happy End gewendet zu werden oder es eigentlich noch zu unterstreichen: Nur aufgrund des vorherigen Scheiterns sei dieses und jenes letztendlich möglich gewesen.

Ich konzentriere mich in meiner Seminararbeit auf die Figur des autobiografischen Scheiterns ohne jene Wendung zum Guten im Deutschrap: Dabei stelle ich fest, dass es eine Form von Tracks gibt, die ich »Kennst du das auch«-Tracks nenne: Deutschrapper schildern schlimme Gefühle und Situationen und fragen dann, ob man das auch kenne. Eigentlich ist das ein ganz gängiges Motiv, auch in der Literatur: Hesse fragt »Kennst du das auch?« genauso wie Musiker und andere Künstler. Inhalt des Motivs ist natürlich von Zeit zu Zeit unterschiedlich und von der allgemeinen Lebensrealität abhängig. Aber: Dieses Motiv verweist eigentlich immer auf die Suche nach Verbindung, und zwar im Leid und im Scheitern. Menschen bemühen es meistens da, wo sie es nicht mehr schaffen, etwas so zu erzählen, dass es in ihr Erfolgs-Narrativ passt. Dann bleibt oft nur noch zu hoffen, dass andere den eigenen Zustand verstehen, anerkennen und man dadurch nicht allein in seinem Scheitern verweilt.

Auch nach dem Seminar begleitet mich eine Faszination für das Scheitern. Ich suche, finde aber kein vollkommenes Scheitern, keine Schilderung über das Scheitern, die nicht am Ende doch positiv gewendet wird. Seit diesem Seminar interessiere ich mich nicht nur für das Scheitern, sondern auch für die Frage, wie man eigentlich Geschichten erzählt, wie man sie in Form bringt und vor allem: welche Möglichkeiten es gibt, die eigene Geschichte zu erzählen und was es eigentlich bedeutet, das auch wirklich zu tun.

Simone de Beauvoir schreibt über einen Teil ihrer Autobiografie Eine gebrochene Frau:

»Ich fühle mich mit allen Frauen verbunden, die ihr Leben auf sich nehmen und dafür kämpfen, daß es glücklich wird; aber das hindert mich nicht daran, mich besonders für jene Frauen zu interessieren, die dabei mehr oder weniger gescheitert sind, und darüber hinaus für all die Niederlagen, die es in jedem Leben gibt.«1

Auch mich begeistern die Geschichten nicht sonderlich, die dem Zwang zum Erfolg folgen. Viel mehr interessieren mich Niederlagen, Punkte des Scheiterns, Momente, die sich subjektiv meist wie das größtmögliche Unglück und das Ende der Welt anfühlen.

Aber welches Gefühl ist es wirklich, das wir im Scheitern in den allermeisten Fällen empfinden? Was versuchen wir in unserem Scheitern zu verbergen? Ihr wisst die Antwort, sonst hättet ihr das Buch nicht in den Händen.

… und über Scham

Kaum etwas erscheint so bedrohlich wie das Scheitern: Die meisten Menschen haben verständlicherweise enorme Angst vor Obdachlosigkeit, schweren Krankheiten, sozialer Isolation, schweren finanziellen Nöten und anderen Gefahren für die Existenz. Und es passiert gerade in einer Leistungsgesellschaft nicht selten, dass diese Erfahrungen von Leid dem Individuum als Scheitern ausgelegt werden, das irgendwie durch ein anderes Verhalten hätte vermieden werden können. Auch deshalb ist es so schwierig und vielleicht auch gefährlich darüber zu sprechen.

Eine fast noch größere Angriffsfläche als das Scheitern bietet das Schamgefühl. Für Annie Ernaux’ Schreiben wird es zu einer essenziellen Figur: Sie erhebt an ihr eigenes Schreiben den Anspruch, dass es sie gefährden solle. »Ich habe schon immer Bücher schreiben wollen, über die ich anschließend unmöglich sprechen könnte, Bücher, die den Blick der anderen unerträglich machen.«2

Auch wenn Scham und Scheitern oft miteinander verbunden werden, verweist doch Scham noch mal eindringlicher auf das Selbst, unseren innersten Kern: So »gilt Scham als heimlichstes Gefühl in unserer Gesellschaft, denn unsere Schamgefühle sind absolut privat, intim und persönlich. Über unsere Schamgefühle sprechen wir nicht, weil es bei der Scham um unsere Würde geht.«3 Lange war Scham out und sie ist immer noch tabuisiert. So viele Facetten der Scham sind Killer für jede Konversation, was mit dem unangenehmen Beigeschmack zusammenhängt, den Scham besitzt, aber auch mit der Dominanz von Erfolg in unseren Geschichten. Scham und Scheitern werden verschwiegen.

Bei der Scham steht eben unsere Würde, unsere Integrität, unsere gesamte Identität auf dem Spiel. Das ist eine der ersten Erkenntnisse, die wir festhalten können: Sie bezieht sich immer entweder auf unser gesamtes Selbst oder aber auf eine Facette, die für uns oder andere in dem Moment unser Selbst ausmacht, also besonders bestimmend ist. Sie betrifft uns als Ganzes. Auf den starken Bezug der Scham zum Selbst, also zur eigenen Identität, zum gesamten Ich kann sich ein Großteil der Schamliteratur einigen.A

Klingt nicht so, als sollte man Bücher über die eigene Scham schreiben, oder? Annie Ernaux hat aber genau das gemacht und ich kann zumindest für mich sagen, dass sie mir damit auf eine Art das Leben gerettet hat.

Ich muss auch zugeben, dass ich neugierig bin; zu neugierig, um dieses heimlichste Gefühl der Gesellschaft zu missachten und es weiterhin totzuschweigen. Wenn wir uns schämen, können wir oft nichts mehr sagen, wir verstummen im Angesicht der Scham. Sie nimmt uns die Worte, legt sich auf unsere Stimmbänder. Aber so lassen sich keine Geschichten erzählen.

Nur weil die Scham uns schweigen lässt, heißt das nicht, dass wir vergessen. Annie Ernaux behauptet sogar das Gegenteil: »Das große Gedächtnis der Scham ist sehr viel klarer und erbarmungsloser als jedes andere. Es ist im Grunde die besondere Gabe der Scham.«4 Die Scham hält also viel mehr unsere Erinnerung wach und sorgt dafür, dass wir auf keinen Fall vergessen können, was war.

Wir werden in diesem Buch merken, dass sich die Frage nach Narrativen, nach Erzählweisen, nach dominanten und weniger dominanten Erzählungen, nach populären und abseitigen Geschichten gar nicht so selten am Punkt der Scham entscheidet. Dass Scham eigentlich für jede Erzählung eine Rolle spielt, an dem Punkt nämlich, an dem wir uns entscheiden müssen, was wir wie erzählen und warum.

Ich halte die Scham für ein unfassbar authentisches Gefühl – eben weil sie sich unserer Kontrolle, den gewohnten Mechanismen der Inszenierung entzieht. Wir können nicht anders, als in der aufrichtigen Scham authentisch zu sein, wir haben gar keine Wahl, weil Scham ein Affekt ist, der mit auffälligen körperlichen Reaktionen verbunden ist: Man denke an das schamtypische Erröten, das Erstarren, an unkontrolliertes Lachen oder das Vermeiden von Augenkontakt. Vor allem das Erröten ist eine Reaktion auf Scham, die wir nicht kontrollieren können: Ihr Ursprung liegt in unserem vegetativen Nervensystem, das für eine verstärkte Blutzufuhr im Gesicht sorgt. Physiologisch gesehen dient diese Reaktion vor allem dazu, die eigenen Körpergrenzen anderen gegenüber deutlich zu machen. Warum unser Körper aber mit einer so auffälligen Geste auf Scham reagiert, obwohl wir in der Scham verschwinden wollen, ist bisher noch nicht abschließend geklärt.5

Und während ich mir das bewusst mache, bemerke ich, dass die Scham dennoch trügerisch ist: Auch wenn sie eine wichtige Schutzfunktion darstellt, muss ich trotzdem Folgendes hinnehmen: Sie schreibt ihre eigene Geschichte. Und das ohne Rücksicht auf Verluste und vor allem ohne Rücksicht auf unsere Bedürfnisse und Hoffnungen.

Ich habe jetzt über zehn Jahre lang versucht, die Geschichte meiner Scham nicht zu erzählen. Das Schweigen über bestimmte Erfahrungen, Erlebnisse, Gefühle, Zustände war mein ständiger Begleiter und das war, finde ich, zum Teil und für eine gewisse Zeit auch in Ordnung so. Über zehn Jahre musste ich zwischen mich und mein vergangenes Ich bringen, um mich ihm wieder stellen zu können. Um dazu imstande zu sein, musste ich aber zwischen mir und meiner Scham eine enorme Distanz aufbauen: Man muss den Blick der anderen einnehmen, denen man immer genügen wollte.

Um mich meiner Scham zu bemächtigen, habe ich mit Untergewicht und selbstverletzendem Verhalten reagiert und die Folgen in Kauf genommen. Ich habe Stille gemieden und mich in Schweigen gehüllt, meinen Körper und meinen Kopf an die äußersten Grenzen getrieben, um der Scham nicht zu begegnen. Bis sie durch eine Hintertür eindrang und meine Erzählung von mir selbst radikal torpedierte.

Sie kam in Träumen über Verluste und Ängste, sie kam in Flashbacks, Dissoziationen, in Panikattacken, depressiven Phasen, sie hat sich ihren Weg gesucht. Wieder: rücksichtslos. Und jetzt will ich der Scham einen Raum geben. Sie sprechen, ihre Geschichte erzählen lassen.

Dass sie dadurch weniger wird oder gar verschwindet, erwarte ich nicht – die Illusion nimmt Annie Ernaux mir schnell. Das ist auch nicht das Ziel, die Scham einfach loszuwerden, sie ein weiteres Mal durch eine Verarbeitung beherrschen zu wollen, sonst würde ich mich direkt in Ratgeberliteratur à la Brené Brown einreihen. Nein, die Scham wird bleiben.

Deshalb muss man sich mit ihr auseinandersetzen – aber wie? Man kann sich ihr nicht methodisch nähern. Man kann sich ihr allgemein überhaupt nicht wirklich »nähern«. Man kann sich ihr entweder ergeben oder sich von ihr fernhalten. Das eine kann versöhnen, das andere auf lange Sicht nur zur Selbstentfremdung führen. Denn die Scham gehört zu uns, immer.

Auf die Scham gekommen bin ich, als ich Annie Ernaux, Didier Eribon und Édouard Louis gelesen habe. Für mich drei unfassbare Größen zeitgenössischer französischer Literatur. Der Platz (Ernaux) hat mich mitgenommen, wow. So die Rückkehr nach Reims (Eribon) und Das Ende von Eddy (Louis). Aber am meisten verloren habe ich mich vermutlich in Ernaux’ Erinnerung eines Mädchens. Dieses Buch hat meine Faszination für die Scham befeuert wie kein anderes. Aber trotz all der Begeisterung, die ich mittlerweile für meine Scham habe, weiß ich nun: Ich bin nicht meine Scham. Sie ist nur ein Teil von mir.

Die Scham fürchten

Wir verfolgen jetzt gemeinsam (m)eine Geschichte, also du, der*die Lesende, und ich. All das schreibe ich in der Hoffnung auf, dass du Verständnis hast. Ich erzähle die Geschichte, weil ich ziemlich lange nach Verständnis gesucht habe, weil sich durch meine Erzählung das Gefühl zieht, unverstanden zu sein. Immer fehl am Platz, irgendwie (w)ortlos. Unverständnis paart sich mit dem Gefühl, ausgeschlossen zu sein, nicht dazuzugehören. Vielleicht kannst du nachvollziehen, wie ich mich gefühlt habe, warum ich so gehandelt habe, weil du Teile meiner Geschichte wiedererkennst? Weil Teile meiner Geschichte auch Teile deiner Geschichte waren und vielleicht noch sind? Vielleicht haben unsere Geschichten ja manchmal etwas gemeinsam. Vielleicht begegnest du dir in einigen meiner Erfahrungen. Und vielleicht beginnst du mit Freund*innen, deiner Familie, Kolleg*innen, Vertrauenspersonen, vielleicht sogar mit weniger vertrauten Personen darüber zu sprechen, dich auszutauschen, zu diskutieren. Vielleicht zu streiten.

In dieser Geschichte gibt es keine bösen Menschen. Es gibt nur Menschen, die Entscheidungen treffen. Und Menschen, auf die diese Entscheidungen Auswirkungen haben. Alle Figuren sind immer beides, ich sowieso.

Man wird in diesem Buch über Scham vergebens nach Antworten auf Schuldfragen suchen. Wenn ich hier schreibe, dass mir Handlungen und Haltungen wehgetan haben, dann geht es nicht um diejenigen, die das gemacht haben und warum sie so gehandelt haben. Sondern es geht um das, was es in mir ausgelöst hat und warum. Solange wir das nicht verstehen, können wir die Geschichte nicht verstehen, die Scham nicht sezieren. Wenn wir immer nur nach Gründen fragen, aber nie nach Folgen. Die Scham ist Grund und Folge zugleich.

Ich bin keine Psychologin, habe kein psychologisches Studium abgeschlossen, keine psychotherapeutische Ausbildung gemacht. Auch deshalb ist das hier kein Ratgeber, der Menschen sagt, wie sie glücklicher werden oder besser mit Scham umgehen können. Das hier ist einfach nur meine Geschichte, inklusive ein paar der Dinge, die ich aus meinem Studium oder meiner Therapie weiß, die ich im Lesen begriffen habe und die ich versuche für mein Leben zu lernen.

Die Vorstellung, meine Geschichte zu erzählen, macht Angst. Nicht weil sie so besonders schlimm wäre oder weil ich mich nicht gründlich genug mit ihr auseinandergesetzt hätte, um zu wissen, was da ist. Nein, ich habe Angst vor eurem Blick, eurem Urteil. Davor, dass ihr mir meine Geschichte entreißt und sie anders erzählt oder dass ihr sie anders lest, als ich es mir wünsche. Das fällt mir immer noch schwer: zu akzeptieren, dass andere Menschen vielleicht ganz anders über mich denken und reden, als ich es will. Dass andere Menschen eine andere Geschichte von mir erzählen könnten. Wenn jemand mir meine Geschichte nehmen will, gerate ich in Panik, werde wütend. Weil es schon Momente gab, wo das passiert ist; wo sich Menschen meiner Geschichte bemächtigt haben und geglaubt haben, sie dürften über meine Geschichte entscheiden. Deshalb führe ich den Kampf um meine Geschichte manchmal mit absurder Vehemenz und manchmal an Stellen, an denen es absolut überflüssig ist. Aber diese übermäßige Vorsicht ist eine Folge aus dem, was ich bisher erlebt habe. Gerade jetzt merke ich, wie ich versuche mich zu rechtfertigen. Und das ist ein weiteres Muster in meinem Verhalten, das mich nervt, aber immer da ist: das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen, um keinesfalls falsch verstanden zu werden. Die riesige Angst davor, nicht zu gefallen. Und sich nicht richtig darzustellen: mich als schwächer zu präsentieren, als ich sein will. Nur die negativen Facetten hervorzuheben oder gar zu jammern. Die große Frage dabei: Wie bringt man Leute dazu, die eigene Geschichte und ihre Scham zu verstehen, ohne wie der letzte mitleiderregende Wurm dazustehen?

In Schreibtisch mit Aussicht merkt Ilka Piepgras im Vorwort an: »Frauen denken beim Schreiben den Blick von außen instinktiv mit, sie zensieren sich selbst.«6 Um Blicke wird es in diesem Buch oft gehen, denn mit ihnen kommt und geht die Scham. Und ich denke, Piepgras hat recht mit ihrer Behauptung – ich kann mich da nicht ausnehmen. Ich weiß, welche Kritik an meinem Schreiben kommen kann und wird: auch dies hier sei »Betroffenheitsprosa«, wäre selbstbezogen, nach innen gerichtet, wenig übertragbar. Ich weiß, dass ich radikal subjektiv schreibe, dass ich mit dieser Geschichte meiner Geschichte einen Raum gebe, den ich ihr sonst nie gegeben habe. Weil ich immer versucht habe, den Blick von außen mitzudenken. Mich ihm anzupassen, um Scham zu vermeiden.

Immer war ich damit beschäftigt, eben genau nicht zu tun, was ich wollte, weil das nicht ist, was ich gelernt habe. Mit diesem Buch nehme ich mir endlich Raum. Eigentlich ist dieses Buch also all das, was ich mich nie getraut habe, wovor ich immer Angst hatte, was mit viel zu viel Scham belegt war. Und gleichzeitig ist das, was du hier in der Hand hältst, auch ein Kampf um das Recht auf Emotion und auf Scham. Ein Kampf um meine Scham.

Trotzdem: Blicke ich auf die Menschen, oft Frauen, die sich so vorbildlich in mein Leben eingeschrieben haben, die mir Teile ihrer Geschichte erzählt haben, so eindrücklich, als würde ich mit ihnen gemeinsam bei einem guten Wein auf der Couch sitzen und ihnen zuhören – blicke ich auf sie, ihr Schreiben und darauf, wie mit ihren Werken umgegangen wird und wurde, bekomme ich Angst. Mely Kiyak zum Beispiel, die als Teil der »Hate Poetry«-Veranstaltungen an sie gerichtete Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, Hassbriefe und Verwünschungen vorlas. Oder Margarete Stokowski, die sich auch in ihrer Kolumne immer wieder mit Hate Speech auseinandersetzt. Wäre mein Französisch gut genug, würde ich auch nachlesen, welche Reaktionen es auf Annie Ernaux’ Werke so gab. Gut, dies sind Frauen, die wirklich bekannt sind, zu deren Texten es Kommentarspalten gibt. Das sind alles Frauen, deren Schreiben kritisch beäugt wird und deren politische Ansichten noch mal doppelt kritisch begutachtet werden. Aber trotzdem weiß ich, dass man nicht bekannt sein muss, um gehasst zu werden. Vielleicht werden Leute sagen: »Ach, das war ja klar, wieder so eine Frau, die halt über Gefühle schreibt, nichts Neues.« Vielleicht werden Leute mir vorwerfen, ich würde jemanden nachahmen oder imitieren. Wenn sie wollen, wird ihnen etwas einfallen.

Ich versuche gedanklich alle Argumente durchzuspielen, die mich treffen könnten und mir Gegenargumente zu überlegen. Ich versuche mich mental schon vorbereitend zu immunisieren, vergesse dabei, dass ich ja noch vor dem Anfang stehe. Und dass es hier darum geht, mal nicht auf die Blicke der anderen Rücksicht zu nehmen, sie schon im Vorhinein zu beachten und zu deuten. Sondern meinen Blick auf mich zu richten und auf das, was meine Geschichte ausmacht. Dabei tue ich natürlich den Geschichten anderer Leute unrecht. Ich webe sie einfach so in meine Geschichte ein, obwohl ich sie zum Teil gar nicht komplett kenne. Weil ich weiß, wie furchtbar es sich anfühlt, seiner Geschichte beraubt zu werden, fürchte ich mich davor, das anderen Leuten auch anzutun.

Wachsende Scham

Fast würde ich mir wünschen, dir eine ästhetische Geschichte über die Scham und das Schreiben erzählen zu können. Mit Spannungsbogen und Happy End. Sie würde dann einer klassischen Dramaturgie folgen – in Kurzform etwa so:

Irgendeine Erfahrung der Demütigung, der Ausgrenzung, die Schamgefühle nach sich zieht. Sie steigern sich klimaktisch bis zum schmerzhaften Höhepunkt. Dann: schreiben als Erlösung, als Rettung. Ende: Die Scham ist weg. Ich habe sie schreibend überwunden. Die Moral: sich öffnen, erzählen, Schreiben löst die Scham auf. In der Verbindung mit den Lesenden stirbt sie, weil Scham sich von der Einsamkeit nährt. Das stimmt und gleichzeitig ist es auch falsch.

In dieser Geschichte würde ich mit einem Glas Rotwein an meinem Küchentisch sitzen, vor meinem Laptop, vielleicht noch eine Zigarette in der Hand? Rauchen und Schriftstellerin sein, das passt zusammen. Aber ich würde dich anlügen, würde ich meine Geschichte so erzählen.

Die Wahrheit ist, dass die Seiten teilweise entstanden sind, als mir nichts mehr gesichert schien, kein einziger Gedanke, kein Wissen, keine Überzeugung. Oder als ich noch neben der Kloschüssel saß, das Erbrochene noch nicht einmal hinuntergespült und den Speichel in meinem Mundwinkel noch gar nicht richtig weggewischt hatte. Die Wahrheit ist, dass nichts an diesem Schreibprozess ästhetisch oder erleichternd war.

Es war schmerzhaft. Es war unangenehm. Wie ein Tier habe ich mich um das Schreiben gewunden. Ich war der Überzeugung, es hätte keinen Zweck, all das aufzuschreiben. Es würde nicht helfen, mir nur noch mehr schaden, weil es in der Vergangenheit eine so selbstschädigende Praxis gewesen war, alles aufzuschreiben, was mir durch den Kopf ging.

Ich dachte mal, ich würde an meiner Scham sterben. Sie würde mich umbringen, sich wie eine Schlingpflanze allmählich um meinen Hals legen, um mich irgendwann im Schlaf zu erdrosseln.

Und tatsächlich ist das Bild der Pflanze eines, was mir im Bezug auf die Scham sehr gut gefällt: Eine Freundin erzählt mir von einem ganz bestimmten Moment, der für ihre Schamgefühle maßgeblich war. Um das zu veranschaulichen, wählt sie das Bild der Pflanze: Jemand demütigt uns, verletzt uns oder trifft uns an einem sehr verwundbaren Punkt unseres Selbst. Wir werden hart kritisiert, vielleicht sogar traumatisiert, ausgegrenzt oder sind öffentlicher Stigmatisierung und Beschämung ausgesetzt – hier wird der Samen für die zukünftige Schampflanze gesät. Im Laufe der Jahre kommen andere Schamsituationen hinzu. Wir fallen raus aus irgendwelchen Mustern, die von wem auch immer zum Ideal erklärt werden, und die Schampflanze wächst weiter. Sie wächst und wächst und wächst. Vielleicht wächst sie uns über den Kopf.

Ich will wissen, woraus meine Schampflanze besteht und wie sie so groß werden konnte. Das zu ergründen bedeutet, auch die Existenzbedingungen dieses Textes abzustecken, auf bestimmte Figuren immer wieder zurückzukommen. Was sind die Voraussetzungen meiner Scham, was ist das Material, aus dem die Pflanze besteht? Und, wenn ich es herausgefunden habe, was mache ich damit?

Annie Ernaux schreibt: »Nur weil man die eigene Scham versteht, kann man sie noch lange nicht überwinden.«7 Und ich glaube, sie hat recht damit. In den Schmerz reinzugehen, heißt nicht, dass er erträglicher wird. Und ich suche mir immer wieder Auswege, um bestimmten Erinnerungen nicht gegenübertreten zu müssen.

Meine Scham soll nicht gänzlich verschwinden, deshalb will ich ihr begegnen. Ich will die Distanz zwischen mir und meinem vergangenen Ich verringern, sie abschreiten. Dafür muss ich an die Schammomente ran, auf denen die Distanz beruht. Versuchen, noch mal zurückzugehen in die eigene Jugend, auch wenn ich manchmal glaube, dass das unmöglich alles passiert sein kann, dass ich unmöglich so empfunden haben kann, dass nie im Leben ich diejenige war, die diese Tagebucheinträge geschrieben hat. So groß ist die Distanz zum eigenen Selbst geworden.

Als ich vor einem Bekannten zugebe, dass ich wahnsinnig gerne irgendwann meine Autobiografie schreiben würde, erwidert er: »Für eine Autobiografie muss man was erlebt haben.« Vermutlich meint er damit nicht einfach nur, dass man irgendetwas erlebt haben muss, sondern dass man etwas Besonderes erlebt haben muss. Was auch immer das dann sei.

»Stimmt«, denke ich, und bin entmutigt. Ich habe nichts erlebt. Schon gar nichts Besonderes. Ich habe genau das erlebt, was tagtäglich zig Menschen irgendwo erleben, und darüber öffentlich zu schreiben lohnt sich nicht. Und ich fürchte an diesem Abend auch, nicht gelebt zu haben. Nichts mehr erzählen zu können, keine Geschichte mehr zu besitzen. Aber die Scham belehrt mich eines Besseren – und deshalb will ich meine Geschichte entlang der Scham erzählen, des Schamerlebens. Denn vielleicht sollte man ja dem Alltäglichen mehr Aufmerksamkeit widmen, den Randgestalten, dem Beiläufigen, den wiederkehrenden Ängsten und Gedanken und den sich immer wiederholenden Mustern.

Georges Perec: »Schreiben: peinlich genau versuchen, etwas überleben zu lassen: der Leere, die sich hält, einige deutliche Fetzen entreißen, irgendwo eine Furche, eine Spur, ein Merkmal oder ein paar Zeichen hinterlassen.«8

AUnter anderem Richard Wollheim, Sighard Neckel, Caroline Bohn und Achim Geisenhanslüke, die im Laufe des Buches noch stärker zu Wort kommen werden, aber auch Klassiker der Soziologie wie Georg Simmel oder Norbert Elias.

Kapitel Zwei

KEIMEN

Sei wie alle, dann bist du sicher vor dem Ausschluss aus dem Rudel.Benehme dich ordentlich, normal, unauffällig, zahl deine Steuern,wasch deine Gardinen, sonst wird der Mob dich erschlagen mitFackeln in der Hand. Wenn es schon keine neue Welt gibt nach demschweren Jahr, dann kann man wenigstens klein beginnen – streichenwir das Wort »normal« aus unserem Wortschatz, es hat schon so oftzur Vernichtung, zu Hass und Krieg geführt.

SIBYLLE BERG

Raum einnehmen: Ich wachse. Mein Körper wird größer. Ich lerne zu sitzen, zu stehen, zu gehen, zu sprechen.

In meiner Familie bin ich das jüngste Kind, das sich darüber im Klaren ist, dass alle ihm Vorgaben machen dürfen. Wobei das trotzdem nie heißt, keine Wahl zu haben. »Zu folgen« ist zunächst nicht mein Ding. Ich bin relativ schnell der Überzeugung, es besser zu wissen als der Rest der Welt.

Kinder entwickeln meist im Alter von drei bis fünf Jahren ihr Schamgefühl. Zunächst schämen sie sich immer nur für sich selbst, Fremdscham kennen sie noch nicht. Um sich zu schämen, müssen sie sich in andere Menschen hineinversetzen können. Die ersten Empfindungen von Scham sind meistens an die Regeln gekoppelt, die sie in ihrer Familie lernen und mitbekommen: Was die Eltern schlecht, falsch oder eklig finden, lehnen die Kinder oft auch erst mal ab. Das kindliche Schamgefühl ist also eng verbunden mit einem »Regelverstoß«.9 Das Schamgefühl geht mit einem ersten Anflug von Moral einher und dem Bewusstsein darüber, dass es etwas gibt, was außerhalb des eigenen Empfindens liegt: Die Gefühle und Bedürfnisse anderer, meist der Familie. Dass es überhaupt eine Welt abseits des eigenen Kopfes gibt.

Dieses Bewusstsein weitet sich im Laufe der Zeit aus: Wir bemerken, dass es nicht nur die eigenen vier Wände und vielleicht noch die Straße vor dem Haus gibt, sondern viele Straßen, viele Häuser, ganze Städte, Länder, Kontinente, die sich dem eigenen Blick entziehen.

Das bedeutet auch, dass es für jeden Menschen eine Zeit ohne Scham gegeben haben muss. Auch für mich. Über diese Zeit kann ich nichts sagen und vielleicht kannst du das über deine auch nicht, denn: Erst in der Abgrenzung zu anderen, also dadurch, dass wir erkennen, dass wir nicht identisch mit anderen sind, dass wir uns von ihnen unterscheiden, können wir uns selbst wahrnehmen. Unsere Gefühle, unsere Bedürfnisse, unser individuelles Wesen. Byung-Chul Han schreibt in Die Austreibung des Anderen: »Der Andere ist konstitutiv für die Bildung eines stabilen Selbst.«10 Konflikte sind notwendig, um eine stabile Identität zu entwickeln, beständige Bindungen und Beziehungen aufzubauen. Das Problem des Menschen der Gegenwart sei aber, dass dieser nur den Zustand des Funktionierens oder Versagens kenne, aber nicht den Zustand des Konflikts.11 Bezogen auf Scham kann ich nicht uneingeschränkt mit Han mitgehen, der behauptet, wir würden »dem Anderen« nicht mehr wirklich begegnen, sondern in unseren immer gleichen Filterblasen verloren gehen.12 Aber dann dürfte es ja eigentlich auch nicht mehr zu Scham kommen, oder? Denn für Scham ist der Blick der anderen, entweder wirklich oder in der eigenen Vorstellung vorhanden, essenziell: Sighard Neckel, wohl einer der bekanntesten Soziologen, wenn es um Scham geht, macht deutlich »dass das menschliche Selbstbewusstsein auf die Wahrnehmung durch andere angewiesen und damit durch sie auch verwundbar ist. Das persönliche Selbstbewusstsein baut sich nicht nach der Logik des eigenen Ich auf. Das persönliche Selbstbewusstsein versichert sich seiner durch die Wertungen Dritter, und an diesen Wertungen geht es womöglich zugrunde.«13 Neckel und Han haben gemeinsam, dass sie um die Bedeutung der anderen für die Bildung einer eigenen Identität wissen. Erst dadurch, dass wir ein »Außen« definieren, also etwas, das außerhalb unserer eigenen Grenzen, unseres Körpers liegt, entwickeln wir ein Gefühl dafür, wer wir denn eigentlich sind, was uns als Individuen ausmacht. Aber genau mit dieser Abgrenzung von anderen wird gleichzeitig das Schamgefühl ermöglicht. Wir sind auf das angewiesen, was außerhalb unseres Selbst liegt. In der Scham zeigt sich, dass das vielleicht nicht so weit weg ist, wie Han denkt.

Wir lernen, dass wir nicht nur Beobachtende sind, sondern gleichzeitig auch immer die Objekte von Beobachtung. Und dass wir uns von anderen unterscheiden, möglicherweise auch in einer Art, die wir selbst oder aber andere nicht gutheißen. Es gibt also nicht nur unseren eigenen Blick, der sich beurteilend und bewertend auf andere richtet, sondern immer auch den Blick der anderen, der wiederum uns bewertet und beurteilt. In diesem Blick der anderen liegt laut Jean-Paul Sartre die erste Möglichkeit für Scham: »Die Scham aber ist […] Scham über sich, sie ist Anerkennung dessen, daß ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt.«14

… und beurteilt. Sartre beschreibt, dass der Blick kein neutraler ist, sondern dass dieser uns prüft. Und wenn andere und wir selbst merken, dass wir anders sind als jene oder als »die Norm«, wenn dieses Anderssein dann von uns selbst und anderen negativ beurteilt wird, schämen wir uns.

Das klingt komplex. Das klingt nach schwierigen Philosophen, die sich in ihren Studierzimmern irgendwas mit Blicken und Objekten und Subjekten überlegt haben. Deshalb sehe ich mir an, wann eigentlich meine Scham eingesetzt hat und worauf sie sich bezogen hat. In der Hoffnung, dass der Beginn des Schamgefühls verständlicher wird.

Mein Opa, bei dem ich als Kind die meiste Zeit verbringe, und ich haben unseren eigenen kleinen Kosmos, mit unseren eigenen Regeln: Wir sind gut zu anderen, tun uns und auch niemand anderem weh. Wir machen niemandem Ärger, entsprechen den an uns gestellten Erwartungen und streiten nicht mit Leuten, schon gar nicht mit unserer Familie. Am wichtigsten aber ist: Wir kümmern uns um andere. Vor allem kümmert er sich um mich und ich mich um ihn, aber auch sonst kümmern wir uns um andere. Meine Familie trägt Fürsorge für mich und ich gebe diese Fürsorge zurück, indem ich keinen Mist baue.

Im Kindergarten hätte es dank meiner Kindergärtnerin viel Potenzial für Scham gegeben, aber ich realisiere das damals nicht als Beschämung. Ich schlucke ihre Grausamkeiten schlicht runter, schiebe sie weg, befasse mich nicht damit. Dass meine Kindergärtnerin mir bedingungslosen Gehorsam auf ziemlich harte Art und Weise beigebracht hat, verstehe ich erst Jahre später. Aus ihren Erziehungsmethoden lerne ich, dass ich mich nach anderen zu richten habe, wenn ich nicht bestraft werden will. Auf ihre Methoden werde ich an anderer Stelle noch zurückkommen, denn deren Folgen zeigen sich erst einige Jahre später.

Weil ich im Kindergarten lerne, mich immer anzupassen und unterzuordnen, bin ich auch in Konflikten mit meiner Familie relativ wehrlos. Ich versuche, Streit zu vermeiden und weiß nicht, wie ich zu mir oder für mich einstehen soll. In ernsteren Streitsituationen mit Familienmitgliedern stehe ich immer nur da, den Tränen nahe und kann keine Widerworte geben. Ich schweige. Während dieser Zeit fühle ich mich oft schuldig, wenn man davon ausgeht, dass Schuld sich auf Handlungen bezieht und Scham auf das Selbst:A Ich nehme mich nicht grundsätzlich als falsch wahr, sondern ordne meine Handlungen dann als fehlerhaft ein (und mich als schuldig), wenn diese von außen so bewertet werden. Mein Verhalten richte ich vorsorglich immer anhand der Meinung anderer aus, ich bin ein Schwamm: Ich sauge einfach alles auf, was ich in meinem Umfeld wahrnehmen kann und entscheide danach, was ich eigentlich will und fühle. Ich lerne also nicht richtig, mich eigenständig und bewusst von anderen abzugrenzen, sondern ich werde abgegrenzt, von außen, von anderen. Zur Gänze erklären kann ich diese Prozesse auch heute nicht, aber meine mangelnde Fähigkeit zur Abgrenzung macht mich ziemlich schamanfällig, was nicht folgenlos bleibt: Ich lerne nicht, in der Differenz zu leben.

Im Kindergarten zeigt mir niemand, dass meine Gefühle und Bedürfnisse in Ordnung sind und dass ich bei Meinungsverschiedenheiten nicht gleich verlassen werde. Konflikte bedeuten für mich immer auch potenziell Alleinsein als Strafe, obwohl das gar nicht so sein muss.

Also lerne ich auch nicht, mich durchzusetzen, obwohl meine Mutter versucht, mir genau das immer beizubringen. Sie weiß, dass ich das brauche, um durch meine Schulzeit zu kommen. Und sie weiß, dass ich mit so etwas konfrontiert sein werde wie Gruppenzwang. Sie versucht mir mitzugeben, dass ich darüberstehen kann. Aber das schaffe ich nicht.

Überangepasstheit bedeutet ein sich stetig erweiterndes Feld möglicher Schamsituationen. Wenn du dich immer angenehm verhalten möchtest, vermehren sich die Situationen, in denen du Scham fühlst, weil du den Blick der anderen immer mitdenkst.

Schon in der Grundschule will ich das, was vermutlich alle Kinder wollen: dazugehören und genau so sein wie die anderen. Sich kollektiven Zwängen zu verweigern, heißt, in den Konflikt mit Normen zu geraten. Du weißt, was jetzt kommt:

Zunächst erlebe ich Überforderung im Angesicht der Orientierungslosigkeit, der ich in der Schule ausgesetzt bin. Die elterliche Autorität mit klaren Regeln trifft auf ein vollkommen neues soziales Gefüge, mit anderen Regeln und Normen. Es geht in erster Linie nicht mehr so sehr um »Gehorsam« und »Aufrichtigkeit«, sondern eben um »Zugehörigkeit«, vor allem innerhalb der Peer-Group. Hier zählt Anpassung, ohne dabei unauthentisch zu wirken. Das Problem bei all diesen Begriffen wie »Zugehörigkeit«, »Norm« und »Identität« ist die Tatsache, dass sie eine sehr enge Beziehung zur Scham pflegen, die sich manchmal für diejenigen, die damit Schwierigkeiten haben, sehr schmerzhaft anfühlt.

Wo der Normverstoß ist, wo die Abweichung, das Fremde und Unbekannte lauern, da ist auch die Beschämung, die Demütigung nicht weit. Meine größte Angst? Unbeliebt zu sein, nicht gemocht zu werden. Beschämt zu werden, wieder und wieder. Das hat natürlich etwas mit einer Selbstsicherheit zu tun, die wir erst gewinnen können, wenn unser Umfeld signalisiert: Du bist in Ordnung, so wie du bist. Passiert das Gegenteil, stürzen besonders Kinder und Jugendliche oft in eine Krise. Weil sie in ihrem bisherigen Leben weniger Möglichkeiten hatten zu erfahren, was sie zu einem wertvollen Menschen macht. Ihre Identität ist unsicher, noch im Werden, und Erfahrungen, nicht gemocht oder gewollt zu sein, stecken sie zwar auf den ersten Blick oft leichter weg, nehmen daraus aber vielleicht trotzdem eine psychische Verletzung mit.15 Ein anderer bedeutender Faktor ist, dass ab dem Punkt, an dem Kinder in den Kindergarten oder zur Schule gehen, ein anderer Druck auf ihnen lastet, die Gesellschaft einen anderen Einfluss auf sie nimmt als zuvor. Und mit der Gesellschaft kommen auch Normen mit einer neuen Intensität ins Bewusstsein von Menschen. Als Bedingung für dieses Bewusstsein sieht der Soziologe Sighard Neckel die Verinnerlichung dieser Normen.16 Beschämend wirken sie erst auf uns, wenn wir diese Normen einhalten und sie so zu einem individuellen Verhaltensmaßstab erklären.17 Verkürzt könnte man also behaupten: Scham braucht den Normbruch und damit verbundene Normen, imaginierte oder real vorhandene Blicke von außen, und das Bedürfnis in uns, diesen Normen zu entsprechen. Wir werden später sehen, dass das nicht uneingeschränkt stimmt, aber fürs Erste nehmen wir’s mit.

Man könnte jetzt denken, dass Anpassung um jeden Preis ein Garant für die Vermeidung von Scham wäre. Aber: Sowohl der Normbruch kann Scham erzeugen als auch die Anpassung, gerade in der Kindheit und Jugend. Nämlich dann, wenn der Wille zur Anpassung als solcher sichtbar und von anderen erkannt wird. Wenn man es »zu sehr versucht«. Genau die Überangepasstheit stellt dann den Normbruch dar:

Vermutlich kennen wir alle Menschen, von denen wir irgendwann einmal gedacht haben, dass sie es »zu sehr wollen«, dazuzugehören. Dass sie zu aufdringlich sind in ihrem Bedürfnis nach Anerkennung. Wahrscheinlich kennen wir den Gedanken, dass wir Menschen zur Individualität, zum Widerspruch herausfordern wollen. Letztendlich ist das schon in der Clique nicht anders: Von uns wird erwartet, Trends zu folgen. Gleichzeitig aber diese Trends früh genug mitzumachen, bevor sie zum Trend werden. Ab dem Moment, an dem etwas Trend ist, ist es eine Schande sich dem Zwang noch unterzuordnen. Man sei dann nicht mehr »authentisch«, was immer das ist. Du musst dich dem Kollektiv unterordnen, darfst dabei aber auf keinen Fall so wirken, als würdest du dich anbiedern, verstellen oder absichtlich so verhalten, dass du zu den anderen passt. Du sollst unangepasst angepasst sein, quasi.

In der Grundschule setze ich aber keine Trends. Ich habe nie coole Pausenbrote dabei, trage die alten Klamotten von meinen Schwestern, bin nicht überdurchschnittlich begabt in irgendetwas und außerdem eine beschissene Fängerin. Die Kinder auf dem Schulhof haben es lieber, wenn ich nicht mitspiele, und kommt es doch mal dazu, hasse ich es, die komplette Pause über in der exponierten Position der Fängerin bleiben zu müssen. Immer irgendjemandem hinterherzulaufen, den man doch nie erreicht. Die meiste Zeit verbringe ich allein, in einer Ecke des Schulhofs. Und manchmal kommt ein Junge zu mir und teilt seinen Zitronenkuchen mit mir.

Natürlich würde ich gerne mitspielen und leide darunter, dass ich nicht dazugehöre. Aber das ist damals noch keine Scham. Ich schäme mich für dieses Alleinsein kaum, weil ich noch nicht weiß, dass man dafür beschämt werden kann oder dass die anderen Mädchen