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Im abschließenden Band der beliebten Sanddorn-Reihe treffen die Leser*innen viele alte Bekannte aus vorherigen Bänden wieder. »Abschied von der Villa Sanddorn« ist der 6. Inselroman der zauberhaften Sanddorn-Reihe und erzählt von Aufbruchstimmung und neuem Glück in der zauberhaften Villa Sanddorn auf Rügen. Die Villa Sanddorn gibt Rätsel auf: Nik und Ziska sorgen sich um die Sanddornpflanzen, die von einer geheimnisvollen Krankheit befallen sind. Ob der Biologe Andreas die Ursache findet? Seit Pilotin Anke von einer Vorfahrin weiß, die sich auf Rügen für die Armen eingesetzt hat, zweifelt sie immer mehr an ihrem Traumberuf. Und das, obwohl sie so viel in die Ausbildung investiert hat. Ein Coaching bei Ziska soll ihr helfen, eine Entscheidung zu treffen. Der Journalist Bernd ist nach Rügen gekommen, um seine Chronik der Villa Sanddorn zu überarbeiten. Dabei deckt er gemeinsam mit Anke die erschütternde Geschichte ihrer Vorfahrin auf. Doch nicht nur Ziska und Bernd helfen Anke, ihren inneren Kompass neu zu justieren – auch Andreas spielt dabei eine entscheidende Rolle … Stimmungsvolle Urlaubslektüre mit einer herzerwärmenden Liebesgeschichte Bestseller-Autorin Lena Johannson begeistert nicht nur mit ihren Romanen um die »Villa an der Elbchaussee«. Mit dem 6. Wohlfühl-Roman, dem abschließenden Band der beliebten Sanddorn-Reihe, verzaubert die Autorin mit sommerlichem Insel-Feeling. Die Rügen-Romane von Lena Johannson sind in folgender Reihenfolge bei Knaur erschienen: - Sanddornsommer - Villa Sanddorn - Sanddorninsel - Sanddornzauber - Das Erbe der Villa Sanddorn - Abschied von der Villa Sanddorn
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Lena Johannson
Ein Rügen-Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Die Villa Sanddorn gibt Rätsel auf
Nik und Ziska sorgen sich um die Sanddornpflanzen, die von einer geheimnisvollen Krankheit befallen sind. Ob der Biologe Andreas die Ursache findet? Pilotin Anke zweifelt immer mehr an ihrem Traumberuf. Dabei hat sie so viel in die Ausbildung investiert. Seit Anke von einer Vorfahrin weiß, die sich auf Rügen für die Armen eingesetzt hat, scheint ihrem Leben der Sinn zu fehlen. Mithilfe des Journalisten Bernd, der seine Chronik der Villa Sanddorn überarbeiten will, deckt Anke nach und nach die erschütternde Geschichte ihrer Vorfahrin auf. Doch nicht nur Ziska und Bernd helfen Anke, ihren inneren Kompass neu zu justieren – auch Andreas spielt dabei eine entscheidende Rolle …
»Herzschmerz, eine Familiengeschichte mit ernstem Hintergrund, und am Ende ein Happy-End der besonderen Art.« Lesegenuss (Blog) über Sanddornsommer
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
Franziska, Donnerstag,14. August
Zwei Tage später
Am nächsten Tag
Montag, 18. August
Mittwoch, 20. August
Anke, Dienstag, 26. August
Franziska, Mittwoch, 27. August
Anke, Freitag, 29. August
Anke, Samstag, 30. August
Franziska, Samstag, 30. August
Anke, Samstag, 30. August
Franziska, Sonntag, 31. August
Anke, Sonntag, 31. August
Franziska, Montag, 1. September
Anke, Montag, 1. September
Franziska, Dienstag, 2. September
Anke, Donnerstag, 4. September
Franziska, Freitag, 5. September
Anke, Freitagabend
Zwei Wochen später
Bemerkungen und Dank
Für meine beste Freundin Wilma und ihre Schwessis Anke und Helga
Sie sind am Ende, Frau Mischkowsky.«
»Wie bitte?« Ziskas Klientin aus alten Hamburger Zeiten war in den letzten Jahren noch faltiger geworden. Kein Wunder, es waren fast zehn Jahre vergangen, seit Ziska der Hansestadt den Rücken gekehrt hatte, um auf Rügen eine Auszeit zu nehmen. Und schon damals war Frau Mischkowsky ziemlich zerknittert gewesen. Die blondierte Dame mit der spitzen Nase und den Augen, die es nur selten länger als eine Sekunde an einem Punkt aushielten, starrte Franziska an.
»Am Ende unseres Coachings. Und dieses Mal endgültig, habe ich den Eindruck.« Ziska schlug das linke Bein über das rechte, legte die ineinander verschränkten Hände auf ihre Knie und lächelte die sichtbar irritierte Mistkowsky, wie Ziska sie heimlich nannte, freundlich an. Mistkowskys Ehemann hatte bei seiner Frau gekündigt, weil er seine letzten Arbeitsjahre ausschließlich damit verbringen wollte, in einer Künstleragentur tätig zu sein, in der ihm so viel Zuspruch entgegengebracht wurde. Ihre Tanzschule lief glänzend, die zerknitterte Mistkowsky musste kaum noch selbst vor Ort sein und konnte stattdessen als Preisrichterin aufstrebenden Tanzpaaren den letzten Nerv rauben. Was wollte ein Mensch bei einem Coaching, wenn das Schicksal es so gut mit ihm meinte? Und plötzlich war Ziska erfüllt von dem Gefühl, ein Kreis würde sich schließen. Genau wegen solcher Menschen mit Luxusproblemen hatte sie vor zehn Jahren an ihrer Berufswahl gezweifelt. Sie hatte sich eine Pause von ihren Kunden und Kundinnen verordnet, um pünktlich zu ihrem dreißigsten Geburtstag ihr Leben auf den Prüfstand zu stellen und möglicherweise zu ändern. Und wie sie es geändert hatte!
Da die Augen ihrer Klientin noch immer ungewöhnlich konstant auf sie gerichtet waren, sagte Ziska: »Ihr Mann hat recht, finde ich. Niemand von uns kennt die eigene Restlaufzeit. War das nicht seine Formulierung? Es ist ein Geschenk, etwas gefunden zu haben, das einen wirklich glücklich macht.«
»Aber ich dachte, mein Mann liebt mich. Ich stehe an erster Stelle, und es macht ihn glücklich, wenn ich zufrieden bin.«
Ziska seufzte leise. »Wir drehen uns im Kreis, liebe Frau Mischkowsky. Ich habe Ihnen schon mehrfach gesagt, ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Sie mit dieser Einschätzung richtigliegen. Das bedeutet nicht, dass Ihr Mann alles für Sie aufgeben muss. Im Gegenteil, das wäre furchtbar.« Die Mistkowsky wollte Einspruch erheben, doch Ziska ließ ihr keine Chance. Sie erhob sich. »Genießen Sie Ihre Freizeit mit Ihrem Mann, und gönnen Sie ihm seinen beruflichen Erfolg! Sie lieben ihn doch auch und brauchen ihn in Ihrer Firma nicht mehr. Zeigen Sie ihm, dass es Sie glücklich macht, wenn er zufrieden ist.« Guter letzter Satz. Ziskas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Dann fiel ihr noch etwas ein: »Vor allem müssen Sie lernen, sich von starren Vorstellungen zu verabschieden, die Ihnen nur im Weg stehen. Seien Sie offen für neue Entwicklungen. Sie werden staunen, wie viel besser Sie sich damit fühlen werden.«
Nachdem sie die Hamburger Tanzschulbesitzerin verabschiedet hatte, ging Ziska zurück, um im Coachingraum klar Schiff zu machen. Sie hätte es bei dem ersten letzten Satz belassen sollen, statt unbedingt noch einen draufzusetzen. Das mit der Offenheit für neue Entwicklungen nistete sich in ihrem Hinterkopf ein wie ein Haar im Ausschnitt, das man nicht zu fassen bekam und einen ständig störte. Auch auf der Plantage gab es neue Entwicklungen, ob Nik und sie offen dafür waren oder nicht. Bedrohliche Entwicklungen. Ach was, die Mistkowsky war ihre letzte Klientin gewesen, jetzt war erst einmal Urlaub angesagt. Ziska lächelte und atmete tief durch. Sie rückte den handgewebten Teppich zurecht, auf dem sich eine Spirale in leuchtendem Gelb und flammendem Rot zu drehen schien. Dann stellte sie den Flipchart an die hintere Wand und sammelte Stifte und Notizblock von dem kleinen Arbeitstisch. Ihr Blick blieb kurz an Gesas riesigem Gemälde hängen. Es war immer wieder faszinierend, wie unterschiedlich es von den Klienten wahrgenommen wurde. Die einen sahen nur Grautöne, die anderen behaupteten, es seien nichts als die Wellen der Ostsee bei Unwetter zu sehen, während wieder andere sofort die Andeutung von Segelschiffen mit in den Himmel gereckten Masten entdeckten. Segeln. Ihr Herz machte einen Hüpfer, eine Mischung aus Vorfreude und Aufregung. Vor einigen Wochen hatten Nik und sie beschlossen, einen Familienurlaub zu unternehmen.
»Ein Segeltörn rund um Rügen!«, hatte Nik mit leuchtenden Augen vorgeschlagen. »Wir wohnen da, wo andere ihre Ferien verbringen. Was gibt es Schöneres, als die Insel vom Wasser aus zu sehen und bei den Stopps die unterschiedlichen Ecken zu erkunden?« Eigentlich wäre Ziska gern mal wieder nach Italien gefahren. Sie liebte das Land, die Sprache, das Essen und nicht zu vergessen den unvergleichlichen Kaffee. Andererseits hatte er recht. Rügen war groß, es gab noch so viel, was sie nicht kannte. Für die Jungs wäre eine solche Tour mit Sicherheit ein großes Abenteuer. Und da lag der Hase im Pfeffer. Jockel und Felix hatten täglich neuen Unsinn im Kopf. Auf einem Boot konnte ihnen das bestimmt leicht zum Verhängnis werden. Hinzu kam, dass Ziska keine nennenswerten Erfahrungen beim Segeln hatte. Doch Nik hatte ihre Bedenken weggewischt.
»Unsere Söhne machen zwar gern Blödsinn, das stimmt. Wenn es darauf ankommt, hören sie aber auf uns. Meistens. Findest du nicht? Und ich bin der Kapitän, das steht fest«, hatte er sie wissen lassen. »Du übernimmst die Kombüse und darfst mir höchstens mal beim Anlegen helfen.« Sie hatte nicht anders gekonnt, als ihm zuzustimmen. Und nun war es also so weit, übermorgen ging es los!
Auf dem Weg von der Villa über den Hof zum Wohnhaus ertönte ein leises Plingplong. Ziska fischte ihr Handy aus der Hosentasche. Eine neue Mail. Eine Horde Ameisen marschierte augenblicklich durch ihren Bauch, so fühlte es sich an. Der Absender war Bernd Dols. Wie lange hatten sie und Nik auf eine Nachricht von ihm gewartet! Dols hatte vor zig Jahren Unterschlupf in der Villa Sanddorn gefunden und hier unter anderem den Schneewinter 1978/79 erlebt. Der Mann war Journalist. Das und noch so viel mehr über die Vergangenheit des Hauses und des Grundstücks hatten sie von einer Klientin erfahren. Ziska wurde noch immer warm ums Herz, wenn sie daran dachte. Sie blickte sich um, betrachtete die Produktionshallen, den kleinen Hofladen, das schöne alte Gebäude im Stil der Bäderarchitektur und ihr kleines modernes Haus. Nik hatte die Anlage von einem gescheiterten Unternehmer gekauft, die Sanddornfelder angelegt, die Hallen gebaut. Nach und nach hatte er aus einem zugewucherten Stück Land mit verfallender Villa all das gemacht, was seit Jahren zu ihrem Zuhause gehörte. Sie beide hatten das zusammen geschafft und fühlten sich mit dem Flecken Erde entsprechend eng verbunden. Und dann war Klientin Christina aus Magdeburg aufgetaucht und hatte ihm und Ziska von den Ursprüngen und den ersten Besitzern erzählen können. Ausgerechnet, nachdem Ziska und Nik beim Ausbau des Dachbodens haufenweise handschriftliche Aufzeichnungen über die Geschichte des Hauses gefunden hatten. Christina hatte den Verfasser gekannt, mehr noch, sie hatte ihnen den Kontakt zu Bernd Dols hergestellt, der seine Zeit hier oben am nördlichsten Zipfel Rügens ebenso in einem Tagebuch festgehalten hatte wie auch die Chronik des Hauses von Anfang an. Ziska sog die milde Sommerluft in ihre Lungen. Glücklicherweise machte die Halbinsel Wittow gerade wieder ihrem Beinamen Windland alle Ehre. So ließen sich auch hohe Temperaturen aushalten. Gesa hatte die Idee gehabt, die Chronik mit Illustrationen zu bereichern und den Gästen als Bettlektüre auf den Nachttisch zu legen. Also hatte Ziska diesen Herrn Dols angeschrieben, ihm alles erklärt und ihn um die Erlaubnis gebeten, seine Texte zu nutzen, sehr persönliche Passagen natürlich ausgenommen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie ihre Bitte für eine Formsache gehalten und war überzeugt gewesen, sehr schnell sein schriftliches Einverständnis zu bekommen. Dem war nicht so gewesen. Mit jedem Tag, der verstrichen war, sank die Hoffnung, ihren schönen Plan mit dem sehr persönlichen Lesestoff für Urlaubsgäste umsetzen zu können.
Ziska stand noch immer auf dem Hof. Sie überlegte, ins Haus zu gehen, sich an den großen Esstisch zu setzen, ein Relikt aus der Ära der Vorbesitzer, und dort die Nachricht zu lesen. Doch sie konnte es nicht abwarten und klickte an Ort und Stelle die Mail an.
Liebe Frau Marold, lieber Herr Marold,
wie Sie gemerkt haben, musste ich lange über Ihre Anfrage nachdenken. Nun habe ich mich entschieden.
Ich kann mir vorstellen, Ihnen die Nutzung der Chronik in der von Ihnen geplanten Weise zu genehmigen. Meine Bedingung ist, sie vorher zu überarbeiten. Das mache ich am besten vor Ort und reise am 26. August an.
Bitte bestätigen Sie mir den Termin.
Gruß, Bernd Dols
»So ein Idiot!«, schimpfte Ziska und ging, das Mobiltelefon in der Hand, ins Haus.
Nik saß über eine ausgebreitete Rügenkarte gebeugt am Esstisch. Um den Inselplan herum stapelten sich diverse Bücher und Prospekte. Ein vertrauter Anblick in den letzten Tagen. Die rätselhafte Erkrankung der Sanddornsträucher hatte zur Folge, dass Nik auf den Feldern nicht viel tun konnte. War er draußen, packte ihn nur wieder der Frust, weil er völlig hilflos zu sein schien. Der Urlaub war ein Projekt, in das er sich geradezu übereifrig stürzte. Verständlich, fand Ziska, endlich etwas Positives, um das er sich kümmern, bei dem er Ergebnisse erzielen konnte.
»Guck mal«, begann er sofort, »wenn wir im Uhrzeigersinn segeln, müssten wir es in der ersten Etappe mindestens bis Puddemin schaffen, danach liegen die Häfen wie auf einer Schnur dicht hintereinander.« Er klopfte auf die Karte. »Segeln wir gegen den Uhrzeigersinn, würden wir Gager ansteuern.« Er sah sie erwartungsvoll an. »Du siehst nicht gerade begeistert aus.« Ehe Ziska von der Mail erzählen konnte, stand er auf und nahm sie in den Arm. »Entschuldige, du bist noch nicht im Urlaubsmodus, stimmt’s? Obwohl …« Er sah auf die Uhr. »Du müsstest mit der Mistkowsky durch sein. Das heißt, du hast auch Ferien. Wein?« Er strahlte sie an, Ziska musste lachen.
»Auf keinen Fall! Im Ernst, Nik, ich habe noch tausend Dinge zu erledigen, wenn wir übermorgen kein Chaos hinterlassen und mit ausreichend sauberen Klamotten starten wollen.« Sie seufzte. »Außerdem habe ich gerade eine Nachricht von Bernd Dols bekommen.«
»Keine gute, deinem Gesicht nach zu urteilen.« Er runzelte die Stirn.
»Wie man’s nimmt.« Nik setzte sich, und Ziska ließ sich ebenfalls nieder. »Er könnte sich vorstellen, uns die Erlaubnis zu geben, sein Geschreibsel zu nutzen, er …«
»Geschreibsel? Du warst Feuer und Flamme für die Aufzeichnungen. Was hat er getan, dass du ihn jetzt schon nicht leiden kannst?«
»Das will ich dir gerade erklären«, entgegnete sie genervt. Nik hob abwehrend die Hände. »Der Kerl stellt Bedingungen. Hier!« Sie schob ihm ihr Telefon mit der geöffneten Nachricht rüber.
»Nach einem Charmebolzen klingt er nicht gerade«, stimmte Nik ihr zu, nachdem er die Zeilen überflogen hatte. »Christina hat uns allerdings auch vorgewarnt.«
Das stimmte. Sie habe ihn als Zyniker kennengelernt, der ausgesprochen widerborstig hatte sein können. Doch im Grunde sei er nur ein sehr aufrechter Mensch, der ständig für oder gegen etwas kämpfen musste. Das sei der Hintergrund für sein manchmal ruppiges Verhalten. Ziska erinnerte sich genau an Christinas Worte.
»Der Termin, den er vorschlägt, ist nach unserem Urlaub.« Niks Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Ziemlich direkt danach, aber für mich wäre das okay. Er kriegt ein Zimmer und fertig. Wir werden ihn vermutlich kaum bemerken, weil er zurückgezogen über seinem Geschreibsel brüten wird.« Er grinste.
»Das kleine Zimmer ist frei«, meinte Ziska nachdenklich. »Soll ich ihm schreiben, dass wir uns freuen und was die Übernachtung kostet?« Sie hatte wirklich Lust, diesem Herrn Dols vor Augen zu führen, wie ungehobelt sein Ton bei ihr ankam. »War ein Scherz, wir sollten ihn kostenfrei unterbringen, sofern er nicht mit Honorarforderungen um die Ecke kommt.«
»Das kannst du ihm doch in deiner diplomatisch-höflichen Art klarmachen.«
»Und wann er abreisen muss, weil das Zimmer leider schon gebucht ist, werde ich ihm auch schreiben.«
Nik stutzte. »Ich dachte, das ist erst für Oktober reserviert.«
»Stimmt, aber ich könnte mich dazu herablassen, ein bisschen zu flunkern.« Jetzt grinste sie über das ganze Gesicht. »Ich glaube, ich hätte jetzt doch gern ein Glas …« Plingplong. Ziska griff nach ihrem Handy und kontrollierte den Posteingang. »Eine Mail von Maren«, murmelte sie und legte die Stirn in Falten.
»Bestimmt will sie uns nur einen schönen Urlaub wünschen.« Nik stand auf und ging in Richtung Küche.
»Nein. Hör mal, sie schreibt, bei ihr würden sich die Ereignisse gerade überschlagen. ›Wenn ich nicht auf meine Rügen-Reise verzichten will, muss ich im Grunde sofort aufbrechen.‹ Sie reist also schon diesen Samstag an.« Ziska blickte kurz auf und sah, wie Nik die Augen verdrehte. »Sie schreibt: ›Ich freue mich auf Euch, bis übermorgen!‹ Und dass sie ein Ferienhaus am Seglerhafen gebucht hat.«
Ohne Wein kehrte Nik zurück an den Tisch.
»Der Plan war doch, dass sie bei unserer Rückkehr da ist.«
»Das hat sich geändert, habe ich dir doch gerade vorgelesen.«
»Ich dachte, es wäre ein gemeinsamer Plan. Bespricht man sich nicht, ehe man den ändert?« Sein Ton verriet, dass er kein Verständnis dafür hatte.
Ziska reagierte gereizt. »Habe ich dir doch gerade …«
»… vorgelesen, ja«, unterbrach er sie. »Ich finde es trotzdem nicht so toll, uns einfach vor vollendete Tatsachen zu stellen.«
Ziska seufzte, sie hatte überhaupt keine Lust auf Diskussionen und Reibereien.
»Maren ist meine beste Freundin. Wir haben uns Silvester vor einem Jahr das letzte Mal gesehen!« Sie sah ihn eindringlich an. Schien nicht so, als wäre mit ihrem Einwand alles klar. »Sie schreibt, wenn sie diese Woche nicht kommt, wird es gar nichts mehr. Was gibt es da groß zu besprechen? Es ist totales Glück, dass sie überhaupt noch so kurzfristig umbuchen konnte.« Mit Druck kam sie nicht weiter, also sagte sie sanfter: »Für uns ist es doch eigentlich egal, wann wir sie treffen, ob am Anfang oder am Ende unseres Urlaubs.«
»Von mir aus«, knurrte er.
Es war wie verhext. Ziska war extra früh aufgestanden, um alles in Ruhe erledigen und ohne Hektik in den Urlaub starten zu können. Und nun war der Tag fast um, und sie hatte noch immer jede Menge zu tun. Sie war eben einfach nicht mehr in Übung, was richtige Ferien anging, tröstete sie sich, während sie eine Hose zurück in den Schrank hängte, die sie doch nicht mitnehmen würde. Oder? Eine größere Klamottenauswahl konnte nicht schaden. Andererseits war der Platz auf dem Schiff, das sie gemietet hatten, begrenzt. Die Hose blieb hier, dafür schnappte sie sich noch einen Wollpullover. Die Abende konnten kühl werden.
»Entscheide dich«, zischte sie, »sonst stehst du morgen früh noch hier!«
Dabei hatte sie es nicht allein zu verantworten, dass sie noch nicht mit allem fertig war. Jockel hatte ihr helfen und schon mal seinen Koffer packen wollen. Dabei hatte er leider keine Rücksicht auf Ziskas Vorsortierung genommen. Als sie ihn dafür zurechtgewiesen hatte, war er in Tränen ausgebrochen. Klar, der Kurze war aufgeregt, also lagen auch bei ihm die Nerven blank. Felix hatte zwar nicht mitbekommen, worum es ging, doch das hinderte ihn nicht daran, in das Geheul seines Bruders einzustimmen. Diesbezüglich war er aus tiefster Seele solidarisch. Ziska hatte die beiden glücklicherweise relativ schnell beruhigen können, indem sie ihnen ihre Situation erklärt hatte. Statt in ihrem Zimmer zu spielen, wie sie es laut mütterlicher Anweisung sollten, hatten sie den Beschluss gefasst, Ziska doch irgendwie Arbeit abzunehmen. Sie kam gerade noch rechtzeitig hinzu, um zu verhindern, dass Jockel auf seinem Schaumstoffsitzwürfel zu bügeln anfing.
Zu allem Überfluss hatte eine Nachricht nach der anderen sie zusätzlich abgelenkt. Als hätten sich alle potenziellen Coaching-Klienten verabredet, trudelten die Anfragen im Halbstundentakt ein. Dazwischen Mails von Bernd Dols, der diverse Details klären wollte, und Maren meldete sich auch mehrmals.
»Ich halte auf der Fahrt irgendwo an und kaufe ein. Soll ich Euch etwas mitbringen?«, hatte sie angeboten. Da hatte sich Nik gerade auf den Weg gemacht, um die Einkäufe zu erledigen. Trotz Liste hatte er einiges vergessen, wie Ziska grollend bemerkte, als er wieder zurück war.
»Nun sei doch nicht so gereizt.« Sein Blick war ein einziger Vorwurf. Dabei war er es doch, der seinen Job nicht ordentlich gemacht hatte! »Wir gehen nicht auf eine Polarexpedition, sondern segeln um die Insel herum, auf der wir zufällig auch noch wohnen. Ich wüsste nicht, dass es auf Rügen noch Gebiete gibt, die von der Zivilisation abgeschnitten sind. Du kannst vermutlich jeden Tag einkaufen, damit du auch alles hast, was dein Hausfrauenherz begehrt.« Er hatte zwar geschmunzelt, doch es war nicht zu überhören gewesen, wie wenig Verständnis er für ihre Kritik hatte. Stimmte ja auch. Was nicht da war, war eben nicht da. Kein Beinbruch.
»Supermarkt ist Alltag«, verteidigte sie sich versöhnlich. »Ich möchte möglichst selten einen von innen sehen, wenn ich freihabe.«
»In einem der Prospekte habe ich gelesen, es gibt auf diesem verwunschenen Eiland sogar …« Er machte eine Pause und senkte geheimnisvoll die Stimme. »… Restaurants!«, beendete er den Satz.
»Wirklich?« Ziska riss die Augen auf. Dann umarmte sie ihn. »Ich freue mich schon darauf, abends in einem kleinen Lokal zu sitzen, auf den Hafen zu gucken, wo unser Kahn vor sich hin dümpelt, und bedient zu werden. Nicht kochen, keine Spülmaschine einräumen. Herrlich!«
»Vielleicht bleibt dir das demnächst sowieso erspart, wenn ich mit Rügorange Insolvenz anmelden muss«, meinte er finster.
»Davon kann überhaupt keine Rede sein«, protestierte sie wie schon unzählige Male zuvor. »Wir werden einen Weg finden.« Wie oft hatten sie das besprochen? Ehe nicht abschließend geklärt war, ob einige Pflanzen zu retten waren oder es resistente Sorten gab, die sie setzen konnten, ergab es keinen Sinn, sich den Kopf zu zermartern. Ein Fachmann würde anreisen, der auf diesem Gebiet forschte und ihnen all ihre Fragen beantworten sollte. Sie hatten sich bewusst dafür entschieden, die Zeit vor dem Schulbeginn der Zwillinge für eine Familienauszeit zu nutzen und Kraft für einen möglichen Neustart mit der Plantage zu tanken. Statt Nik daran zu erinnern, versuchte sie es mit Humor. »Wenn nicht, wirst du tatsächlich Hausmann. Ich hätte nichts dagegen.«
Ziska legte die Hose doch in die Reisetasche und zog mit einiger Mühe den Reißverschluss zu. Sie sah auf die Uhr. Gesa würde gleich Feierabend machen wollen. Auch das noch, es war höchste Zeit für eine Übergabe. Sie sauste durch den Flur, wo der größte Teil des Gepäcks auf die Abreise wartete. Hatte sie die Schwimmwesten der Jungs nicht vorhin auf Niks Tasche gelegt? Da waren sie nicht. Verdammt, sie hatte sie dort deponieren wollen. Wo war sie damit geblieben? Sie musste sich gleich darum kümmern, wenn sie mit Gesa fertig war.
»Moin, Ziska!« Gesas Erleichterung spiegelte sich in ihrer Stimme und ihrem Strahlen. »Ich dachte schon, wir sehen uns nicht mehr, ehe ihr losschippert.« Seit Jahr und Tag trug sie bunte Tücher, die sie kunstvoll um ihren Kopf schlang. Daran hatte sich nichts geändert. Heute hatte sie ein leuchtend blaues Exemplar mit kleinen gelben Möwen gewählt. Ihre Frisur war seit einer Weile jedoch anders, das war Ziska aufgefallen. Das Haar stand nicht mehr strubbelig in alle Richtungen, sondern war vermutlich mit Rundbürste und Föhn gebändigt, wodurch Gesa viel weicher wirkte. Ziska wollte sie darauf ansprechen, da begann Gesa, den Saum ihres weiten Shirts zu kneten. »Wäre echt blöd gewesen. Wenn wir uns nicht mehr gesehen hätten, meine ich.« Was war denn mit ihr los? Gesa war geradeheraus, es war überhaupt nicht ihre Art, herumzudrucksen. »Ich würde nämlich gern in Ruhe mit euch reden.«
»Jetzt?« Ziska hatte gehofft, die Übergabe so schnell wie möglich abhaken zu können.
»Nee, jetzt ist Nik ja nicht da.« Gesa zog kurz die Augenbrauen hoch. »Aber vielleicht könnte ich mit rüberkommen, wenn wir hier durch sind«, schlug sie vor.
»Puh!« Ziska dachte an die Mails, die sie noch schreiben musste, und an den Zustand der Küche. Sie wollte unbedingt noch Ordnung in das Chaos bringen, sonst bekäme sie bei ihrer Rückkehr aus dem Urlaub einen Schlag. »Kann das nicht bis nach unserem Segeltörn warten?« Gesa sah irgendwie zerknirscht aus. Sie holte Luft. »Bitte!« Ziska sah sie flehend an.
»Ja, klar, okay. So dringend ist es nun auch wieder nicht.«
Die Schwimmwesten der Jungs fanden sich in deren Zimmer wieder.
»Wir müssen die immer anziehen, habt ihr gesagt«, verteidigte sich Jockel.
»Das stimmt nur zum Teil.« Ziska schnappte sich die Dinger aus undefinierbarem schaumigem Kunststoff. »Im Urlaub sollt ihr sie immer tragen, wenn wir auf dem Boot sind. Und am besten auch, wenn ihr am Hafen herumlauft«, ergänzte sie leiser. Die Westen für Nik und sie würden an Bord sein. Für die Kinder hatten sie welche gekauft. Solange die beiden nicht sicher schwimmen konnten, war es nicht verkehrt, sie zur Hand zu haben. »Jetzt gibt’s Abendbrot, und dann wird geschlafen!«
Nach dem Essen wusch Ziska ab und räumte auf. Sie ärgerte sich ein bisschen, dass Nik ihr nicht dabei half. Er hatte Jockel und Felix ins Bett gebracht und es sich anschließend mit seiner geliebten Inselkarte und einem Alsterwasser am Tisch bequem gemacht.
»Wollen wir eigentlich auch einen Abstecher nach Hiddensee machen?« Er sah nicht einmal auf.
»Keine Ahnung«, murmelte Ziska.
»Wir könnten sogar bis nach Greifswald segeln. Das würde allerdings ziemlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Dann müssten wir morgen auf jeden Fall gleich eine lange Etappe einplanen. Was meinst du?«
»Nik, ich muss gleich noch für mindestens eine Stunde an den Schreibtisch. Nachdem ich die Küche fertig habe«, betonte sie, ohne damit eine Reaktion auszulösen. Sie seufzte und hängte das Geschirrtuch an seinen Haken. »Müssen und planen klingt in meinen Ohren nicht gerade nach Erholung. Außerdem hast du Maren anscheinend vergessen. Ich habe keine Lust, ihr kurz Hallo zu sagen, aufs Boot zu springen und loszudüsen.«
»Ach ja.« Das klang enttäuscht.
»Was hältst du davon, wenn wir uns morgen erst einmal mit dem Kahn vertraut machen, ehe wir am Sonntag dann richtig starten?«
Eine Sekunde sah es so aus, als hätte er eine völlig andere Vorstellung von dem Segelurlaub, doch dann lächelte er sie an.
»Hast recht, wir gehen es ruhig an. Wenn ich richtig gut mit der Navigation klarkomme und der Wind mitspielt, können wir immer noch über Abstecher nachdenken.« Er nahm einen Schluck. »Beim Probeschippern könnte Maren sogar mit an Bord sein.«
Ziska entspannte sich augenblicklich. Sie ging zu ihm.
»Das ist ein Plan nach meinem Geschmack. Und was den weiteren Verlauf angeht, lasse ich mich einfach überraschen«, sagte sie mit zuckersüßem Lächeln und gab ihm einen Kuss. »Du bist schließlich der Kapitän!«
Beim Blick in den Rückspiegel wurde Ziska warm ums Herz. Die Zwillinge hatten darauf bestanden, endlich ihre leuchtend orangefarbenen Schwimmwesten anzuziehen. Kein Wunder, Nik und sie hatten ihnen ja wirklich eingebläut, die Dinger nur zum Schlafen abzulegen. Vielleicht noch nicht einmal dann. Und am vergangenen Abend hatte Ziska präzisiert, die Regel gelte lediglich im Urlaub. Sie waren unterwegs, also war jetzt eindeutig Urlaubs- und damit Westenzeit. Farblich passend zur Schutzausrüstung glühten die Wangen der beiden vor Aufregung. Auch Ziska spürte ein Kribbeln, das mit jedem Meter, den sie sich Lauterbach und dem Hafen näherten, stärker wurde. Sie hatten Putbus durchquert und waren in die Lauterbacher Straße abgebogen. Nach erneutem Abbiegen war offensichtlich, dass sie ihr Ziel fast erreicht haben mussten. Zwei Jungen mit Schwimmflossen unter den Armen, Taucherbrillen auf den Köpfen und pitschnassen Haaren bummelten den Weg entlang und dachten nicht daran, einem Auto Platz zu machen. Ein Teenagerpaar stolzierte mit bunten SUPs hinunter zur Marina. Franziska musste lächeln, Jockel und Felix guckten den vieren mit großen Augen hinterher.
»Wir wollen auch stand-up-paddeln und schnorcheln gehen!« Jockel ruckelte an Niks Sitz.
»Wenn ihr eure Brillen und Schnorchel eingepackt habt, spricht nichts dagegen. Aber jetzt gucken wir uns erst mal unser Boot an.« Nik musste rechts ranfahren, denn ihnen kam ein Wagen mit Trailer aus Richtung des Hafens entgegen, auf dem sich eine schnittige Jolle befand.
»Isses das?«, fragten die Zwillinge fast gleichzeitig.
»Ein bisschen größer sollte unseres schon sein, sonst hätten wir keine Kajüten.« Nik zwinkerte Ziska zu und legte kurz eine Hand auf ihr Bein.
Augenblicklich entspannte Ziska sich. Je näher sie der Wasserferienwelt gekommen waren, desto heftiger waren ihre Bedenken zurückgekehrt. Zwar war sie vor langer Zeit in Hamburg und auch einmal in Wismar bei Freunden mitgesegelt, doch da war sie nur Gast und für keinerlei Manöver verantwortlich gewesen. Auch wenn Nik noch so viel Erfahrung von verschiedenen Schiffen mitbrachte, konnte es Situationen geben, in denen sie mit anpacken und schnell handeln musste. Andererseits war Nik kein Maulheld. Wenn er sagte, er war der Kapitän, dann wusste er, was auf ihn zukam, und traute es sich zu. Außerdem hatte sie noch einen Tag Schonfrist. Anstatt sofort auf große Fahrt zu gehen, würden sie erst mal eine kleine Runde drehen und abends wieder anlegen. Genug Gelegenheit für sie, sich mit dem Kahn und ihrem Matrosenjob vertraut zu machen.
Mit leisem Knirschen rollte ihr Wagen die letzten Meter. Schilder wiesen den Weg zu den Bootsanlegern und informierten unübersehbar über diverse Verhaltensregeln. Sofort wurde Ziska wieder mulmig. Hoffentlich stellten Jockel und Felix nicht gleich am ersten Tag Unfug an, mit dem sie den Zorn des Hafenmeisters auf sich zogen, vor dessen Büro Nik geparkt hatte.
»Ich melde uns mal an«, verkündete er.
Die Zwillinge drängten sich vor lauter Anspannung so nah aneinander, dass ihre Schwimmwesten unangenehm quietschten. Ziska bekam eine Gänsehaut. Die beiden störte das nervtötende Geräusch kein bisschen. Sie überboten sich in einer Diskussion mit ihrem Fachwissen.
»Ich bin der Steuermann«, rief Jockel. »Jedenfalls manchmal«, setzte er kleinlaut hinzu.
»Dann hänge …, werfe …, ziehe ich den Anker hoch!«, erwiderte Felix. »Und wenn wir an Bord gehen, suche ich mir zuerst eine Kombüse aus.« Er verschränkte die Arme. Es quietschte wieder.
»Das heißt Kajüte. Hat Papa doch schon tausendmal gesagt.« Jockel verdrehte die Augen.
»Ist doch egal, eine Kombüse gibt es auch. Das ist mein Platz, dann kann ich immer entscheiden, was wir essen.« Offensichtlich war Felix gerade eingefallen, welche Funktion dieser Raum eines Schiffes hatte.
»Du darfst gar nichts entscheiden. Das darf immer nur der Kapitän.« Jockels Ton wurde strenger.
Ehe es womöglich zum Streit kam, schaltete Ziska sich ein: »Der Kapitän hat das Sagen an Bord, das stimmt. Übers Essen entscheiden wir trotzdem gemeinsam. Einverstanden?«
»Aye, aye, Mami«, beendete Jockel seinen Satz und reckte das Kinn. Felix dagegen war schon nicht mehr bei der Sache, weil draußen eine Frau mit einem Hund vorbeiging, dem er verträumt hinterhersah. Noch vor zwei Jahren hätte Ziska behauptet, dass sich ihre beiden Söhne nicht nur zum Verwechseln ähnlich sahen, sondern auch den nahezu gleichen Charakter hatten. Doch das hatte sich gründlich geändert. Mit etwas Glück sorgten die wachsenden Unterschiede dafür, dass die beiden nicht mehr so viel anstellten. Ihr Einfallsreichtum und ihre Unternehmungslust wären ihnen schon mehr als einmal haarscharf zum Verhängnis geworden. Wie zum Beispiel, als sie sich in der Erdmiete im Garten versteckt hatten. Es hätte nicht viel gefehlt, und der unterirdische Vorratsraum wäre für sie zur Falle geworden.
Nik trat aus dem Verwaltungstrakt und riss sie aus ihren Gedanken. Ein drahtiger Mann mit fröhlichem Gesicht begleitete ihn, gestikulierte lebhaft und machte Nik schließlich ein Zeichen, das der mit erhobenem Daumen quittierte. Der Mann lief daraufhin leichtfüßig in Richtung Marina, Nik kam zurück und stieg in den Wagen.
»Wir können bis zum Anleger vorfahren und unsere Sachen da ausladen«, erklärte er, während er den Motor startete.
»Wer war der Mann? Gehört ihm unser Boot?«
»Nein, Felix, das war Robby, der Hafenmeister«, antwortete Nik. »Er ist sozusagen der Chef von der Anlage. Bei ihm müssen sich alle Skipper melden, die hier anlegen möchten.«
»Skipper?«, kam es leise von Felix.
»Kapitäne!« Nik fuhr den schmalen Weg entlang, die Vorfreude war ihm ins Gesicht geschrieben. »Robby zeigt uns gleich unsere Jacht und erklärt uns alles.«
»Fragt er uns hinterher ab?« Felix wirkte leicht verunsichert.
»Nicht nötig.« Nik winkte ab. »Wenn wir abgluckern, wissen wir, dass wir etwas falsch verstanden haben.« Er lachte. Ziska schlug ihm spielerisch auf den Oberschenkel.
Und dann waren sie am Ziel! Im Wasser lag ein sehr elegantes Boot. Salut, war mit geschwungenen Buchstaben auf den fast blendend weißen Leib geschrieben. Ihr schwimmendes Ferienhaus für die nächsten acht Tage! Ziska wusste nicht, was sie sagen sollte, so schön war es. Auch die Zwillinge waren stumm und wie versteinert. Allerdings nur für zwei Sekunden. Kaum hatte Nik die Handbremse angezogen, schnallten sich Jockel und Felix ab, rissen die Türen auf und sprangen ins Freie.
»Stopp!«, erklang Robbys kräftige Stimme. »Schön langsam. Heute Morgen hat es geregnet, da können die Stege rutschig sein.« Felix und Jockel waren auf Kommando stehen geblieben. »Ich will eure Sohlen sehen!«, verlangte Robby. Sie gehorchten und hoben gleichzeitig einen Fuß in die Höhe, Felix den rechten, Jockel den linken. Auch Ziska und Nik waren inzwischen ausgestiegen und beobachteten amüsiert, wie Robby prüfend die Augen zusammenkniff und einen Schritt auf die Jungen zumachte. Als sie immer heftiger wackelten, erlöste er sie. »Das sieht gut aus. Da haben eure Eltern euch schon mal ordentliches Segelschuhwerk ausgesucht.« Er zwinkerte Ziska zu. »Und Westen habt ihr auch schon an, dann kann’s ja losgehen.« Jetzt lächelte er übers ganze Gesicht. »Herzlich willkommen! Ich bin Robby, der Hafenmeister, aber das hat euer Papa euch bestimmt schon verraten.« Er reichte den beiden Jungen gespielt förmlich die Hand. Sie kicherten. Dann war Ziska an der Reihe. »Tach! Ich gehe mal davon aus, dass die Sohlen auch decktauglich sind.« Er deutete auf ihre Schuhe. »Auf die Überprüfung verzichte ich ausnahmsweise.«
»Sehr freundlich, vielen Dank.«
»Ich führe euch kurz rum, dann richtet ihr euch ein, okay?« Ohne die Antwort abzuwarten, war Robby mit einem Schritt auf dem Schiff. »Eingestiegen wird achtern, also hinten. Wie ihr seht, gibt es eine richtige Treppe.« Ziska fiel ein Stein vom Herzen, Kletteraktionen waren offenbar nicht nötig. »Trotzdem: Immer eine Hand fürs Boot«, hörte sie Robby sagen. »Das heißt, dass ihr euch was zum Festhalten sucht, wenn ihr einsteigt oder euch an Deck bewegt. Schnappt euch die Reling oder nehmt zur Not mal eine von den Leinen.« Er war in seinem Element, gab Tipps für die Ab- und Anlegemanöver und zählte Eckdaten auf wie Länge und Tiefgang der Jacht.
»Und wann dürfen wir nun endlich einsteigen?«, platzte Jockel mit tiefem Seufzen dazwischen. Robby stutzte.
»Ach so, ja, klar … Alle Mann an Bord!« Er reichte den Kindern die Hand. Nik war direkt hinter ihnen, Ziska betrat als Letzte die eleganten honigfarbenen Holzplanken.
Die beiden Kajüten waren überraschend geräumig. Mindestens ebenso gut gefiel Ziska die voll ausgestattete Küche. Schien wirklich so, als ließe die Salut keinen Wunsch offen. Dachte sie.
»Hier ist die Nasszelle.« Robby öffnete eine Tür, Jockel und Felix prusteten.
»Ist doch gar nicht nass«, meinte Jockel kichernd.
»Stimmt, ein Punkt für dich.« Robby grinste.
»Wenn du dir das erste Mal da drinnen die Hände gewaschen hast, dann passt der Name, da bin ich sicher.« Ziska wuschelte Jockel über das Haar.
»Die Marina hat natürlich auch Sanitärräume«, erzählte Robby. »Da könnt ihr noch mal richtig duschen, ehe es auf große Fahrt geht.«
»Sind das Badezimmer wie zu Hause?« Felix sah ihn aufmerksam an.
»Im Prinzip ja.« Robby nickte. »Sogar Waschmaschinen gibt es da.«
»Sehr praktisch, dann kann Mami unsere Wäsche mal kurz in die Maschine schmeißen, wenn wir sie dreckig gemacht haben«, erklärte Jockel in Ziskas typischer Tonlage. Nik musste sich das Lachen verkneifen.
»Von wegen, ich habe auch Urlaub«, protestierte Ziska. »Wenn ihr saubere Sachen haben wollt, macht euch eben nicht schmutzig.« Sie grinste die beiden an.
»Genau, schließlich lassen wir die Sanitäranlagen schnell hinter uns, und an Bord reicht das Wasser vermutlich sowieso nicht für große Wäsche«, kam Nik ihr zu Hilfe. »Wie viel Liter haben wir im Tank?«
Robby antwortete wie aus der Pistole geschossen und ging hinüber zum Seekartentisch, wo ziemlich viele Geräte installiert waren. Nik sah mit einem Schlag sehr konzentriert aus.
»Ich vermute, Ankerlichten, Winschen und so weiter läuft alles elektronisch, oder?«, wollte er wissen.
»Elektrisch ist das korrekte Wort«, entgegnete Robby. »Stimmt genau, elektrisches Winschen spart beim Segelsetzen und Dichtholen Kraft. Wenn du mich fragst, fehlt allerdings das Feingefühl, das du hast, wenn du die Tätigkeiten noch per Hand ausführst. Weißt ja, nach fest kommt ab!«
Nik fachsimpelte weiter mit dem Hafenmeister, und Ziska staunte nicht schlecht, wie viele Fragen er stellte und wie mühelos er mit Begriffen jonglierte.
»Da kennt sich aber jemand aus!«, stellte Robby dann auch fest, machte einen Schritt zurück und gewährte Nik Zugang zur Technik. Sofort drängte sich auch Jockel nach vorn. Felix blieb dicht hinter ihm.
»Für euch sind die Knöpfe und Schalter tabu«, stellte Nik entschieden fest. »Hier wird nichts angefasst, auch die Seekarte nicht. Das hier vorne ist mein Arbeitsplatz, okay?«
Die beiden nickten, reckten aber die Hälse. Wenn Niks Ansage sie mal nicht gerade neugierig gemacht hatte.
»Kannte. Ich kannte mich mal ganz gut aus«, nahm Nik den Faden wieder auf. »In den letzten Jahren bin ich so gut wie gar nicht zum Segeln gekommen. Leider.«
»Das ist aber schade.«
»Nicht jeder hat es so gut wie du.« Nik sah ihn an. »Obwohl … Wenn man jeden Tag mit den Kähnen zu tun hat, ist das vermutlich nicht mehr so toll, oder?«
»O doch!« Robby nickte eifrig. »Der ehemalige Hafenmeister musste mal eine Pause machen, da habe ich ihn vertreten. Seitdem ist mein Hobby auch mein Beruf. Ist ’ne längere Geschichte.« Er schien kurz an seine beruflichen Anfänge in Lauterbach zurückzudenken und schüttelte beinahe ungläubig den Kopf. »So, nun habe ich aber genug gesabbelt«, meinte er dann. »Wann wollt ihr rausfahren?«
»Heute wollen wir eigentlich nur eine kleine Tour machen. Zum Eingewöhnen.« Nik sah Ziska an. Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass er sich lieber sofort zum Rund-um-Rügen-Törn aufgemacht hätte. Hoffentlich dachte er nicht daran, den Plan zu ändern.
»Sehr clever«, lobte Robby glücklicherweise. »Die meisten starten gleich volle Kraft voraus. Ist besser, das Boot in Ruhe kennenzulernen.«
»Hast du einen Tipp für uns für eine Schnupperfahrt?« Ziska sah ihn erwartungsvoll an.
»Klar! Seht ihr da drüben die Insel?« Felix und Jockel legten wie auf Kommando beide Fäuste hintereinander und hoben sie vor die Augen, als würden sie durch ein Fernglas spähen. »Das ist Vilm, die gehört zu einem Naturschutzgebiet und seit 1990 zum Biosphärenreservat Südost-Rügen«, erklärte Robby stolz, als wäre es sein Verdienst. »Nachdem viel zu viele Touristen Blumen, Gräser und Flechten platt getrampelt und ihre Namen oder saudumme Sprüche in Baumrinden geritzt haben, wurde die Zahl der Tagesgäste begrenzt. Ihr könnt deshalb nicht an Land gehen.« Jockel und Felix ließen die Hände sinken und guckten enttäuscht aus der Wäsche. Vermutlich hatten sie schon eine Schatzsuche geplant. »Aber drum herum zu segeln, ist kein Problem und mindestens genauso schön. Ihr macht einen Schlag raus auf den Bodden, und dann guckt ihr, was der Wind sagt. Die Aussichten sind heute gut – ideales Segelwetter! Meinetwegen könnt ihr sofort starten, die erste Füllung Diesel ist schon im Tank.«
»Ich dachte, das ist ein Segelboot«, wandte Felix ein.
»Und was macht ihr bei Flaute?« Robby sah ihn an. »Genau, ein dummes Gesicht.« Er lachte. »War nur Spaß, ist ’ne kluge Frage. Ihr habt zur Sicherheit einen Motor an Bord. Manchmal braucht ihr den, zum Beispiel, um aus dem Hafen zu fahren.«
Mit der Erklärung waren beide Zwillinge zufrieden.
»Wie hat das alles ins Auto gepasst?« Ziska konnte nicht fassen, welche Mengen sie auf das Boot geladen hatten. Spielzeug und Schlaftiere waren auf wundersame Weise zuerst eingezogen und verteilten sich auf beide Kajüten sowie den gesamten Salon. Die Kleidung für alle Eventualitäten, von Hochsommer bis zu norddeutschem Schietwetter, war schnell verstaut, die Kombüse mit haltbarem Proviant wie Reis, Nudeln, Fertigsoßen, Gewürzen, Rotwein, Gummibären und Schokolade flink bestückt.
»Ich bringe das Auto weg«, kündigte Nik an, als fast alles an seinem Platz war. »Wehe, ihr legt ohne mich ab!« Er küsste sie und ging von Bord.
Einzelne Sommerwölkchen dekorierten den strahlend blauen Himmel. Es wurde von Minute zu Minute wärmer, die Feuchtigkeit war vom Deck verschwunden. Ziska trat hinter das Steuerrad und ließ ihren Blick über die Marina wandern. Von einem Steg legte gerade eine Jacht ab. Der Mann und die Frau an Bord wirkten wie eine eingespielte Crew. Routiniert erledigten sie alle Handgriffe und glitten kurz darauf aus dem Hafen. Andere Urlauber hatten es sich gerade erst an Deck gemütlich gemacht. Eine junge Frau, nur zwei Boote weiter, cremte sich genüsslich mit Sonnenlotion ein. Der Duft zog zu Ziska herüber und brachte die Erinnerung an frühere Italienurlaube mit. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
»Ziska!«
Sie drehte sich um und entdeckte ihre Freundin, die gerade den Steg entlangspazierte.
»Maren!« Sie ging nach Achtern und breitete ihre Arme aus. »Komm an Bord!«
»Das klingt gut. Aye, aye, Käpt’n! Ich habe Brötchen mitgebracht.« Sie hielt eine prall gefüllte Papiertüte hoch, ehe sie die Stufen heraufkam. Die beiden fielen sich um den Hals. »Noch nicht mal Silvester, und wir sehen uns schon wieder«, scherzte sie.
»Ich darf gar nicht dran denken, dass wir uns vor anderthalb Jahren zuletzt getroffen haben.« Ziska ließ sie los und schüttelte den Kopf.
»Was musst du auch auf eine einsame Insel ziehen? Hamburg war dir wohl nicht langweilig genug.« Typisch Maren, flapsig nach außen, dabei hatte auch sie feuchte Augen.
»Ich freue mich so, dass du da bist!« Ziska drückte sie noch einmal an sich.
»Wo sind deine drei Matrosen?«
»Es sind nur zwei. Die sind unter Deck.« Ziska runzelte die Stirn. »Und gefährlich still. Ich glaube, ich muss gleich mal nach ihnen sehen.« Sie zuckte mit den Schultern und beschloss, sich nicht immer gleich Sorgen zu machen. »Der Kapitän müsste gleich zurück sein, und ich bin hier nur der Smutje.«
»Was heißt hier nur? Gutes Essen ist der halbe Urlaub.«
»Tante Maren!« Jockel steckte den Kopf aus dem Salon, kletterte die Stufen hoch und nahm ihre Hand. »Komm mit, ich zeige dir, wo wir wohnen.«
»Hallo, Kurzer!« Sie kniff ihm in die Wange und freute sich offenbar diebisch über seine Grimasse. »Da bin ich aber gespannt!«
»Du musst dich umdrehen«, kommandierte Jockel, »die Treppen geht man immer rückwärts runter. Hat Robby uns beigebracht.«
»Na, das nenne ich mal Luxus«, hörte Ziska ihre Freundin sagen, während sie selbst ordnungsgemäß die Stufen hinabstieg.
Maren legte die Brötchentüte neben die Spüle, ließ den Blick durch den Salon schweifen und nickte anerkennend. »Funktioniert die Kaffeemaschine schon?«, wollte sie wissen. Jockel zuckte gleichgültig mit den Schultern und dröselte die Brötchentüte auf. Er pulte einen Kürbiskern ab und schob ihn sich in den Mund, ehe er zurück zu seinem Bruder in die Bugkajüte verschwand.
»Probieren wir’s aus.« Ziska bestückte die Maschine mit Filterpapier und goss Wasser in den Tank.
»Viel Raum für Privatsphäre ist hier aber nicht«, flüsterte Maren. »Mein schickes Apartment mit Wohn- und Schlafzimmer hat in dieser Hinsicht eindeutig mehr zu bieten. Schon schade, dass Richard nicht mitgekommen ist.« Ihre Stimme klang plötzlich belegt. »Ist aber besser. Wir können ein bisschen Abstand voneinander brauchen.«
»Als ich diesen Satz das letzte Mal von dir gehört habe, hatte er nichts Gutes zu bedeuten.«
»Keine Sorge, die Affäre mit seiner Kollegin damals ist eine Ausnahme geblieben. Bisher.« Sie lächelte bemüht. »Ich sehe mir mal an, wo die Kurzen schlafen.«
Ziska griff nach ihrem Arm und hielt sie in der Bewegung auf.
»Du kannst mir nichts vormachen, Maren, das weißt du. Was hast du auf dem Herzen?« Sie sah Marens Kehlkopf hüpfen.
»Ich könnte tatsächlich deinen Rat gebrauchen«, gestand Maren leise.
»Tante Maareen«, krähte es da aus der Kinderkajüte.
»Vielleicht haben wir ja später noch Zeit.« Sie berührte kurz Ziskas Hand. »Ich komme!«
»Alles klar. Und jetzt wird erst mal gefrühstückt«, rief Ziska.
»Da komme ich ja genau richtig.« Nik kam leichtfüßig die drei Stufen in den Salon herunter – vorwärts. Gleichzeitig prallte Maren an der Tür zum Reich der Zwillinge gegen Jockel und Felix. Nik sog die Luft hörbar ein und rieb sich die Wade.
»Rückwärtsgehen und festhalten. Hat Robby uns doch beigebracht«, tönte vorwurfsvoll der Zwillingschor.
»Ja, ja, ihr habt ja recht,« musste Nik zugeben. »Leider.«
Beim Frühstück stellte Ziska fest, wie die Spannung immer mehr von ihr abfiel. Obwohl sie noch nicht einmal unterwegs waren, fühlte es sich an, als wären sie schon seit ein paar Tagen im Urlaub. Maren und die Jungen waren auch bester Laune, das war weder zu übersehen noch zu überhören. Nur Nik hatte keine Ruhe. Nach einem Bissen ins Brötchen zog er mit der Kaffeetasse in der Hand zum Kartentisch um.
»Robbys Idee finde ich gut«, verkündete er. »Was meint ihr, wollen wir einmal um Vilm herum segeln?«
Ziska verriet Maren, dass er am liebsten sofort den Inseltörn gestartet hätte.
»Dir zuliebe machen wir heute nur eine Probetour, damit du uns begleiten kannst. Heißt aber auch, dass du mitmusst!« Ziska lachte sie an.
»Klar, wie abgesprochen. Wenn ihr mir garantieren könnt, dass ich heute Abend wieder in meiner Villa bin, komme ich gern mit.«
»Locker! Wir reden hier von etwa vierzehn Seemeilen, das schaffen wir in zwei, drei Stunden.« Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, ging Nik an Deck. Nach einem kurzen Moment kam er wieder herunter – dieses Mal rückwärts –, biss in sein Brötchen und lief erneut nach oben. Das Ganze wiederholte sich mehrere Male.
»Wohnst du bei uns zu Hause?«, fragte Felix Maren unvermittelt.
»Nein, ich habe hier ein Ferienhaus.«
»Aber du hast doch gesagt, dass du heute Abend wieder in der Villa sein willst.«
»Stimmt! Cleveres Kerlchen«, lobte Maren ihn. »In diesem Fall ist es aber nicht die Villa Sanddorn, sondern die Villa Stelzenhaus. Oder so.« Sie grinste.
»Können wir dich da besuchen?« Auf Felix’ Stirn zeigte sich eine tiefe Falte.
»Klar! Wir könnten heute Abend alle bei mir essen«, schlug Maren vor. »Schließlich müssen wir jede Minute auskosten, die wir zusammen haben.«
Ziska nickte. »Sehe ich genauso.«
»Alles vorbereitet, es kann losgehen.« Nik war eben wieder im Salon gelandet und setzte seine Tasse an, um den Rest Kaffee zu trinken, ehe sie in See stachen.
»Nikolas? Seid ihr da?« Eine vertraute Stimme wehte zu ihnen herein, die hier so gar nicht hingehörte.
»Oma Marianne!« Jockel hüpfte fröhlich von der Eckbank.
»Was will meine Mutter denn hier?«, zischte Nik zwischen den Zähnen.
»Uns mit einem weißen Taschentuch hinterherwinken, wenn wir ablegen?« Ziska legte den Kopf schief und bemühte sich um ein Lächeln, obwohl ihr nicht danach zumute war. Irgendwie schwante ihr Böses. Nik stieg erneut die Treppe hoch, Jockel und Felix sausten hinterher. Kein Zweifel, Marianne und ihr Lebensgefährte Pit begrüßten die Zwillinge und verlangten vehement, an Bord gehen zu dürfen. Maren sah Ziska fragend an. Die zuckte mit den Schultern. Im nächsten Moment erschienen auch schon zwei Schuhe mit Absätzen auf den Stufen. Wenigstens keine Stilettos, ging es Ziska durch den Kopf. An Mariannes Handgelenk baumelte eine schicke Tasche. Als Pit in Sicht kam, verschluckte sich Ziska beinahe an ihrem letzten Schluck Kaffee. Er schleppte einen monströsen Koffer mit, den er allem Anschein nach vorwärts in den Salon bugsieren wollte. Das konnte nicht gut gehen, Pit schwankte auch schon gefährlich.
»Das macht Nik gleich«, stellte Marianne fest. »Es reicht, wenn du es unfallfrei hier herunterschaffst.«
Das ließ Pit sich nicht zweimal sagen. Er drehte sich um, stellte das völlig unpassende Gepäckstück ab und kam leise schnaufend unten an.
»Maren, welch eine schöne Überraschung!« Marianne drückte sie an sich.
»Ganz meinerseits«, kam es von Maren zurück. »Du siehst blendend aus.«
»Darf ich dir Pit vorstellen, meine Verjüngungskur?« Pit und Maren schüttelten sich die Hände. Marianne sprach weiter: »Endlich jemand, der unternehmungs- und sogar abenteuerlustig ist.« Sie blinzelte Pit kokett an. »Nicht so wie seine Vorgänger«, wisperte sie. »Kommst du auch mit auf die Rund-um-Rügen-Tour, Maren? Das wusste ich nicht. Freut mich!« Sie strahlte.
»Moment, wieso …?« Weiter kam Ziska nicht. Marianne hatte den kompletten Salon gescannt, und ihr Lächeln war dabei gebröckelt.
»Schön ist der Kahn ja«, kommentierte sie, »aber nicht sehr groß. Wo sind die Kajüten? Geht es dahinten noch weiter?« Sie deutete mit dem Finger in eine Richtung.
»Was du hinten nennst, ist vorne, Mutter«, erklärte Nik ihr. »Im Bug gibt es eine Kajüte, im Heck die zweite. Und dies ist kein Katamaran, der das Gleiche nebenan noch mal zu bieten hat.«
»Das habe ich selbst gesehen. Ich dachte, ihr gönnt euch mal was Großes, ein bisschen Luxus, wenn ihr schon einmal im Leben in den Urlaub fahrt.« Missbilligend zog Marianne die Augenbrauen hoch.
Ziska verstand nicht, was hier los war. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten konnte sie ihre Schwiegermutter inzwischen zwar gut leiden, den Urlaub wollte sie jedoch keinesfalls mit ihr verbringen. Außerdem führte Marianne sich gerade mal wieder auf wie der berühmte Elefant im Porzellanladen, eine Eigenschaft, die Ziska nicht ausstehen konnte. Niks Gesicht, vor fünf Minuten noch voller Vorfreude, wirkte jetzt kantig und regelrecht grau.
»Ich bin nur zu Besuch an Bord«, warf Maren ein, ehe die Stimmung komplett am Nullpunkt landete. »Aber die Proberunde mache ich natürlich mit.«
»Proberunde?« Pit sah Marianne fragend an.
»Ich dachte, wir checken ein, und es geht los«, antwortete sie, an ihren Sohn gewandt. Dann drehte sie sich zu Ziska: »Keine Angst, wir wollen nicht lange bleiben. Wollten nur mal sehen, ob so ein kleiner Kahn auch etwas für uns wäre. Die Dinger gibt es nämlich auch mit Motor und für Doofe.« Sie lachte kurz auf.
»Wir haben auch einen Motor«, erklärte Felix, der mit seinem Bruder in der Nähe der Brötchentüte herumlungerte.
»Ich spreche von Booten, die ausschließlich von einem Motor angetrieben werden«, erwiderte Marianne. »Die kann man ohne Führerschein mieten.« Sie verlor scheinbar kurz den Faden. Wie gut, dass auf engem Raum nichts wegkam. »Ihr braucht auch schließlich mal Zeit für euch, stimmt’s?«, beendete sie ihre Ausführungen.
»Das war die Idee«, murmelte Ziska. Was mochte bei Marianne nicht lange bedeuten? Wie kam sie überhaupt auf den Trichter, dass sie sie mitnehmen würden?
»Hätten wir gewusst, dass ihr mitsegeln wollt, hätten wir selbstverständlich eine Zwölf-Personen-Jacht gebucht«, knurrte Nik. Ironie stand ihm nicht gut, fand Ziska. Die Retourkutsche folgte sofort.
»Vielleicht liest du deine Nachrichten mal vollständig und merkst dir deren Inhalt, mein Sohn. Selbstverständlich haben wir uns angekündigt.« Mariannes Augenbrauen schnellten in die Höhe. Nik zog sein Handy hervor.
»Habt ihr nicht, das wüsste ich«, gab er zurück und drückte und wischte auf dem Bildschirm herum. Dann flogen seine Augen über die Zeilen. Er warf Ziska einen kurzen Blick zu, ehe er kleinlaut sagte: »Habe ich wohl tatsächlich nicht gründlich gelesen.«
»Aber wenn’s heute noch gar nicht losgeht …« Marianne guckte leicht genervt in die Runde, hatte die Situation aber gleich wieder im Griff. »Den Koffer lassen wir hier und kommen morgen wieder«, ließ sie ihren Sohn wissen, verabschiedete sich und stapfte auch schon die Stufen hinauf, Pit im Gefolge.
Ziska war beeindruckt, wie sicher Nik das Boot vom Steg auf den Bodden hinaus brachte. Jockel und Felix hatten unbedingt helfen wollen, doch der Kapitän hatte angeordnet, sich beim ersten Törn hinzusetzen, damit sie sich an das Schaukeln gewöhnen konnten. Ziska musste nur die Fender über die Reling an Deck ziehen, Maren assistierte beim Segelsetzen. Kaum hatten sie die Mole hinter sich gelassen, stellte Nik den Motor ab, und sie glitten im schwachen Wind dahin. Das Wasser schlug mit dezentem Glucksen gegen den Rumpf, es rauschte leise in den Segeln, ein paar Möwen schrien und drehten ihre Runden um den Mast. Der Druck und die Last des Alltags lagen hinter ihr, Ziska fühlte sich federleicht. Noch auf der Fahrt nach Lauterbach hatte sie daran gezweifelt, dass eine Segeltour das Richtige zum Abschalten war. Aber wie hieß es so schön? Durch Ausprobieren den Zweifel besiegen. Das predigte sie gern ihren Klienten, jetzt tat sie es endlich selbst. Sie hätte in diesem Augenblick zutiefst zufrieden sein können, würde sie nicht ständig an die Ankündigung ihrer Schwiegermutter denken, morgen zurückzukommen und für mindestens eine Etappe an Bord zu bleiben. Am liebsten hätte Ziska sofort mit Nik darüber gesprochen, doch es hatte sich keine Gelegenheit ergeben, und sie wollte weder Maren noch den Zwillingen den Ausflug verderben. Sie sah nach den beiden und musste lächeln. Felix und Jockel saßen in ihren Schwimmwesten still nebeneinander.
»Land in Sicht«, krähte Jockel, als käme Vilm jetzt erst in den Blick und wäre das erste Zeichen von Zivilisation nach einer Atlantiküberquerung. Mit einem Satz war er von der Bank gesprungen. So viel zum Stillsitzen. »Ich brauche ganz dringend ein Fernglas!«, verlangte er. Felix war in der nächsten Sekunde ebenfalls auf den Beinen.
»Ich auch«, meinte er. War ja klar.
»Wir haben nur eins«, entgegnete Nik und erklärte ihnen, wo es zu finden war. Die beiden sausten los und waren sofort wieder da. Ziska seufzte. Es kam, wie es kommen musste. Kaum hatte der eine das Fernglas vor den Augen, wollte der andere es haben.
»Jetzt bin ich dran!«
»Gleich.«
»Ach Menno, du hast es schon ganz lange.«
»Na gut.«
Selbst Maren atmete hörbar auf.
»So, jetzt kriege ich es aber wieder!«
»Ich glaube, ich bitte Robby um ein zweites«, flüsterte Nik, beinahe ohne die Lippen zu bewegen.
»Wir hätten drei mitnehmen sollen«, meldete sich Maren zu Wort und zeigte auf das lang gezogene grüne Eiland. »Sieht tatsächlich aus wie ein Wald mitten im Wasser. Das würde ich mir auch gern aus der Nähe angucken.«
»Tja, da kannst du mal sehen, was es hier alles zu entdecken gibt.« Ziska grinste breit. »Ich erinnere mich noch, wie du mich vor der Langeweile gewarnt hast, die mich auf Rügen erwartet.« Sie knuffte Maren freundschaftlich gegen den Arm.
»Nun gib mal nicht so an, das ist ja nicht mal Rügen, sondern …« Sie musste überlegen. »Wie heißt das Ding?«
»Das Ding heißt Vilm«, antwortete Nik. »Die hohen Tiere der DDR hatten da ihre Gästehäuser. Die wussten, wo es sich gut aushalten lässt. Gib mir bitte mal das Fernglas, Felix!« Er streckte dem Junior eine Hand entgegen, Felix drückte das Glas sofort hinein. »Ich glaube, das Ausflugsschiff hat gerade angelegt. Da latscht ein Pulk Menschen in den Urwald.«
»So einer wie im Dschungelbuch?«, wollte Jockel erstaunt wissen.
»Logisch!« Nik ging breitbeinig in die Knie und kratzte sich unter den Achseln. Dazu gab er die passenden Geräusche von sich.
»Boah!« Beide Jungs reckten die Hälse und traten so nah an die Reling wie nur möglich.
»Lasst euch von eurem Affen … äh, Vater keinen Bären aufbinden«, sagte Ziska.
»Ich gebe es ja zu, ein Dschungel ist es nicht.« Nik hob den Zeigefinger. »Aber einen Urwald gibt es da drüben sehr wohl. Im wahrsten Sinne des Wortes. Der ist nämlich uralt, rund fünfhundert Jahre.«
»Ist nicht dein Ernst.« Maren suchte in seiner Miene nach Anzeichen, dass er wieder nur Quatsch machte.
»Ich schwöre. Es ist einer der ältesten Wälder Deutschlands.« Sein Blick blieb auf dem Inselchen hängen. »Als ich Naturführer für den Nationalpark war, habe ich mich intensiv damit beschäftigt. Auf Vilm leben Pflanzen, Insekten und Tiere, die es sonst kaum noch irgendwo gibt.«
Gerade noch dozierte er mit einer ansteckenden Begeisterung, im nächsten Moment verstummte er. Ziska fiel auf, wie ernst Nik mit einem Mal aussah. Ob er in Gedanken wieder bei seinem Sanddorn war und bereute, die Plantage aufgebaut zu haben, statt Nationalpark-Ranger zu bleiben? Sie trat zu ihm.
»Alles klar, Herr Kapitän?«, fragte sie leise. Ihre Hand hatte sie zum Schutz vor der Sonne über die Augen gelegt.
»Alles klar. Ich habe nur auf der Karte gesehen, dass es hier teilweise ziemlich flach ist. Ich konzentriere mich also lieber, damit ich uns nicht gleich bei der ersten Tour auf Grund setze.«
Ziska fiel ein Stein vom Herzen.
»Untersteh dich!« Maren streckte sich auf dem Polster aus, das auf der hölzernen Bank lag. »Ich möchte heute Abend mit einem schönen Glas Wein mit euch in meiner Wohnung auf einem gemütlichen Sofa sitzen und nicht auf einer Sandbank.«