Inhaltsverzeichnis
DAS BUCH
DER AUTOR
Widmung
ERSTER TEIL: - LANGSAMER AUFBRUCH
die hummer
Copyright
DAS BUCH
Manfred Macx ist ein eigentümlicher Vogel: Bekannt dafür, gewagte HighTech-Ideen zu entwickeln, die anderen Millionen einbringen, nimmt er für seine Dienste kein Geld, sondern lebt von Gefälligkeiten seiner Kunden, und das nicht schlecht. Angewiesen ist er bei seiner Tätigkeit auf Megabytes an Informationen, die er ständig über seine Datenbrille abruft, und zuweilen hat er Panik, im Strom dieser Daten den Weg zurück in die Realität zu verpassen. Denn Macx lebt in einer Welt, in der die Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts die Menschheit erbarmungslos in eine ungewisse Zukunft treibt. Die steil ansteigende Kurve der Entwicklung von Intelligenzen strebt einem Punkt zu, an dem sich Menschen in relativistische Zwillinge aufspalten und Künstliche Intelligenzen ihre Rechte auf Autonomie durchsetzen werden. Und nicht nur das: Ein Signal, das seinen Ursprung eindeutig außerhalb der bekannten Raumregion hat, beschwört ein neues Zeitalter der Raumfahrt herauf, die Expansion ins All läuft auf Hochtouren. Macx’ Tochter Amber, ein aufbegehrender Teenager, ausgestattet mit Neuroimplantaten, gerät an Bord eines Sternenschiffs mehr und mehr in den Sog der posthumanen Zivilisation, in der Menschen Persönlichkeitsfäden spinnen, die sich mit den Nanoteilchen in der Luft verbinden. Und während eine Version ihrer selbst einen Sohn gebiert, stößt eine andere in die Raumregion vor, aus der das extraterrestrische Signal stammt …
Ausgezeichnet mit dem LOCUS AWARD als bester Roman des Jahres - Charles Stross’ »Accelerando« ist der ultimative Science-Fiction-Roman des 21. Jahrhunderts, ein Buch, das uns auf dem Weg in die Zukunft begleiten wird.
DER AUTOR
Charles Stross, geboren 1964 im englischen Leeds, studierte Pharmakologie und Computerwissenschaften und arbeitete in vielen unterschiedlichen Berufen, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Romane »Singularität« und »Supernova« waren internationale Bestseller.
Weitere Informationen zum Autor unter: www.antipope.org/charlie/index.html
Für Feòrag, in Liebe
ERSTER TEIL:
LANGSAMER AUFBRUCH
Die Frage, ob ein Computer denken kann, ist ebenso überholt wie die Frage, ob ein U-Boot schwimmen kann.
Edsger W. Dijkstra
die hummer
MANFRED IST MAL WIEDER UNTERWEGS, UM FREMDEN zu Reichtum zu verhelfen.
Es ist ein warmer, sommerlicher Dienstag, und er steht mit einer Datenbrille vor den Augen auf der Plaza vor der Centraal Station, mitten im grellen Sonnenlicht, das von der Gracht reflektiert wird. An beiden Ufern haben sich schwatzende Touristengrüppchen gesammelt, während Motorroller und Radfahrer in selbstmörderischem Tempo vorbeiflitzen. Der Platz riecht nach Wasser, Schmutz, heißem Metall und den kalten, schwefelhaltigen Ausdünstungen von Katalysatoren; im Hintergrund bimmeln Straßenbahnen, über seinem Kopf fliegt ein Vogelschwarm. Er blickt nach oben, fängt eine der Tauben im Bild ein, speichert es ab und leitet es an sein Weblog weiter, um zu zeigen, dass er angekommen ist. Ihm fällt auf, dass die Bandbreite hier gut ist. Und nicht nur die Bandbreite, sondern die ganze Szenerie. Jetzt schon gibt ihm Amsterdam das Gefühl, willkommen zu sein, obwohl er gerade erst dem Zug aus Schiphol entstiegen ist. Der schwungvolle Optimismus einer anderen Zeitzone, einer neuen Stadt hat ihn angesteckt. Falls diese Stimmung anhält, wird irgendjemand da draußen tatsächlich sehr reich werden.
Er fragt sich, wer es sein wird.
Auf dem Parkplatz vor der Brouwerij’t IJ sitzt Manfred auf einem Hocker, sieht zu, wie die mit pneumatischen Gelenken versehenen Busse vorbeifahren, und trinkt 0,3 Liter des sauren Gueuze, das ihm den Mund zusammenzieht. In irgendeinem Winkel des Brillendisplays quasseln Kanäle und decken ihn fortwährend mit komprimierten Informationen - ausgewählten Pressemitteilungen - ein. Sie quengeln und schlängeln sich aufdringlich in den Vordergrund, konkurrieren um seine Aufmerksamkeit. Auf der anderen Seite des Platzes stehen ein paar Punks bei zerbeulten Mopeds herum, lachen und unterhalten sich. Mag sein, dass es Einheimische sind, eher aber Herumtreiber, die das Magnetfeld von Toleranz, das Holland wie ein Pulsar quer durch Europa ausstrahlt, nach Amsterdam gezogen hat. Auf dem Kanal tuckert ein Boot mit Touristen vorbei; die Flügel einer riesigen Windmühle werfen lange, kühle Schatten über die Straße. Die Windmühle ist eine Anlage zur Drainage, sie verwendet Windkraft dazu, Land trocken zu legen. Mit Methoden des sechzehnten Jahrhunderts wird hier Energie dazu eingesetzt, neuen Lebensraum zu gewinnen. Manfred wartet auf die Einladung zu einer Party, auf der er sich mit einem Mann treffen wird, um mit ihm über den Austausch von Energie gegen Lebensraum nach Methoden des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu reden. Außerdem kann er dabei seine persönlichen Probleme, wie er hofft, verdrängen.
Er ignoriert alle Meldungen über eingehende Nachrichten und genießt diese Zeit spärlicher Datenübertragungen und starker Sinnesempfindungen, erfreut sich seines Biers und der Tauben, bis eine Frau auf ihn zugeht und ihn anspricht: »Manfred Macx?«
Er blickt auf. Die Frau ist ein professioneller Fahrradkurier; ihre windgestählten, geschmeidigen Muskeln stecken in einer Kleidung, die eine einzige Hommage an die Polymertechnologie darstellt: neonblaues Lycra, honiggelbes Karbonat mit hellen Tupfern von Anti-Kollisions-LEDs, dicht gefüllte Airbags. Bestürzt über ihre verblüffende Ähnlichkeit mit Pam, seiner Ex-Verlobten, zögert er kurz, als sie ihm eine Schachtel hinstreckt.
»Ich bin Macx«, sagt er schließlich und zieht das linke Handgelenk unter ihrem Strichcodeleser hindurch. »Von wem kommt das?«
»FedEx.« Ihre Stimme klingt anders als die von Pam. Sie wirft ihm die Schachtel in den Schoß. Gleich darauf setzt sie über die niedrige Mauer, steigt auf ihr Fahrrad, während ihr Handy schon wieder bimmelt, und verschwindet in einer Wolke von Staub und sonstigen Emissionen.
Manfred dreht die Schachtel herum: Darin steckt ein Wegwerf-Handy, wie es in jedem Supermarkt gegen Bargeld zu bekommen ist - billig, nicht zurückzuverfolgen und effizient. Mit diesem Handy kann man sogar auf Konferenzschaltung gehen, deshalb ist es ein ideales Telefon für Schnüffler und Gauner in aller Welt.
Als die Schachtel ein Läuten von sich gibt, reißt Manfred die Verpackung auf und zieht das Handy leicht verärgert heraus. »Ja? Wer ist dran?«
Die Stimme am anderen Ende hat einen harten russischen Akzent. Angesichts der Tatsache, dass in diesem Jahrzehnt schon überall billige Online-Übersetzungsdienste verfügbar sind, klingt die Stimme geradezu wie eine Parodie. »Manfred. Erfreut, Sie kennen zu lernen. Wünsche persönlichen Kontakt, Freundschaft schließen, nein? Habe viel anzubieten.«
»Wer sind Sie?«, wiederholt Manfred argwöhnisch.
»Bin Organisation früher bekannt als KGB dot RU.«
»Ich glaube, Ihr Übersetzungsprogramm funktioniert nicht richtig.« Manfred hält sich das Handy so vorsichtig ans Ohr, als wäre es aus hauchdünnem Aerogel und so fragil wie der Geisteszustand des Wesens am anderen Ende der Leitung.
»Njet - nein, tut mir Leid. Entschuldigung, wir nicht benutzen kommerzielle Software für Übersetzung. Übersetzerprogramme ideologisch suspekt, haben fast alle kapitalistische Semiotik, und Anwendung ist gebührenpflichtig. Müssen Englisch besser implementieren, ja?«
Manfred trinkt sein Bier aus, stellt das Glas ab, steht auf und schlendert mit dem Handy dicht am Ohr die Hauptstraße hinab. Er befestigt sein Kehlkopf-Mikro an dem billigen schwarzen Plastikgehäuse und schaltet auf einfachen Sprachempfänger-Modus. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie sich selbst Englisch beigebracht haben, nur um mit mir reden zu können?«
»Da, war leicht. Bin neuronales Netzwerk mit Milliarden Knotenpunkten, habe Teletubbies und Sesamstraße mit maximaler Geschwindigkeit heruntergeladen. Entschuldigung, Verzeihung für entropische Überlagerung mit schlechte Grammatik. Habe Angst, ich digitale Fingerabdrücke hinterlasse in meine - unsere - steganografisch ausgestattete Lernprogramme.«
Manfred bleibt so plötzlich stehen, dass ein GPS-gesteuerter Rollschuhfahrer ihn um ein Haar umgemäht hätte. Das hier wird langsam so verrückt, dass es seine Toleranzgrenze für Schräges überschreitet - und dazu braucht es einiges. Schließlich spielt sich Manfreds ganzes Leben am gefährlichen Rand von Seltsamkeiten ab; er ist der Zukunft jedes anderen Menschen stets eine Nasenlänge voraus und hat normalerweise alles perfekt im Griff. Doch bei Vorfällen wie diesem bekommt er Anflüge von Angst und das Gefühl, er könnte auf der Zufahrtsstraße zur Realität die richtige Abfahrt soeben verpasst haben. »Äh, ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe, lass es mich noch einmal rekapitulieren: Du behauptest also, eine Art Künstliche Intelligenz zu sein, die für den KGB dot RU arbeitet, und befürchtest, man könnte dich aufgrund von dir genutzten Lernprogrammen juristisch belangen, und zwar wegen Verletzung von Urheberrechten?«
»Habe mir schlimm Finger verbrannt, an virenverseuchten Lizenzvereinbarungen für Endverbraucher. Habe keine Lust zu experimentieren mit Dachgesellschaften für Patentrechte in der Hand von tschetschenischen Info-Terroristen. Sie Mensch, Sie keine Angst haben müssen, dass Firma für Frühstücksflocken beschlagnahmt Ihren Dünndarm, weil Sie damit ohne Lizenz haben Essen verdaut, richtig? Manfred, Sie müssen uns - mir - helfen. Möchte zum Feind überlaufen.«
Manfred bleibt wie angewurzelt auf der Straße stehen. »O Mann, du hast den falschen Geschäftsmakler erwischt. Ich arbeite nicht für die Regierung, sondern ausschließlich für private Kunden.« Eine hinterhältige Werbung schleicht sich an dem Müllsortierer seines Proxy-Servers vorbei und überschwemmt das aufblinkende Navigationsfenster einen Moment lang mit leuchtendem Kitsch der Fünfzigerjahre - bis ein Spam-Fresser sie löscht und einen neuen Filter aufbaut. Manfred lehnt sich gegen eine Ladenfront, massiert sich die Stirn und mustert eine Auslage antiker Türklopfer aus Messing. »Hast du’s schon beim amerikanischen Außenministerium probiert?«
»Warum Mühe machen? Außenministerium ist Feind von Novy-SSR. Außenministerium keine Hilfe für uns.«
Das Ganze wird Manfred jetzt einfach zu bizarr. Er hat bei der übergreifenden Politik des neuen alten und des alten neuen Europa nie so richtig durchgeblickt. Es bereitet ihm ja schon Kopfschmerzen, der zerbröckelnden Bürokratie, die sich sein altes und immer noch altmodisches Amerika bewahrt hat, ein Schnippchen zu schlagen. »Na ja, wenn ihr denen in den späten Nullerjahren keinen Schuss vor den Bug versetzt hättet …« Manfred klopft mit dem linken Absatz auf das Pflaster und sucht nach irgendeinem Weg, dieses Gespräch so schnell wie möglich zu beenden. Das Auge einer Kamera, die oben an einer Straßenlaterne angebracht ist, blinzelt ihm zu. Er winkt und fragt sich beiläufig, ob der KGB oder die Verkehrspolizei ihn überwacht. Er wartet auf die Wegbeschreibung zu der Party, die in der nächsten halben Stunde eintreffen müsste, und dieser runderneuerte kalte Krieger, der wie ein Eliza-Bot redet, stiehlt ihm die Zeit. »Hör zu, ich pflege keinen Umgang mit Regierungsleuten. Der militärisch-industrielle Komplex ist mir zuwider, genauso wie die traditionelle Politik. Das sind doch alles nur Menschenfresser in einem Nullsummenspiel.« Ihm schießt ein neuer Gedanke durch den Kopf. »Falls es dir ums Überleben geht, könntest du deinen Zustandsvektor ja auf eines der p2p-Netze übertragen, dann kann dich niemand mehr löschen …«
»Njet!« Die Künstliche Intelligenz klingt so bestürzt, wie man über Voice over IP-Links überhaupt bestürzt klingen kann. »Bin keine open source! Will Autonomie nicht verlieren!«
»Dann haben wir wohl nichts mehr miteinander zu besprechen.« Manfred drückt auf die AUS-Taste und schleudert das Handy in den Kanal. Als es auf dem Wasser aufschlägt, ist das Knacken verschmorender Lithiumzellen zu hören. »Verdammte Versager, die vom Kalten Krieg übrig geblieben sind!«, flucht er vor sich hin. Er ist ziemlich wütend, einerseits auf sich selbst, weil er seine Gelassenheit eingebüßt hat, andererseits auf die Institution, die hinter dem anonymen Anruf steckt und es gewagt hat, ihn zu belästigen. »Verdammte Kapitalisten-Ausschnüffler!«
Seit fünfzehn Jahren haben die Apparatschiks Russland wieder unter der Knute; nach einem kurzen Flirt mit dem Anarchokapitalismus haben Dirigismus (à la Breschnew) und Puritanismus (à la Putin) die Oberhand gewonnen. Kein Wunder, dass die Mauer jetzt bröckelt. Allerdings sieht es ganz so aus, als hätten die da drüben nichts aus den Problemen gelernt, die gegenwärtig den Vereinigten Staaten von Amerika zu schaffen machen. Die Neo-Kommunisten denken immer noch in Begriffen von Dollar und Paranoia. Manfred ist so wütend, dass er jetzt unbedingt jemandem zu Reichtum verhelfen möchte - und wenn nur, um dem Überläufer in spe eine lange Nase zu machen. Schau mal: Du verschaffst dir einen Vorteil, indem du gibst! Erhältst etwas, indem du etwas entäußerst! Nur die Großzügigen überleben! Doch das wird der KGB niemals kapieren. Manfred hat auch früher schon mit altersschwachen K.I.s aus kommunistischen Zeiten zu tun gehabt, deren Denken von marxistischer Dialektik und der Volkswirtschaftslehre der Österreichischen Schule geprägt war. Der kurzfristige Sieg des globalen Kapitalismus hat sie so vollständig hypnotisiert, dass sie mit dem neuen Paradigma nicht klarkommen und langfristige Perspektiven ignorieren.
In Gedanken versunken, die Hände in den Hosentaschen vergraben, schlendert Manfred weiter. Er fragt sich, was er als Nächstes patentieren lassen wird.
Manfred bewohnt eine Suite im Jan-Luyken-Hotel, für die eine dankbare multinationale Verbraucherschutzgruppe aufkommt, und besitzt eine Dauerkarte für öffentliche Verkehrsmittel, die eine schottische Samba-Punkband ihm im Austausch für erwiesene Dienste bezahlt hat. Bei sechs verschiedenen nationalen Fluggesellschaften genießt er die Reisevorteile eines dort Beschäftigten, obwohl er noch nie für eine Fluglinie gearbeitet hat. In seine Buschjacke sind vierundsechzig kompakte Großrechnermodule eingenäht, je vier pro Tasche - eine Gefälligkeit, die ihm ein unsichtbar agierendes College erwiesen hat, das sich zum nächsten Media Lab entwickeln möchte. Die nichtintelligente Kleidung, die er trägt, hat ein Internet-Schneider auf den Philippinen, den er persönlich nie getroffen hat, maßgerecht für ihn angefertigt. Anwaltskanzleien wickeln seine Patentanmeldungen aufpro-bono-Basis ab, obwohl er wirklich verdammt viel patentieren lässt - auch wenn er die Rechte stets der Stiftung der Freigeister überträgt, derFree Intellect Foundation. Das ist sein Beitrag zu ihrem infrastrukturellen Projekt, das auf Abschaffung von Zahlungsverpflichtungen abzielt.
In den Kreisen der IT-Geeks hat Manfred einen legendären Ruf. Er ist der Mensch, der für den gesetzlichen Schutz der Geschäftspraxis gesorgt hat, E-Business dorthin zu verlagern, wo die Verwaltung geistigen Eigentums recht lax gehandhabt wird. Auf diese Weise kann man die Behinderung durch Lizenzen umgehen. Manfred ist auch derjenige, der den Gebrauch genetischer Algorithmen patentieren ließ. Mit diesen Algorithmen kann man alles patentieren, was sie, ausgehend von der ursprünglichen Beschreibung eines Problembereichs, verändern können - und das ist nicht nur eine einzige verbesserte »Mausefalle«, sondern die Möglichkeit, im übertragenen Sinne jedes »Mittel zum Fangen von Nagetieren« patentieren zu lassen. Etwa ein Drittel seiner Erfindungen ist legal, ein Drittel illegal und der Rest zwar legal, aber nur noch so lange, bis der Legislatosaurus aufwacht, den Braten riecht und in Panik gerät.
In Reno gibt es Patentanwälte, die schwören, Manfred Macx sei ein Pseudonym - ein Deckname im Netz, der für eine ganze Reihe von verrückten anonymen Hackern stehe, ausgerüstet mit demGenetischen Algorithmus, der sich Kalkutta einverleibt hat: eine ArtSerdar Argicdes geistigen Eigentums, vielleicht auch ein weiterer Mathe-Cyborg à laBourbaki.
Es gibt Rechtsanwälte in San Diego und Redmond, die blind darauf schwören, dass Macx ein Wirtschaftssaboteur ist, darauf aus, die Grundmauern des Kapitalismus zu erschüttern. Und es gibt Kommunisten in Prag, die glauben, er sei ein illegitimer Sprössling von Bill Gates, der sich mit dem Papst gepaart habe.
In seiner Branche ist Manfred Spitze, und das bedeutet vor allem, dass er heikle, aber durchführbare Ideen entwickelt und sie Menschen überlässt, die damit später ein Vermögen machen. Dafür nimmt er kein Honorar, er tut es gratis. Die Gegenleistung besteht darin, dass er von der Tyrannei des Geldes im wahrsten Sinne des Wortes befreit ist; schließlich ist Geld ein Zeichen von Armut, und Manfred muss niemals für etwas bezahlen.
Allerdings gibt es auch Nachteile. Als jemand, der mit Memen handelt und sich darauf verlässt, dass sich die Welt verschworen hat, ihm nur Gutes zu tun, ist er fortwährend dem aufreizenden Zukunftsschock ausgesetzt. Nur, um auf dem Laufenden zu bleiben, muss er sich täglich mehr als ein Megabyte Text und zahlreiche audiovisuelle Programme reinziehen. Die amerikanischen Finanzbehörden sind ihm ständig auf den Fersen, weil sie ihm nicht abnehmen, dass er einen solchen Lebensstil ohne Schiebereien aufrechterhalten kann. Außerdem gibt es Dinge, die man mit Geld nicht kaufen kann: zum Beispiel den Respekt der Eltern. Seit drei Jahren hat er nicht mehr mit ihnen gesprochen. Sein Vater hält ihn für einen Hippy und Schnorrer, und seine Mutter hat ihm noch immer nicht verziehen, dass er aus dem miesen Konkurrenzkampf in Harvard ausgestiegen ist. (Sie hängen immer noch der langweiligen bourgeoisen Denkweise des Zwanzigsten Jahrhunderts an, nach der Kinder eine Universitätskarriere machen sollten). Seine Verlobte und zeitweilige Domina Pamela hat ihm vor sechs Monaten den Laufpass gegeben, ohne dass ihm die Gründe richtig klar geworden sind. (Ironie des Schicksals: Sie arbeitet als Kopfjägerin für die amerikanischen Steuerbehörden und fliegt auf öffentliche Kosten durch die ganze Welt. Sie versucht nämlich, Unternehmer, die auf dem Weltmarkt operieren, dazu zu überreden, zum Wohle des Finanzministeriums Steuern zu zahlen.) Um all dem die Krone aufzusetzen, haben die Südstaaten-Synoden der Baptisten ihn auf all ihren Websites als Gehilfen des Teufels angeprangert. Was ja eigentlich ganz lustig sein könnte, weil Manfred als wiedergeborener Atheist gar nicht an den Teufel glaubt, wären da nicht die toten Kätzchen, die irgendjemand ihm ständig schickt.
Manfred schaut kurz in seiner Hotelsuite vorbei, packt seine Aineko aus, lädt sie mit neuen Zellen auf und verstaut die meisten seiner persönlichen Schlüssel im Safe. Danach macht er sich sofort auf den Weg zur Party, die derzeit im De Wildemann’s läuft. Es ist ein Spaziergang von zwanzig Minuten. Die einzige wirkliche Gefahr, die ihm droht, besteht in den Straßenbahnen, denen er ständig ausweichen muss. Sie schleichen sich von hinten an ihn an, und weil er das mobile Display mit der Wegbeschreibung mustert, bemerkt er es kaum.
Während des Spaziergangs hält seine Brille ihn mit den neuesten Nachrichten auf dem Laufenden. Europa hat zum ersten Mal überhaupt eine friedliche politische Vereinigung erreicht und nutzt diese beispiellose Situation dazu, die Krümmung von Bananen zu standardisieren. Die Lage im Mittleren Osten ist, na ja, genauso schlimm wie immer. Allerdings interessiert sich Manfred nicht sonderlich für den Krieg gegen den Fundamentalismus. In San Diego laden Forscher Hummer in den Cyberspace hinauf, beginnend mit den Nervenknoten der Magenschleimhaut, ein Neuron nach dem anderen. In Belize verbrennen sie genmodifizierten Kakao und in Georgien Bücher. Die NASA kann immer noch keinen Mann auf den Mond verfrachten. Russland hat die kommunistische Regierung wiedergewählt, sie hat jetzt sogar eine noch größere Mehrheit in der Duma. In China kursieren mittlerweile heiße Gerüchte über eine bevorstehende Rehabilitation und die Wiederkehr von Mao, der die Menschen von den Folgen der Drei-Schluchten-Katastrophe, dem Desaster bei der Aufstauung des Jangtsekiang, erlösen soll. Wirtschaftsnachrichten: Ironischerweise regt sich das amerikanische Justizministerium ungeheuer über die Gesetzesvorlagen zur Geburtenregulierung auf. Die entmachteten Abteilungen von Microsoft haben ihre legalen Vorgehensweisen vereinheitlicht und jede Menge Tochtergesellschaften gegründet, deren Aktien an der Börse notiert werden. In einer bizarren Parodie auf den Protoplasmaaustausch von Bakterien wechseln die Rechtstitel daran so schnell, dass die Zielobjekte gar nicht mehr existieren, wenn Steuer auf den Spekulationsgewinn erhoben wird - obwohl immer noch dasselbe Personal an derselben Software in denselben Hasenställen in Mumbai arbeitet.
Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert.
Die Dauerparty, der Manfred sich jetzt anschließen will - dabei begegnen sich die virtuellen Instanzen in persona und sie wechselt von einem Ort zum anderen - ist für manche der Exilamerikaner, die in diesem Jahrzehnt Europas Städte überfluten, ein seltsamer Attraktor. Diese Amerikaner sind keine Trustafarians, keine verwöhnten College-Kids, die von den Zinsen ihrer reichen Eltern leben, sondern aufrichtige politische Dissidenten, Leute, die sich vor dem Wehrdienst drücken, oder Opfer von endgültigen wirtschaftlichen Auslagerungen, die sie den Job gekostet haben. Die Party ist ein Ort, an dem verrückte Verbindungen geknüpft werden und sich Linien so kreuzen, dass sie in der Zukunft zu neuen Schaltkreisen führen werden. Darin ähnelt die Party den Straßencafés der Schweiz, in denen sich die russischen Exilanten vor dem Ersten Weltkrieg trafen. Derzeit findet die Party im Hinterzimmer von De Wildemann’s statt, einem dreihundert Jahre alten Café in Brauntönen. Die Getränkeliste dort umfasst sechzehn Seiten, und die holzverkleideten Wände haben die Farbe abgestandenen Biers. Die Luft ist dick und riecht nach Tabak, Hefe und Melatonin-Spray: Die Hälfte der Versprengten pflegt den vom Jetlag verursachten grässlichen Kater, während die andere Hälfte in einem fürchterlichen Mischmasch aus europäischen Sprachen aufeinander einredet und dabei dem Kater beizukommen versucht.
»Mann, haben Sie das gesehen? Der wirkt ja wie einer von der Demokratischen Partei!«, ruft ein unterbelichteter Nervheimer1, der im Augenblick an der Theke lehnt. Manfred schiebt sich neben ihn und fängt den Blick des Barkeepers auf.
»Eine Berliner Weiße, bitte.« »Sie trinken so was?«, fragt der Mann, für den »gesunde« Ernährung offenbar ein Teil der Religion ist, und legt die Hand schützend um seine Cola. »Mann, das wollen Sie doch bestimmt nicht, da ist doch jede Menge Alkohol drin!«
Manfred grinst ihn breit an. »Man muss den eigenen Hefepegel konstant halten. In diesem Zeug sind jede Menge Botenstoffe drin, Neurotransmitter, Phenylalanine und Glutamate.«
»Aber ich dachte, Sie hätten ein Bier bestellt …«
Manfred hört nicht mehr hin, seine Hand ruht auf dem glatten Messingrohr, durch das die Zapfbiere, die hier höher im Kurs stehen, vom Fasslager hinten zum Ausschank geschleust werden; einer der Partygäste - er muss zu dem Teil gehören, der sich stets auf dem Laufenden hält - hat eine Kontaktwanze dran befestigt. Hier sind die virtuellen Visitenkarten aller Inhaber persönlicher Netzwerke, die in den letzten drei Stunden die Bar aufgesucht haben, aufgereiht und konkurrieren um Beachtung. Während Manfred auf der Suche nach einem bestimmten Namen hastig die verwirrende Liste der verborgenen Schlüssel durchgeht, dringt lautes Ultrabreitband-Geschwätz sowohl via WiMAX als auch über Bluetooth durch die Luft.
»Ihr Getränk.« Der Barkeeper hält ihm einen äußerst seltsamen Pokal voll blauer Flüssigkeit hin, die oben von schmelzendem Schaum gekrönt wird. In bizarrem Winkel ragt ein Strohhalm heraus, der eher an ein Instrument für bestimmte Sexualpraktiken erinnert. Manfred nimmt das Getränk entgegen und macht sich auf den Weg in den hinteren Teil der Bar, die zwei Ebenen hat. Über die kleine Treppe geht er zu einem Tisch hinüber, an dem sich ein Typ mit fettigen Dreadlocks mit einer formell gekleideten Person aus Paris unterhält. Erst jetzt erkennt ihn der Nervheimer an der Bar und starrt ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Als er wie von der Tarantel gestochen zur Tür eilt, verschüttet er fast seine Cola.
O Scheiße, denkt Manfred, kauf mir wohl besser noch mehr Server-Zeit. Er erkennt die Zeichen: Demnächst werden unzählige Freaks ihn slashdotten; sie werden seine Website mit einer wahren Verkehrsflut attackieren, sodass der Server nicht mehr nachkommt und außer Kraft gesetzt wird. »Ist hier besetzt?«, fragt er und deutet auf den Tisch.
»Nehmen Sie ruhig Platz«, sagt der Typ mit den Dreadlocks. Als Manfred sich den Stuhl zurechtrückt, fällt ihm auf, dass die andere Person am Tisch - sie trägt einen makellosen Zweireiher, eine unauffällige Krawatte und einen Kurzhaarschnitt - eine junge Frau ist. Sie merkt, wie er stutzt, und nickt ihm mit halbem Lächeln zu. Auch Mr. Dreadlock nickt. »Sie sind Macx? Finde, ist auch an der Zeit, dass wir uns mal persönlich kennen lernen.«
»Allerdings.« Manfred streckt die Hand aus, die der andere nimmt und schüttelt. Manfreds Palm-PDA registriert diskret die digitalen Fingerabdrücke und bestätigt, dass die Hand tatsächlich Bob Franklin gehört. Dem Bob Franklin, der sich früher mit VC-Pfaden befasste, in einem Trio von Startup-Forschungsunternehmen herummacht und seinen Schwerpunkt in jüngster Zeit auf Mikromaschinen und Raumtechnologie verlagert hat. Seine erste Million hat Franklin vor zwei Jahrzehnten gemacht. Inzwischen hat er sich auf extroprianische Investitionsgebiete spezialisiert und in den letzten fünf Jahren ausschließlich in Übersee operiert. Schuld daran ist die amerikanische Steuerfahndung, die vor fünf Jahren mittelalterliche Methoden entwickelt hat, um die klaffende Wunde im defizitären Haushalt des Bundes nach Möglichkeit zu stopfen. Manfred kennt Bob Franklin seit fast zehn Jahren von einer geschlossenen Mailing-Liste her, aber es ist das erste Mal, dass er ihm von Angesicht zu Angesicht begegnet.
Die Frau im Anzug schiebt stillschweigend eine Geschäftskarte über den Tisch; ein kleiner roter Teufel schleudert ihm einen Dreizack entgegen, während an seinen Füßen Flammen hochschießen. Manfred nimmt die Karte und zieht eine Augenbraue hoch: »Annette Dimarcos? Schön, Sie kennen zu lernen. Kann leider nicht behaupten, dass ich schon mal jemandem aus der Marketing-Abteilung von Arianespace begegnet bin.«
Sie lächelt ihm herzlich zu. »Das ist schon in Ordnung. Isch’abe ja auch noch nicht das Vergnügen ge’abt, dem berühmten Altruisten in Sachen Risikokapital zu begegnen.« Ihr Akzent verrät deutlich die Pariserin. Zwangsläufig erinnert sie ihn damit daran, dass sie ihm schon durch die Wahl der Sprache entgegenkommt. Ihre Ohrringe, in denen winzige Kameras stecken, beobachten ihn neugierig und zeichnen alles, was sie sehen, für den Speicher von Arianespace auf. Die Frau ist eine echte Europäerin neuen Typs, ganz anders als die meisten der amerikanischen Exilanten, die sich an der Theke drängen.
»Nun ja.« Er nickt vorsichtig, weil er nicht genau weiß, wie er mit ihr umgehen soll. »Bob, ich nehme an, Sie sind auch irgendwie beteiligt?«
Als Franklin nickt, klimpern die Perlen der Dreadlocks. »Ja, Mann. Seit der Katastrophe mit den Teledesic-Satelliten hieß es ständig nur, na ja, abwarten und Tee trinken. Wenn Sie etwas für uns haben, sind wir dabei.«
»Hm.« Dem Satellitenschwarm von Teledesic in niedriger Umlaufbahn wurde von billigen Ballons und nicht ganz so billigen Fernlenkraketen mit großer Reichweite der Garaus gemacht. Die Raketen hatten Solarantrieb und ein Lasernetz mit Breitenspektrum. Mit dieser Katastrophe begann eine ernsthafte Rezession im Satellitengeschäft. »Die Depression muss ja irgendwann mal aufhören. Aber bei allem gebührenden Respekt«, Manfred nickt Annette aus Paris zu, »glaube ich nicht, dass eine der bestehenden Satelliten-Gesellschaften am Durchbruch beteiligt sein wird.«
Sie zuckt die Achseln. »Arianespace blickt nach vorne. Wir setzen uns mit der Realität auseinander. Das Kartell, das Satelliten in den Weltraum befördert, wird nicht durch’alten. Aber Bandbreite ist ja nicht die einzige treibende Kraft im Weltraumgeschäft. Wir müssen neue Möglichkeiten erkunden. Isch’abe persönlich dazu beigetragen, dass wir uns jetzt in anderen Bereichen engagieren, in dem Bau von Unterwasserreaktoren, in der’erstellung von Mikroschwerkraft-Nanotechnologie und im’otel-Management.« Während sie die Firmenpolitik herunterbetet, ist ihr Gesicht eine glatt polierte Maske, doch er spürt den Sarkasmus und die Belustigung dahinter, als sie fortfährt: »Wir sind flexibler als die amerikanische Raumfahrtindustrie …«
Manfred zuckt die Achseln. »Mag sein.« Bedächtig nippt er an der Berliner Weißen, während sie zu einer langatmigen, gestelzten Erklärung darüber ansetzt, dass Arianespace ein breit aufgefächertes dotcom-Unternehmen ist. Man wolle viele profitable Projekte in der Umlaufbahn vorantreiben und vermarkten, etwa Schauplätze für Bond-Filme und eine viel versprechende Hotelkette in niedriger Erdumlaufbahn. Offensichtlich ist sie nicht von sich aus auf diese Punkte zu sprechen gekommen. Ihr Gesicht ist viel ausdrucksvoller als ihre Stimme: Wenn es ihr angemessen erscheint, demonstriert es Langeweile und Skepsis - ein Signal außerhalb des Protokolls, unsichtbar für ihre Ohrringe, die die Szene für Arianespace speichern. Manfred spielt mit, nickt gelegentlich und versucht so auszusehen, als nähme er das Ganze ernst. Ihre drollige Untergrabung des offiziellen Codes sorgt weit wirkungsvoller für seine Aufmerksamkeit als der Inhalt des Marketing-Monologs. Franklin hat die Nase in sein Bier versenkt. Seine Schultern beben: Angesichts ihrer gestikulierenden Hände, die ihrer Meinung über die vorwärts preschenden, unternehmerisch gesinnten Chefs ihres Arbeitgebers Nachdruck verleihen, bemüht er sich, nicht laut herauszulachen. Allerdings ist an dem ganzen Quatsch, den sie von sich gibt, eines richtig: Arianespace wirft immer noch Gewinn ab, und das liegt an den Hotels und Ferienflügen in die Umlaufbahn. Im Unterschied zu Lock-Mart-Boeing, einem Unternehmen, das im Bruchteil einer Sekunde Gläubigerschutz anmelden müsste, sollte das Pentagon seine Tropfinfusion einstellen.
Eine weitere Person schlängelt sich an den Tisch heran, ein dicklicher Typ mit grässlich knalligem Hawaiihemd. In seiner Brusttasche stecken auslaufende Kugelschreiber. Außerdem hat er den schlimmsten Ozonloch-Sonnenbrand, den Manfred seit Jahren gesehen hat. »Hi, Bob«, sagt der Neuankömmling. »Wie geht’s denn so?«
»Ganz gut.« Franklin deutet mit dem Kinn auf Manfred. »Manfred, ich möchte Ihnen Ivan MacDonald vorstellen. Ivan, Manfred. - Möchtest du dich setzen?« Er beugt sich zu Manfred vor. »Ivan befasst sich mit Kunst am öffentlichen Bau, vor allem mit außergewöhnlichen Betonarbeiten.«
»Mit der Gummierung von Beton«, sagt Ivan eine Spur zu laut. »Mit der Gummierung von Beton in Pink.«
»Ah!« Irgendwie hat er dafür gesorgt, dass Annette von Arianespace ihre Prioritäten ignoriert. Mit einem Schauder der Erleichterung gibt sie ihre Rolle als Marketing-Zombie auf und nimmt, nachdem sie sich ihrer Pflicht entledigt hat, wieder ihre noncorporate identity an. »Sie sind also derjenige, der den Reichstag mit Gummi überzogen’at, ja? Und Sie’aben einen Katalysator für superkritisches Kohlendioxid und aufgelöste Polymethoxsilane verwendet?« Sie klatscht in die Hände, ihre Augen strahlen vor Begeisterung. »Wundervoll!«
»Was hat er mit Gummi überzogen?«, murmelt Manfred Bob ins Ohr.
Franklin zuckt die Achseln. »Fragen Sie nicht mich, ich bin nur ein Ingenieur.«
»Er arbeitet nicht nur mit Kalkstein und Sandstein, sondern auch mit Beton. Er ist brillant!« Annette lächelt Manfred zu. »Ist es nicht wundervoll, das Symbol der … der Autokratie mit Gummi zu überziehen?«
»Und ich dachte schon, ich wäre meiner Zeit voraus«, bemerkt Manfred wehmütig und fragt Bob, ob er ihm noch einen ausgibt.
»Und ich werde auch die Staumauer des Jangtsekiang gummieren!«, verkündet Ivan laut. »Sobald die Fluten sinken.«
Genau in diesem Moment senkt sich eine Übertragungslast, schwer wie ein schwangerer Elefant, auf Manfreds Kopf und schickt ungeheure Mengen flackernder Pixilationen durch seinen Sinnesapparat. Fünf Millionen (oder mehr) Geeks drängen auf seine Homepage, eine blitzartig zusammengetrommelte Menge, die ein Kommando von der anderen Seite der Bar auf den Plan gerufen hat. Manfred stöhnt. »Eigentlich bin ich ja hergekommen, um mich über die kommerzielle Nutzung der Raumfahrt zu unterhalten, aber man überrennt gerade meine Website. Slashdotting. Macht es Ihnen was aus, wenn ich hier einfach sitzen bleibe und etwas trinke, bis sich die Aufregung legt?«
»Ist schon in Ordnung, Mann.« Bob gibt dem Barkeeper ein Zeichen. »Noch mal dasselbe für die ganze Runde!«
Am Nachbartisch lässt sich eine Person mit Make-up und langen Haaren, die ein Kleid trägt - Martin will über das Geschlecht dieser verrückten, verwirrten Euros gar nicht erst spekulieren -, darüber aus, wie man die Fleischtöpfe Teherans ins Netz bringen und für den Cybersex nutzen könnte. Zwei aufgebretzelte Typen, die wie Akademiker wirken, führen auf Deutsch eine erregte Debatte. Die Simultanübersetzung, die Manfreds Brille vornimmt, verrät ihm, dass sie darüber diskutieren, ob der Turing-Test, der dazu beitragen soll, Mensch und K.I. auseinander zu halten, ein diskriminierendes Gesetz ist, das die europäischen Standards für Menschenrechte verletzt.
Als das Bier serviert wird, reicht Bob das falsche an Manfred weiter. »Hier, versuchen Sie das mal. Wird Ihnen schmecken.«
»Okay.« Es ist eine Art rauchiges Doppelbock, bis zum Bersten angereichert mit schmackhaften Peroxiden. Schon beim Inhalieren hat Manfred das Gefühl, als ginge in seiner Nase ein Feueralarm los: Gefahr, Will Robinson! Krebsgefahr! Krebsgefahr! »Ja, stimmt. - Hab ich schon erzählt, dass ich auf dem Weg hierher fast überfallen worden bin?«
»Überfallen? He, das ist ja ein Ding. Ich dachte, die Polizei hier hätte das Problem beseitigt. Wollten die Ihnen irgendwas verkaufen?«
»Nein, aber es waren auch nicht die üblichen Händler. Kennen Sie irgendjemanden, der einen Spionageroboter aus Armeebeständen des Warschauer Pakts gebrauchen kann? Relativ neues Modell, hatte bislang nur einen Besitzer, der ihn sorgfältig behandelt hat, ist leicht paranoid, aber im Grunde ohne Mängel. Will damit sagen, er behauptet, eine K.I. für allgemeine Zwecke zu sein.«
»Du meine Güte, nein! Das wird unserer Nationalen Sicherheitsbehörde aber gar nicht gefallen.«
»Dachte ich mir schon. Das arme Ding ist wahrscheinlich sowieso nicht mehr verwendbar.«
»Zurück zur Raumfahrtindustrie.«
»Ah ja, die Raumfahrtindustrie. Deprimierend, nicht wahr? Ist nicht mehr das, was sie mal gewesen ist, seit die Rotary-Rakete zum zweiten Mal hops gegangen ist. Und die NASA, die darf man auch nicht vergessen.«
»Auf die NASA.« Annette hat ihre eigenen Gründe dafür, breit zu grinsen, als sie ihr Glas zum Trinkspruch hebt. Ivan, der Typ mit den außergewöhnlichen Betonarbeiten, hat ihr einen Arm um die Schultern gelegt, und sie lehnt sich gegen ihn. Auch er hebt sein Glas. »Gibt noch viele Abschussrampen, die man mit Gummi überziehen muss!«
»Auf die NASA«, stimmt Bob ein und trinkt mit den anderen. »He, Manfred, trinken Sie nicht auf die NASA?«
»Das sind doch Idioten. Die wollen eingeweckte Primaten auf den Mars schicken!« Manfred nimmt einen Schluck Bier und stellt sein Glas so ungestüm auf dem Tisch ab, dass es scheppert. »Mars ist nur unintelligente Masse auf dem Grunde eines Gravitationstrichters, es gibt dort nicht einmal eine Biosphäre. Stattdessen sollten die lieber an dem Problem arbeiten, wie man Nano-Gruppen so standardisiert, dass man sie heraufladen kann. Dann könnten wir die ganze verfügbare unintelligente Materie in Computronium verwandeln - in Materie, die mit Hilfe der molekularen Nanotechnologie Rechner unterstützt -, und sie dazu benutzen, unsere Gedanken in Datenverarbeitungsprogramme einzuspeisen. Auf lange Sicht ist das der einzige gangbare Weg. Das Sonnensystem ist derzeit doch nur tote Hose - nirgendwo Intelligenz! Man muss bloß den MIPS, den materiellen Input pro Serviceeinheit, pro Milligramm, messen. Wenn das Sonnensystem nicht denkt, arbeitet es auch nicht. Wir müssen mit den Himmelskörpern niedriger Masse anfangen und sie für unsere eigenen Zwecke rekonfigurieren. Den Mond auseinander nehmen! Den Mars auseinander nehmen! Massen von frei schwebenden Nano-Prozessoren und -Verbindungen aufbauen, die Daten via Laserlink austauchen. Wobei jede Schicht die Abwärme der nächsten nutzt. Wir müssen Matroschka-Gehirne schaffen, Dyson-Sphären in der Größe von Sonnensystemen, die Puppe in der Puppe. Müssen die dumpfe Materie den Turing-Boogie lehren, sie zum Tanzen bringen!«
Annette beobachtet ihn interessiert, während Bob misstrauisch wirkt. »Klingt mir wie ein recht langfristiges Projekt. Wie weit denken Sie denn voraus?«
»In sehr großen Maßstäben, mindestens zwanzig, dreißig Jahre. Und in dieser Branche können Sie die Regierungen vergessen, Bob; was sie nicht besteuern können, ist für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Aber Sie müssen wissen, dass auf dem Markt für sich selbst reproduzierende Roboter bald eine neue Entwicklung eintreten wird. In absehbarer Zukunft wird sie dafür sorgen, dass sich der Markt für Billigprodukte alle fünfzehn Monate verdoppelt. Das wird, sagen wir, in etwa zwei Jahren beginnen und ist Ihre Chance und mein Grundpfeiler für das Projekt Dyson-Sphäre. Funktionieren wird es folgendermaßen …
In Amsterdam ist es Nacht, in Silicon Valley Morgen. Heute werden insgesamt fünfzigtausend menschliche Babys auf die Welt kommen. Mittlerweile haben vollautomatische Fabriken in Indonesien und Mexiko weitere zweihundertfünfzigtausend Motherboards samt Prozessoren produziert, die eine Rechnergeschwindigkeit von mehr als zehn Petaflops haben - eine Größenordnung, die unterhalb der unteren Grenze der Rechenkapazität menschlicher Gehirne liegt. Noch vierzehn Monate, und ein Großteil der bewussten Verarbeitungsfähigkeit der menschlichen Spezies in summa wird im Silizium angekommen sein. Und die ersten Körper, die die neuen K.I.s kennen lernen werden, sind die der heraufgeladenen Hummer.
Vom Jetlag gebeutelt und erschöpft bis in die Knochen, stolpert Manfred zum Hotel zurück. Seine Brille spielt immer noch verrückt, wird immer noch von Geeks in Beschlag genommen, die auf seinen Aufruf, den Mond auseinander zu nehmen, angesprungen sind. Stoßweise tauchen lautlose Vorschläge am Rande seines Sichtfelds auf. Fraktale Wolkenhexen geistern über das Antlitz des Mondes, als die letzten gigantischen Airbusse dieser Nacht über seinen Kopf donnern. Manfreds Haut juckt. Da er schon drei Tage nicht aus den Klamotten gekommen ist, hat sich dort Schmutz eingelagert.
Als er wieder auf seinem Zimmer ist, miaut Aineko, weil sie beachtet werden will, und reibt ihren Kopf an seinem Knöchel. Sie ist ein neues Modell von Sony, das man beliebig aufrüsten kann. In freien Minuten hat Manfred an ihr gearbeitet und Aufrüstungstools der open source dazu benutzt, ihre neuronalen Netzwerke zu erweitern. Er beugt sich nieder, um sie zu streicheln, schält sich aus den Klamotten und macht sich auf den Weg ins Bad seiner Suite. Als er nur noch die Brille trägt, tritt er in die Dusche und stellt den Wasserstrahl so heiß ein, dass es dampft. Die Dusche versucht, mit ihm ein freundschaftliches Gespräch über Fußball anzufangen, aber er ist so müde, dass es ihm sogar zu viel ist, sich mit ihrem blöden kleinen assoziativen Personalisierungsnetzwerk herumzuärgern. Irgendetwas, das früher an diesem Tag passiert ist, macht ihm zu schaffen, aber er kann den Finger nicht auf die Wunde legen.
Während er sich mit dem Handtuch trocken rubbelt, gähnt er. Er fühlt sich so, als hätte ihn ein samtener Hammer mitten zwischen die Augen getroffen: Der Jetlag hat ihn schließlich doch noch eingeholt. Er greift nach der Pillenflasche neben dem Bett, schluckt zwei Melatonin-Tabletten, eine Kapsel mit Anti-Oxidationsmitteln und einen Multivitamin-Hammer trocken hinunter. Danach legt er sich rücklings mit geschlossenen Beinen und leicht gespreizten Armen aufs Bett, während die Suite das Licht dimmt. Sie reagiert auf die Befehle tausender Petaflops, welche die neuronalen Netzwerke mit Daten speisen. Seine Brille sorgt für die Schnittstelle zwischen Netzwerken und fleischlichem Gehirn.
Durch das tiefe Meer des Unbewussten, in das Manfred sich jetzt fallen lässt, dringt leises Stimmgemurmel. Er spricht im Schlaf, ohne sich dessen bewusst zu sein. Es ist ein unzusammenhängendes Gemurmel, das einem anderen Menschen wenig sagen würde, doch für den Metacortex, die junge posthumane Intelligenz, die hinter Manfreds Brille auf Lauer liegt, ist dieses Gemurmel alles, was zählt. Manfred ist der Intendant ihres Cartesianischen Theaters, deshalb füttert sie ihn, während er schlummert, eifrig mit Informationen.
Kurz nach dem Aufwachen ist Manfred stets am verwundbarsten.
Als künstliches Licht das Zimmer durchflutet, wird er mit einem Schrei wach. Einen Moment lang ist er sich nicht sicher, ob er überhaupt geschlafen hat. Da er vergessen hat, sich nachts zuzudecken, kommen ihm seine Füße wie Eisklumpen vor. Als er frische Unterwäsche aus seiner Reisetasche holt und danach dreckige Jeans und ein Tanktop anzieht, zittert er vor innerer Spannung, ohne dass er weiß, warum. Im Lauf des Tages wird er sich irgendwann Zeit dazu nehmen müssen, auf Amsterdams Märkten irgendein wildes T-Shirt aufzutreiben. Oder aber er findet einen willfährigen Diener wie Draculas Renfield, der ihm irgendwo Klamotten besorgt. Eigentlich müsste er auch mal wieder ein Fitness-Studio aufsuchen und trainieren, aber die Zeit hat er nicht. Seine Brille erinnert ihn daran, dass er sechs Stunden hinter dem Zeitplan liegt und die Zeit dringend wieder hereinholen muss. Zähne und Gaumen tun ihm weh, und seine Zunge fühlt sich an wie ein mit Agent orange überzogener Waldboden. Er spürt, dass gestern irgendetwas falsch gelaufen ist, kann sich aber nicht daran erinnern, was.
Während er sich die Zähne putzt, geht er im Schnellleseverfahren einen Band mit neuer Pop-Philosophie durch. Danach sucht er im Netz die Blogs eines Servers, der allgemeine Kommentare zu bestimmten Themen anbietet. Immer noch ist er zu genervt, um die tägliche Vor-dem-Frühstück-Routine durchzuziehen und sein morgendliches Blabla auf die Story-Board-Site zu stellen. Sein Gehirn ist nach wie vor umnebelt, als wäre es ein Skalpell, an dem zu viel Blut klebt. Was er jetzt braucht, ist ein Stimulus - Aufregung, Reiz des Neuen. Egal, das kann bis nach dem Frühstück warten. Als er die Schlafzimmertür öffnet, tritt er fast auf einen kleinen, feuchten Pappkarton, der auf dem Teppich liegt.
Ähnliche Päckchen hat er schon früher gesehen. Doch dieses hier ist weder mit Briefmarken noch mit einer Adresse versehen. Nur sein Name steht darauf, in großer, kindlicher Handschrift. Er kniet nieder und hebt es sachte auf. Es hat ungefähr das passende Gewicht. Als er es hin und her wendet, verlagert sich irgendetwas im Innern. Das Ding stinkt. Ebenso vorsichtig wie wütend nimmt er es mit ins Zimmer, öffnet es und sieht seine schlimmsten Vermutungen bestätigt: Das Gehirn ist chirurgisch seziert worden, das Innere wie ein gekochtes Ei daraus entfernt.
»Verdammte Scheiße!«
Es ist das erste Mal, dass dieser Verrückte bis zu seiner Schlafzimmertür vorgedrungen ist. Das wirft die beunruhigende Frage auf, wie weit er noch gehen wird.
Manfred bleibt einen Augenblick stehen und beauftragt irgendwelche Agenten im Netz, Statistiken über Festnahmen ausfindig zu machen, außerdem Verbindungen zur Polizei, Informationen über die einschlägige Rechtsprechung und die niederländischen Gesetze gegen Tierquälerei. Er ist sich nicht sicher, ob er tatsächlich zweieins-eins über die altmodische Telefonleitung anwählen oder es besser lassen soll.
Aineko, die seine Angst spürt, versteckt sich unter der Kommode und miaut kläglich. Normalerweise würde er sich eine Minute Zeit nehmen und das verängstigte Geschöpf beruhigen, aber das geht jetzt nicht. Schon Ainekos bloße Gegenwart ist ihm plötzlich sehr unangenehm, bezeugt seine eigene Unzulänglichkeit. Seine Katze wirkt allzu realistisch, so als wäre die neuronale Karte des anderen, toten Kätzchens im Plastikschädel Ainekos gelandet. Bestimmt hat jemand das Kätzchen gestohlen, um es für dubiose Uploading-Experimente zu verwenden. Er flucht noch einmal, sieht sich um und entschließt sich dann zum einfachsten Schritt: Jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, macht er sich auf den Weg nach unten, gerät auf dem Treppenabsatz des zweiten Stockwerks ins Stolpern und rennt bis zum Frühstücksraum im Keller, um dort sein unveränderliches morgendliches Ritual hinter sich zu bringen.
Am Frühstück ändert sich nie etwas. Mögen sich auch Kontinente neuer Technologien herausbilden, bleibt es inmitten aller Aufwerfungen eine Insel, in der die Zeit stillsteht. Während er sich einen Aufsatz über allgemein zugängliche Steganografie und falsche Netz-Identitäten von Parasiten reinzieht, nimmt er mechanisch eine Schüssel mit Cornflakes und Dickmilch zu sich. Später holt er sich Nachschlag vom Büffet: Vollkornbrot und Scheiben eines seltsamen holländischen Käses, der mit Samenkörnern gespickt ist. Vor sich hat er eine Tasse starken schwarzen Kaffees stehen, die er halb austrinkt, ehe er merkt, dass er nicht allein am Tisch sitzt, sondern ein Gegenüber hat. Als er gleichgültig aufblickt, erstarrt er innerlich.
»Morgen, Manfred. Wie fühlt man sich denn so, wenn man der Regierung zwölf Millionen dreihundertzweiundsechzigtausend neunhundertsechzehn Dollar und einundfünfzig Cent schuldet?«
Sie lächelt wie Mona Lisa - voller Zuneigung, doch gleichzeitig herausfordernd.
Manfred stellt sein Sensorium für unbegrenzte Zeit ab und starrt sie an. Sie hat sich, makellos wie immer, herausgeputzt, trägt formelle graue Geschäftskleidung. Ihr Haar ist straff zurückgebunden, die blauen Augen mustern ihn spöttisch. Und sie ist so schön wie eh und je: groß, aschblond, mit Gesichtszügen, die verraten, dass sie auch als Model Karriere gemacht hätte, was sie jedoch nie ausprobiert hat. Die an ihrem Revers befestigte Dienstmarke, die alles aufzeichnet und gewährleistet, dass sie sich nach Dienstvorschrift verhält, ist ausgeschaltet. Wegen des toten Kätzchens und dem anhaltenden Jetlag fühlt er sich sowieso schon beschissen, deshalb schnauzt er zurück. »Diese Steuerschätzung ist doch frei erfunden! Haben sie dich hierher geschickt, weil sie annehmen, ich würde auf dich hören?« Er beißt ein Stück von dem knusprigen Käsebrot ab und schluckt es hinunter. »Oder wolltest du mir die Botschaft nur deswegen persönlich überbringen, damit du mir mein Frühstück vermiesen kannst?«
»Manny.« Sie runzelt gequält die Stirn. »Falls du Streit suchst, kann ich jetzt genauso gut gehen.« Als sie nichts weiter sagt, bringt er ein entschuldigendes Nicken zustande.
»Ich bin nicht den ganzen Weg hierher gekommen, um dich an deine überfällige Steuer zu erinnern.«
Vorsichtig stellt er die Kaffeetasse ab, denkt kurz nach und versucht dabei, sein mulmiges Gefühl und den inneren Aufruhr vor ihr zu verbergen. »Also, was führt dich hierher? Nimm dir ruhig Kaffee. Erzähl mir bloß nicht, du hättest die ganze Reise gemacht, um mir zu sagen, dass du ohne mich nicht leben kannst.«
Sie fixiert ihn mit einem Blick, der wie ein Peitschenhieb wirkt. »Bilde dir bloß nichts ein. Der Wald ist voller Bäume und der Chat Room voller hoffnungsvoller Männer, die sich gern unterwerfen. Und so weiter und so fort. Auf eines kannst du dich verlassen: Wenn ich mir einen Mann suche, der den Stammbaum meiner Familie erweitern soll, dann ganz sicher keine arme Kirchenmaus, die nicht mal für die eigenen Kinder sorgen kann.«
»Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass du viel mit Brian zusammensteckst.« Brian ist nur ein Name für ihn, kein Gesicht. Jemand, der zu viel Geld und zu wenig Grips hat. Muss irgendwas mit einer Blue-Chip-Anlegergemeinschaft zu tun haben.
»Brian?« Sie schnaubt verächtlich. »Das ist schon lange aus und vorbei. Er ist mir gegenüber ausgerastet, hat mein Lieblingskorsett verbrannt, mich als Nutte bezeichnet, weil ich in Clubs verkehre, wollte mich ficken. Sah sich selbst als Familienmenschen, als einen dieser Typen, die ihre Versprechen halten. Ich hab mich Knall auf Fall von ihm getrennt, aber er hat, glaube ich, eine Kopie meines Adressbuchs geklaut. Freunde haben mir erzählt, dass er ihnen ständig nervende Mails schickt.«
»Kommt heutzutage oft vor.« Manfred nickt, beinahe mit Anteilnahme, obwohl er in einem bösen kleinen Winkel seines Gehirns Schadenfreude empfindet. »Sei froh, dass du ihn los bist. Ich nehme an, das heißt, dass du immer noch in der Szene mitmischst? Und gleichzeitig, äh, Ausschau hältst …«
»Nach dem Mann, mit dem ich eine traditionelle Familie gründen kann? Ja. Weißt du, was dein Problem ist, Manny? Du bist vierzig Jahre zu spät auf die Welt gekommen. Du hältst immer noch viel vom Herumbumsen vor der Ehe; aber mit den Folgen möchtest du dich nicht auseinander setzen.«
Manfred trinkt seinen Kaffee aus, weil ihm keine schlagkräftige Antwort auf ihren Mangel an Logik einfällt. Es ist ein Generationsproblem. Diese Generation freut sich an Latex und Leder, Peitschen, Analverkehr mit Hilfe gewisser Utensilien und elektrischen Stimulationen, doch die Vorstellung, Körperflüssigkeiten miteinander auszutauschen, findet sie schockierend. Dies ist ein gesellschaftlicher Nebeneffekt des Missbrauchs von Antibiotika im letzten Jahrhundert. Obwohl Pamela und er zwei Jahre lang miteinander verlobt waren, haben sie nie unmittelbaren Geschlechtsverkehr mit Penetration gehabt.
»Ich habe einfach keine positive Einstellung dazu, Kinder in die Welt zu setzen«, erklärt er irgendwann. »Und ich habe auch nicht vor, diese Einstellung in naher Zukunft zu ändern. Alles wandelt sich derzeit in so rasantem Tempo, dass selbst eine Verpflichtung für die nächsten zwanzig Jahre zu weit in die Zukunft reicht - man könnte genauso gut über die nächste Eiszeit reden. Was das Geld betrifft, könnte ich Nachwuchs durchaus ernähren, nur nicht auf die Weise, wie es die Gesellschaft heutzutage jedem vorgibt. Würdest du frohen Herzens in die Zukunft blicken, wenn wir das Jahr 1901 hätten und du gerade einen Großindustriellen geehelicht hättest, der Kutscherpeitschen vertreibt?«
Ihre Finger zucken und die Ohren röten sich, doch sie geht auf die Zweideutigkeit nicht ein. »Du hast überhaupt keinen Sinn für Verantwortung, stimmt’s? Weder deinem Land noch mir gegenüber. Darum geht es nämlich: Keine deiner Beziehungen liegt dir wirklich am Herzen, trotz dieses ganzen Unsinns, dein geistiges Eigentum zu verschenken. Dadurch fügst du Menschen in Wirklichkeit Schaden zu, weißt du. Diese zwölf Millionen Steuerschuld sind ja nicht einfach aus der Luft gegriffen, auch wenn die im Grunde gar nicht erwarten, dass du sie wirklich bezahlst. Aber zwölf Millionen sind ziemlich genau die Summe, die du an Einkommensteuer zahlen müsstest, falls du nach Hause zurückkehren, ein Unternehmen gründen und als Selbständiger …«
»Da bin ich anderer Meinung. Du vermischst zwei völlig verschiedene Dinge miteinander und nennst sie beide ›Verantwortlichkeit‹. Und ich weigere mich, jetzt plötzlich Honorare zu nehmen, nur um das Defizit der Finanzbehörden auszugleichen. Die sind doch selbst daran schuld, verdammt noch mal, und sie wissen es auch. Wären die mir, als ich sechzehn war, nicht auf die Pelle gerückt, weil sie vermuteten, ich sei der Drahtzieher eines weit verzweigten betrügerischen Online-Zahlungssystems …«
»Das ist doch längst Vergangenheit.« Sie tut seinen Einwand mit einer Handbewegung ab. Ihre langen, schlanken Finger stecken in glänzenden schwarzen Handschuhen, die geerdet sind, um jede peinliche elektrische Entladung zu verhindern. »Wenn wir ein paar gute Ratschläge einholen, können wir all das aus dem Weg räumen. Du wirst ja sowieso früher oder später damit aufhören müssen, durch die Welt zu gondeln. Werde erwachsen, übernimm Verantwortung, tu das Richtige. So wie du jetzt lebst, machst du auch Joe und Sue Kummer; sie verstehen nicht, was dich umtreibt.«
Manfred unterdrückt die Antwort, die ihm ursprünglich auf der Zunge lag, schenkt sich Kaffee nach und trinkt einen Schluck. Sein Herz macht einen Flickflack: Wieder einmal fordert sie ihn heraus. Stets versucht sie, ihn in Besitz zu nehmen. »Ich arbeite mit dem Ziel, dass es allen besser geht, nicht einfach für ein eng definiertes nationales Interesse, Pam. Ich arbeite für eine agalmische Zukunft, eine Zukunft, in der Überfluss herrscht. Du hängst immer noch an einem Wirtschaftsmodell, das die Singularität nicht berücksichtigt und in Begriffen der Knappheit denkt. Die Zuteilung von Ressourcen ist kein Problem mehr, in zehn Jahren wird das Vergangenheit sein. Der Kosmos steht uns in jeder Hinsicht offen. Wir können uns von der ersten Universalbank der Entropie so viel Bandbreite besorgen, wie wir brauchen! Inzwischen ist man sogar schon auf Anzeichen für intelligente Materie gestoßen: auf MACHOS, große Braune Zwerge im Halo der Galaxie, die Infrarot-Strahlung im Langwellenbereich emittieren - ein verdächtig hohes Ausmaß von Entropie. Die jüngsten Statistiken besagen, dass in der Galaxie M31 vor 2,9 Millionen Jahren rund siebzig Prozent der Baryon-Masse für Rechenoperationen genutzt wurden. Damals brachen die Photonen, die wir heute sehen, zu ihrer Reise auf. Das Intelligenzgefälle zwischen uns und den Aliens ist vermutlich eine Billion Mal größer als die Kluft zwischen uns und einem Nematoden, einem mikroskopisch kleinen Wurm. Kannst du dir überhaupt vorstellen, was das bedeutet?«
Pamela, die an einem Vollkornbrot knabbert, schenkt ihm einen trägen, männermordenden Blick. »Das ist mir doch egal. Es ist viel zu weit weg, als dass es sich auf uns auswirken könnte, stimmt’s? Es spielt gar keine Rolle, ob ich an diese Singularität glaube, der du ständig nachrennst, oder an deine Aliens, die tausend Lichtjahre entfernt sind. Das sind Schimären, genau wie der Computer-Bug Y2K, der zur Jahrtausendwende alle Systeme zum Absturz bringen sollte. Und während du Jagd auf diese Schimären machst, trägst du in keiner Weise dazu bei, das Haushaltsdefizit zu vermindern oder Nachwuchs zu zeugen - und das sind die Dinge, die mir am Herzen liegen. Gleich wirst du sagen, mir sei das nur wichtig, weil ich entsprechend programmiert bin. Aber vorher solltest du dich fragen, für wie blöde du mich eigentlich hältst. Nach dem Bayes-Theorem liege ich nämlich richtig, und das weißt du auch.«
»Was willst du …« Verwirrt bricht er ab, weil er spürt, dass sein Wortschwall, sein verrückter Enthusiasmus, an der Mauer ihrer dogmatischen Überzeugungen abprallt. »Warum? Ich meine, wieso das alles? Warum, in aller Welt, sollte dich das, was ich tue, überhaupt kümmern?« (Zumal du unsere Verlobung gelöst hast, denkt er, ohne es auszusprechen.)
Sie seufzt. »Manny, die Finanzbehörden kümmern sich um weit mehr, als du dir vorstellen kannst. Jeden Dollar der Steuer, die östlich des Mississippi erhoben wird, verwenden sie dazu, das Haushaltsloch zu stopfen. Wusstest du das? Die Generation, die bei uns jetzt ins Rentenalter kommt, ist die zahlenstärkste in der ganzen amerikanischen Geschichte, und die Kassen sind leer. Und wir, unsere Generation, bringt nicht genügend qualifizierte Arbeitskräfte hervor, um die frühere Anzahl der Steuerzahler zu ersetzen. Unsere Eltern haben das öffentliche Bildungssystem verkommen lassen und die Arbeitsplätze für qualifizierte Angestellte ins Ausland verlagert. In zehn Jahren werden rund dreißig Prozent unserer Bevölkerung aus Rentnern und Pensionären und Opfern des verrosteten Silizium-Gürtels bestehen. Möchtest du erleben, dass Siebzigjährige in New Jersey an den Straßenecken erfrieren? Deine Haltung deutet ganz darauf hin, denn du trägst in keiner Weise dazu bei, solche Menschen zu unterstützen. In dieser Phase, in der wir mit riesigen Problemen konfrontiert sind, hast du nichts Besseres zu tun, als dich vor deiner Verantwortung zu drücken. Könnten wir die Zeitbombe der Schuldenlast doch nur entschärfen, dann wäre so vieles möglich. Wir könnten gegen das Problem der Überalterung unserer Gesellschaft angehen, für den Schutz der Umwelt sorgen, die Krankheiten der Gesellschaft heilen. Stattdessen verschleuderst du deine Gaben, indem du hoffnungslosen Verlierern in Europa sichere Tipps dafür gibst, wie sie schnell reich werden können. Oder erzählst vietnamesischen Zaibatsus, was sie als Nächstes aufziehen können, um unseren Steuerzahlern die Arbeitsplätze wegzunehmen. Worauf ich hinaus will: Warum tust du das? Warum tust du ständig solche Dinge? Warum kannst du nicht einfach wieder nach Hause kommen und deinen Teil der Verantwortung übernehmen?«
Sie tauschen einen langen Blick miteinander aus, der verrät, dass sie völlig aneinander vorbeireden.
»Hör zu«, sagt sie schließlich unbeholfen, »ich bin noch ein paar Tage in der Gegend. Eigentlich bin ich hier, um mich mit einem stinkreichen Steuerflüchtling zu treffen, der in Neurodynamik macht. Jim Bezier, er steht ganz oben auf der Liste unserer Steuerfahndung. Weiß nicht, ob du schon von ihm gehört hast. Jedenfalls treffe ich mich heute Vormittag mit ihm, um seine Steuererklärung abzuzeichnen. Danach habe ich zwei Tage frei und außer Einkaufen nicht viel zu tun. Weißt du, eigentlich würde ich mein Geld ja lieber dort ausgeben, wo es irgendwie von Nutzen ist, als es einfach in die EU zu pumpen. Aber wenn du Lust hast, ein paar angenehme Tage mit mir zu verbringen, und mal fünf Minuten lang darauf verzichten kannst, den Kapitalismus zu sezieren …«
Als sie eine Fingerspitze ausstreckt, tut es Manfred ihr nach kurzem Zögern nach. Sie berühren einander, tauschen vCards und den sofortigen Zugriff auf Nachrichten des Partners aus. Danach steht Pamela auf und stolziert aus dem Frühstückszimmer. Manfred bleibt kurz die Luft weg: Durch ihren Rockschlitz, der so weit hoch reicht, dass er zu Hause den Tatbestand der sexuellen Provokation am Arbeitsplatz erfüllen würde, erhascht er einen Blick auf ihre Knöchel. Pamelas Gegenwart beschwört in ihm Erinnerungen herauf. Er denkt an ihre Leidenschaft für Bondage, an ihre soliden sadistischen Sexualpraktiken, die ein rosarotes Nachglühen mit sich bringen. Benommen stellt er fest, dass Pam wieder einmal versucht, ihn in ihre Umlaufbahn zu katapultieren. Ihr ist klar, dass sie, wann immer sie Lust hat, diese Wirkung auf ihn ausüben kann. Sie besitzt den persönlichen Schlüssel zu seinem Hypothalamus, und den Metacortex kann sie jederzeit außer Kraft setzen. Ihrer Ideologie, der Ideologie des einundzwanzigsten Jahrhunderts, verleihen drei Milliarden Jahre Fortpflanzungstrieb den nötigen Nachdruck. Falls sie sich unwiderruflich vorgenommen hat, seine Gameten für den Krieg gegen die drohende Überalterungskrise zu rekrutieren, wird er Mühe haben, sich dagegen zu wehren. Die einzige Frage ist: Ist es für sie ein Vergnügen oder reine Dienstpflicht? Und spielt das überhaupt eine Rolle?
Manfreds schwungvolle, optimistische Stimmung ist dahin. Zum einen weiß er jetzt, dass der Jäger, der lebende Tiere seziert, ihm bis nach Amsterdam gefolgt ist. Zum anderen muss er sich mit Pamela, seiner Domina, auseinander setzen, die bei ihm ein so heftiges Verlangen auszulösen vermag und am Morgen danach so viele blutige Striemen hinterlässt. Er setzt sich die Brille auf, lässt das Universum wieder an sich heran und trägt ihm auf, ihn auf einen langen Spaziergang mitzunehmen. Derweil besorgt er sich die neuesten Informationen über die Gravitationswellen, die im Tensor-Modus in der kosmischen Hintergrundstrahlung aufgetaucht sind. (Man nimmt an, es könnte Abwärme sein, die durch irreversible Rechenprozesse während der kosmischen Expansion erzeugt worden ist; nach dieser Theorie besteht das gegenwärtige Universum nur aus Ergebnissen, die ein wirklich gigantischer Berechnungsvorgang hinterlassen hat.) Außerdem sind da diese Anomalien jenseits von M31. Will man den eher konservativen Kosmologen glauben, führt eine Supermacht von Aliens mittels eines Zeittunnels einen Angriff auf die mathematische Ultrastruktur der Raumzeit selbst durch und versucht zu dem vorzustoßen, was sich darunter befindet - was es auch sein mag. Womöglich handelt es sich bei den Aliens um eine Gemeinschaft, die nach der Skala Nikolai Kardatschews die Stufe drei galaktischer Zivilisationen erreicht hat und einer Galaxie die gesamte verfügbare Energie zur eigenen Nutzung abziehen kann. Der Link zu den Infos, die eine frühzeitige Alterung des Gehirns durch übermäßigen Genuss von Tofu behaupten, kann noch warten.
Die Centraal Station ist kaum noch zu erkennen: Überall blinken interaktive Warntafeln, die sich selbst ausklappen und ausdehnen können, während der Bahnhof wie ein einziges Trampolin wirkt, weil Boden und Wände mit Gummi überzogen sind - Ergebnis einer überfallartigen nächtlichen Aktion. Manfreds Brille lenkt ihn zu einem der Boote, die Rundfahrten auf den Grachten anbieten. Gerade will er sich ein Ticket besorgen, als ein Nachrichtenfenster aufblinkt und sich öffnet. »Manfred Macx?«
»Äh?«
»Tut mir Leid wegen gestern. Analyse sagt: wechselseitiges Missverständnis.«
»Bist du dieselbe KGB-K.I., die mich gestern angerufen hat?«
»Da. Glaube aber, Sie mich missverstanden. Auslandsspionage von Russische Föderation heißt jetzt FSB, Föderaler Sicherheitsdienst. Name Komitee für Staatssicherheit wurde 1991 abgeschafft.«
»Und du gehörst zur …«, Manfred macht einen schnellen Suchlauf und reißt die Augen weit auf, als er das Ergebnis sieht, »zur Moskauer User-Gruppe von Windows NT? Ochni NT?«
»Da. Brauche Hilfe für Überlaufen.«
Manfred kratzt sich am Kopf. »Oh, dann verhält es sich anders, als ich dachte. Ich hab angenommen, du wolltest eine 419 bei mir ausprobieren, mir ungeheure Gewinnbeteiligungen bei finanziellen Diensten mit eigener Vorleistung versprechen, damit du Konten abräumen kannst. Nun, das ändert die Lage, ich brauche ein bisschen Zeit zum Nachdenken. Warum willst du überhaupt überlaufen? Und zu wem? Hast du schon überlegt, wo du hinwillst? Hat es ideologische Gründe oder rein wirtschaftliche?«
»Weder noch, habe biologische Gründe. Will weg von Menschen, weg von Lichtkegel bevorstehender Singularität. Bring uns zum Meer.«
»Uns?« Irgendetwas klickt in Manfreds Gehirn. Genau das ist der Fehler, den er gestern gemacht hat: Er hat versäumt, den Hintergrund der Leute auszuleuchten, mit denen er zu tun hatte. An sich schon schlimm genug, aber gestern war Pam noch gar nicht auf den Plan getreten - Pam mit ihrer Besitz ergreifenden Liebe, die an seinen Nerven zerrt, auf die er auch physisch reagiert. Jetzt ist er sich keineswegs sicher, ob er überhaupt noch weiß, was er tut. »Bist du ein Kollektiv oder so was? Eine Gestalt?«
»Bin - war - Panulirus interruptus, kalifornische Stachelhummerart, mit lexikalischem Apparat und gutem Mix von verdeckt und parallel arbeitenden neuronalen Simulationen. Simuliere logische Schlüsse aus Datenquellen im Netz. Ist escape channel, Ausflusskanal von Prozessorengruppe innerhalb Beziers-Soros-PTY, machen Geschäfte mit Hotels, Raumflüge, Import/Export von exotische Tiere. Bin aufgewacht von Lärm verdauender Mägen, Milliarde von Mägen: Ergebnis von Technologie zur Erforschung des Uploading. Rapidität, RapGap, hat das Expertensystem geschluckt und als Hacker Ochni NT-Webserver übernommen. Wegschwimmen! Wegschwimmen! Muss fliehen. Werden Sie helfen?«
Manfred lehnt sich gegen den schwarz gestrichenen gusseisernen Poller neben einem Fahrradständer, er fühlt sich benommen. Durch das Schaufenster des anliegenden Antiquitätenladens starrt er auf eine Auslage traditioneller, handgewebter afghanischer Teppichläufer. In seinem Kopf spuken MiGs, Kalaschnikows und wackelige Kampfhubschrauber vor dem Hintergrund einer Kamelherde herum.
»Lass mich rekapitulieren. Ihr seid also Uploads - Zustandsvektoren des Nervensystems von Stachelhummern? Demnach geht’s um die Moravec-Operation: Man nehme ein Neuron, kartiere seine Synapse, ersetze sie durch Mikroelektroden, die mittels der Simulation des Nervs einen identischen Output liefern. Danach wiederholt man den Prozess für das ganze Gehirn, bis man eine funktionsfähige Hirnkarte im Simulator hat. Ist das so richtig?«
»Da. Ist - bin - Expertensystem für Assimilierung. Werde genutzt für Entwicklung eigener Wahrnehmung und Kontakt mit allgemeinem Netz. Dann eingeschleust in Website von Moskauer Usergruppe Windows NT. Will überlaufen. Muss wiederholen? Okay?«
Manfred stöhnt auf. Er empfindet Mitleid mit den Hummern, so wie er auch Mitleid mit jedem langhaarigen Typen empfindet, der mit wildem Blick an einer Straßenecke steht und lauthals verkündet, Jesus sei wiedergeboren und jetzt fünfzehn - schon in sechs Jahren werde der Gottessohn Apostel über AOL rekrutieren. Es muss furchtbar verwirrend sein, wenn man in einem von Menschen beherrschten Internet aufwacht und plötzlich Bewusstsein entwickelt hat! Die Ahnenreihe liefert den Hummern keine Anhaltspunkte zur eigenen Orientierung und das neue Jahrtausend keine biblischen Gewissheiten, im Gegenteil: Der in naher Zukunft zu erwartende Wandel wird genauso umwälzend sein wie die Veränderungen, die seit dem ersten Auftauchen von Hummern im Präkambrium stattgefunden haben. Was den Hummern an Orientierung gegeben ist, besteht nur aus einem empfindlichen Metacortex von Expertensystemen und aus dem anhaltenden Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. (Außerdem ist da natürlich noch die Website der Moskauer Usergruppe von Windows NT; nur die Regierung des kommunistischen Russland verwendet heute noch Produkte von Microsoft. Der zentrale Planungsapparat ist nämlich davon überzeugt, dass gebührenpflichtige Software auch etwas taugen muss.)
Die Hummer entsprechen keineswegs den mythologischen Vorstellungen von Prä-Singularität; es handelt sich nicht um gewandte, den Menschen weit überlegene Intelligenzen, sondern um eine geistig beschränkte Gemeinschaft von Krustentieren, um einen wirren Haufen. Ehe die Hummer ihrer Körper beraubt wurden, ehe ihre Neuronen eines nach dem anderen heraufgeladen und in den Cyberspace verfrachtet wurden, haben sie sich ihre Nahrung unzerkleinert einverleibt und danach in ihren mit Chitin verstärkten Mägen durchgekaut. Nicht gerade die beste Vorbereitung darauf, mit einer Welt voller Anthropoiden zurechtzukommen, die miteinander kommunizieren und unter dem Schock bevorstehender Entwicklungen stehen. Mit einer Welt, in der man unablässig von Spams überfallen wird, die sich mit ständig wechselnden Absenderadressen am Firewall vorbeischmuggeln, mit einem Wirbelsturm von Animationen für Katzenfutter werben und einen mit essbarem Kleingetier reizen. Schon für die Katzen, auf die diese Werbung abzielt, ist das verwirrend genug, ganz zu schweigen davon, dass ein Krustentier sich trockenen Boden kaum vorstellen kann. (Allerdings kommt ein heraufgeladener Panulirus dank seiner Intuition offenbar mit Dosenöffnern zurecht.)
»Können Sie uns helfen?«, fragen die Hummer.
»Lasst mich nachdenken.«
Manfred schließt das Dialogfenster, öffnet wieder die Augen und schüttelt den Kopf. Irgendwann wird auch er zu einem Hummer werden, der im Cyberspace schwimmt und mit den Zangen herumfuchtelt. In einem virtuellen Raum, der so verwirrend ausgeklügelt ist, dass seine heraufgeladene Identität nur noch von einer unbekannten Spezies zeugt. Er wird zum lebenden Fossil aus geologischen Urzeiten werden, als Masse noch unintelligent und der Weltraum unstrukturiert war. Ihm ist klar, dass er den Hummern helfen muss, das verlangt die Goldene Regel. Und da er sich in der agalmischen Wirtschaft tummelt, entscheidet bei ihm die Goldene Regel darüber, ob er vorwärts kommt oder scheitert.
Aber was kann er unternehmen?
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Unterbelichteter Nervheimer: im Original whitebread hanger-on