Inhaltsverzeichnis
DAS BUCH
DER AUTOR
Widmung
vorbemerkung des autors
Kapitel 1 - das duell
Kapitel 2 - das experiment
Copyright
DAS BUCH
Wir schreiben das 27. Jahrhundert: Der Kriegsveteran Robin unterzieht sich einem Eingriff in sein Langzeitgedächtnis, der mit einer Neudefinition seiner Persönlichkeit einhergeht. Völlig desorientiert durchläuft er eine »Bewährungsphase«. Doch mehr und mehr brechen dabei vergangene Geschehnisse in sein Bewusstsein ein, und mehr und mehr wird klar, dass ihm jemand - oder etwas - auf der Spur ist, um ihn zu töten. Also beschließt er, an einem Experiment teilzunehmen: Wissenschaftler haben anhand historischer Quellen eine Realität geschaffen, die im 21. Jahrhundert angesiedelt ist. Die Probanden agieren innerhalb neuer Persönlichkeiten, eingesperrt in ein »Glashaus«, einem Netzwerk anonymer Habitate, das in den nicht-kartierten Tiefen des interstellaren Raums treibt. Im Körper einer Frau flieht Robin in die bedrückende Atmosphäre einer Kleinstadt des 21. Jahrhunderts. Und muss bald begreifen, dass er einer gigantischen Verschwörung aufgesessen ist …
Ausgezeichnet mit dem PROMETHEUS AWARD als bester Roman des Jahres - Charles Stross’ Glashaus ist die kongeniale Weiterführung seines internationalen Bestsellers Accelerando.
DER AUTOR
Charles Stross, geboren 1964 im englischen Leeds, studierte Pharmakologie und Computerwissenschaften und arbeitete in vielen unterschiedlichen Berufen, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Mit seinem Debüt-Roman Singularität wurde er auf Anhieb zu einem der beliebtesten Science-Fiction-Schriftsteller der Gegenwart.
Im Wilhelm Heyne Verlag sind außerdem von Charles Stross erschienen: Singularität, Accelerando, Dämonentor.
Weitere Informationen zum Autor unter: www.antipope.org/charlie/index.html
Für Ken MacLeod
»Dieser Apparat«, sagte der Offizier und faßte eine Kurbelstange, auf die er sich stützte, »ist eine Erfindung unseres früheren Kommandanten … Haben Sie von unserem früheren Kommandanten gehört? Nicht? Nun, ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage, daß die Einrichtung der ganzen Strafkolonie sein Werk ist. Wir, seine Freunde, wußten schon bei seinem Tod, daß die Einrichtung der Kolonie so in sich geschlossen ist, daß sein Nachfolger, und habe er tausend neue Pläne im Kopf, wenigstens während vieler Jahre nichts von dem Alten wird ändern können … Schade, daß Sie den früheren Kommandanten nicht gekannt haben!«
Franz Kafka: In der Strafkolonie
»Wer redet heute noch von den Armeniern?«
Adolf Hitler, 1939
vorbemerkung des autors
Die Gemeinwesen, die aus der Republik Is hervorgegangen sind, gebrauchen Tage, Wochen und andere irdische Zeiteinheiten nur noch zu historischen oder archäologischen Zwecken; allerdings wurde die klassische Sekunde als Grundlage der Zeitrechnung beibehalten.
Hier ein kurzer Überblick über die Umrechnungen:
Eine Sekunde
Die Zeit, die Licht braucht, um 299 792 458 Meter im Vakuum zu durchqueren.
Eine Kilosekunde
Entspricht 16 Minuten der alten Zeitrechnung.
Hundert Kilosekunden (1 Diurn)
Entspricht 27 Stunden der alten Zeitrechnung, also einem Tag und 3 Stunden.
Eine Megasekunde (1 Zyklus)
10 Diurn. Entspricht 11 Tagen und 6 Stunden der alten Zeitrechnung.
Dreißig Megasekunden (1 M-Jahr)
300 Diurn. Entspricht 337 Erdentagen (11 Monaten) der alten Zeitrechnung.
Eine Gigasekunde
Entspricht rund 31 Erdenjahren der alten Zeitrechnung.
Eine Terasekunde
Entspricht rund 31 000 Erdenjahren der alten Zeitrechnung (der Hälfte der Zeit, die seit dem ersten Auftreten der Spezies Mensch vergangen ist).
Eine Petasekunde
Entspricht rund 31 Millionen Erdenjahren der alten Zeitrechnung (der Hälfte der Zeit, die seit dem Ende der Kreidezeit vergangen ist).
1
das duell
EIN MIT VIER ARMEN AUSGESTATTETES MENSCHENWESEN, weiblich und dunkelhäutig, geht quer durch den Club auf mich zu. Das einzige Kleidungsstück der Frau besteht aus einem Gürtel, an dem menschliche Schädel hängen. Wie ein dunkler Kranz umrahmt ihr Haar das offene, neugierige Gesicht. Offensichtlich ist sie an mir interessiert.
»Du bist neu hier, stimmt’s?«, fragt sie und bleibt vor meinem Tisch stehen.
Ich starre sie an. Abgesehen von den fein ausgebildeten zusätzlichen Schultergelenken ist der Körper, den sie sich zugelegt hat, ziemlich ortho und entspricht dem traditionellen menschlichen Bauplan. Die Schädel sind Schrumpfköpfe und hängen an einer mit Rosen verzierten Kette aus Stacheldraht.
»Ja, ich bin ein Neuling«, erwidere ich. Der Ring an meinem linken Zeigefinger löst ein leichtes Kribbeln aus und erinnert mich auf diese Weise an meinen Bewährungsstatus. »Ich muss dich darauf hinweisen, dass ich mich derzeit einer Rehabilitationsmaßnahme unterziehe, die eine Neudefinition meiner Persönlichkeit einschließt. Ich - beziehungsweise Menschen in meinem Zustand - neigen hin und wieder zur Gewalttätigkeit. Mach dir keine Sorgen, das ist nur eine Warnung, zu der ich verpflichtet bin. Ich hab keineswegs vor, dir etwas anzutun. - Wieso fragst du?«
Sie zuckt die Achseln. Es ist eine komplizierte Bewegung, die ihren Körper beben lässt und mit einem Wackeln ihrer Hüften endet. »Weil ich dich hier noch nie gesehen habe, und ich bin in den letzten zwanzig, dreißig Diurn fast jeden Abend hier gewesen. Man kann sich durch Hilfstätigkeiten nämlich zusätzliche Punkte bei der Rehabilitation verdienen. Mach dir keinen Kopf um deinen Ring. Diese kleinen Bewährungshelfer müssen wir hier fast alle tragen. Auch ich war verpflichtet, die Leute vor mir zu warnen. Ist noch gar nicht so lange her.«
Ich ringe mir ein Lächeln ab. Eine Mitpatientin also? Im Programm schon weiter fortgeschritten als ich? »Möchtest du was trinken?« Ich deute auf den Stuhl neben mir. »Und wie heißt du, wenn ich fragen darf?«
»Ich bin Kay.« Sie zieht sich den Stuhl heran und nimmt Platz. Während sie die Getränkekarte mustert, wirft sie die dunkle Haarmähne über die Schultern und verstaut die Schrumpfköpfe mit zwei Händen unter dem Tisch. »Hm, ich glaube, ich nehme als kleinen Aufputscher einen doppelten Mokka-Mix auf Eis mit wenig Coca.« Als sie mich wieder ansieht, blickt sie mir direkt in die Augen. »Die Klinik sorgt dafür, dass die Neuankömmlinge stets von einem ehrenamtlichen Helfer begrüßt werden. In dieser Schicht bin ich damit dran. Verrätst du mir, wie du heißt? Und wo du herkommst?«
»Wenn du möchtest.« Mein Ring vibriert und erinnert mich daran, dass ich jetzt lächeln sollte. »Ich heiße Robin. Und du hast recht, ich komme gerade aus dem Reha-Tank. Ehrlich gesagt, bin ich erst seit einer Meg draußen.« (Seit etwas mehr als zehn Erdentagen, seit einer Million Sekunden.) »Eigentlich stamme ich …«, ich schalte für einige Millisekunden auf QuickTime-Modus um, da ich nach einer Geschichte suche, die ich ihr präsentieren kann, und lande bei einer Version, die der Wahrheit recht nahe kommt, »… aus einer Region nicht weit von hier. Allerdings wurde gerade erst ein Eingriff in meine Erinnerungen vorgenommen. Irgendwas hat mich innerlich immer mehr ausgelaugt, also musste ich was dagegen unternehmen, was es auch gewesen sein mag.«
Kay lächelt. Sie hat hohe Wangenknochen, und zwischen ihren perfekten Lippen schimmern perlweiße Zähne. Beide Gesichtshälften sind völlig symmetrisch. Drei Milliarden Jahre evolutionärer Lernprozesse und die artenspezifischen Gene zur Gestaltung des äußeren Erscheinungsbildes haben ein Gesicht hervorgebracht, dessen Seiten wie gespiegelt wirken. Wo kommt denn dieser Gedanke her?, frage ich mich verärgert. Ist schon hart, wenn man nicht weiß, ob man ureigene Gedanken denkt oder gerade auf postoperative Identitätskrücken zurückgreift.
»Ich hab erst seit Kurzem menschliche Gestalt«, vertraut Kay mir an. »Bin gerade erst von Zemlya hierher gezogen. Wegen des Eingriffs«, fügt sie nach einer kurzen Pause leise hinzu.
Ich spiele mit den Quasten herum, die von meinem Schwertknauf herunterbaumeln. Irgendwie fallen sie nicht richtig, und das nervt mich regelrecht. »Also hast du bei den Eisdämonen gelebt?«, frage ich.
»Stimmt nicht ganz: Ich war selbst ein Eisdämon.«
Bei diesen Worten horche ich auf. Soweit ich weiß, ist mir noch nie ein echtes lebendes Alien begegnet, auch nicht ein ehemaliges Alien. »Bist du«, wie soll ich’s ausdrücken?, »bist du schon so geboren oder später für eine Weile dorthin ausgewandert?«
»Das sind gleich zwei Fragen.« Sie streckt einen Finger hoch. »Beantwortest du dafür auch meine?«
»Abgemacht.« Auch ohne Souffleur denke ich daran, bekräftigend zu nicken, was mein Ring mit einem Aufflackern von Wärme quittiert. Es ist eine primitive Methode der Konditionierung: Verhalten, das auf fortschreitende Genesung hinweist, wird belohnt; Verhalten hingegen, das das postoperative Trauma verstärkt, wird bestraft. Mir gefällt das zwar überhaupt nicht, doch für den Heilungsprozess ist diese Konditionierung angeblich wesentlich.
»Ich bin unmittelbar nach dem vorletzten Eingriff in meine Erinnerungen nach Zemlya ausgewandert.« Irgendetwas an Kays Mimik bringt mich auf den Gedanken, dass sie mir ausweicht. Was möchte sie mir vorenthalten? Ein berufliches Projekt, das fehlgeschlagen ist? Persönliche Feindschaften? »Ich wollte diese Dämonengesellschaft von innen kennenlernen.« Als ihr Cocktail auf dem Tisch auftaucht, nippt sie probeweise daran. »Diese Wesen sind echt seltsam.« Einen Augenblick lang wirkt sie nachdenklich. »Doch nachdem ich das Leben einer Generation verfolgt hatte, wurde ich … traurig.« Sie nimmt noch einen Schluck. »Eigentlich hab ich mit ihnen ja zusammengelebt, um sie zu studieren, weißt du. Aber wenn du für Gigasekunden ununterbrochen mit Leuten zusammenlebst, wirst du zwangsläufig in deren Leben mit hineingezogen. Es sei denn, du lässt dich in einen Posthumanen verwandeln und dir ein Upgrade verpassen … Nun ja, ich hab dort Freundschaften geschlossen und musste zusehen, wie meine Freunde alterten und starben, und irgendwann hab ich das nicht mehr verkraftet. Deshalb musste ich zurückkommen. Um die … die innere Belastung loszuwerden. Den Kummer.«
Gigasekunden? Eine Gigasekunde bedeutet mehr als dreißig Erdenjahre. Eine lange Zeit, wenn man sie unter Aliens verbringt. Sie mustert mich eingehend. »Der letzte Eingriff bei dir muss ja sehr präzise gewesen sein«, sage ich langsam. »Ich weiß nämlich gar nicht mehr viel über mein früheres Leben.«
»Immerhin weißt du, dass du ein Mensch gewesen bist.«
»Ja.« Eindeutig ja. Erinnerungsfetzen sind mir erhalten geblieben: das Aufblitzen von Schwertern in einer schummrigen Gasse der remilitarisierten Zone. Fontänen von Blut. »Ich war Akademiker. Mitglied der Professorenschaft.« Eine Phalanx aus Assembler-Toren, geschützt durch Firewalls, aufgereiht hinter dem beängstigenden Panzer einer Zollkontrollstelle zwischen zwei Gemeinwesen. Schreiende, um Verschonung flehende Zivilisten, die man zu einem dunklen Eingang drängt … »Hab Geschichte gelehrt.« So viel ist wahr, ist früher wahr gewesen. »All das kommt mir jetzt langweilig und sehr weit weg vor.« Das kurze Aufflackern einer Energiewaffe, danach Stille. »Im Lauf der Zeit hatte ich mich irgendwie festgefahren und brauchte was Neues, nehme ich an.«
Was fast, aber nicht gänzlich gelogen ist. Diese Entscheidung habe ich nämlich keineswegs freiwillig getroffen. Jemand machte mir ein Angebot, das ich nicht ausschlagen konnte. Ich wusste zu viel. Und das bedeutete, sich entweder auf eine Ausmerzung der Erinnerungen einzulassen oder den nächsten Tod als endgültig in Kauf zu nehmen. Zumindest stand es so in dem auf echtem Papier verfassten Brief, der mich beim Erwachen im Reha-Zentrum auf dem Nachttisch erwartete. Kurz zuvor hatten die winzigen Roboter der Klinikchirurgen - der Chirurgen, die gleichzeitig als Beichtväter amtieren - das Wasser der Lethe direkt in mein Gehirn geleitet.
Ich grinse und sichere die Halbwahrheiten mit einer regelrechten Lüge ab. »Deshalb hab ich mich einer radikalen Rekonstruktion unterzogen. Und jetzt weiß ich nicht mal mehr, warum.«
»Und fühlst dich wie ein neuer Mensch.« Sie lächelt schwach.
»Ja.« Ich mustere ihr unteres Händepaar, denn es ist nicht zu übersehen, dass sie damit herumfuchtelt. »Obwohl ich an diesem konservativen Körperbau festgehalten habe.« Tatsächlich bin ich mit einem sehr konservativen Körper aus der Erneuerung hervorgegangen: Ich bin ein drahtiger Mann mittlerer Größe mit dunklen Augen, auf dessen Schädel sich gerade dunkle Haarstoppeln abzuzeichnen beginnen, und ähnle von Kopf bis Fuß einem Eurasier aus der Epoche vor dem Raumzeitalter - einschließlich des Lederschurzes und der Hanfsandalen. »Ich habe stark ausgeprägte Vorstellungen, was mein Äußeres betrifft, und wollte sie in Wirklichkeit auch gar nicht aufgeben. Es sind zu viele Assoziationen damit verbunden. Übrigens sind das hübsche Schrumpfköpfe.«
Kay lächelt. »Danke. Und ich danke dir auch dafür, dass du nicht nachgefragt hast.«
»Nachgefragt?«
»Mir nicht die übliche Frage gestellt hast: Warum siehst du so, nun ja …«
Erst jetzt greife ich nach meinem Glas und trinke einen Schluck der ätzend kalten blauen Flüssigkeit. »Du hast gerade die ganze Lebensspanne eines Urzeitmenschen als Eisdämon verbracht, und dann sticheln die Leute, weil du zu viele Arme hast?« Ich schüttle den Kopf. »Ich bin einfach davon ausgegangen, dass du gute Gründe dafür hast.«
Sie verschränkt abwehrend beide Armpaare. »Ich würde mir wie eine Heuchlerin vorkommen, wenn ich so aussehen würde wie …« Sie blickt über mich hinweg. Es halten sich noch andere Leute in der Bar auf, darunter einige Bushujos und zwei Cyborgs, doch die meisten Anwesenden haben orthohumane Körper. Kay sieht zu einer Frau hinüber, der das lange blonde Haar von einer Kopfseite fällt, während auf der anderen Seite nur Stoppeln sprießen. Sie trägt einen hauchdünnen weißen Umhang und einen Schwertgürtel und kreischt gerade vor Lachen über irgendetwas, das einer ihrer Gefährten gesagt hat - Amokläufer auf der Pirsch nach Mitspielern. »Wie die da, zum Beispiel.«
»Aber ursprünglich warst du doch auch ein Mensch, oder nicht?«
»Innen drin bin ich’s immer noch.«
Endlich fällt der Groschen bei mir: Sie stellt in der Öffentlichkeit nur deshalb ein nicht-menschliches, fremdartiges Aussehen zur Schau, weil sie menschenscheu ist. Als ich zu der Gruppe hinüberschaue, begegnet mein Blick zufällig dem der blonden Frau. Sie sieht mich an, erstarrt und wendet sich sofort demonstrativ ab. »Wie lange gibt’s diese Bar schon?«, frage ich, während meine Ohren rot anlaufen. Was erdreistet die sich?
»Etwa drei Megs.« Kay deutet mit dem Kinn auf die Gruppe der Orthos am anderen Ende des Raums. »An deiner Stelle würde ich sie lieber nicht so offensichtlich beachten, das sind Duellanten.«
»Das bin ich auch.« Ich nicke Kay zu. »Ich finde das heilsam.«
Sie zieht eine Grimasse. »Ich spiel damit nicht herum. Es ist eklig. Außerdem mag ich keinen Schmerz.«
»Na ja, ich auch nicht«, erwidere ich bedächtig. »Aber darum geht’s dabei auch gar nicht.« In Wirklichkeit geht es darum, dass wir wütend werden, wenn wir uns nicht daran erinnern können, wer wir sind, und anfangs um uns schlagen; deshalb ist ein strukturierter, formeller Rahmen zum Abbau der Aggressionen nötig, der gewährleistet, dass kein anderer verletzt wird.
»Wo wohnst du?«, fragt Kay, die offensichtlich das Thema wechseln möchte.
»Immer noch in der Klinik. Ich meine, alles, was ich mal besessen habe … (hab ich auf der Flucht hinter mir gelassen). Jedenfalls reise ich mit leichtem Gepäck. Ich weiß ja noch immer nicht, was ich in diesem neuen Leben mit mir anfangen will, also hat es meiner Meinung nach wenig Sinn, mich mit viel Gepäck zu belasten.«
»Möchtest du noch was trinken?«, fragt Kay. »Ich lad dich ein.«
»Ja, gern.« Als mir klar wird, dass Blondie unseren Tisch ansteuert, schlägt bei mir eine Warnglocke an. Ich tue so, als bemerke ich sie gar nicht, doch im Bauch spüre ich eine altbekannte Wärme, und mein Rücken spannt sich an. Uralte Reflexe übernehmen mitsamt modernen Überlistungsstrategien, die als Codes in mir gespeichert sind, das Kommando, sodass ich verstohlen das Schwert aus der Scheide löse. Ich glaube, ich weiß, was Blondie will, und es ist mir überaus recht, es ihr zu geben. Sie ist hier nicht die Einzige, die zu Anfällen mörderischer Wut neigt - und diese Wut braucht eine Weile, bis sie wieder abkühlt. Mein Berater hat mir empfohlen, mich auf diese Wut einzulassen und ihr nachzugeben, sofern ich sie gegenüber gleichgesinnten Mitpatienten austrage. Angeblich werden sich die Wutanfälle auf diese Weise mit der Zeit legen. Und deshalb bin ich bewaffnet.
Allerdings sind diese postoperativen Wutanfälle nicht das Einzige, was mich so reizbar macht. Darüber hinaus habe ich mich vor dem Eingriff in mein Langzeitgedächtnis dafür entschieden, meine Lebensuhr zurückstellen zu lassen. Jetzt bin ich wieder ein junger Erwachsener kurz nach der Pubertät, und das bringt ganz eigene, durch hormonelle Qualen ausgelöste Turbulenzen mit sich. Dieser Zustand treibt mich dazu, in meinem Apartment ruhelos auf und ab zu tigern. Oder mich ins weiß gekachelte Badezimmer zu stellen, mir die Arme aufzuritzen und neugierig zuzusehen, wie hellrotes Blut hervorquillt. Sex hat eine derart zwanghafte Bedeutung angenommen, wie ich sie fast schon vergessen hatte. Der Sexualtrieb ist ebenso wie der Drang zu Gewalttätigkeiten bemerkenswert schwer zu unterdrücken, wenn man leer und ausgelaugt aufwacht und sich nicht mehr daran erinnern kann, wer man früher war. Aber noch mehr vergeht einem der Spaß an der Freude, wenn man schon zum zweiten oder dritten Mal einen Verjüngungszyklus mitmacht.
»Hör mal, sieh dich nicht um, aber du solltest wohl besser wissen, dass jemand drauf und dran ist …«
Ehe ich den Satz zu Ende bringen kann, beugt sich Blondie über Kays Schulter und spuckt mir ins Gesicht. »Ich verlange Satisfaktion!« Ihre Stimme klingt wie ein Diamantbohrer.
»Warum?«, frage ich mit starrer Miene, während ich mir die Wange abwische und mein Herz vor Anspannung heftig klopft. Ich kann spüren, wie sich Wut in mir aufbaut, zwinge mich aber dazu, sie zu beherrschen.
»Reicht schon, dass du lebst.«
Manche Fälle haben nach dem Eingriff einen ganz bestimmten Blick. Während sie sich in einem psychopathischen, dissoziativen Zustand befinden, sind sie immer noch damit beschäftigt, die losen Fäden ihrer Persönlichkeit und ihrer Erinnerungen zu einer neuen Identität zusammenzustricken. Dieser unsinnige Zorn auf die ganze Welt, dieser Hass auf die eigene Existenz - der oftmals dem früheren ganzheitlichen Selbst gilt, weil es sie nackt und ohne Erinnerungen der Welt ausgesetzt hat - erzeugt eine ganz eigene Dynamik. Der wilde Hass, der aus Blondies dunklen Augen sprüht, und die perfekte Muskulatur des optimierten Phänotyps verbinden sich so miteinander, dass sie ihr eine beängstigende, fast urzeitlich primitive Präsenz verleihen. Dennoch hat sie noch so viel Selbstbeherrschung, mich ausdrücklich herauszufordern, ehe sie angreift.
Die menschenscheue Kay, deren Genesungsprozess viel weiter vorangeschritten ist als der von Blondie und mir, bleibt geduckt auf ihrem Platz sitzen, als Blondie mich wütend anstarrt. Und das ärgert mich jetzt wirklich. Blondie hat kein Recht, Unbeteiligte einzuschüchtern. Möglich, dass ich mich doch besser im Griff habe, als ich es mir selbst zutraue.
»In diesem Fall« - langsam stehe ich auf, ohne den Blickkontakt mit Blondie auch nur eine Sekunde zu unterbrechen - »wär’s wohl angesagt, dass wir es in der remilitarisierten Zone untereinander austragen, wie? Nach den grundlegenden Todesregeln?«
»Ja«, zischt sie.
Ich sehe Kay an. »Hat Spaß gemacht, mit dir zu reden. Bestellst du mir noch was zu trinken? Bin gleich wieder da.« Im Rücken spüre ich Kays Blick, während ich Blondie zu dem Tor gleich neben der Bar folge, das in die RMZ führt.
Auf der Schwelle bleibt Blondie stehen. »Nach dir«, sagt sie.
»Umgekehrt. Der Herausforderer geht als Erster durch.«
Nachdem sie mir einen weiteren finsteren, eindeutig zornigen Blick zugeworfen hat, tritt sie mit großen Schritten ins T-Tor und verschwindet mit einem Flimmern. Ich wische mir die rechte Hand am Lederschurz ab, greife nach dem Heft meines Schwerts, ziehe es heraus und springe durch das Wurmloch, das von hier aus direkt zur RMZ führt.
Die Etikette eines Duells schreibt vor, dass der Herausforderer mindestens zehn Schritte Abstand zum Tor hält, doch Blondie ist in mieser Stimmung, und es ist nur gut, dass ich auf Verteidigung eingestellt und bereit zum Parieren bin, denn als ich ankomme, wartet sie schon auf mich, bereit, mir ihr Schwert auf der Stelle in den Unterleib zu rammen.
Sie ist schnell und gemein und zeigt nicht das mindeste Interesse, sich an die Regeln zu halten. Allerdings macht mir das nichts aus, denn dadurch kann ich meiner eigenen existenziellen Wut freien Lauf lassen und sie auf ein Ziel ausrichten. Seit meiner Operation verzehrt mich die Wut, der Hass auf die Kriegsverbrecher, die mich gewaltsam in diese Lage gebracht haben; aber auch der Hass auf mein früheres Ich, die Person, die sich auf die Löschung nahezu aller Erinnerungen eingelassen hat (ich weiß nicht mal mehr, ob diese Person weiblich oder männlich gewesen ist oder wie groß sie war). Jetzt bündelt sich dieser Hass und richtet sich auf ein einziges Ziel. Blondie lässt ihre Schwertklinge kreisen. Auch ihr konzentriertes Gesicht funkelt vor ungezügelter Wut - ein Spiegelbild meines eigenen.
Dieser Teil der remilitarisierten Zone ist einer zerstörten Stadt auf der alten Erde nachempfunden. Es ist eine von einer atomaren Explosion erschütterte Betonwüste. Seltsame Rankengewächse hüllen die Statuen von Eroberern ein, und überall sind die ausgebrannten Wracks vierrädriger Wagen zu sehen. Wir könnten uns ganz allein hier befinden, gestrandet auf einem Planeten, auf dem ansonsten keine mit Intelligenz begabten Wesen leben. Allein, um unserem Kummer und unserer Wut so lange freien Lauf zu lassen, bis das postoperative Trauma nach und nach schwindet.
Blondie will sich auf mich stürzen, doch ich ziehe mich vorsichtig zurück, während ich irgendeinen Schwachpunkt in ihrer Angriffsstrategie auszumachen versuche. Sie zieht die Kante der Spitze ihrer Klinge vor und die rechte Seite der linken, doch sie lässt mir keine Lücken, in die ich hineinstoßen könnte. »Mach schon, stirb!«, brüllt sie.
»Nach dir.« Während ich sie umkreise, führe ich einen Scheinangriff durch und versuche sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Gleich neben dem Tor, durch das wir gekommen sind, ragen die Ruinen eines hohen Gebäudes auf; der Schutthaufen reicht bis über unsere Köpfe. (Jetzt fällt mir auf, dass das Warnlämpchen am Tor rot blinkt. Das bedeutet, dass dieses Tor versperrt bleibt, bis einer von uns tot ist.) Der Schutthaufen bringt mich auf eine Idee. Erneut täusche ich einen Angriff vor, ziehe mich aber gleich darauf zurück und überlasse Blondie eine Eröffnung, die sie auch wahrnimmt.
Ich kann sie kaum abwehren, denn sie ist schnell. Aber sie ist nicht hinterlistig und hat ganz sicher nicht mit dem Messer in meiner linken Hand gerechnet, das bis jetzt an meinem linken Oberschenkel festgeklebt war. Als sie versucht, sich davor zu schützen, sehe ich meine Chance gekommen und stoße ihr mein Schwert in den Bauch.
Sie lässt die Waffe fallen und sinkt auf die Knie, während ich mich schwerfällig ihr gegenüber auf den Boden plumpsen lasse, einem Zusammenbruch nahe. Meine Güte, wie hat sie’s nur geschafft, mein Bein zu erwischen? Vielleicht hätte ich meinen Instinkten doch nicht so bedingungslos vertrauen sollen.
»Erledigt?«, frage ich. Plötzlich ist mir schwindlig.
»Ich …« Ihr Gesicht nimmt einen seltsamen Ausdruck an, als sie sich am Säbelkorb meines Schwertes festhält. »Äh.« Sie versucht zu schlucken. »Wer …?«
»Ich bin Robin«, sage ich leichthin, während ich sie fasziniert beobachte. Ich weiß nicht genau, ob ich jemals einen Menschen habe sterben sehen, dem ein Schwert die Eingeweide durchbohrt hat. Überall ist Blut, und es riecht wirklich scheußlich nach durchtrennten Gedärmen. Eigentlich habe ich damit gerechnet, dass sie sich jetzt krümmen und schreien würde, aber vielleicht verfügt sie über ein selbstständig arbeitendes Kontrollprogramm, das solche Reaktionen unterdrückt. Egal. Ich habe genug damit zu tun, mein Bein zusammenzupressen. Ständig quillt Blut zwischen meinen Fingern hervor. Wir sind Leidensgefährten. »Und du bist …?«
»Gwyn.« Sie schluckt. Der glühende Hass ist verloschen und hat etwas zurückgelassen, das Verwirrung sein mag.
»Wie lange ist dein letztes Back-up her, Gwyn?«
Sie kneift die Augen zusammen. »Eine. Stunde.«
»Na gut. Möchtest du, dass ich die Sache zu Ende bringe?«
Es dauert einen Moment, bis sie es schafft, ihren Blick auf meinen zu konzentrieren, dann nickt sie. »Wann? Du?«
Mit schmerzverzerrtem Gesicht beuge ich mich zu ihr hinüber und greife nach ihrem Schwert. »Wann ich mein letztes Back-up angelegt habe? Ein Back-up nach der Löschung meiner Erinnerungen, nach dem Eingriff, meinst du?«
Sie nickt, vielleicht zittert sie auch nur. Mit gerunzelter Stirn hebe ich das Schwert und richte die Klinge auf ihren Hals, was mich meine ganze Kraft kostet. »Gute Frage …«
Ich schneide ihr die Kehle durch, und das Blut spritzt überall hin.
»Gar nicht.«
Ich stolpere zum Ausgang - einem A-Tor - und weise es an, mein Bein wiederherzustellen, ehe ich zurück in die Bar befördert werde. Das Tor schaltet mich ab, und nach einer Sekunde subjektiven Zeitgefühls wache ich in der Toilettenzelle im hinteren Teil der Bar wieder auf. Mein Körper ist heil und ganz und so gut wie neu. Vielleicht eine Minute starre ich in den Toilettenspiegel und fühle mich dabei leer, aber seltsamerweise in Frieden mit mir selbst. Vielleicht werde ich bald bereit sein, ein Back-up von mir anzulegen? Ich beuge mein rechtes Bein. Der Assembler hat gute Arbeit geleistet und es in der ursprünglichen Form wieder hinbekommen; der neu gebildete Muskel funktioniert ausgezeichnet. Ich beschließe, Gwyn aus dem Weg zu gehen, zumindest so lange, bis sie in weniger blutrünstiger Stimmung ist - was dauern kann, falls sie weiter Kämpfe mit Leuten ausfechten will, die ihr überlegen sind. Gleich darauf kehre ich an meinen Tisch zurück.
Kay ist immer noch da, wie seltsam. Ich hatte eigentlich gar nicht mehr mit ihr gerechnet. (A-Tore arbeiten zwar schnell, aber es dauert trotzdem mindestens rund tausend Sekunden, einen menschlichen Körper auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen; schließlich muss man dabei mit jeder Menge Bits und Atomen herumjonglieren.)
Ich lasse mich auf meinen Stuhl fallen. Kay hat mir tatsächlich noch einen Drink bestellt. »Die Sache tut mir leid«, sage ich automatisch.
»In dieser Umgebung gewöhnt man sich daran«, erwidert sie mit philosophischer Gelassenheit. »Fühlst du dich jetzt besser?«
»Weißt du …« Ich halte inne, denn einen Moment lang befinde ich mich wieder in diesem staubigen, von Betonbrocken übersäten Ödland und spüre im Bein einen brennenden Schmerz, während mich der pure Hass zum Schlag gegen Gwyns Kopf treibt. »Es ist vorbei«, sage ich und starre auf das Glas, greife schließlich danach und leere es in einem Zug bis zur Hälfte.
»Was ist vorbei?« Ich ertappe Kay dabei, wie sie mich beobachtet. »Falls es dir nichts ausmacht, darüber zu reden«, fügt sie hastig hinzu.
Sie ist zwar verängstigt, aber voller Anteilnahme, wie mir plötzlich auffällt. Mein Bewährungshelfer, der Ring, strahlt mehrmals Wärme aus. »Nein, macht mir nichts aus.« Ich bringe ein - vermutlich leicht müdes - Lächeln zustande und stelle das Glas ab. »Ich schätze, ich bin immer noch in der dissoziativen Phase. Ehe ich heute Abend ausgegangen bin, hab ich ganz allein in meinem Zimmer herumgesessen und mit einem Skalpell hübsche Linien in beide Arme geritzt. Und darüber nachgedacht, ob ich mir die Pulsadern aufschneiden und allem ein Ende machen soll. Ich war wütend. Wütend auf mich selbst. Aber das ist jetzt vorbei.«
»So was kommt sehr häufig vor.« Ihr Ton ist vorsichtig. »Was hat bei dir die Änderung bewirkt?«
Ich runzle die Stirn. Dass meine Reaktion ein normaler Nebeneffekt der Wiedereingliederung ist, hilft mir auch nicht weiter. »Ich habe mich wie ein Blödmann verhalten. Sobald ich heimgehe, muss ich ein Back-up anlegen.«
»Ein Back-up?« Sie macht große Augen. »Du bist hier den ganzen Abend mit Schwertgürtel und Schwert herumspaziert und verfügst nicht mal über ein Back-up?« Ihre Stimme wird schrill. »Was hast du denn vor?«
»Wenn man weiß, dass man auf ein Back-up von sich zurückgreifen kann, wird die Klinge stumpf. Außerdem war ich wütend auf mich selbst.« Als ich sie ansehe, glätten sich meine Stirnfalten. »Aber man kann ja nicht ewig wütend sein.«
In Wirklichkeit ist es eher so, dass ich ein grässliches, dumpfes Angstgefühl mit mir herumschleppe. Ich fürchte mich davor, am Ende noch herauszufinden, wer ich bin oder früher einmal war. Was bedeutet es, die Gefühle anderer Menschen plötzlich wieder nachempfinden zu können, wenn man eben erst einen von ihnen mit dem Schwert durchbohrt hat? Im Mittelalter wäre Gwyns Tod eine Tragödie gewesen. Und selbst hier ist das Sterben eine Sache, die die meisten Menschen nicht auf die leichte Schulter nehmen. Einen Moment lang spüre ich den unangenehmen Drang, hinauszurennen und Gwyn zu suchen, um mich bei ihr zu entschuldigen. Aber das ist natürlich Unsinn, denn sie wird sich gar nicht an diesen Tod erinnern können, sondern sich geistig im selben Zustand wie zuvor befinden. Vermutlich würde sie mich nur zu einem weiteren Duell herausfordern und mich auf der Stelle in Hackfleisch verwandeln, da sie immer noch diese unsinnige Wut in sich trägt.
»Ich glaube, ich habe jetzt wieder Verbindung zur Realität«, sage ich langsam. »Kennst du einen Ort, der nicht so gefährlich ist wie diese Bar? Wo man nicht so leicht die Aufmerksamkeit von Amokläufern auf sich zieht?«
»Hm.« Sie mustert mich kritisch. »Wenn du das Schwert und den Gürtel ablegst, fällst du nicht weiter auf und kannst zu einem der Plätze gleich um die Ecke mitkommen. Die sind für Leute in der zweiten Phase der Genesung vorgesehen. Ich weiß, wo man echt gute altmodische Rindersteaks bekommt. Hast du großen Hunger?«
Im selben Maße, wie sich mein Appetit auf Gewalttätigkeiten nach dem Duell gelegt hat, ist mein Hungergefühl gewachsen. Kay nimmt mich mit zu einem bezaubernden, idyllischen Platz in geringer Schwerkraft, der mit Schaumbeton in Rautenmustern gefliest ist und auf dem Riesenkoniferen in Bonsaiformat wachsen. Altmodische Roboter mit Dampfantrieb rösten über dem Holzkohlegrill frisches, saftiges Rindfleisch. Während Kay und ich miteinander plaudern, fällt mir auf, dass sie sehr interessiert verfolgt, wie ich mich von den emotionalen Nachwirkungen des Eingriffs in mein Gedächtnis erhole. Meinerseits löchere ich sie nach Einzelheiten ihres Lebens unter den Eisdämonen; im Gegenzug will sie von mir alles Mögliche über die Duellschulen der Unsichtbaren Republik wissen. Sie hat einen schrägen Sinn für Humor und schlägt gegen Ende des Essens vor, eine Party zu besuchen, auf der es rund geht.
Die Party entpuppt sich als ziemlich coole, lockere Orgie im Apartment eines Patienten, der außerhalb der Klinik wohnt. Als wir ankommen, sind nicht mehr als sechs Leute da, die fast alle auf einem großen, kreisrunden Bett liegen, eine Wasserpfeife herumgehen lassen und einander zärtlich masturbieren. Kay drückt mich gleich am Eingang gegen die Wand, küsst mich und stellt mit dreien ihrer sechs Hände etwas überaus Erregendes mit meinem Perineum und den Hoden an. Während ich keuchend zurückbleibe, verschwindet sie ins Bad, um den Assembler zu benutzen. Als sie zurückkehrt, ist sie kaum wiederzuerkennen: Ihr Haar ist jetzt blau, ein Armpaar fehlt, und ihre Haut hat den Farbton von Milchkaffee angenommen. Doch als sie schnurstracks zu mir hinübergeht und mich küsst, spüre ich den unverkennbaren Geschmack ihres Mundes. Gleich darauf trage ich sie zum Bett. Nachdem wir unverzüglich übereinander hergefallen sind und den ersten Fick hinter uns haben, schließen wir uns dem Kreis mit der Wasserpfeife an. (Die Pfeife enthält Opium und als leichten Zusatz einen Phosphodiesterase-5-Hemmer.) Wir erforschen unsere Körper und die unserer Nachbarn, bis wir fast einschlafen.
Während ich neben ihr liege und unsere Gesichter einander zugewandt sind, murmelt sie: »Das hat Spaß gemacht.«
»Spaß gemacht«, wiederhole ich. »Ich hab das gebraucht …« Mein Blick verschwimmt. »Ist schon viel zu lange her.«
»Ich komme regelmäßig hierher. Und was ist mit dir?«
»Ich hab keinen …« Ich führe den Satz nicht zu Ende.
»Keinen was?«
»Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Sex hatte.«
Sie legt mir eine Hand zwischen die Oberschenkel. »Wirklich nicht?« Es scheint sie zu verwirren.
»Ich kann mich nicht daran erinnern.« Ich runzle die Stirn. »Muss es wohl vergessen haben.«
»Tatsächlich? Vergessen?«, fragt sie verblüfft. »Könnte es sein, dass du eine schlechte Beziehung oder so etwas hattest? Könnte das der Grund für deine Operation gewesen sein?«
»Nein, ich …« Ehe mir noch mehr herausschlüpfen kann, halte ich inne. Der Brief von meinem früheren Selbst hätte das enthalten, wenn es so gewesen wäre, da bin ich mir sicher. »Es ist einfach nicht mehr da. Normalerweise passiert das nicht, oder?«
»Nein.« Sie kuschelt sich an mich und streichelt meinen Hals. Zu meinem Erstaunen versteift sich mein Glied sofort wieder und drängt sich an ihren Körper. Als ich gleich darauf die Höfe rund um ihre Brustwarzen mit dem Finger umfahre, hält sie den Atem an. Das müssen wohl die Drogen sein, denke ich. Unmöglich, dass meine Erregung ohne äußeren Stimulans so lange anhält, oder? »Du wärst ein guter Proband für Yourdons Experiment.«
»Yourdons was?«
Sie versetzt mir einen kleinen Stoß in die Brust, und ich wälze mich gehorsam auf den Rücken, damit sie mich besteigen kann. Rund um das Bett ist Spielzeug verstreut, das maunzt und darum bettelt, dass man es benutzt, doch offenbar hat Kay den Drang, auf althergebrachte Weise mit mir zu schlafen, sodass sich nackte Haut an Haut reibt. Vermutlich sieht sie das irgendwie als Möglichkeit an, erneut herauszufinden, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Heftig atmend umfasse ich ihren Hintern und ziehe sie auf mich herunter.
»Yourdons Experiment. Er sucht nach Fällen schwerwiegender Amnesie und zahlt Leuten, die solche Fälle kennen, ein Honorar für den Hinweis. Ich erzähl dir später davon.«
Und dann hören wir auf zu reden, weil die Sprache die Kommunikation nur noch behindert. Hier und jetzt ist Kay alles, was ich brauche.
Danach laufe ich nach Hause, durch Straßen, die mit weichem, natürlichem Gras überzogen und mit grünen Marmorplatten überdacht sind. Das Gestein stammt aus der Lithosphäre eines Planeten, der Hunderte von Teraklicks entfernt liegt. Ich bin mit meinen Gedanken allein, und die Netzverbindung schweigt, zeigt nur eine Wegbeschreibung an. Der Straßenplan verspricht mir einen Spaziergang von fünf Kilometern, bei dem mir voraussichtlich kein Mensch begegnen wird. Zwar bin ich mit einem Schwert bewaffnet, doch ich habe nicht im Mindesten Lust auf eine weitere Herausforderung. Ich brauche Zeit zum Nachdenken, denn zu Hause erwartet mich mein Therapeut, und ich muss erst in meinem eigenen Kopf Klarheit darüber gewinnen, zu welcher Person ich mich derzeit entwickle, ehe ich mich mit ihm unterhalte.
Hier bin ich also, gesund und munter - wer immer ich auch sein mag. Ich bin Robin, stimmt’s? Ich wate im Sumpf vager Erinnerungen; es sind die Spuren, die nach dem Eingriff in mein Langzeitgedächtnis übrig geblieben sind. Die Gehirnwäsche hat meine früheren Leben mit einem Nebel überzogen, sodass nur noch verschwommene Eindrücke erhalten sind. Kurz nach dem Aufwachen musste ich mich nach meinem eigenen Lebensalter erkundigen. Wie sich herausstellte, bin ich fast sieben Milliarden Sekunden alt, obwohl meine emotionale Stabilität der inneren Verfassung eines postpubertären Mannes entspricht, der nur ein Zehntel so alt ist. Früher einmal waren die Menschen schon nach zwei Gigasekunden Greise. Wie kann ich so alt sein und mich dabei so jung und unerfahren fühlen?
In meinem Leben klaffen riesige, unerklärliche Risse. Bestimmt habe ich auch früher schon Sex gehabt, doch ich erinnere mich nicht daran. Eindeutig habe ich mich auch früher schon duelliert - aufgrund meiner Reflexe und unbewussten Fertigkeiten habe ich kurzen Prozess mit Gwyn gemacht -, aber ich erinnere mich weder an das Training noch an das Töten. Mal abgesehen von diesen seltsamen Gedankenblitzen, aber das können genauso gut Erinnerungen an ältere Unterhaltungsprogramme sein. Im Brief meines früheren Selbst stand, ich sei Akademiker gewesen - ein Militärhistoriker mit den Spezialgebieten Religiöser Wahn, Schlafkulte und Entwicklung mittelalterlicher Phänomene. Falls das stimmt, erinnere ich mich jedenfalls an nichts von alldem. Vielleicht ist es tief in mir vergraben und taucht wieder auf, wenn ich es benötige. Kann aber auch sein, dass es für immer verschollen bleibt. Ich weiß ja nicht, bis zu welchem Grad mein früheres Selbst eine Ausmerzung der Erinnerungen verlangt hat, aber es muss einer kompletten Löschung des Langzeitgedächtnisses gefährlich nahe gekommen sein.
Was ist denn überhaupt noch da?
In der Wandelhalle meines Cartesischen Theaters sind überall winzige Scherben der Erinnerung verteilt, die nur darauf warten, dass ich darauf ausrutsche oder mich an ihnen schneide. Derzeit habe ich die traditionelle Gestalt eines Menschen, eines erwachsenen Mannes - bin das überlieferte Ergebnis einer natürlichen Auslese. Dieser Körper kommt mir durchaus angemessen vor, allerdings muss es meiner Meinung nach eine Zeit gegeben haben, in der ich viel fremdartiger war. Aus irgendeinem Grund stelle ich mir vor, dass ich vielleicht ein Panzerwagen gewesen bin. (Entweder das, oder ich habe mir zu viele Simulationen von Kriegsabenteuern reingezogen, und sie sind trotz der Operation in meinem Schädel hängen geblieben, obwohl wichtige Erinnerungen verschwunden sind.) Dieses Gefühl, unerbittlich Geschütze auszufahren, dieses Gefühl eiskalt beherrschter Gewalt … Ja, vielleicht bin ich wirklich ein Panzer gewesen. Und falls ja, muss ich wohl irgendwann einen kritischen Netzzugang gesichert haben. Der Verkehr zwischen Gemeinwesen wird genau wie der innerhalb eines Gemeinwesens über T-Tore abgewickelt, über zielgerichtete Wurmlöcher, die weit voneinander entfernte Orte punktgenau verbinden. T-Tore haben zwei Endpunkte und arbeiten ohne Filter - sie lassen alles von einem Endpunkt zum anderen durch. Was innerhalb eines Gemeinwesens kein Problem darstellt, sich aber zu einem Riesenproblem auswachsen kann, wenn man eine Netzwerkgrenze gegen Angriffe anderer Gemeinwesen verteidigen muss. Deshalb die Firewall. Als Teil des Grenzschutzes musste ich sicherstellen, dass alle Einreisenden sofort zu einem A-Tor befördert wurden - wo die Assembler sie zerlegten, heraufluden und prüften, ob sie eine Bedrohung darstellten. Erst danach leiteten die Assembler deren Datenpakete zu einem anderen A-Tor innerhalb der demilitarisierten Zone weiter, wo sie wieder zusammengesetzt wurden. Normalerweise wurden Menschen nur zum Abscannen für die Zollkontrolle durch ein A-Tor geschleust. Oder sie wurden zur schnellen Weiterbeförderung zu einem Wurmloch geleitet, das dem Datenverkehr vorbehalten war. Doch zu jener Zeit wurde der Sicherheitscheck ausnahmslos bei jedem Einreisenden vorgenommen, denn wir befanden uns im Krieg.
Im Krieg? Ja, es waren die letzten Zuckungen der Zensurkriege. Ich muss mich wohl irgendwann infiziert haben, denn ich kann mich nicht mehr daran erinnern, worum es dabei eigentlich ging. Aber ich weiß noch genau, dass ich damals T-Tore des Fernverkehrs zwischen zwei Gemeinwesen bewacht habe. Und dass ich im Dienste eines der Nachfolgestaaten stand, die sich von der Republik Is abspalteten, als sich die Würmer durch deren A-Tore fraßen. Es waren Würmer, die sich als Editoren betätigten.
Und jetzt taucht eine weitere vage Erinnerung auf … Ja! Früher einmal habe ich den Linebarger Cats angehört. Oder für sie gearbeitet. Aber damals war ich kein Panzer, sondern irgendetwas anderes.
Am Ende eines muffig riechenden Ganges, der durch das steinerne Herz einer zerstörten Kathedrale führt, trete ich aus einem T-Tor heraus. Rechts und links von mir ragen riesige Säulen in den dunklen Himmel. Efeu rankt sich über die Zwischenwände aus Gitterwerk, die die Lücken zwischen den Säulen ausfüllen. (Diese Säulen sind Trugbilder, die einem ganz bestimmten Zweck dienen: Sie sind Grenzpfähle des unterirdischen Gebiets, das die Atmosphäre hier drinnen sichert. Denn der Planet unterhalb dieser fein ausgetüftelten Anlagen ist eiskalt, hat keine Atmosphäre und ist den Gezeiten seines primären Himmelskörpers unterworfen. Dieser Himmelskörper, ein Brauner Zwerg, befindet sich irgendwo im Raum jenseits des Sonnensystems, einige Hundert Trillionen Kilometer von der legendären toten Erde entfernt.) Ich spaziere durch eine Dekoration aus zerfallenden Gobelins, die ursprünglich aus karmesinroter und türkiser Wolle hergestellt sind. Die Wandteppiche zeigen uralte Szenen von Menschen in Rüstungen und langen Gewändern. Manche bekämpfen einander, andere lieben sich. Innerhalb von Sekunden überquere ich eine Kluft in der Zeit, die so riesig ist, dass meine eigene Geschichte zur Bedeutungslosigkeit verblasst.
Hier bin ich also, gestrandet am fernen Ufer der Zeit, in einem Rehabilitationszentrum, das von klinischen Chirurgen und Beichtvätern der Unsichtbaren Republik betrieben wird; streife durch die stillgelegten Hallen einer malerischen, verrückten Szenerie auf der Oberfläche eines Planeten, der Trabant eines Braunen Zwerges ist. Und versuche dabei, die Fäden meiner aufgelösten Persönlichkeit wieder zusammenzuknüpfen. Ich weiß nicht einmal, wie ich hier gelandet bin. Wie also soll ich mit meinen Therapeuten kommunizieren?
Ich folge dem blinkenden Cursor meiner übers Netz vermittelten Straßenkarte, stoße auf ein zentral gelegenes Atrium, wende mich daraufhin nach links und biege ins Mittelschiff der Kathedrale ab. Mein Weg führt mich an steinernen Altären vorbei, über denen riesengroße geschnitzte Skelette hängen. Kurz darauf gelange ich zu einer rechteckigen Öffnung im Raum - einem weiteren T-Tor. Leichtfüßig trete ich ins Wurmloch ein: Hier ist die Schwerkraft so gering, dass sie mich kaum am Boden hält, und ich spüre, wie mich eine starke Corioliskraft nach links zerrt. Das Licht wird heller, und ich erkenne, dass der Boden ein See aus irgendeiner blauen Flüssigkeit ist. Deren Oberflächenspannung ist so stark, dass ich auf dem See entlangschliddern kann und meine Füße die Flüssigkeit aufwirbeln. Auf Wasserniveau gibt es keine Türen, sondern nur Nischen und hier und da Hohlräume in der Wand. Die Luft riecht leicht nach Jod. Müsste ich eine Vermutung wagen, würde ich sagen, dass dieser Weg durch eine Kammer innerhalb eines der rätselhaften Router führt, die in dieser Region der Galaxie so viele Braune Zwerge umgeben.
Am Ende des Tunnels komme ich an mehreren dahinziehenden Wolken von menschlicher Größe vorbei. Es sind Nebel, die meine Mitreisenden einhüllen und die Privatsphäre schützen, sodass wir einander nicht zur Kenntnis nehmen müssen. Danach gelange ich eine weitere Kammer, deren Wand von einem Ring aus T-Toren umgeben ist, die zu Wurmlöchern führen, und von A-Toren, die zu Routern gehören. Als ich durch die auf der Karte markierte Tür trete, finde ich mich in einem Gang wieder, der mir bekannt vorkommt. Am Ende dieses mit natürlichem Holz getäfelten Ganges befindet sich ein Innenhof, dessen Mitte ein Zierbrunnen einnimmt. Die Atmosphäre hier wirkt friedlich und freundlich, wozu das warm glänzende Licht eines gelben Sterns beiträgt. Das ist der Bereich, in dem man mir und einer Hand voll anderer Reha-Patienten Wohnungen zugewiesen hat. Hier können wir uns, sofern es unser Zustand ohne Risiko erlaubt, in einer sicheren Umgebung mit Menschen treffen, die sich in der gleichen Phase der Genesung befinden. Außerdem ist es der Ort, an dem mich meine Therapeuten aufsuchen.
Der Therapeut, der heute Dienst hat, ähnelt nicht im Entferntesten einem Menschen, nicht einmal einer Bushujo oder einer Elfe. Piccolo-47 ist eine Drohne mittlerer Größe, die ungefähr die Form einer Birne hat und über mehrere bizarr wirkende ausfahrbare Roboterglieder verfügt. Manche dieser Glieder sind physisch gar nicht mit Piccolos Körper verbunden. Piccolo weist nichts auf, das einem Gesicht ähnelt, was ich als persönlichen Affront empfinde. (Schließlich gibt es bei Menschen die tief verwurzelte Angewohnheit, emotionale Befindlichkeiten durch das Mienenspiel zu vermitteln. Ich empfinde es deshalb als eine bewusste Brüskierung, wenn jemand ohne Gesicht in der Öffentlichkeit agiert.) Allerdings behalte ich diese Gedanken für mich. Vermutlich steckt bei der Drohne eine bestimmte Absicht dahinter: Sie will meine emotionale Stabilität testen. Wenn ich mit jemandem, der kein Gesicht hat, nicht klarkomme, wie soll ich mich dann in der Öffentlichkeit bewähren? Außerdem wird es meinen emotionalen Schwankungen nicht guttun, wenn ich mit meinem Berater Streit anfange. Ich bin müde, würde gern ein ausgiebiges Bad nehmen und schlafen gehen, deshalb beschließe ich, diese Sache ohne unangenehme Zwischenfälle hinter mich zu bringen.
»Du hast heute ein Duell ausgetragen«, sagt Piccolo-47. »Bitte schildere die Ereignisse, die dazu geführt haben, mit deinen eigenen Worten.«
Ich setze mich auf die Steintreppe unterhalb des Brunnens, lehne mich zurück, bis ich die kühlen Wasserspritzer im Nacken spüre, und versuche mir einzureden, ich hätte es hier nur mit einem Haushaltsgerät zu tun. Das hilft. »In Ordnung«, erwidere ich und fasse die Tagesereignisse zusammen - zumindest die öffentlich bekannten.
»Hat dich Gwyn deiner Meinung nach auf unangemessene Weise provoziert?«, will Piccolo-47 wissen.
»Hm.« Ich denke kurz darüber nach. »Vielleicht habe ich sie auch meinerseits provoziert«, sage ich schließlich. »Nicht mit Absicht. Aber sie hat mich dabei erwischt, wie ich sie beobachtete, und das hätte ich wahrscheinlich vermeiden können. Sofern ich es gewollt hätte.« Bei diesem Eingeständnis komme ich mir ein bisschen niederträchtig vor - allerdings nur ein bisschen. Gwyn läuft in diesem Moment herum, ohne sich irgendwie daran zu erinnern, dass ich ihre Eingeweide durchbohrt habe. Und sie hat nicht einmal eine Stunde ihres Lebens eingebüßt. Wohingegen mein Bein zuweilen immer noch zuckt und mich damit an das Duell erinnert. Außerdem bin ich das Risiko eingegangen …
»Du sagst, du hast immer noch kein Back-up angelegt. Ist das nicht ein bisschen leichtfertig?«
»Ja, stimmt«, räume ich ein und gelange dabei zu einem Entschluss. »Gleich nach Ende unseres Gesprächs werde ich eins anlegen.«
»Gut.« Ich fahre leicht zusammen und starre Piccolo-47 beunruhigt an. Normalerweise äußern Therapeuten während einer Sitzung keine Meinungen, weder positive noch negative; die Drohne hat gerade die Illusion zerstört, dass sie gar nicht präsent ist. Als ich ihren glatten Rückenschild mustere, merke ich, wie ich eine leichte Gänsehaut bekomme. »Die Überprüfung deines Verhaltens in der Öffentlichkeit weist darauf hin, dass du gute Fortschritte machst. Ich möchte dich dazu ermutigen, den Reha-Sektor weiter zu erkunden und die Selbsthilfegruppen der Patienten zu nutzen.«
»Hm.« Ich starre die Drohne an. »Ich dachte, du dürftest gar nicht mit Vorschlägen eingreifen …?«
»Wenn Patienten infolge der Ausmerzung ihrer Erinnerungen an ernsthaften dissoziativen Störungen der Psyche leiden, ist eine Intervention in der frühen Genesungsphase nicht ratsam. Allerdings kann sie in späteren Stadien angemessen sein, um einen Patienten anzuleiten, der bedeutende Fortschritte erkennen lässt.« Piccolo-47 hält kurz inne. »Ich würde gern eine Bitte äußern, die du aber auch ausschlagen kannst.«
»Hm?« Ich starre auf den Rücken der Drohne, der den Betriebsmechanismus birgt. Er ähnelt einerseits einem schillernden Blumenkohl, der sich hebt und senkt, aufschimmert und atmet, andererseits aber auch einer liegenden, nach außen gestülpten Lunge, die elektrolytisch arbeitet und mit Titan überzogen ist. Auf faszinierende Art wirkt sie ganz und gar unmenschlich. Es ist eine makroskopische Nanomaschine, so komplex, dass sie fast ein Eigenleben zu besitzen scheint.
»Du hast gesagt, die Patientin Kay habe dir gegenüber das Yourdon-Experiment erwähnt. Der Geschichtsprofessor Yourdon ist ein Kollege, mit dem ich zusammenarbeite, und Kay hat völlig recht: Der ziemlich weit reichende Eingriff in deine Erinnerungen legt nahe, dass du dich hervorragend für dieses Projekt eignen würdest. Außerdem glaube ich, dass die Teilnahme deinen Genesungsprozess auf lange Sicht unterstützen könnte.«
»Nun ja.« Mir entgeht es durchaus nicht, wenn mich jemand über den Tisch ziehen will. »Du musst mir schon mehr darüber erzählen.«
»Selbstverständlich. Kann das einen Moment warten?« Mir ist klar, dass Piccolo-47 auf QuickTime-Modus umgeschaltet hat und jemandem eine Nachricht schickt, denn die Aufmerksamkeit der Drohne ist jetzt auf anderes gerichtet. Ich sehe, dass die Peripheriesensoren nicht mehr auf einen Punkt konzentriert sind und der zugrunde liegende Betriebsmechanismus nicht mehr schimmert. »Ich habe mir erlaubt«, erklärt Piccolo-47, »dem Koordinationsbüro dein öffentlich zugängliches Patientenprofil zu übermitteln, Robin. Das Experiment, das ich erwähnt habe, ist ein interdisziplinäres Projekt, das von den Abteilungen Archäologie, Geschichte, Psychologie und Angewandte Sozialwissenschaft des Scholastiums gemeinsam durchgeführt wird. Professor Yourdon fungiert dabei als verantwortlicher Koordinator. Falls du als Freiwilliger daran teilnehmen möchtest, wird eine Kopie deines nächsten Back-ups - oder auch dein Original, falls du dich mit Haut und Haar darauf einlassen willst - unverzüglich als separate Einheit in eine experimentelle Gemeinschaft eingefügt. Dort wird deine Verkörperung - oder dein Ich - dreißig bis hundert Megasekunden lang mit rund hundert anderen Freiwilligen zusammenleben.« Das entspricht ein bis drei Jahren der alten Zeitrechnung.
»Die Gemeinschaft ist als ein Experiment angelegt, bei dem gewisse psychologische Zwänge erforscht werden sollen - Zwänge, die man gemeinhin mit dem Leben vor den Zensurkriegen verbindet. Mit anderen Worten: Es handelt sich um den Versuch, eine Kultur zu rekonstruieren, von der wir nur noch wenig wissen.«
»Also ist es ein gesellschaftliches Experiment?«
»Ja. Über viele Epochen in unserer Geschichte haben wir nur begrenztes Material. Seit Beginn des Zeitalters der mit Empfindungen begabten Maschinerie sind allzu oft mittelalterliche Zustände eingerissen. Manchmal ohne jede Absicht. Die Schlimmste der dunklen Epochen, kurz vor Beginn des Zeitalters empfindungsbegabter Maschinen, resultierte aus der Unfähigkeit der Menschen, eine auf Informationen basierende Volkswirtschaft zu verstehen. Folglich übernahmen sie Formate der Datenpräsentation, die mit dieser Wirtschaftsform nicht vereinbar waren. Manchmal wurden solche mittelalterlichen Zustände aber auch bewusst herbeigeführt, etwa in den Zensurkriegen. Insgesamt läuft es darauf hinaus, dass über lange Epochen unserer Geschichte fast nur verzerrte Informationen vorliegen - verzerrt durch die Brille der Beobachter. Die politische Propaganda, die Unterhaltungsprogramme und unser Selbstverständnis wirken so zusammen, dass wir keine akkuraten Beschreibungen erhalten. Und die mit unserer hohen Lebenserwartung verbundene Notwendigkeit, uns von Zeit zu Zeit von Erinnerungen zu befreien, beraubt uns der subjektiven Erfahrung. Deshalb zielt Professor Yourdons Experiment darauf ab, die Entwicklung sozialer Beziehungen in einer Frühkultur des Zeitalters empfindungsbegabter Maschinen zu erforschen, von der wir heute kaum noch etwas wissen.«
»Ich hab’s kapiert, glaube ich.« Ich scharre mit den Füßen auf den Steinstufen herum und lehne mich gegen den Brunnen. Die Stimme von Piccolo-47 trieft vor schleimigen Beruhigungsversuchen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Drohne mich mit Wohlfühl-Pheromonen einnebelt, doch wenn ich richtig vermute, hat sie übersehen, dass ich meine Wachsamkeit durch simple körperliche Unannehmlichkeiten aufrechterhalten kann. Das eiskalte Wasser, das mir regelmäßig auf den Nacken tröpfelt, erzeugt einen ständigen Gegenreiz.
»Also, was wird von mir erwartet? Ich soll zehn Megs lang in dieser Gemeinschaft leben? Und dann was? Was soll ich dort tun?«
»Das kann ich dir nicht in allen Einzelheiten sagen«, erklärt Piccolo-47 in gewinnendem, ruhigem Ton. »Denn das würde die Authentizität des Experiments beeinträchtigen. Dessen Ziele und Wirkungsweisen dürfen den Probanden nicht bekannt sein, wenn der Versuch irgendeine empirische Validität haben soll. Schließlich wollen wir eine lebendige, reale Gesellschaft simulieren. Allerdings kann ich dir verraten, dass du jederzeit gehen kannst, sobald das Experiment ein Endstadium erreicht hat, das der Torwächter als akzeptabel klassifiziert. Oder wenn der Ethikausschuss, der das Experiment überwacht, dir ein früheres Ausscheiden genehmigt. Innerhalb des Experiments sind dir gewisse Beschränkungen auferlegt. Das gilt sowohl für deine Bewegungsfreiheit als auch für den Zugang zu Informationen und die medizinische Versorgung. Darüber hinaus gelten gewisse Einschränkungen für die Nutzung künstlicher Objekte und Dienstleistungen: Du musst auf alles verzichten, was erst nach der Epoche, die wir erforschen, aufgetaucht ist. Von Zeit zu Zeit wird der Torwächter den Versuchspersonen gewisse Informationen zum besseren Verständnis dieser Gesellschaft übermitteln. Ehe du mitmachen kannst, brauchen wir eine beglaubigte Einverständniserklärung von dir. Aber wir können dir jetzt schon zusagen, dass deine Würde und all deine Rechte gewahrt bleiben.«
»Und was springt für mich dabei heraus?«, frage ich unverblümt.
»Man wird dich für die Teilnahme fürstlich entlohnen.« Piccolo- 47 klingt fast so, als empfände er meine Frage als peinlich. »Außerdem gibt es Zusatzprämien für Probanden, die aktiv zum Erfolg des Projekts beitragen.«
»Aha.« Ich grinse meinen Therapeuten an. »Aber das hab ich gar nicht gemeint.« Falls er glaubt, ich brauchte ein Guthaben, liegt er völlig falsch. Ich weiß zwar nicht, für wen ich früher gearbeitet habe - ob es tatsächlich die Linebarger Cats waren oder eine andere, dunklere (und noch bedrohlichere) Macht -, aber eines ist sicher: Als meine Auftraggeber mir befahlen, mich einem Eingriff in meine Erinnerungen zu unterziehen, ließen sie mich nicht mittellos zurück.
»Außerdem ist da auch noch der therapeutische Aspekt«, fährt Piccolo-47 fort. »Offenbar hast du Probleme mit der Entwicklung und Umsetzung von Zielen. Diese Probleme haben mit der fast vollständigen Blockade der Aktivitäten in deiner Großhirnrinde zu tun, soweit sie die Belohungs- und Motivationszentren betreffen; hinzu kommt die Löschung der damit verbundenen Erinnerungen an deine frühere Tätigkeit. Offen gesagt, fühlst du dich zumindest meiner Meinung nach orientierungslos und unproduktiv. Innerhalb der simulierten Gemeinschaft wird man dir eine Beschäftigung zuweisen und von dir erwarten, dass du arbeitest. Man wird dich in eine Gemeinschaft von Gleichgestellten einführen, von Leuten, die sich alle in einer ähnlichen Lage wie du selbst befinden. Vermutlich wird das Experiment den Nebeneffekt haben, dass sich so etwas wie Kameradschaft entwickelt und du einen neuen Sinn in deinem Leben entdeckst. Dabei wird dir auch Zeit bleiben, deinen persönlichen Interessen nachzugehen und eine Richtung einzuschlagen, die zu deiner neuen Identität passt, ohne dass du dem Druck früherer Geschäftspartner oder Bekannter ausgesetzt bist. Und du wirst für deine Teilnahme, wie schon erwähnt, gut bezahlt werden.« Piccolo-47 hält kurz inne. »Übrigens hast du eine Mitstreiterin in diesem Experiment bereits kennengelernt.«
Volltreffer.
»Ich werde darüber nachdenken«, erkläre ich unverbindlich. »Schick mir die Details, dann überleg ich’s mir. Aber ich werde nicht auf der Stelle ablehnen oder zusagen.« Ich grinse noch breiter, sodass meine Zahnreihen zu sehen sind. »Ich mag es nämlich nicht, wenn man mich unter Druck setzt.«
»Das verstehe ich.« Piccolo-47 steigt ein bisschen in die Höhe und zieht sich etwa einen Meter zurück. »Bitte entschuldige mich jetzt. Ich bin sehr daran interessiert, dass das Experiment erfolgreich verläuft.«
»Na klar.« Ich gebe der Drohne durch ein Zeichen zu verstehen, dass sie verschwinden kann. »Entschuldige, aber ich brauch jetzt wirklich ein bisschen Privatsphäre. Ich bin ja noch immer nicht richtig wach, weißt du.«
»Wir sprechen uns in etwa einem Diurn wieder«, erklärt Piccolo- 47, steigt weiter hinauf und kreist auf ein Loch zu, das in der Decke schimmert. »Auf Wiedersehen.«
Als die Drohne verschwunden ist, bleibt nur ein schwacher Geruch von Lavendel zurück, der bei mir überaus lebhafte Erinnerungen auslöst. Erinnerungen an den Geschmack und die Berührung von Kays Zunge, die meine Lippen erforscht.
2
das experiment
WILLKOMMEN IN DER UNSICHTBAREN REPUBLIK.
Die Unsichtbare Republik ist als einer der Nachfolgestaaten aus der zerfallenden Republik Is hervorgegangen - eine Folge mehrerer Zensurkriege, die vor fünf bis zehn Gigasekunden wüteten. Während der Kriege wurde das Netzwerk von T-Toren, die weite Entfernungen zu überbrücken halfen und die untergeordneten Netze der Hypermacht miteinander verbanden, so zerstört, dass nur lose miteinander verknüpfte Netze zurückblieben. An deren Grenzen wurden durch Firewalls gesicherte Assembler-Tore installiert und von grimmigen Söldnertruppen bewacht. Einreisende zwang man dazu, sich einer Zerlegung der Datenpakete zu unterziehen und auf subversive Merkmale hin abscannen zu lassen. Erst nach dieser Prozedur wurde ihre Integrität, sofern nichts dagegen sprach, wiederhergestellt und ihnen der Grenzübertritt gestattet. In den sauerstofflosen, kryogenischen Zonen, in denen sich die Knotenpunkte für die Fernstrecken befanden - über diese Knotenpunkte wurde auch der Datenverkehr zwischen den feindlichen Gemeinwesen abgewickelt -, tobten wahre Schlachten. Derweil lauerten die von den Zensoren freigesetzten Editor-Würmer in der Firmware jedes A-Tores, das sie kontaminieren konnten. Sobald die hierher Fliehenden die Tore passierten, zerstörte die von Viren verseuchte Fracht dieser Würmer gnadenlos alles, was die Flüchtlinge über die Ursachen des Konflikts wussten.
Wie fast alle menschlichen Gemeinwesen seit der Epoche der Beschleunigung war auch die Republik Is als typische Netzwerk-Zivilisation stark von den Assembler-Toren abhängig, und das betraf sowohl die Produktion als auch die Router, Schalter, Filter und andere wesentliche Elemente. Die Fähigkeit der Nanoassembler, Artefakte und Organismen auf der Basis nicht aufbereiteten, in Atome zerlegten Materials zu dekonstruieren und später zu replizieren, machte sie buchstäblich unentbehrlich. Und das nicht nur für die Produktion und für medizinische Zwecke, sondern auch für die virtuelle Beförderung und die auf Molekularebene wirkenden Firewalls. (Schließlich ist es leichter, hundert heraufgeladene Dokumentvorlagen gleichzeitig durch ein T-Tor zu schleusen als hundert menschliche Körper aus Fleisch und Blut.)
Selbst als die A-Tore aufgrund des Krieges der Subversion ausgesetzt waren und die Editor-Würmer sie verseuchten, wollte niemand gänzlich auf sie verzichten. Die Aussicht darauf, alt und gebrechlich zu werden oder unter Verletzungen zu leiden, schien schlimmer als das Risiko verstümmelter Erinnerungen. Die wenigen Paranoiker, die sich weigerten, durch die kontaminierten Tore zu gehen, fielen bald nicht mehr ins Gewicht: Sie starben an den Gebrechen des Alters oder aufgrund von Verletzungen, die sich ein Großteil von ihnen bei Unfällen zuzog.
Mittlerweile können diejenigen, die die A-Tore weiter nutzten, nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, was der Einsatz dieser Würmer überhaupt bezweckte. Sie können sich nicht daran erinnern, was dadurch kaschiert oder aus dem Gedächtnisspeicher gelöscht werden sollte. Sie wissen ja nicht einmal mehr, wer die Zensoren waren.
Allerdings brachte der Druck der Zensur die Menschen dazu, allen A-Toren, die sie nicht selbst kontrollierten, zu misstrauen. Anders war es bei den T-Toren, denn Masse oder Daten, die durch ein solches Tor befördert werden, kann man nicht zensieren. Ein T-Tor ist nichts anderes als ein Wurmloch aus gekrümmter Raumzeit, das zwei voneinander entfernte Punkte verbindet. Deshalb ging man dazu über, auch den Kurzstreckenverkehr über die sicheren T-Tore abzuwickeln. Gleichzeitig wurden kaum noch materielle Dinge erzeugt, weil ein jeder den verseuchten Assembler-Toren misstraute. Das führte zu einem Zusammenbruch der Volkswirtschaft und später auch zur Auflösung des Kommunikationssystems. Ganze Netzwerke von T-Toren, die intern eng verbunden waren, auch wenn sie in räumlicher Hinsicht nicht nahe beieinander lagen, begannen sich aus dem größeren Netz auszuklinken. Die Tage der Republik Is waren gezählt. Dort, wo früher einmal unzählige öffentlich zugängliche Einkaufszentren auf offenem Gelände zum Besuch geladen hatten, schossen beängstigende, waffenstarrende Kontrollpunkte wie Pilze aus dem Boden - Grenzposten zwischen virtuellen Republiken, die von Firewalls umgeben waren.
Aber all das ist Geschichte. Nach dem Zerfall der Republik Is bildete sich die Unsichtbare Republik als einer der ersten Nachfolgestaaten heraus. Diese neue Republik schuf ein internes Netz von T-Toren, das sie vehement von der Außenwelt abschottete, bis die erste Generation neuer A-Tore verfügbar war. Die Entwicklung war mühsam und aus eigener Kraft erfolgt - angefangen bei der manuellen Eingabe der Lithographien von Quantenpunkten. Anfangs bestanden die Unsichtbaren aus mehreren akademischen Einrichtungen, die in der Frühzeit der Zensurkriege ein weit verbreitetes Treuhandsystem ins Leben gerufen hatten.
Von ihren militärisch-akademischen Wurzeln haben sich diese Einrichtungen noch immer nicht gelöst. Das sogenannte Scholastium betrachtet Wissen als Macht und strebt danach, die Daten zu restaurieren, die während der schlimmen, dunklen Epochen verloren gegangen sind. Allerdings ist die Frage, ob es ratsam sei, die Ursachen der Zensur aufzudecken, Gegenstand hitziger Debatten. Fast jeder hat während der Kriege Teile seines bewussten Lebens eingebüßt, und weitere Milliarden Menschen sind für alle Ewigkeit gestorben. Der Versuch, die Voraussetzungen für den schlimmsten Holocaust seit dem dreiundzwanzigsten Jahrhundert zu rekonstruieren, ist durchaus umstritten.
Ironischerweise ist die Unsichtbare Republik jetzt der Ort, zu dem die Menschen hinströmen, um ihre Vergangenheit zu vergessen. Wir, die wir Menschen geblieben sind (auch wenn wir uns
Titel der englischen Originalausgabe GLASSHOUSE Deutsche Übersetzung von Usch Kiausch
Verlagsgruppe Random House
Deutsche Erstausgabe 1/08 Redaktion: Angela Kuepper
Copyright © 2006 by Charles Stross Copyright © 2008 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH www.heyne.deTitelbild: Stephane Martinière
eISBN : 978-3-894-80444-2
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