Singularität - Charles Stross - E-Book

Singularität E-Book

Charles Stross

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Beschreibung

Einmalig in Raum und Zeit

21. Jahrhundert: Bahnbrechende Erkenntnisse der Quantenphysik lassen Zeitreisen möglich werden. Während die Wissenschaft noch diskutiert, nimmt eine haushoch überlegene Intelligenz Kontakt auf: Das Eschaton kommt aus der Zukunft und untersagt den Menschen jede Verletzung der Kausalität. Wer sie bedroht, wird vernichtet.
24. Jahrhundert: Fern der Erde leben die Menschen der Neuen Republik unter der Knute eines technikfeinden Systems, als es plötzlich technische Geräte regnet. Das Festival, einst Teil der menschlichen Zivilisation, jetzt mobiler Informationsdienst, reist durch die Sphäre bewohnter Welten und verteilt seine Gaben. Die Admiralität ersinnt einen verwegenen Plan: Bis an die Zähne bewaffnet wird ein Schiff in die Vergangenheit geschickt, um das Festival zu zerstören ...

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Seitenzahl: 671

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Das Buch

Bahnbrechende Erkenntnisse in der Quantenlogik sowie die Entwicklung eines Überlichtgeschwindigkeits-Antriebs bestimmen das Weltgeschehen im 21. Jahrhundert. Während die Diskussionen um den Nutzen von Zeitreisen und die damit einhergehenden Verletzungen der Kausalität die Wissenschaft in Atem halten, stochert unversehens eine haushoch überlegene Intelligenz in dem Ameisenhaufen der irdischen Zivilisation und bringt folgende Botschaft: »Ich bin das Eschaton. Ich bin nicht euer Gott. Ich stamme von euch ab und existiere in eurer Zukunft. Ihr dürft innerhalb meines historischen Lichtkegels nicht die Kausalität verletzen. Wehe, wenn doch!« Binnen Sekunden kommt es zu dramatischen Veränderungen: Neun Milliarden Menschen werden aus dem Universum herausgeschleudert – und wer immer in der Folge die Kausalität zu verletzen droht, wird vernichtet.

 

Rund vierhundert Jahre später, fern von der alten Erde, leben die Menschen der Neuen Republik unter der Knute eines technikfeindlichen feudalistischen Systems. Da regnet es Telefone vom Himmel, und eine Stimme fordert Informationen im Austausch gegen Gaben jeglicher Art. Es ist die Stimme des Festivals; einst Teil einer menschlichen Zivilisation, fungiert es nun als mobiler Informationsdienst und reist im Zickzackkurs durch die Sphäre bewohnter Welten. Schnell macht sich eine Gruppe verzweifelter Dissidenten die Gabenvielfalt der unbekannten Macht zunutze. Während die Zustände in der Neuen Republik eskalieren, ersinnt die Admiralität einen verwegenen Plan: Bestückt mit geächteten Waffen, begibt sich die Lord Vanek auf einen Kurs in die unmittelbare Vergangenheit, um das Festival zu zerstören …

 

»Ein grandioser Debüt-Roman! Für Autoren wie Charles Stross wurde die Science Fiction erfunden.« – Locus Magazine

Der Autor

Charles Stross, geboren 1964 im englischen Leeds, studierte Pharmakologie und Computerwissenschaften und arbeitete in den unterschiedlichsten Berufen, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. »Singularität«, sein erster Roman, wurde auf Anhieb ein großer Erfolg.

 

Weitere Informationen zum Autor unter:

www.antipope.org/charlie/index.html

Charles Stross

Singularität

Roman

Aus dem Englischen von Usch Kiausch

Wilhelm Heyne VerlagMünchen

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Titel der englischen Originalausgabe SINGULARITY SKY

Deutsche Übersetzung von Usch Kiausch

Copyright © 2003 by Charles Stross

Copyright © 2005 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Angela Kuepper

Titelbild: Stephane Martinière

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

ISBN 978-3-641-15606-0V002

www.heyne.de

Inhaltsverzeichnis

PrologEin Sturm braut sich zusammenVorbereitungen zum AufbruchDer raumartige EreignishorizontDer Mann des AdmiralsZwischenfall am Wolf DepositoryTelegramm von den TotenEin semiotischer KriegBekenntnisseDiplomatisches VerhaltenEinladung zu einer ExekutionZirkus des TodesSpringerJokerDer ReparaturdienstLieferserviceEpilog

Prolog

AM TAG, AN DEM DER KRIEG ERKLÄRT WURDE, regnete es Telefone aus dem Himmel über Nowyj Petrograd. Scheppernd fielen sie auf das Kopfsteinpflaster. Manche waren durch die Hitze des Wiedereintritts in die Atmosphäre halb geschmolzen, andere klingelten und tickten, während sie in der kalten Luft des frühen Morgens abkühlten. Eine neugierige Taube hüpfte, den Kopf schief gelegt, näher heran, hackte mit dem Schnabel auf das glänzende Gehäuse eines Apparats ein und flatterte erschrocken davon, als ein Piepen ertönte. »Hallo? Bist du bereit, uns zu unterhalten?«, meldete sich eine blecherne Stimme.

Das Festival war zu Rochards Welt vorgedrungen.

Ein magerer Straßenjunge war eines der ersten Opfer des Angriffs auf die wirtschaftliche Integrität der Welt, die als jüngste Kolonie zur Neuen Republik zählte. Rudi – niemand kannte seinen Familiennamen, ganz zu schweigen von seinem leiblichen Vater – fand eines der Telefone in der Gosse einer schmutzigen Gasse. Einen übel riechenden Sack wie das Bettzeug eines Soldaten über die Schulter geworfen, ging Rudi seiner täglichen Arbeit nach. Das Telefon, das auf dem bröckeligen Pflaster lag, glänzte wie polierter Gussstahl. Ehe Rudi es aufhob, blickte er sich verstohlen um; womöglich war der feine Herr, der es verloren haben musste, noch in der Nähe. Als es zirpte, hätte er es vor Angst beinahe fallen gelassen: ein Apparat! Jegliche Maschinen und Apparate waren der Oberschicht vorbehalten und für die Allgemeinheit verboten, die grimmigen Gesichter und grauen Uniformen der Staatsgewalt wachten streng darüber. Trotzdem: Wenn er es mit nach Hause nahm, zu Onkel Schmuel, würden sie vielleicht endlich mal etwas Anständiges zu essen bekommen. Etwas Besseres als das, was er sonst mit den täglichen Einnahmen beschaffen konnte. Denn diese erschöpften sich darin, dass er der Gerberei jeden Tag einen Sack Hundekot verkaufte. Als er das Telefon herumdrehte, weil er sich fragte, wie es abzuschalten war, meldete sich eine blecherne Stimme: »Hallo? Bist du bereit, uns zu unterhalten?«

Fast hätte Rudi das Telefon weggeworfen und wäre davongerannt, aber die Neugier war stärker. »Warum?«

»Unterhalte uns, dann schenken wir dir alles, was du willst.«

Rudi machte große Augen. Das Metallgehäuse funkelte viel versprechend in seinen hohlen Händen. Ihm fielen die Märchen ein, die seine älteste Schwester ihm früher erzählt hatte, ehe sie Opfer dieses schrecklichen Hustens geworden war – Erzählungen von Wunderlampen, Zauberern und Dämonen, die Pater Boroschowski ganz sicher als gotteslästerlichen Unsinn verdammt hätte. Und so kämpfte sein Bedürfnis, dem dumpfen, grausamen Alltag zu entfliehen, gegen seinen natürlichen Pessimismus an, jenen Pessimismus, den er sich in kaum mehr als zehn Jahren zermürbender Arbeit zu Eigen gemacht hatte. Der Realismus siegte. Was er sagte, war nicht: »Ich wünsche mir einen fliegenden Teppich und eine Börse voller Goldrubel« oder »Ich möchte Prinz Michail sein und im königlichen Palast wohnen«, sondern »Könnt ihr meiner Familie zu essen geben?«

»Ja. Unterhalte uns, dann geben wir deiner Familie zu essen.«

Rudi zermarterte sich das Hirn, denn er hatte keine Ahnung, wie er diesen ausgefallenen Wunsch erfüllen sollte, doch dann blinzelte er: Die Lösung lag ja auf der Hand! Er hielt das Telefon an den Mund und flüsterte: »Soll ich euch eine Geschichte erzählen?«

Am Ende des Tages, mittlerweile fiel das Manna aus dem Orbit, und Menschheitsträume trieben wie Gewächse nach einem Wüstenregen die seltsamsten Blüten, waren Rudi und seine Familie – die kranke Mutter, der versoffene Onkel und sieben Geschwister – nicht länger Bestandteil der heimatlichen Volkswirtschaft.

Der Krieg war erklärt.

 

 

TIEF IN DEN ÄUSSEREN REGIONEN des Sternsystems schuf die Bauflotte des Festivals Gebilde aus toter Masse. Die Flotte des Festivals reiste in superleichten Nomaden-Starwisps, deren MASER-Antrieb die Strahlungsemission zur Verstärkung von Mikrowellen ausnutzte. Das Gehetze der rein menschlichen Populationen mit ihren Antrieben, die für Überlichtgeschwindigkeit sorgten, verachtete das Festival. Wenn seine Flotte irgendwo ankam, liefen die Fusionsreaktoren auf Hochtouren, und künstliches Leben, das Insekten ähnelte, breitete sich schnell und massenweise in den eisigen Tiefen des äußeren Sternsystems aus. Sobald die Habitate vollendet waren und in die Umlaufbahn des Zielplaneten vorrückten, tauchten die Reisenden aus ihrem Kälteschlaf auf, bereit, Handelsbeziehungen einzugehen und zuzuhören.

Rochards Welt war eine äußerst rückständige Kolonie der Neuen Republik, die selbst nicht gerade zu den besonders zukunftsorientierten menschlichen Zivilisationen der Post-Diaspora zählte. Aufgrund der nur schwach entwickelten Industrie – nicht nur die eigenen Fähigkeiten, sondern auch die Gesetze verhinderten neue Entwicklungen – zog diese Welt kaum Handel an, und es gab nur wenige Augen, die den Himmel nach verräterischen Anzeichen von Besuchern absuchten. Lediglich der Raumhafen, der sich in einer zur Oberfläche synchronen Umlaufbahn befand, hielt Wache, konzentrierte sich dabei jedoch auf die Ekliptik des inneren Systems. Die Flotte des Festivals hatte einen riesigen Gasmond und drei Kometen in Einzelteile zerlegt und auf einem zweiten Mond die Arbeit aufgenommen. Jetzt bereitete sie sich darauf vor, Telefone aus dem Orbit regnen zu lassen, ehe das Reichsministerium zur Verkehrsüberwachung merkte, dass irgendetwas nicht mehr am alten Platz war.

Überdies herrschte anfangs beträchtliche Verwirrung. Die Neue Republik zählte zwar nicht zu den Kernwelten, war aber auch nicht allzu weit ab vom Schuss. Dagegen lag der Ursprung des Festivals weit außerhalb des Lichtkegels, der vom Ursprung der Neuen Republik ausging – mehr als tausend Lichtjahre von der alten anarchistischen Erde entfernt. Zwar konnten Neue Republik und Festival auf eine gemeinsame Ahnenreihe zurückblicken, aber ihre Entwicklung war seit so vielen Jahrhunderten in divergierende Richtungen verlaufen, dass sie sich mittlerweile schon aufgrund ihrer Genome in jedem einzelnen Punkt voneinander unterschieden – und das betraf die Gepflogenheiten von Kommunikation gleichermaßen wie die Volkswirtschaft.

Und so kam es, dass das Festival im Orbit das bedächtige, eintönige Geschwätz der Reichsverkehrsüberwachung zwar bemerkte, aber nicht weiter beachtete. Was noch unerklärlicher war: Niemandem im Herzoglichen Palast kam es in den Sinn, eines der halb zusammengeschmolzenen Telefone, mit denen das Land überschwemmt war, tatsächlich aufzuheben, um zu fragen: »Wer seid ihr, und was wollt ihr?« Aber vielleicht war es doch nicht so erstaunlich. Denn am späten Nachmittag hatte sich in Nowyj Petrograd bereits ein Bürgeraufstand ausgebreitet, der kaum noch zu kontrollieren war.

 

 

BURIJA RUBENSTEIN, RADIKALER JOURNALIST, Agitator für demokratische Rechte, ehemals politischer Gefangener, lebte mittlerweile am Stadtrand in der inneren Emigration, da man ihm auf mindestens zehn Jahre die Rückkehr zu seinem Heimatplaneten untersagt hatte, wo er seine geliebte Frau und den Sohn hatte zurücklassen müssen. Mit einem Finger voller schwarzer Tintenflecken  – sein Füller leckte – stieß er gegen den silbernen Gegenstand auf seinem Schreibtisch. »Und du sagst, die sind überall vom Himmel gefallen?«, fragte er mit Unheil verkündender Ruhe.

Marcus Wolff nickte. »In der ganzen Stadt. Mischa hat mir in einem Telegramm mitgeteilt, dass es sich auch im Hinterland so verhält. Die Männer des Herzogs sind in großer Zahl mit Besen und Säcken ausgezogen, um sie einzusammeln, aber es sind zu viele vom Himmel geregnet. Und auch noch andere Dinge.«

»Andere Dinge.« Es war nicht als Frage formuliert, aber Burijas hochgezogene Braue machte deutlich, dass er mehr erfahren wollte.

»Dinge, die vom Himmel fallen – und es ist nicht der übliche Regen von Fröschen!« Oleg Timoschewski hüpfte so aufgeregt hin und her, dass er fast eines der Schreibmaschinengehäuse vom nebenstehenden Küchentisch gestoßen hätte. Die Schreibmaschinen waren Teil der illegalen Druckerei, die Rubenstein auf die Gefahr hin, zehn weitere Jahre im Exil verbringen zu müssen, hier eingerichtet hatte.

»Dinger wie Telefone, glaube ich, zumindest antworten sie, wenn man sie was fragt. Alle sagen dasselbe: Unterhalte uns, bring uns was bei, dann geben wir dir im Gegenzug alles, was du willst. Und das tun sie wirklich! Ich hab mit eigenen Augen gesehen, wie ein Fahrrad vom Himmel fiel. Und nur deswegen, weil Georgi Pawlowitsch sich eines gewünscht hat und dem Apparat die Geschichte von Roland erzählt hat, während er darauf gewartet hat.«

»Fällt mir schwer, das zu glauben. Vielleicht sollten wir es mal ausprobieren?« Burija grinste hinterhältig, auf eine Art, die Marcus an die alten Zeiten erinnerte, als Burija während des gescheiterten Oktoberaufstands vor zwölf Jahren noch Feuer unterm Hintern, einen Revolver in der Hand und die Aufmerksamkeit von zehntausend Mitgliedern der Bahnarbeitergewerkschaft gehabt hatte.

»Wenn unsere geheimnisvollen Wohltäter gern bereit sind, alte Geschichten gegen Fahrräder einzutauschen, frage ich mich jedenfalls, was sie wohl für eine allgemeine Theorie der postindustriellen Volkswirtschaft geben würden.«

» Wenn man mit dem Teufel isst, braucht man einen langen Löffel«, gab Marcus zu bedenken.

»Oh, keine Angst, ich will ja nur ein paar Fragen stellen.« Rubenstein griff nach dem Telefon und wendete es neugierig hin und her. »Wo ist … ah, hier. Ein Apparat. Könnt ihr mich hören?«

»Ja.« Die Stimme klang leise, merkwürdig akzentfrei und leicht melodisch.

»Gut. Wer seid ihr, wo kommt ihr her, und was wollt ihr?«

»Wir sind das Festival.« Die drei Dissidenten beugten sich so nahe über das Telefon, dass ihre Köpfe fast zusammenstießen. »Wir sind vielmals zweihundertsechsundfünfzig Lichtjahre gereist und haben das Vielfache von sechzehn bewohnten Planeten besucht. Wir suchen nach Information und treiben Handel.«

»Ihr treibt Handel?« Burija blickte leicht enttäuscht auf. Interstellare Kapitalisten waren nicht gerade das, worauf er gehofft hatte.

»Wir schenken euch alles, was ihr wollt, wenn ihr uns etwas gebt. Irgendetwas, das wir noch nicht kennen: Kunst, Mathematik, Komödien, Literatur, Biografien, Religion, Gene, Design. Was möchtest du uns geben?«

» Wenn du sagst, ihr schenkt uns alles, was wir wollen, was genau meinst du dann damit? Ewige Jugend? Freiheit?« In seinen Worten schwang eine schwache Andeutung von Sarkasmus mit, aber das Festival zeigte keine Anzeichen dafür, dass es ihm aufgefallen war.

»Mit abstrakten Dingen ist es schwierig. Auch der Austausch von Informationen ist schwierig – die geringe Bandbreite verwehrt uns den Zugang dazu. Aber wir können jedes gewünschte Gebilde für euch schaffen und es aus dem Orbit fallen lassen. Möchtest du ein neues Haus? Oder einen Wagen, der ohne Zugpferde auskommt und auch fliegen und schwimmen kann? Kleidung? Wir machen’s.«

Timoschewski riss Mund und Augen auf. »Habt ihr etwa eine Maschine wie ein Füllhorn?«, fragte er atemlos. Burija biss sich auf die Zunge; zwar war ihm Timoschewski ja wohl ins Wort gefallen, aber unter diesen Umständen war das durchaus verständlich.

»Ja.«

»Gebt ihr uns auch eine? Mit einer Betriebsanleitung und einer Bibliothek, die auf den Bedarf einer Kolonie abgestimmt ist?«, fragte Burija mit pochendem Puls.

»Vielleicht. Was gebt ihr uns im Austausch?«

»Hm. Wie wär’s mit einer post-marxistischen Theorie der post-technologischen Volkswirtschaft? Und einem Beweis dafür, dass die Erbherrschaft des Hochadels, die Diktatur, nur durch die systematische Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiter und Techniker aufrechterhalten werden kann und nicht überleben wird, sobald die Menschen erst einmal die Produktionsmittel in den Händen haben – Produktionsmittel, die sich selbst reproduzieren können?«

Während kurz Stille eintrat, atmete Timoschewski heftig aus. Er wollte gerade etwas sagen, als das Telefon ein seltsames Geräusch von sich gab, das wie ein Läuten klang. »Das genügt uns. Ihr werdet die Theorie an diesen Schwingungsknoten liefern. Wir haben bereits alles Nötige zum Klonen eines Replikators und einer Bibliothek veranlasst. Rückfrage: Seid ihr in der Lage, den postulierten Beweis für die Gültigkeit der Theorie zu liefern?«

Burija grinste. »Enthält euer Replikator auch Pläne dafür, sich selbst zu reproduzieren? Und Pläne zur Erzeugung von Fusionswaffen, Militärflugzeugen und Geschützen?«

»Ein eindeutiges Ja auf alle Haupt- und Nebenfragen. Rückfrage: Seid ihr in der Lage, den postulierten Beweis für die Gültigkeit der Theorie zu liefern?«

Timoschewski traktierte die Luft mit Faustschlägen und hüpfte im Büro herum. Selbst der normalerweise recht phlegmatische Wolff grinste wie ein Wahnsinniger. »Gebt den Arbeitern einfach die Produktionsmittel, dann liefern wir euch den Beweis«, erwiderte Rubenstein. »Wir müssen hier erst einmal ein vertrauliches Gespräch führen und melden uns in einer Stunde wieder. Mit den geforderten Texten.« Er schaltete das Telefon aus. »Ja!«

Nach einer Minute hatte sich Timoschewski wieder ein wenig beruhigt. Rubenstein wartete nachsichtig ab; ehrlich gesagt fühlte er sich ja genauso. Aber als Führer der Bewegung – zumindest kam er einem staatsmännischen Politiker von allen Aktivisten noch am nächsten, auch wenn er die Zeit der unfreiwilligen inneren Emigration in diesem Loch am Arsch der Welt verbringen musste – hatte er die Pflicht, nach vorn zu schauen. Und es war viel zu bedenken, denn bald schon würden jede Menge Köpfe Pflastersteine zu spüren bekommen. Offenbar war dem Festival, wer oder was es auch sein mochte, gar nicht bewusst, was es da soeben angeboten hatte: für einen Papierberg den Schlüssel zu dem Gefängnis herauszurücken, in das die aristokratischen Herrscher seit Jahrhunderten zehn Millionen von Sklaven gesperrt hatten – eingekerkert im Namen von Stabilität und Tradition.

»Freunde«, sagte er mit einer Stimme, die im Überschwang der Gefühle zitterte, »hoffen wir, dass es sich nicht um einen grausamen Scherz handelt. Denn wenn es kein Scherz ist, können wir endlich das brutale Gespenst, das in der Neuen Republik seit ihren Anfängen umgegangen ist, zur letzten Ruhe betten. Ich hatte in diesem Zusammenhang auf Unterstützung von … aus anderer Quelle gehofft, aber das hier ist viel, viel besser, falls es sich bewahrheitet. Marcus, hol so viele Ausschussmitglieder zusammen, wie du auftreiben kannst. Oleg, ich werde ein Plakat entwerfen. Wir brauchen sofort fünftausend Abzüge und müssen sie heute Abend verteilen, ehe Politowski daran denkt, uns den Stinkefinger zu zeigen und den Ausnahmezustand zu erklären. Heute steht Rochards Welt am Vorabend der Befreiung. Und morgen die Neue Republik!«

 

 

AM NÄCHSTEN MORGEN, BEI TAGESANBRUCH, sorgten Soldaten der Herzoglichen Palastwache und der Garnison, die oberhalb der Altstadt auf dem Schädelberg stationiert war, dafür, dass sechs Bauern und Techniker gehängt wurden. Die Exekution war eine Warnung, die dem herzoglichen Dekret Nachdruck verleihen sollte: Wer sich mit dem Feind einlässt, wird mit dem Tode bestraft. Irgendjemand, vermutlich aus dem Büro des Kurators, war sich der tödlichen Gefahr bewusst geworden, die das Festival für das Regime darstellte, und zu dem Schluss gekommen, es müsse ein Exempel statuiert werden.

Dies konnte allerdings nicht verhindern, dass die Partei der Demokratischen Revolution überall in der Stadt Plakate aufhängte, die erklärten, was es mit den Telefonen auf sich hatte, und ein altes Sprichwort ins Gedächtnis riefen: Gebt einem Mann einen Fisch, und er hat einen Tag zu essen. Lehre ihn das Fischen, und er hat sein Leben lang zu essen. Radikalere Plakate forderten die Arbeiter dazu auf, vom Festival solche Produktionsmittel zu verlangen, die Instrumente der Selbstreproduktion darstellten. In der Volksseele fanden diese Plakate große Resonanz, denn trotz aller Wunschvorstellungen des Regimes waren bestimmte Erinnerungen im Volk noch lebendig.

 

 

UM DIE MITTAGSZEIT VERÜBTEN vier bewaffnete Bankräuber einen Überfall auf das Hauptpostamt in Plotsk, achtzig Kilometer nördlich der Hauptstadt. Die Bankräuber hatten recht ausgefallene Waffen dabei. Als ein Luftschiff der Polizei am Tatort eintraf, wurde es in Stücke geschossen. Und das war kein Einzelfall: Überall auf dem Planeten meldete der Apparat der Polizei und Staatssicherheit Akte kriminellen Widerstands, vielfach abgesichert durch den Einsatz modernster Waffen, die wie aus heiterem Himmel aufgetaucht waren.

Auf tausenden von Bauernhöfen im Hinterland schossen derweil seltsame Kuppelbauten wie Pilze aus dem Boden, nicht weniger luxuriös und bequem ausgestattet als jede Herzogliche Residenz. Darüber prangten winzige Lichttupfen, und noch Stunden später übertrug der Funk nichts als statisches Rauschen. Später am Tag glitten tausend Kilometer südlich von Nowyj Petrograd – bei Wiedereintritt in die Atmosphäre – die glühenden Schweife von Raumkapseln über den Himmel, die auf einen Notfall hindeuteten. An diesem Abend verkündete die Marine mit tiefem Bedauern den Verlust des Zerstörers Sachalin. Er habe einen heroischen Angriff auf die feindliche Schlachtflotte geführt, die derzeit die Kolonie belagere, und den Invasoren schweren Schaden zugefügt. Dennoch habe man über Notfunk Verstärkung aus der Reichshauptstadt angefordert. Seine Kaiserliche Majestät behandle die Angelegenheit auf höchster Dringlichkeitsstufe.

Als spontane Demonstrationen von Arbeitern und Soldaten die Nachtruhe störten, wurden Panzerfahrzeuge zur Sicherung der Brücken über die Hava eingesetzt. Der Fluss trennte den Herzoglichen Palast und die Garnison vom Stadtkern ab.

Aber am schlimmsten war der Markt, der sich auf dem offenen Gelände des nördlichen Paradefelds spontan ausbreitete – ein Markt, auf dem kein Mensch irgendeiner Arbeit nachging, es alles und jedes umsonst gab und jeder nur mögliche Wunsch auf Anfrage erfüllt wurde (darunter auch Bitten, die niemand bei rechtem Verstand geäußert hätte).

 

 

AM DRITTEN TAG DES FEINDLICHEN EINFALLS betrat Seine Exzellenz, der Herzog Felix Politowski, Regent über Rochards Welt, die Sternenkammer, um sich mit seinem Stab zu besprechen und mittels einer Telekonferenz (so teuer, dass es ihm das Wasser in die Augen trieb) seinen Kaiser um Hilfe zu ersuchen.

Politowski war ein zur Fülle neigender, weißhaariger Mann um die fünfundsechzig, den keine der – offiziell verbotenen – ärztlichen Verjüngungskuren konserviert hatte. Ihm eilte der Ruf nach, es mangele ihm an Fantasie. Und ganz gewiss war er nicht aufgrund eines überwältigenden politischen Scharfsinns zum Gouverneur dieser rauen, hinterwäldlerischen Kolonie ernannt worden, auf der man Unruhestifter und zweitgeborene Söhne ablud. Doch trotz seiner sturen Wesensart und des Mangels an Einfühlungsvermögen machte sich Felix Politowski große Sorgen.

Die Männer seines Stabs, die Uniform oder die formelle Kleidung des Diplomatischen Korps trugen, nahmen Haltung an, als er den üppig getäfelten Raum betrat und zum Kopfende des Konferenztisches marschierte. »Bitte nehmen Sie Platz, meine Herren«, schnarrte er und ließ sich in den Lehnstuhl fallen, den zwei Bedienstete unauffällig für ihn bereitgestellt hatten. »Beck, sind wir während der Nacht irgendwie vorangekommen?«

Gerhard von Beck, der BÜRGER, der die örtliche Niederlassung des Kuratorenbüros leitete, schüttelte trübsinnig den Kopf. » Weitere Unruhen am Südufer. Die Menge hat nicht gekämpft, sondern sich aufgelöst, als ich ein Sonderkommando der Wachen hingeschickt habe. Bis jetzt scheint die Moral in den Kasernen noch ganz gut zu sein. Molinsk ist von der Außenwelt abgeschnitten. Gestern sind keinerlei Berichte von dort eingegangen, und der Hubschrauber, den wir zur Aufklärung entsandt haben, hat sich nicht zurückgemeldet. Die Partei der Demokratischen Revolution macht in der Stadt die Hölle los, genau wie die Radikalen. Ich habe versucht, die üblichen Verdächtigen in Polizeigewahrsam nehmen zu lassen, aber sie haben eine unabhängige Räterepublik ausgerufen und weigern sich zu kooperieren. Die schlimmsten Elemente haben sich in der Getreidebörse verschanzt, knapp vier Kilometer südlich von hier, halten dort fortwährend Ausschusstreffen ab und geben pünktlich zur vollen Stunde Proklamationen und revolutionäre Kommuniqués heraus. Sie ermutigen die Menschen, sich mit den Feinden einzulassen.«

» Warum haben Sie keine Truppen eingesetzt?«, polterte Politowski los.

»Sie behaupten, sie hätten Atomwaffen in ihrem Besitz. Und falls wir dort einschreiten würden …« Er zuckte mit den Achseln.

»Oh.« Der Gouverneur strich sich betroffen über den Schnauzbart und seufzte. »Kommandeur Janaczeck, was gibt es Neues bei der Marine?«

Janaczeck, ein großer, besorgt wirkender Mann in der Uniform eines Marineoffiziers, erhob sich von seinem Platz. Er wirkte sogar noch nervöser als der normalerweise so beherrschte BÜRGER von Beck. »Aus dem Wrack der Sachalin sind zwei Kapseln mit Überlebenden entkommen, die wir inzwischen beide bergen konnten. Mittlerweile haben wir die Überlebenden vernommen. Offenbar hat sich die Sachalin einem der größeren Störflieger des Feindes genähert und verlangt, dass er sich sofort aus der näheren Umlaufbahn zurückzieht und eine Zollinspektion zulässt. Als darauf keine Reaktion erfolgte, hat die Sachalin in die Flugbahn des Störers gefeuert. Was als Nächstes passierte, ist nicht ganz klar – keiner der Überlebenden ist Offizier mit Befehlsgewalt, und die Berichte widersprechen einander  –, aber es scheint so, als wäre irgendein Fremdkörper in die Sachalin eingeschlagen und hätte den Zerstörer anschließend verschlungen.«

»Verschlungen?«

»Ja, Sir.« Janaczeck schluckte schwer. »Irgendeine verbotene Technologie.«

Politowski erbleichte. »Bormann?«

»Ja, Sir?« Sein Adjutant blieb zwar sitzen, nahm aber Haltung an.

»Offensichtlich haben wir hier eine Situation, die wir ohne Unterstützung von außen nicht mehr in den Griff bekommen. Wie viel akausale Bandbreite steht dem Postamt für eine Telekonferenz mit der Reichshauptstadt zur Verfügung?«

»Hm, äh, reicht für fünfzig Minuten, Sir. Die nächste Zuteilung von verschränkten Quanten-Bits für die Verbindung zwischen uns und Neu-Prag wird durch RAM-Zuweisung erst in, äh, achtzehn Monaten erfolgen. Wenn Sie mir eine Bemerkung erlauben, Sir …«

»Reden Sie.«

»Könnten wir eine Minute der Sendezeit für reine Textmitteilungen reservieren? Mir ist durchaus klar, dass es sich hier um einen Notfall handelt, aber wenn wir jetzt das ganze Potenzial ausschöpfen, können wir die Reichshauptstadt bis zur nächsten Zuteilung überhaupt nicht mehr erreichen. Und, bei allem Respekt vor Kommandeur Janaczeck, bin ich doch keineswegs sicher, ob die Marine Kurierschiffe zuverlässig am Feind vorbeileiten kann.«

»Dann tun Sie das.« Politowski setzte sich auf und streckte die Schultern. »Aber denken Sie dran: nur eine Minute! Der Rest ist der Telekonferenz mit Seiner Majestät vorbehalten, sobald Majestät abkömmlich ist. Sie werden den Termin absprechen und mich benachrichtigen, sobald es so weit ist. Oh, und wenn Sie schon dabei sind, da ist noch Folgendes.« Er beugte sich vor und setzte hastig die Unterschrift unter ein Blatt, das er aus seiner Mappe gezogen hatte. »Hiermit verkünde ich den Ausnahmezustand und erkläre qua der mir von Kaiser und Gott verliehenen Amtsgewalt den Krieg gegen … gegen wen, zum Teufel, führen wir hier überhaupt Krieg?«

Von Beck räusperte sich. »Offenbar nennen sie sich das Festival, Sir. Leider scheinen wir keine weiteren Informationen über sie zu besitzen. Und Anfragen beim Archiv des Kurators haben auch nichts erbracht.«

»Also gut.« Bormann schob Politowski einen Zettel hinüber, woraufhin der Gouverneur aufstand. »Meine Herren, bitte erheben Sie sich von Ihren Plätzen. Seine Kaiserliche Majestät!«

Ein Sturm braut sich zusammen

»DARF ICH WISSEN, was man mir vorwirft?«, fragte Martin.

Der Sonnenschein, der durch das hohe Oberlicht in das stickige Büro drang, überzog den Raum mit silbernen Streifen. Martin sah zu, wie Sonnenstäubchen hinter dem kugelförmigen Kopf des BÜRGERS wie Sterne auf und ab tanzten. Die einzigen Geräusche stammten von dessen Feder, die über das schwere offizielle Pergament kratzte, und von ständig mahlenden Rädern: Der Gehilfe des BÜRGERS war gerade dabei, den Uhrwerkmechanismus des Analysegeräts auf seinem Schreibtisch aufzuziehen. Das Zimmer roch nach Maschinenöl und schal, nach Angst.

»Wirft man mir überhaupt irgendetwas vor?«, hakte Martin nach.

Der BÜRGER beachtete ihn nicht, sondern beugte den Kopf erneut über seine Formulare. Nachdem er seine reguläre Dienstpflicht erfüllt hatte, begann der junge Gehilfe damit, einen Papierstreifen aus dem Gerät zu ziehen.

Martin stand auf. »Falls man mir nichts vorwirft, gibt es dann irgendeinen Grund, warum ich bleiben sollte?«

Diesmal bedachte der BÜRGER ihn mit einem finsteren Blick. »Setzen«, schnappte er.

Martin nahm wieder Platz.

Draußen herrschte an diesem Nachmittag kaltes, klares Aprilwetter. Die Glocken von Sankt Michael hatten gerade zwei Uhr geschlagen, und am Platz der Fünf Ecken führte das berühmte Ebenbild der Herzogin Ruck für Ruck die ewig gleiche Pantomime auf. Die Langeweile zerrte an Martins Nerven. Es fiel ihm schwer, sich an den Lebensrhythmus der Neuen Republik zu gewöhnen; erst recht brachte es ihn zur Raserei, wenn er es mit der Bürokratie zu tun hatte, die sich alle Zeit der Welt zu nehmen schien. Inzwischen war er schon vier Monate hier, vier grässliche Monate, um eine Arbeit zu erledigen, die eigentlich auf zehn Tage angelegt gewesen war. Allmählich fragte er sich, ob er die Erde überhaupt noch einmal wieder sehen würde, ehe ihn die Altersschwäche dahinraffte.

Tatsächlich hatte er es so satt, auf die Arbeitserlaubnis zu warten, dass er die Vorladung in irgendein Büro hinter der eisernen Fassade des Basilisken an diesem Morgen sogar mit Erleichterung aufgenommen hatte, da sie Abwechslung im eintönigen Alltag versprach. Im Gegensatz zu den Untertanen der Neuen Republik reagierte er nicht mit lähmender Panik auf eine solche Vorladung. Was konnte das Büro des Kurators ihm schon anhaben, einem fremdländischen Ingenieur mit niet- und nagelfestem Werkvertrag der Admiralität? Außerdem hatte die Vorladung ihm ein Kurier in Uniform auf dem Silbertablett serviert, es war kein nächtlicher Überfall gewesen. Das allein schon wies auf ein bestimmtes Maß an Zurückhaltung hin und legte eine entsprechende Reaktion nahe, sodass sich Martin dazu entschlossen hatte, die Karte des verwirrten Gastes aus der Fremde so gut wie möglich auszuspielen.

Nach einer weiteren Minute senkte der BÜRGER die Feder und sah Martin an. »Bitte geben Sie Ihren Namen an«, sagte er mit milder Stimme.

Martin verschränkte die Arme. » Wenn Sie den noch nicht wissen, wieso bin ich dann hier?«

»Bitte geben Sie Ihren Namen zu Protokoll.« Die Stimme des BÜRGERS war leise, prononciert und so beherrscht, als redete eine Maschine. Er sprach den ortsüblichen Dialekt – eine Abart der fast universellen alten englischen Umgangssprache – mit einem irgendwie harten deutschen Akzent.

»Martin Springfield.«

Der BÜRGER notierte es. »Und jetzt nennen Sie mir bitte Ihre Staatsangehörigkeit.«

»Meine was?«

Martin musste verdutzt ausgesehen haben, denn der BÜRGER zog eine grau gesprenkelte Augenbraue hoch. »Bitte nennen Sie Ihre Staatsangehörigkeit. Sie sind Untertan welcher Regierung?«

»Regierung?« Martin verdrehte die Augen. »Ich komme von der Erde. Bei gesetzlicher Vertretung und Versicherung nutze ich Pinkertons, außerdem habe ich zur langfristigen Absicherung eine zusätzliche Versicherung bei unserer Luftwaffe Neuen Typs abgeschlossen. Was meine Beschäftigung betrifft, so bin ich offiziell als selbstständige Firma eingetragen, die beiderseitig verbindliche vertragliche Verpflichtungen gegenüber verschiedenen Organisationen hat, einschließlich Ihrer eigenen Admiralität. Aus nostalgischen Gründen bin ich als Bürger der Volksrepublik West Yorkshire eingetragen, obwohl ich dort schon seit zwanzig Jahren nicht mehr gewesen bin. Aber ich würde nicht sagen, dass irgendeine der genannten Einrichtungen mir gegenüber weisungsbefugt ist, außer meine Vertragspartner – und denen gegenüber bin ich ebenso weisungsberechtigt.«

»Aber Sie stammen von der Erde?«, fragte der Bürger mit gezückter Feder.

»Ja.«

»Aha. Dann sind Sie ein Untertan der Vereinten Nationen.« Er notierte sich kurz etwas. » Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«

» Weil das so nicht richtig ist«, erwiderte Martin und ließ eine Spur von Frust durchklingen. (Allerdings nur eine Spur: Er konnte sich in etwa vorstellen, welche Machtbefugnisse der BÜRGER besaß, und hatte nicht die Absicht, ihn zur Ausübung seiner Macht zu provozieren.)

»Die Erde … Die höchste politische Instanz auf diesem Planeten ist die Organisation der Vereinten Nationen. Folglich sind Sie auch ihr Untertan, oder nicht?«

»Keineswegs.« Martin beugte sich vor. »Bei der letzten Zählung gab es mehr als fünfzehntausend staatliche Organisationen auf der Erde. Davon sind nur etwa neunhundert Spitzenorganisationen in Genf vertreten, und nur siebzig haben einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat. Die Vereinten Nationen haben keine Machtbefugnis über irgendeine nicht-staatliche Organisation oder über einzelne Bürger, sie stellen lediglich eine Schlichtungskörperschaft dar. Ich bin ein souveränes Individuum, keine Regierung hat das Sagen über mich.«

»Aha«, sagte der BÜRGER, legte die Feder äußerst behutsam neben dem Tintenlöscher ab und sah Martin direkt an. »Ich merke, dass Sie nicht verstehen, worum es hier geht. Ich werde Ihnen einen großen Gefallen tun und vorgeben, Ihre letzten Worte nicht gehört zu haben. Wassily?«

Sein junger Gehilfe blickte auf. »Ja?«

»Raus.«

Der Gehilfe – kaum mehr als ein Junge, den man in eine Uniform gesteckt hatte – stand auf und marschierte zur Tür, die hinter ihm fest zuschlug.

»Ich werde das hier nur einmal und nie wieder sagen.« Als der BÜRGER kurz schwieg, merkte Martin, dass dessen äußere Gelassenheit lediglich der Deckel war, der ungestüme Wut unter Verschluss hielt. »Es kümmert mich nicht, welche irrwitzigen Vorstellungen die auf der Erde Zurückgebliebenen von ihrer eigenen Souveränität haben. Es kümmert mich auch nicht, wenn mich ein unverschämter junger Hund wie Sie beleidigt. Aber solange Sie sich auf diesem Planeten aufhalten, werden Sie sich in Ihrer Lebensweise nach dem richten, was wir als richtig und angemessen empfinden! Ist das klar?«

Martin fuhr zurück. Der BÜRGER wartete ab, ob er etwas darauf erwidern würde, aber als er weiterhin schwieg, setzte er mit eiskalter Stimme nach: »Sie sind auf Einladung der Regierung Seiner Majestät in der Neuen Republik und werden sich zu jeder Zeit entsprechend verhalten. Das beinhaltet, dass Sie den Kaiserlichen Hoheiten Ihre Achtung erweisen, sich anständig, gesetzestreu und ehrlich benehmen, dem Kaiserlichen Schatzamt Steuern zahlen und kein subversives Gedankengut verbreiten. Sie sind hier, um zu arbeiten, und nicht, um feindliche fremdländische Propaganda zu verbreiten oder unsere Lebensweise zu verunglimpfen! Ist das klar?«

»Ich habe doch gar nicht …« Martin schwieg kurz, weil er nach den richtigen, diplomatischen Worten suchte. »Lassen Sie mich es bitte noch einmal formulieren. Es tut mir Leid, wenn ich Anstoß erregt habe. Und wenn es sich tatsächlich so verhält, würden Sie mir dann bitte sagen, um was es überhaupt geht? Damit ich verhindern kann, dass es nochmals geschieht. Wenn Sie mir nicht sagen, was ich unterlassen soll, wie kann ich dann zufällige weitere Verstöße vermeiden?«

»Das wissen Sie wirklich nicht?« Der BÜRGER stand auf und ging mit großen Schritten um Martin herum, an seinem Stuhl vorbei, um den Schreibtisch und zurück zu seinem Platz, wo er stehen blieb und ihm einen finsteren, zornigen Blick zuwarf. » Vorgestern Abend hat jemand in der Bar des Hotels Zur Glorreichen Krone deutlich gehört, wie Sie jemandem – einem Vaclav Hasek, glaube ich – von dem politischen System auf Ihrem Heimatplaneten erzählt haben. Propaganda und Unsinn, aber verlockende Propaganda und verlockender Unsinn für einen gewissen unzufriedenen Teil des Lumpenproletariats. Und der Unsinn grenzte an Aufwiegelei, wie ich hier ergänzen könnte, denn Sie haben Folgendes – lassen Sie mich nachsehen – wiederholt geäußert: ›Steuer ist nichts anderes als Erpressung‹, außerdem ›Ein Gesellschaftsvertrag, der mit Zwang durchgesetzt wird, kann keine Gültigkeit haben.‹ Nach Ihrem vierten Bier wurden Sie recht lustig und schwangen sich zu einer Rede über die Natur sozialer Gerechtigkeit auf. Was schon an sich ein Problem darstellt, insofern nämlich, als Sie Zweifel an der Unparteilichkeit einer von Seiner Majestät ernannten Justiz angemeldet haben, vor allem wenn sie Klagen gegen die Krone verhandelt.«

»Das ist doch Blödsinn! Es war nichts weiter als ein belangloses Gespräch bei einem Glas Bier!«

» Wenn Sie ein Bürger dieser Welt wären, würde das ausreichen, um Sie für die nächsten zwanzig Jahre ohne Rückfahrkarte auf eine Außenkolonie Seiner Majestät zu schicken«, erwiderte der BÜRGER eiskalt. »Dieses kleine Tete-a-Tete findet nur deshalb statt, weil man Ihre Anwesenheit in den Königlichen Marinewerften für unbedingt notwendig erachtet. Falls Sie sich weiteren Gesprächen dieser Art bei einem Glas Bier hingeben, wird sich die Admiralität vielleicht dazu überreden lassen, sich nicht länger die Hände mit Ihnen zu beschmutzen. Und was wird dann aus Ihnen?«

Martin lief ein Schauer über den Rücken. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der BÜRGER so schonungslos offen mit ihm reden würde. »Sind Gespräche über Politik wirklich dermaßen heikel?«, fragte er.

» Wenn sie an einem öffentlichen Ort stattfinden und ein Fremdling mit seltsamen Vorstellungen daran teilnimmt, ja. Die Neue Republik hat nichts mit dem entarteten anarchistischen Chaos gemein, in dem Ihre Vaterwelt versunken ist, wie ich hier nochmals klarstellen will. Da Sie ein Fremder sind, der hier gebraucht wird, haben Ihre Kaiserlichen Hoheiten Ihnen gewisse Rechte zugestanden. Falls Sie diese Rechte missbrauchen, wird man Ihnen diesen Umstand nachdrücklich ins Gedächtnis rufen, und zwar mit aller Härte. Falls Sie Probleme haben, das zu begreifen, schlage ich vor, dass Sie die restliche freie Zeit in Ihrem Hotelzimmer verbringen, damit Ihr Mundwerk nicht versehentlich mit Ihnen durchgeht. Und jetzt frage ich Sie zum dritten Mal: Ist das klar?«

Martin wirkte ernüchtert. »J-ja«, erwiderte er.

»Dann verlassen Sie jetzt mein Büro.«

 

 

ABEND.

Ein Mann mittlerer Größe – er hatte bräunliche Haare, einen sorgfältig gestutzten Bart und eine in keiner Hinsicht auffällige Figur – lag voll bekleidet auf der Zierdecke eines Hotelbetts und hatte sich eine gepolsterte Schlafbrille übers Gesicht gezogen. Als die Sonne hinter dem Horizont versank, krochen dunkle Streifen über den trüben Teppich. Die Gasdüsen im Kristallleuchter zischten und warfen tiefe Schatten über das Zimmer. In den oberen Wandbereichen summte eine Fliege herum, die einem genau ausgeklügelten Suchmuster folgte.

Martin schlief nicht. Sein ganzes Inventar von Drohnen zur Spionageabwehr war unterwegs auf Patrouille, um das Zimmer nach Wanzen abzusuchen. Immerhin war es ja möglich, dass das Büro des Kurators ihn überwachte. Nicht dass er sonderlich viele Drohnen zur Verfügung gehabt hätte: In der Neuen Republik waren sie strengstens verboten, sodass er gezwungen gewesen war, sie sich in die Talgdrüsen und Zahnhöhlen zu stopfen, um sie durch den Zoll zu schmuggeln. Jetzt waren sie aktiviert und unterwegs, um nach Abhörgeräten zu jagen und die Ergebnisse den Monitoren zu melden, die im Gewebe seiner Augenlider implantiert waren.

Als er schließlich überzeugt war, dass sich außer ihm selbst nichts und niemand im Zimmer befand, rief er die Fliege zurück, deren SQUID-Sensoren mittlerweile ausgeschaltet waren, und versetzte die Flöhe wieder in den Winterschlaf. Danach stand er auf, schloss die Fensterläden und zog die Gardinen zu. Falls das Büro des Kurators nicht gerade ein uraltes mechanisches Aufzeichnungsgerät hinter der Garderobe versteckt hatte, sah er jedenfalls keine Möglichkeit, wie sie ihn abhören konnten.

Er griff in die Brusttasche seines Jacketts (das inzwischen zerknüllt war, da er darauf gelegen hatte) und zog ein dünnes, in Leder gebundenes Buch hervor. »Rede mit mir.«

»Hallo, Martin. Betriebsbereit, hundert Prozent abhörsicher.«

»Das ist gut.« Er räusperte sich. »Sicherheitskanal. Starten. Ich möchte mit Hermann sprechen.«

»Kanal wird gesucht.«

Während das Buch verstummte, wartete Martin gelassen ab. Es sah wie ein persönliches elektronisches Notebook aus, die diskrete digitale Sekretärin eines modernen Unternehmensberaters auf der Erde. Zwar ließen sich solche Geräte in jeden üblichen Gebrauchsgegenstand einbauen – auch in die Kleidung, selbst in einen implantierten Zahn –, aber Martin bevorzugte die Form eines altmodischen gebundenen Buches. Allerdings waren normale elektronische Notebooks nicht mit einem zusätzlichen Kausalkanal ausgestattet, schon gar nicht mit einem von neunzig Lichtjahren Reichweite und einer Bandbreite von fünf Peta-Bits. Zwar waren zwei Peta-Bits bereits verbraucht worden, als der zuständige Agent ihm das Gerät über einen toten Briefkasten an einer Parkbank vermittelt hatte, dennoch war es für Martin ungeheuer wertvoll, so wertvoll sogar, dass er sein eigenes Leben dafür aufs Spiel setzte – falls die Geheimpolizei ihn damit erwischte.

Ein Frachtschiff, das nicht einmal Lichtgeschwindigkeit erreichte, hatte fast hundert Jahre dazu gebraucht, die quantenmechanische Black Box, die das Herzstück des Kausalkanals bildete, aus dem Septagon-System hinaus zu befördern; ihr Zwilling hatte achtzig Jahre im Frachtraum eines Schwesterschiffs verbracht, das unterwegs zur Erde war. Jetzt sorgten sie für die unverzügliche Übertragung von einem Planeten zum anderen – unverzüglich im Sinne der speziellen Relativitätstheorie, ohne dass die raumzeitliche Kausalität dabei verletzt werden konnte; die Gesamtkapazität war auf die Menge der Quanten-Bits beschränkt, mit der sie ursprünglich ausgestattet worden waren. Wenn jene fünf Milliarden Mega-Bits erst einmal aufgebraucht waren, würden sie für immer nutzlos sein – oder nutzlos, bis das nächste Frachtschiff mit Unterlichtgeschwindigkeit eintraf.

(Nicht dass solche Schiffe Seltenheitswert hatten: Ein Starwisp zu bauen und in die Umlaufbahn zu bringen, das nur ein Kilogramm wog und die Mordslast von hundert Gramm über ein Dutzend Lichtjahre hinweg befördern konnte, lag nicht weit über dem technologischen Niveau der Baumwollindustrie; aber die Kräfte, die in der Neuen Republik das Sagen hatten, waren bekanntermaßen überaus empfindlich, was den Kontakt mit dem ideologisch verdorbenen Rest des Universums betraf.)

»Hallo?«, sagte das Notebook.

»Ist Hermann dran?«, fragte Martin.

»Hier Notebook. Hermann ist dran, alle Authentizitätsprüfungen sind abgeschlossen.«

»Ich bin heute von einem BÜRGER des Kuratorenbüros verhört worden«, sagte Martin. »Die sind hier außerordentlich auf der Hut vor Unterwanderungen.« Zweiundzwanzig Wörter in fünf Sekunden: Übertragen mit Hi-Fi-Qualität, machte das etwa eine halbe Million Bits. In Text transkribiert, ergab es rund hundert Bytes, vielleicht auch nur fünfzig Bytes bei vollständiger Komprimierung. Was bedeutete, dass jetzt fünfzig Bytes weniger in der Verbindung zwischen Martins Notebook und der Erde zur Verfügung standen. Aber wenn Martin zum Postamt ging, würden sie ihm einen Dollar pro Wort abknöpfen, und er würde einen ganzen Tag lang Schlange stehen müssen, außerdem würde mit Sicherheit ein Postinspektor mithören.

» Was ist passiert?«, fragte Hermann.

»Nichts Wichtiges, aber man hat mich verwarnt, mit allem Nachdruck. Ich werd’s in meinen Bericht aufnehmen. Meine Herkunft haben sie nicht in Zweifel gezogen.«

» Irgendwelche Rückfragen wegen deiner Arbeit?«

»Nein, da besteht kein Verdacht, soweit ich es beurteilen kann.«

» Warum haben sie dich verhört?«

»Spione in der Bar. Sie wollen mich einschüchtern. Bin noch immer nicht an Bord der Lord Vanek gewesen. Der Zugang zur Marinewerft wird strengstens überwacht. Ich glaube, sie sind wegen irgendetwas sehr beunruhigt.«

»Gibt es Anzeichen für ungewöhnliche Ereignisse? Flottenbewegungen? Vorbereitungen zum Aufbruch?«

»Nicht dass ich wüsste.« Martin enthielt sich weiterer Bemerkungen: Es machte ihn stets nervös, wenn er mit Hermann über den verbotenen Sender kommunizierte. »Ich halte die Augen offen. Ende des Berichts.«

»Und tschüss.«

»Notebook: Verbindung beenden.«

»Beendet.« Wie Martin jetzt deutlich zu Bewusstsein kam, hatte er das ganze Gespräch hindurch nur seine eigene Stimme vernommen. Das Notebook benutzte die Stimme seines Besitzers, um einen perfekten Empfang zu gewährleisten. Und die Verbindung über den Kausalkanal war sowieso so teuer, dass es eine blödsinnige Verschwendung gewesen wäre, in Realton zu senden. Das Selbstgespräch über einen Abgrund von siebzig Lichtjahren hinweg hinterließ bei Martin ein Gefühl großer Einsamkeit. Besonders, wenn er den sehr realen Hintergrund seiner Ängste bedachte.

Bis jetzt hatte er erfolgreich den einfältigen ausländischen Ingenieur mit Werkvertrag und losem Mundwerk gemimt, der hier eigentlich nur seinen vierzehntägigen Auftrag ausführen und die Maschinen an Bord des kaiserlichen Schlachtkreuzers Lord Vanek auf Vordermann bringen sollte, was sich jedoch wieder und wieder verzögert hatte. Und er hatte seine Rolle sogar so gut gespielt, dass er das Innere des Basilisken hatte sehen dürfen und mit dem Leben davongekommen war. Aber das würde wohl kaum ein zweites Mal passieren, falls sie herausfanden, für wen er in Wirklichkeit arbeitete.

 

 

»HALTEN SIE IHN FÜR EINEN SPION?«, fragte Wassily Muller, angehender Prokurator.

»Nein, soweit ich es beurteilen kann.« Der BÜRGER bedachte seinen Gehilfen mit einem dünnen Lächeln, wobei sich die schwache Narbe über seinem linken Auge vor teuflischer Belustigung verzog. » Wenn ich irgendeinen Beweis dafür hätte, dass er ein Spion ist, würde er sich sehr schnell in einen Ex-Spion verwandeln. Und auch in jeder anderen Hinsicht zum Ex werden. Aber danach habe ich dich gar nicht gefragt, nicht wahr?« Er fixierte seinen Untergebenen mit jenem Ausdruck, den er speziell für den Umgang mit begriffsstutzigen Auszubildenden entwickelt hatte. »Sag mir, warum ich ihn gehen ließ.«

» Weil …« Der Prokurator in spe wirkte verwirrt. Inzwischen war er sechs Monate hier, noch nicht einmal ein Jahr aus dem Gymnasium und der Obhut seiner Lehrer entlassen – und das war ihm anzumerken. Er war immer noch ein blondköpfiger, blauäugiger Junge und, was gesellschaftlichen Schliff anbetraf, so linkisch, dass es fast schon wehtat. Wie so viele intelligente Menschen, die das elitäre Internatssystem überlebten, neigte er zudem zu geistiger Starre. Insgeheim hielt der BÜRGER das für eine schlechte Eigenschaft, zumindest bei einem Angehörigen der Geheimpolizei. Wenn der Junge je viel nutzen sollte, musste man diese unflexible Haltung erst einmal brechen. Andererseits schien er die Intelligenz seines Vaters geerbt zu haben. Falls auch dessen Flexibilität in ihm steckte – ohne den unglückseligen Hang zur Aufmüpfigkeit –, würde er einmal einen ausgezeichneten Geheimdienstler abgeben.

Nachdem das Schweigen sich eine Minute lang hingezogen hatte, hakte der BÜRGER nach: »Das ist keine befriedigende Antwort, junger Mann. Versuch’s noch einmal.«

»Äh, Sie haben ihn gehen lassen, weil er ein loses Mundwerk hat. Und wenn man ihn ziehen lässt, kann man leichter überprüfen, wer auf ihn hört, oder?«

»Besser, aber nicht die ganze Wahrheit. Mich interessiert, was du vorher gesagt hast. Warum denkst du, er sei kein Spion?«

Wassily stutzte. Es tat fast weh, mit anzusehen, wie er versuchte, mit der plötzlichen Kehrtwende des BÜRGERS zurechtzukommen. »Er ist zu gesprächig, stimmt’s, Sir? Spione wollen schließlich nicht die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, oder? Das liegt nicht in ihrem Interesse. Außerdem ist er ein Ingenieur, der laut Vertrag für die Flotte arbeiten soll, aber das Schiff hat das Unternehmen gebaut, für das er regelmäßig arbeitet. Warum also sollten sie es ausspionieren wollen? Und er kann auch kein Berufsagitator sein, denn die haben Besseres zu tun, als in Hotelbars herumzuschwätzen.« Als er innehielt, war ihm eine Spur von Selbstzufriedenheit anzumerken.

»Flott vorgetragen. Schade nur, dass ich dir nicht Recht geben kann.«

Wassily schluckte schwer. »Aber ich dachte, Sie hätten gesagt, er sei kein …« Er verschluckte den Rest. »Sie meinen, er bemüht sich zu sehr, nicht wie ein Spion zu wirken, zieht die Aufmerksamkeit in Bars auf sich, diskutiert über Politik, alles Dinge, die ein Spion nicht machen würde – so als wollte er unseren Verdacht entkräften?«

»Sehr gut«, bemerkte der Kurator. » Allmählich lernst du, wie ein Kurator zu denken! Merk dir bitte, dass ich nie gesagt habe, Mr Springfield sei kein Spion. Ebenso wenig habe ich behauptet, er sei einer. Durchaus möglich, dass er einer ist; ebenso gut möglich, dass er keiner ist. Jedenfalls werde ich nicht eher ruhen, bis du diese Frage so oder so entschieden hast, verstehst du?«

»Ich soll beweisen, dass er kein Spion ist – Sie möchten einen Beweis seiner Unschuld?« Wassily schielte fast vor Anstrengung, den Gedankengang des BÜRGERS nachzuvollziehen. »Aber das ist doch gar nicht möglich!«

»Genau!« Der BÜRGER brachte ein dünnes Lächeln zustande und klopfte seinem Untergebenen auf die Schulter. »Folglich wirst du einen Weg finden müssen, einen Beweis seiner Schuld vorzulegen, nicht wahr? Und das ist auch dein Auftrag für die absehbare Zukunft, angehender Prokurator Muller. Du wirst zu beweisen versuchen, dass der dubiose Besucher von heute Morgen kein Spion ist – oder aber so viel Beweismaterial für seine Schuld zusammentragen, dass eine Festnahme gerechtfertigt ist. Komm schon! Bisher bist du doch schier geplatzt vor Ungeduld, aus diesem düsteren Verlies herauszukommen und ein bisschen was von der Hauptstadt zu sehen. Soweit ich weiß, hast du es erst letzte Woche erwähnt, nicht wahr? Das ist die Gelegenheit für dich. Außerdem denk mal daran, was du später alles diesem Weiberrock erzählen kannst, dem du hier von Anfang an nachgestellt hast!«

»Äh … Es ist mir eine Ehre«, erwiderte Wassily, der irgendwie so aussah, als hätte es ihm die Sprache verschlagen. Als junger Offizier, der nach seiner jüngst abgeschlossenen Schulausbildung immer noch so unverbraucht und naiv war, dass er die Welt rosarot sah, blickte er voller Ehrfurcht zum BÜRGER auf. »Sir, darf ich in aller Bescheidenheit nach dem Grund fragen? Ich meine, warum gerade jetzt?«

» Weil es an der Zeit ist, dass du mehr lernst, als bei Sitzungen des Ausschusses Protokoll zu führen«, erwiderte der BÜRGER. Die Augen hinter der Brille funkelten, und der Schnauzbart zitterte so, dass selbst die gewachsten Zwirbel ins Schwanken gerieten. »Für jeden Offizier kommt einmal der Tag, an dem er die volle Bürde seiner Pflichten auf sich nehmen muss. Ich nehme an, dass du aufgrund der endlosen Berichte, die du zusammengefasst hast, zumindest eine Grundvorstellung davon hast, wie diese Arbeit anzugehen ist. Jetzt ist es an der Zeit zu prüfen, ob du ihr gewachsen bist, nicht wahr? Und der Auftrag ist nicht sonderlich gefährlich, wie ich anmerken möchte. Ich schicke dich nicht gleich zur Verfolgung der Revolutionäre hinaus, haha. Also wirst du heute Nachmittag ins zweite Untergeschoss gehen, um dich auf die verdeckte Arbeit vor Ort vorzubereiten, und morgen damit beginnen. Von übermorgen an will ich jeden Tag als Erstes einen Bericht auf meinem Schreibtisch sehen. Zeig mir, was in dir steckt!«

 

 

AM NÄCHSTEN MORGEN ERWACHTE MARTIN in aller Herrgottsfrühe von einem Klopfen an seiner Tür. »Telegramm für Master Springfield!«, rief ein Botenjunge. Martin streifte sich einen Morgenmantel über und öffnete die Tür einen Spalt weit. Nachdem der Bote das Telegramm hindurchgereicht hatte, leistete Martin hastig eine Unterschrift, zog die Nachricht heraus und gab den abgezeichneten Umschlag zurück. Blinzelnd und mit schlaftrunkenen Augen nahm er das Telegramm mit zum Fenster und öffnete die Läden. Es war eine angenehme Überraschung, wenn es auch irgendwie ärgerlich war, dass man ihn deswegen extra geweckt hatte: die Bestätigung, dass sein Visum anerkannt und die Sicherheitsprüfung abgeschlossen sei. Wegen des Transits zu den Marinewerften im geosynchronen Orbit solle er sich am Abend um achtzehn Uhr auf dem Raumhafen in South Austria melden.

Telegramme, überlegte er, waren längst nicht so zivilisiert wie E-Mails. Letztere wurden nicht von diensteifrigen Jungen überbracht, die einen aus dem Bett warfen, damit man gegenzeichnete. So eine Schande, dass man in der Neuen Republik keinen Zugang zu E-Mails hatte und stets auf Telegramme zurückgreifen musste. Aber natürlich waren E-Mails etwas, das von keiner Zentrale kontrolliert wurde, und Telegramme alles andere als das. Und die Neue Republik war ganz scharf auf Zentralisierung.

Er zog sich an, rasierte sich und machte sich auf den Weg nach unten, zum Speisezimmer, um dort zu frühstücken. Er trug die hier übliche Kleidung – ein dunkles Jackett, enge Bundhosen, Stiefel und ein Hemd mit Spitzenrüschen am Kragen  –, allerdings von leicht unmodernem Schnitt, der eine gewisse Nachlässigkeit gegenüber modischen Feinheiten verriet. Er hatte festgestellt, dass eine Mode, die am Ort unbekannt war, es einem oftmals erschwerte, ein gutes Arbeitsverhältnis zu den Einheimischen herzustellen. Sah man jedoch nur ein bisschen seltsam aus, spürten sie die Fremdheit, ohne dass sie davon erdrückt wurden, und machten ein paar Zugeständnisse, wenn man sich anders als üblich verhielt. Welches Maß man auch anlegen mochte: Die Neue Republik war eine isolierte Gesellschaft, und selbst einem so weit gereisten Mann wie Martin fiel der Umgang damit schwer, doch wenigstens bemühten sich die ganz normalen Leute um Verständigung.

Inzwischen war er so gut mit den örtlichen Eigenheiten vertraut, dass er sich davon nicht mehr nerven ließ, sondern jeden neuen Affront mit stillschweigender Resignation über sich ergehen lassen konnte. Wenn der Empfangschef mit seiner aristokratischen Nase ihn von oben herab anstarrte oder die zugeknöpften Zimmermädchen mit gesenktem Blick an ihm vorbeihuschten, fügte sich dies lediglich in das komplexe Mosaik republikanischer Sitten. Die Gerüche nach Bohnerwachs, Chlorbleichmitteln, Kohlerauch aus dem Heizungskeller und den Ledersesseln im Esszimmer – all das waren die fremdartigen Düfte einer Gesellschaft, die sich noch nicht an das Zeitalter des Kunststoffs angepasst hatte. Doch es gab auch örtliche Sitten, die ihm durchaus zusagten: Das allmorgendliche Nachrichtenblatt, das sorgfältig gefaltet neben seinem Platz am Frühstückstisch lag, rief ein merkwürdiges Gefühl von Heimkehr bei ihm hervor – als hätte er sich auf eine Reise begeben, die fast dreihundert Jahre in die Vergangenheit seiner eigenen Kultur führte und nicht hundertachtzig Lichtjahre in die Tiefen des Alls. Obwohl beide Reisen ja genau dasselbe bedeuteten, wenn man so wollte.

Zum Frühstück aß er in Butter gedünstete Pilze, gebratene Gänseeier und ein besonders schmackhaftes getoastetes Roggenbrot aus Sauerteig. Dazu trank er beträchtliche Mengen Zitronentee. Schließlich verließ er das Zimmer, um sich auf den Weg zur Rezeption zu machen.

»Ich möchte gern ein Transportmittel reservieren.« Der Angestellte, der Bereitschaftsdienst hatte, sah mit distanziertem, leicht abwesendem Blick auf. »Einen Flieger, zum Marineraumhafen Klamowka, so bald wie möglich. Ich nehme nur Handgepäck mit und möchte mein Zimmer hier behalten, auch wenn ich einige Tage unterwegs bin.«

»Ah, verstehe. Entschuldigen Sie mich, Sir.« Der Angestellte huschte ins Labyrinth der Büros und kleinen Diensträume, das sich hinter den dunklen Holzpaneelen der Lobby verbarg. Kurz darauf kehrte er mit dem Empfangschef im Schlepptau zurück, einem großen, leichenblassen Mann mit gebeugten Schultern und hohlen Wangen, ganz in Schwarz gekleidet, der den würdevollen Ernst eines Grafen (oder sonstigen Angehörigen des Niederadels) zur Schau trug. »Sie brauchen ein Transportmittel, Sir?«, fragte er.

»Ich muss zum Marinestützpunkt Klamowka«, wiederholte Martin und sprach dabei bewusst langsam. »Heute noch. Deshalb brauche ich kurzfristig ein Transportmittel. Ich werde mein Gepäck im Hotel lassen. Wie lange ich fort sein werde, kann ich noch nicht sagen, aber ich möchte mein Zimmer behalten.«

»Verstehe, Sir.« Der Empfangschef nickte seinem Untergebenen zu, worauf er sich schnell entfernte und mit drei dickleibigen Nachschlagewerken zurückkehrte – Fahrplänen für die verschiedenen Regionalzüge. »Ich fürchte, Zeppelin-Flüge nach Klamowka gibt es erst morgen wieder; allerdings können Sie, soweit ich weiß, bis heute Abend auch mit dem Zug dort sein, wenn Sie bald aufbrechen.«

»Wunderbar«, erwiderte Martin, an dem das Gefühl nagte, er könne den Empfangschef nur mit einem beglücken: der sofortigen Abreise. Oder allenfalls noch damit, vor dessen Augen auf der Stelle tot umzufallen. »Ich bin in fünf Minuten wieder unten. Könnte Ihr Gehilfe sich bitte um meine Fahrkarte kümmern? Jetzt sofort.«

Der Empfangschef nickte mit unbewegter Miene. »Im Namen des Hotels wünsche ich Ihnen eine erfolgreiche Reise«, sülzte er. »Marcus, kümmern Sie sich um den Herrn.« Mit diesen Worten stolzierte er davon.

Der Angestellte schlug das erste voluminöse Werk auf und bedachte Martin mit einem vorsichtigen Blick. » Welche Klasse, Sir?«

»Die Erste.« Wenn es eines gab, das Martin frühzeitig begriffen hatte, dann war es dies: Die Neue Republik hatte einige recht merkwürdige Vorstellungen von Klassen. Er überlegte. »Ich muss vor sechs Uhr abends ankommen. In fünf Minuten bin ich zurück. Wenn Sie so gut wären, meinen Reiseplan bis dahin auszuarbeiten …«

»Ja, Sir.« Er ließ den Angestellten über Fahrplan und Ortsverzeichnis schwitzend zurück und stieg die vier Treppen zu seinem Stockwerk hoch.

Sobald er – gefolgt von einem Diener, der in jeder Hand eine Reisetasche trug – zur Rezeption zurückgekehrt war, geleitete ihn der Angestellte nach draußen. »Ihre Reiseunterlagen, Sir.« Martin steckte das mit Schnörkeln versehene Dokument, das genauso kompliziert aussah wie ein Reisepass, in die Tasche, stieg in die wartende Dampfkutsche und erwiderte die Verbeugung des Angestellten mit einem Nicken. Gleich darauf machte sich die Kutsche schnaufend auf den Weg zum Bahnhof.

Es war ein so feuchter, nebliger Morgen, dass Martin von den Fenstern der Kutsche aus kaum die Zierfassaden der Verwaltungsgebäude erkennen konnte, die an ihm vorbeizogen.

Zwar gab es in den Hotelzimmern keine Telefone – elektronische Vernetzungen, intelligente Systeme und viele andere technologische Errungenschaften, die das Leben erleichtert hätten, waren verboten –, und das Klassensystem ähnelte demjenigen, das im achtzehnten Jahrhundert auf der Erde geherrscht hatte, dennoch konnte sich die Neue Republik eines zugute halten: Die Züge fuhren hier pünktlich.

PS 1347, der Hauptstern, um den Neu-Moskau kreiste, war ein junger G2-Zwerg der dritten Generation, der sich vor weniger als zwei Milliarden Jahren (im Unterschied zu den fünf Milliarden der Sonne) gebildet hatte. Daher enthielt die Planetenkruste von Neu-Moskau Uranerz, das so aktiv war, dass es den kritischen Zustand aufrechterhalten konnte, ohne sich anzureichern.

Die Kutsche fuhr auf dem mit Marmor gekachelten Bahnsteig vor, an dem bereits der Eilzug wartete, dessen Strecke quer über die Halbinsel verlief. Während Martin mit steifen Gliedern aus der Kutsche stieg, blickte er nach rechts und links: Sie waren auf dem Marmorboden so weit vorgefahren, dass die ungeschlachten Lokomotiven etwa zweihundertundfünfzig Meter hinter ihnen lagen, aber noch fast tausend Meter sie vom trostlosen Zugende trennten. Dort befanden sich die Wagen vierter Klasse und der Postwaggon. Der Chefsteward – in seinem flaschengrünen, mit Goldtressen besetzten Gehrock ein prächtiger Anblick – inspizierte Martins Reiseunterlagen und führte ihn danach in ein Einzelabteil auf dem Oberdeck. Der Raum prangte in blauem Leder und alter, mit Messing- und Goldblättern eingefasster Eiche und war außerdem mit einem Marmortisch ausgestattet. Mittels eines Klingelzugs konnte man die dienstbereiten Geister jederzeit rufen. Insgesamt ähnelte das Abteil eher dem Rauchsalon eines Hotels als irgendeiner Einrichtung, die Martin mit dem öffentlichen Verkehr in Verbindung gebracht hätte.

Sobald der Chefsteward gegangen war, ließ sich Martin in einen der üppig gepolsterten Sitze sinken, zog die Vorhänge zur Seite, sodass er einen freien Blick auf die bogenförmigen Verstrebungen und das geschwungene Dach des Bahnhofgebäudes hatte, und schaltete den Lesemodus seines Notebooks ein. Kurz darauf ging ein leichtes Beben durch den Zug, und er fuhr an. Während er aus dem Bahnhof glitt, sah Martin aus dem Fenster, unfähig, den Blick abzuwenden.

Die Stadt Neu-Prag war direkt oberhalb der den Gezeiten ausgesetzten Flussmündung der Vis errichtet worden; nur der Basilisk, der auf einem Ausläufer erodierten vulkanischen Granitgesteins vor sich hin brütete, ragte deutlich sichtbar aus der Ebene hervor. Bei der Durchquerung des Tieflands würde der Zug deshalb auch nur einen einzigen Antrieb aktivieren müssen. Der zweite Reaktor würde erst in kritischen Zustand versetzt werden, wenn das Vorgebirge der Apenninen erreicht war, des Gebirgszugs, der die Halbinsel von dem inneren Festland New Austrias trennte. Danach würde der Zug auf schnurgeradem Weg durch die neunhundert Kilometer lange Wüste brausen und sechs Stunden später am Fuß des Raumhafens Klamowka halten.

Die Szenerie, die sich den Augen bot, war so ungewöhnlich, dass Martin sie mit kaum verhüllter Ehrfurcht anstarrte. Obwohl er es nicht gern zugab, hatte er etwas von einem Touristen an sich, denn er suchte ständig nach Spuren ursprünglicher Schönheit, in der er insgeheim schwelgen konnte. Auf der Erde gab es nichts mehr, das dieser Landschaft ähnelte. Die Schussfahrt durch das zwanzigste Jahrhundert und die Ereignisse, die auf die Singularität – das einzigartige Geschehen, das alles verändern sollte – im einundzwanzigsten Jahrhundert gefolgt waren, hatten die Landschaft jedes industrialisierten Staates entstellt. Selbst nachdem die Bevölkerungsdichte schlagartig abgenommen hatte, konnte man nirgendwo mehr offene ländliche Gebiete samt Bauernhöfen, Hecken und sorgfältig angelegten Dörfern finden – jedenfalls nicht, ohne gleichzeitig auf Einwegbahnen, Kuppelbauten, gefährliche Stellen mit radioaktivem Niederschlag und die verrückten kleinen Erdhügel, Spuren der Endzeit-Architektur, zu stoßen.

Die Landschaft der Niederungen, die der Eilzug auf seinem Weg über die Halbinsel durchquerte, ähnelte einem England vor der nachindustriellen Epoche; es war die idyllische Landschaft eines Traums, in dem die Züge pünktlich fuhren und die Sonne im Weltreich Großbritannien niemals unterging.

Aber Bahnfahrten verlieren schnell an Reiz, und nach einer halben Stunde raste der Zug mit so hoher Geschwindigkeit durch die Täler, dass man nur noch einen nebelhaften Eindruck von Stahl und Messing hatte. Also wandte sich Martin wieder seinem Lesestoff zu und vertiefte sich so hinein, dass er kaum merkte, wie sich die Tür öffnete und wieder schloss – bis eine Frau, die er noch nie gesehen hatte, ihm gegenüber Platz nahm und sich räusperte.

»Entschuldigung«, sagte er und sah auf. »Sind Sie sicher, dass das hier Ihr Abteil ist?«

Sie nickte. »Ziemlich sicher, danke der Nachfrage. Ich habe kein Einzelabteil verlangt, Sie etwa?«

»Ich dachte …«, er kramte in seinem Jackett nach der Fahrkarte. »Ah, jetzt verstehe ich.« Insgeheim den Empfangschef verfluchend, schaltete er das Notebook aus und sah sie an. »Ich dachte, ich hätte ein Einzelabteil reserviert, aber jetzt sehe ich, dass ich mich geirrt habe. Bitte entschuldigen Sie.«

Die Frau nickte gnädig. Sie hatte langes schwarzes Haar, das zu einem Knoten geschlungen war, hohe Backenknochen und braune Augen. Ihr dunkelblaues Kleid wirkte gemessen an dem, was in dieser Gesellschaft üblich war, in seiner schlichten Art elegant und teuer. Wahrscheinlich eine Hausfrau aus der Mittelschicht, dachte Martin; allerdings schaffte er es noch immer nicht ganz, den gesellschaftlichen Status eines Menschen in der Neuen Republik auf Anhieb einzuschätzen. Er hätte nicht einmal sagen können, wie alt sie war: Das dick aufgetragene Make-up, das enge Mieder, die sich bauschenden Röcke und Puffärmel – neueste Mode der Hauptstadt – boten eine wirkungsvolle Verkleidung.

»Fahren Sie weit?«, fragte sie munter.

»Ganz bis nach Klamowka, zum Marinestützpunkt, und von dort mit dem Fahrstuhl ins All«, erwiderte er, verblüfft über das offene Verhör.

» Welch ein Zufall, da fahre ich auch hin. Entschuldigen Sie, aber gehe ich recht in der Annahme, dass Sie kein Einheimischer aus dieser Gegend sind?«

Sie sah ihn interessiert an, so interessiert, dass Martin es als irritierend aufdringlich empfand. Er zuckte mit den Achseln. »Stimmt.« Er klappte das Notebook wieder auf und versuchte, sich darin zu vergraben, aber seine unerwünschte Reisegefährtin hatte anderes mit ihm vor.

»Aus Ihrem Akzent schließe ich, dass Sie auch nicht von diesem Planeten stammen. Und Sie sind zu den Werften der Admiralität unterwegs. Darf ich fragen, was Sie dort zu tun haben?«

»Nein«, gab er barsch zurück und starrte bewusst auf sein Notebook. Anfangs war ihm gar nicht aufgefallen, wie dreist sie war, zumindest für eine Frau ihrer sozialen Schicht, aber allmählich ging sie ihm auf die Nerven und brachte seine Alarmglocken zum Klingeln. Irgendetwas an ihr kam ihm seltsam vor. Ein Agent provocateur?, fragte er sich. Er hatte nicht die Absicht, der Geheimpolizei noch weitere Vorwände dafür zu liefern, ihn einzulochen; im Gegenteil wollte er den Leuten den Eindruck vermitteln, er habe aus seinen Fehlern gelernt und beschlossen, sich zu bessern.

»Hm. Aber als ich hereinkam, haben Sie gerade eine Abhandlung über Algorithmen gelesen, die relativistische Zeitabweichungen korrigieren können, und zwar bezog es sich speziell auf die Konstruktion moderner Antriebskompensatoren bei Raumschiffen. Also sind Sie irgendeine Art von Ingenieur, den die Admiralität mit Wartungsarbeiten auf den Flottenschiffen beauftragt hat.« Ihr breites Grinsen, bei dem der rote Mund die weißen Zähne enthüllte, fand er beunruhigend: Etwas an ihrer Art erinnerte ihn an zu Hause, wo die Frauen mehr als wohl gezüchtete Zierblüten am Familienstammbaum darstellten. »Stimmt’s?«

»Darauf kann ich unmöglich antworten.« Martin klappte sein Notebook wieder zu und starrte sie finster an. » Wer sind Sie, und was, zum Teufel, wollen Sie von mir?« Die soziale Programmierung, der er sich während seiner Reise zur Neuen Republik unterzogen hatte, verbot solche Grobheiten gegenüber einer Dame, aber offensichtlich war sie ebenso wenig eine Dame wie er ein Freisasse der Neuen Republik. Sollte die gesellschaftliche Etikette doch der Teufel holen.

»Ich heiße Rachel Mansour und fahre zu den Marinewerften. Was ich dort zu tun habe, mag sich durchaus mit Ihren eigenen Aufgaben überschneiden. Wenn ich mich nicht irre – falls doch, möchte ich mich mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns bei Ihnen entschuldigen –, sind Sie Martin Springfield, selbstständig und durch Vertrag von der Admiralität der Neuen Republik dazu engagiert, Verbesserungen am Schaltkreis der Antriebssteuerung eines Schlachtkreuzers der Svejk-Klasse vorzunehmen und zu installieren. Es handelt sich dabei um den Schlachtkreuzer Lord Vanek, so benannt nach Lord Ernst Vanek, der die Marine der Neuen Republik begründete. Stimmt’s?«

Martin steckte das Notebook wieder in die Tasche seines Jacketts und sah aus dem Fenster, wobei er versuchte, mit einem plötzlichen Anflug eiskalter Furcht fertig zu werden. »Ja, aber was geht Sie das an?«

»Es mag Sie interessieren, dass vor vier Stunden – allgemeine Standardzeit – die Luftwaffe Neuen Typs, bei der Sie versichert sind, die Eschaton-Klausel für alle langfristigen Garantien in Kraft gesetzt hat, sofern sie sich auf die Neue Republik beziehen. Gleichzeitig hat jemand dem Ständigen Ausschuss der Vereinten Nationen, der für Multilaterale Interstellare Waffensperrverträge zuständig ist, gesteckt, dass sich die Neue Republik auf einen Krieg vorbereitet. Sie rüstet auf, um eine belagerte Außenkolonie zu verteidigen. Sie zahlen doch nicht etwa die zusätzliche Gebühr, die Sie gegen Fälle höherer Gewalt versichert? Das heißt also, dass Sie derzeit nur noch in Fällen von Krankheit oder Diebstahl geschützt sind.«