Supernova - Charles Stross - E-Book

Supernova E-Book

Charles Stross

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Beschreibung

Der Verschwörung auf der Spur

Nach der Singularität haben sich die Menschen über die Galaxis verstreut – nicht ganz freiwillig, und nicht ohne Konflikte. Als die noch junge Zivilisation auf dem Planeten Moskau von einer Supernova bedroht wird, werden die Bewohner eilig evakuiert, darunter auch die junge Wednesday. Der neugierige Teenager erkundet das Transportschiff, das sie in Sicherheit bringen soll, auf eigene Faust – und entdeckt zuerst geheime Dokumente und dann eine Leiche. Noch ahnt sie nicht, wie brisant ihre Entdeckung ist, doch schon bald wird ihre Familie getötet und sie selbst gnadenlos verfolgt. Zeitgleich nimmt die Agentin Rachel Mansour ihre Ermittlungen auf, denn es scheint, als wäre Moskaus Sonne mittels einer geächteten Waffe zur Explosion gebracht worden. Die Hauptverdächtige ist die Regierung Neu-Dresdens, und nur Wednesdays Dokumente könnten Licht in diesen verworrenen Fall bringen…

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EPUB
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Seitenzahl: 808

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Titel der englischen Originalausgabe IRON SUNRISE Deutsche Übersetzung von Usch Kiausch
Copyright © 2004 by Charles Stross Copyright © 2005 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Redaktion: Angela KuepperTitelbild: Stephane Martinière Covergestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: C. Schaber, Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-15607-7V002
www.heyne.dewww.penguinrandomhouse.de

www.diezukunft.de

DAS BUCH

Als der Planet Moskau, eine eher unbedeutende ländliche Randwelt, in einer Supernova explodiert, sind auch die umliegenden Planeten und Raumstationen von der Vernichtung bedroht. Ein eilig angelegter Plan sorgt für die Evakuierung von Milliarden Menschen, unter ihnen auch Wednesday, ein ebenso aufbegehrender wie neugieriger Teenager. Ebendiese Neugier treibt Wednesday in dem Transporterschiff um, das sie vor der näher kommenden Schockwelle in Sicherheit bringen soll. Völlig unerwartet entdeckt sie eine mysteriöse Tasche mit Geheimdokumenten und kurz darauf eine Leiche. Noch ahnt Wednesday nicht, welch brisanten Fund sie gemacht hat, doch bald darauf wird ihre Familie ausgelöscht und sie selbst gnadenlos verfolgt.

Zur gleichen Zeit häufen sich die Gerüchte, dass Moskau keiner natürlichen Katastrophe anheim gefallen sei, sondern mittels einer geächteten Waffe in Schutt und Asche gelegt wurde. Hauptverdächtige ist die Regierung Neu-Dresdens, die mit Moskau in einen hässlichen Handelsdisput verstrickt war. Rachel Mansour, Waffenbeauftragte der Vereinten Nationen, wird mit dem undurchsichtigen Fall beauftragt. Sie reist unerkannt nach Neu-Dresden, um Nachforschungen anzustellen. Doch die wahren Feinde arbeiten verdeckt, und sie bedrohen nicht nur unbedeutende Randwelten, sondern stellen eine Gefahr für die gesamte Galaxis dar. Allein Wednesday verfügt über das Material, sie zu entlarven …

»Für Autoren wie Charles Stross wurde die Science Fiction erfunden!« Locus Magazine

DER AUTOR

Charles Stross, geboren 1964 im englischen Leeds, studierte Pharmakologie und Computerwissenschaften und arbeitete in vielen unterschiedlichen Berufen, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. »Singularität«, sein erster Roman, wurde auf Anhieb ein großer Erfolg.

Weitere Informationen zum Autor unter:

www.antipope.org/charlie/index.html

Für Olivia und Howard

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorWidmungProlog - Wednesday WhildSupernovaVom Regen in die TraufeAußer Gefecht gesetztMagical Mystery TourLeitartikel, Tag für TagJagdsaisonErstes ZwischenspielParty GirlZum Überleben verdammtMord, serienweiseSpion gegen SpionZweites ZwischenspielHaltet die Aufmacherseite freiLuxusklasseVorbereitung auf Schimären und SpürhundeShowtimeEine Bombe geht hochKomm, süßer TodDrittes ZwischenspielPossenspieleZu viele KinderSicherungenBotenUnwiderruflichEpilog - An der HeimatfrontDanksagungCopyright

Prolog

Wednesday Whild

Einschlag: T plus 1392 Tage, 18 Stunden, 09 Minuten

MIT KLOPFENDEM HERZEN spurtete Wednesday durch die finsteren Gänge der Raumstation. Den unbarmherzigen Verfolger, der ihr hinterherrannte, konnte sie zwar nicht sehen, doch sie spürte seine Gegenwart als fortwährende Bedrohung. Es war ein Hund. Eigentlich hätte die mörderische Bestie gar nicht hier sein dürfen, genauso wenig wie sie selbst. Alt-Neufundland 4 wurde gerade für alle Zeiten evakuiert; das letzte Schiff hätte schon vor vierzehn Minuten vom grünen Dock ablegen sollen, um von der nächsten flachen Raumzeit aus den rettenden Sprung zu wagen. Ein Icon, das im Inneren ihres linken Auges eintätowiert war, zeigte ihr, wie viel Zeit bereits überzogen war. Im Zeitplan für den Start waren keine ausgerissenen Teenager oder wahnsinnige, mit Geheimbefehlen ausgestattete Dresdner Flugkapitäne vorgesehen. Auch keine Gestapohunde, deren Augen, scharf wie Zielfernrohre, vor Mordlust glühten. Wednesday rang verzweifelt um Atem. Ihre Nerven lagen vor Panik fast blank, und die dünne, unbewegte Luft stach ihr in die Lungen. Sie war kaum älter als sechzehn. Und wenn sie keine Möglichkeit fand, den Hund abzuschütteln und bald zurück in die Radnabe zu gelangen, in der die Docks lagen …

Sie wollte nicht hier sein, wenn die Schockwelle eintraf.

In einer Entfernung von 3,6 Lichtjahren – vor fast 3,6 Jahren – waren alle zweihundert Millionen Bewohner einer unbedeutenden McWelt namens Moskau gestorben. Moskau, ein mit sich selbst beschäftigtes, fast ländliches Gemeinwesen, hatte sich zu diesem Zeitpunkt mitten in politischen Umwälzungen und einem hässlichen Handelsdisput mit Neu- Dresden befunden. Im Grunde war es um gar nichts Aufregendes gegangen: Der Streit hatte mit biologischer Vielfalt, Freihandel, dem Einsatz von Technologien im Agrargeschäft und der Festlegung von Wechselkursen zu tun gehabt. Alt-Neufundland 4, Raumhafen 11 war das letzte Hoheitsgebiet, das von der Bundesrepublik Moskau übrig geblieben war. Vor vier Stunden hatten sie auf dem zentralen Platz in der Radnabe die Staatsflagge eingeholt und aus Anlass des endgültigen Rückzugs ein letztes Mal die Trompeten schmettern lassen; dann waren sie langsam zu den Docks marschiert. Das Spiel war verloren, es gab keine Nation mehr. Dresdner Kriegsschiffe hatten seinerzeit aufgrund eines Missverständnisses einen Frachter aus Moskau umzingelt und Schüsse auf die von Menschen bevölkerten Docks abgegeben. Anschließend hatte irgendjemand den Hauptplaneten Moskau mit einer geächteten Waffe in Schutt und Asche gelegt. Bis zum heutigen Tag bestritt die nachfolgende Dresdner Regierung vehement jede Verantwortlichkeit für diesen Schlag, auch wenn sie die damals amtierende Regierung vorsichtshalber hingerichtet hatte.

Wednesday hatte keine sonderlich deutlichen Erinnerungen an Moskau. Ihr Vater war als Ingenieur für den Stickstoffkreislauf zuständig gewesen, ihre Mutter als Ökologin auf Einzeller spezialisiert. Sie hatte mit ihrer Familie seit dem vierten Lebensjahr auf der Raumstation gelebt, denn ihre Eltern gehörten zu dem Team, das für die Erhaltung des Versorgungsnetzes im Herzen des riesigen orbitalen Komplexes verantwortlich war. Aber jetzt stand dieses Herz still. Es gab keinen Grund mehr, sich irgendetwas vorzumachen. In weniger als einem Tag würde die Schockwelle, ausgehend vom Hauptplaneten Moskau, dem glühenden Scheiterhaufen, an ihnen vorbeirasen und ein Chaos auf jedem Habitat anrichten, das nicht durch einen gut dreißig Meter dicken Gürtel aus Metall und Gestein geschützt war. Alt-Neufundland, das in einer steten Umlaufbahn um einen planetenlosen braunen Zwerg kreiste, war schlicht zu groß und zu schwach, um im Abstand von wenig mehr als einem Parsec einen Supernova-Sturm zu überstehen.

Als Wednesday an eine Kreuzung gelangte, blieb sie keuchend stehen und versuchte sich zu orientieren, wobei sie mit aller Macht ein verzweifeltes Wimmern unterdrückte. Links, rechts, aufwärts oder abwärts? Dass sie bis zu den Habitatebenen des großen Rades hinuntergerutscht war, hatte sich als Fehler erwiesen, auch wenn es hier Fahrstühle und Notausstiege gab, die bis zur Radnabe hinauf und bis zur Zone mit den Versorgungssystemen hinunter führten. Das Hauptpostamt, die Verkehrsüberwachung, der Zoll und die Bio-Quarantäne lagen alle in der Nähe des Versorgungszentrums. Aber der höchste Punkt des mit Druckausgleich versehenen Radkranzes befand sich sechzig Meter über ihr, und sie würde weitere hundert Meter an einer Speiche entlangklettern müssen, um zur Radnabe zu gelangen. Und falls sie die Fahrstühle nahm, würde der Hund sie aufspüren. Hier unten herrschte allzu viel Fliehkraft, die wie echte Schwerkraft an ihr zerrte. Sie konnte den Kopf scharf herumwerfen, ohne dass ihr schwindelig wurde, und die Füße kamen ihr bleischwer vor. Beim Klettern würde sie anfangs nur quälend langsam vorankommen, denn die Coriolis-Kraft würde ihr ständig zu schaffen machen und versuchen, sie seitlich von der Leiter zu ziehen, die in die Sicherheit führte.

Die in die Decke eingelassenen Beleuchtungskörper glühten nur schwach, denn sie waren auf Stufe MONDSCHEIN 7 heruntergefahren. Die Kletterpflanzen in dem kleinen Garten, der im Mittelpunkt der Kreuzung lag, hingen schlaff herunter, weil sie bereits unter der achtzehnstündigen Dunkelheit litten. Alles hier unten war tot oder dabei abzusterben, genau wie der Körper, den sie zwei Decks oberhalb und drei Abschnitte jenseits ihres jetzigen Standorts in der öffentlichen Toilette entdeckt hatte. Als sie gemerkt hatte, dass ihr der Hund immer noch auf den Fersen war, hatte sie sich auf den Heimweg zu der Wohnung gemacht, die sie mit ihren Eltern und dem jüngeren Bruder geteilt hatte. Sie hatte gehofft, der Geruch werde den Hund so verwirren, dass sie sich unbemerkt auf eines der anderen Evakuierungsschiffe würde schleichen können. Doch jetzt saß sie hier unten in der Falle, und der Hund war immer noch da. Sie hätte sich besser auf den Weg zu den Büros der Verkehrsüberwachung machen sollen und die Türen verbarrikadieren …

Ihr früheres Training trieb sie vorwärts. Diesen Sektor hatte man den Verwaltungsbüros, der Polizei der Raumstation und der Zoll- und Handelskontrolle überlassen; außerdem lagen hier die wenigen Diensträume, aus denen sie während der Arbeitsschichten mit Essen versorgt worden waren. Die Eingänge zu den dunklen, nicht mehr benutzten Büros standen offen, auf Stühlen und Schreibtischen sammelte sich bereits Staub. Vorsichtig betrat sie die Polizeiwache. Hinter dem Empfangsschalter befand sich eine Wand für öffentliche Mitteilungen, über die unablässig die Nachricht POLIZEIWACHE GESCHLOSSEN rollte. Vor Anstrengung stöhnend, kletterte sie über die brusthohe Barriere und ließ sich dahinter zu Boden gleiten.

Die alte Ledertasche, die sie auf Geheiß von Hermann mitgenommen hatte, schlug ihr gegen die Hüfte. Sie verfluchte sie und das, was sie ihr eingebrockt hatte. Sie war halb mit Papier gefüllt: mit dickem, zart cremefarbenem Papier aus Leinenstruktur, das mit echter Tinte beschrieben war, die nicht verschwamm oder eine andere Form annahm, wenn man am Rand entlangstrich. Unintelligente Materie, Material, das man verwendete, wenn man auf jeden Fall ausschließen wollte, dass irgendein Computerwurm einem ins Handwerk pfuschte und die Nachricht abfing oder verfälschte. Ganz unten in der Tasche lag eine versiegelte Kassette voller molekularer Speicherungen – Aufzeichnungen der Zollstelle der Raumstation. Aufzeichnungen, die irgendjemand für wichtig genug hielt, um dafür zu töten.

Sie drehte an einem Ring, sodass die Beleuchtung auf ZWIELICHT STUFE 3 hochfuhr, und sah sich auf der Wache um. Sie war schon einmal hier gewesen, als Wachtmeister Barca ihr Schuljahr durch die Räumlichkeiten geführt hatte. Es war ein gezielter Hinweis der Erwachsenen darauf gewesen, dass man sich aus Schwierigkeiten besser heraushielt. Inzwischen sah es hier anders aus: Die Büros, Zellen und Wartezimmer gähnten wie leere Augenhöhlen in einem Totenschädel. Die Verwaltung hatte seinerzeit angenommen, sie kenne sich mit Teenagern gut aus – doch weit gefehlt: Wednesday hatte gleich den zugesperrten Schrank im Bereitschaftsraum entdeckt und Pete dazu gebracht, danach zu fragen. Für den Fall von Unruhen unter den Bewohnern der Raumstation enthielt dieser Schrank klebrigen Schaum, Pfeffergas, Atemmasken und Handschellen. Im Fall von Aufruhr das Glas einschlagen. Meistens war Alt-Neufundland ja ein friedliches Pflaster. In den letzten dreißig Jahren hatte es hier nur einen einzigen Mord und ein paar Schlägereien gegeben. Die Verwaltung hielt ein Sondereinsatzkommando für etwas, das man ausschickte, wenn ein Wespennest in einem Lüftungsschacht zu beseitigen war.

Wednesday blieb vor dem verschlossenen Schrank stehen, ließ die Tasche zu Boden fallen und griff nach etwas, das nützlicher aussah.

Draußen vor der Tür tapsten Pfoten über den Fußboden, die gleich darauf innehielten.

Einschlag: T plus 1392 Tage, 17 Stunden, 30 Minuten

»WAS MEINEN SIE DAMIT, dass sie verschwunden ist?«, fragte Wachtmeister Ito gereizt. »Können Sie Ihre Kinder denn nicht beaufsichtigen …«

Der große Mann mit den hängenden Schultern fuhr sich durch das schüttere Haar. »Wenn Sie Kinder hätten … Nein, tut mir Leid. Sie ist nicht hier, verstehen Sie. Ich weiß, dass sie einen Bordpass hat, weil ich ihr das Schild selbst an die Jacke geheftet habe. Aber sie ist nicht hier, und ich fürchte, dass sie vielleicht nach Hause zurückgekehrt sein könnte oder so.«

»Nach Hause?« Ito schob sein Visier hoch und starrte den besorgten Vater an. »So dumm kann sie doch wohl nicht sein, oder doch?«

»Kinder!« Es kam wie ein Fluch heraus, auch wenn es nicht so gemeint war. »Nein, ich glaube nicht, dass sie so dumm ist. Aber sie ist auch nicht auf dem Schiff, zumindest sind ihre Implantate ausgeschaltet  – Wachtmeister Klein hat vor einer Stunde ein Funksignal nach ihr ausgeschickt. Und heute Morgen wirkte sie wegen irgendetwas recht bedrückt.«

»So ein Mist. Implantate, wie? Ich werde eine Mitteilung herausgeben, in Ordnung? Im Augenblick spielt hier alles verrückt. Können Sie sich überhaupt vorstellen, was es heißt, wenn man fünfzehntausend Menschen umzusiedeln versucht? Wahrscheinlich wird sie irgendwo auftauchen, wo sie nicht hingehört, in den Diensträumen der Besatzung oder so. Vielleicht hat sie sich aus Spaß an der Freud ja auch für eine Reise auf Sikorsky’s Dream entschieden, kurz ehe das Schiff abgelegt hat. Sie wird schon auftauchen, das verspreche ich Ihnen. Ihre vollständigen Personalien, bitte?«

»Victoria Strowger. Sechzehn Jahre alt. Ausweis drei, auf diesen Namen ausgestellt.«

»Aha, in Ordnung.« Ito vollführte mit den Ringen an seiner rechten Hand eine Reihe von seltsamen Gesten, um die Personalien ins Datennetz der Polizei einzugeben und mit anderen Daten abzugleichen. »Okay, falls sie sich irgendwo auf dieser Müllhalde befindet, müsste man sie auf dieser Grundlage aufspüren können. Falls nicht, weiten wir die Suche in etwa zehn Minuten zu einer allgemeinen Fahndung aus. Wenn Sie mich bis dahin entschuldigen würden …«

»Selbstverständlich.« Morris Strowger trat vom Schreibtisch des Wachtmeisters zurück. »Wahrscheinlich hat sie ihr Schild mit dem Bordpass einfach ins Klo geworfen«, murmelte er vor sich hin. Hinter ihm beschwerte sich die Nächste in der Schlange, eine ältere Frau, beim Wachtmeister über die Enge ihres Wohnmoduls: Sie wollte einfach nicht glauben, dass ihr Apartment – eine für einen Menschen berechnete Zelle innerhalb einer fünftausend Personen fassenden Wabe von Flüchtlingsquartieren, die an den Laderaum des Neu-Dresdner Frachters Long March angehängt war – alles war, was man ihr oder sonst jemandem bis zur Ankunft im nächstgelegenen Septagon-System zuzuteilen gedachte. Die Umsiedlung kostete nichts, sie wurde großzügigerweise von der (neuen) Regierung Neu-Dresdens beziehungsweise aus dem verbliebenen Handelsüberschuss der Republik Moskau bezahlt, aber die Kabinen ähnelten nicht gerade der Präsidentensuite auf einem Luxusdampfer. Ich hoffe nur, dass Vicki das Versteckspiel bald satt hat. Vielleicht wird’s ihr ganz gut tun, wenn es die Polizei ist, die sie aufspürt und anschließend einbuchtet. Das wird sie lehren, mitten in einer Notsituation nicht noch zusätzliche Probleme zu schaffen …

Einschlag: T plus 1390 Tage

STELLEN SIE SICH EIN MÄDCHEN mit bleicher Haut, kurz geschnittenem, wirrem schwarzem Haar und hellblauen Augen vor: Ist es eine Ausreißerin? Oder gar ein Teufelsbraten? Wednesday, außerordentlich klug für ihr Alter, hatte etwas von einer Einzelgängerin an sich. Ihre Eltern hatten das Kind geplant und ein vernünftiges Maß pränataler genetischer Verfahren dazu genutzt, um ernsthaftere Schäden bei ihrem Baby ausschließen zu können. Sie hatten die teuersten Interface-Implantate gekauft, die sie bekommen konnten: Importe vom Septagon, denn sie wollten nur das Beste für ihr Kind. Sie war noch nicht einmal siebzehn und schlecht drauf, denn sie machte gerade eine der üblichen »Phasen« durch. Weigerte sich, irgendetwas anderes als schwarze Klamotten anzuziehen, verbrachte ihre Freizeit damit, in seltsamen Versorgungsschächten herumzuschnüffeln, und züchtete in ihrem Zimmer einen Nervengarten mit achtzehn Millionen Synapsen heran (ihre Eltern mochten nicht einmal daran denken, welche Träume sie denen womöglich beibrachte). Sie zog Pflanzen groß: tödliche Nachtschattengewächse, Baldrian, Wolfsmilch, Schierling – und was sollten sie mit Letzterem anfangen, wenn er sich zu voller Größe auswuchs? (Niemand wusste es; niemand weiß so etwas.) In ihrem Zimmer hörte sie bei geschlossener Tür gern deprimierende Musik. Ihre besorgten Eltern drängten sie zu den normalen, gesunden Freizeitaktivitäten an der frischen Luft – zu Kletterstunden, zum Sonnensegeln, zu Karate –, aber an solchen Dingen war Wednesday nicht interessiert. Laut Personalausweis hieß sie Victoria, aber die anderen Teenager nannten sie nur Wednesday. Das gefiel ihr zwar gar nicht, aber noch weniger mochte sie den Namen, den ihre Eltern ihr gegeben hatten.

Wednesday war eine Außenseiterin. Und wie es bei Außenseitern von jeher üblich ist, hatte sie von frühester Kindheit an einen unsichtbaren Freund. Sie spielten zusammen, erforschten das Terrain der Spionage. Probierten die Fahrstühle aus. Tauchten, ausgerüstet mit einer Sauerstoffmaske, in unbekannte Schächte ein; man konnte ja nie wissen, was sich auf der anderen Seite eines zugesperrten Schotts befand. Allerdings hatten die meisten Kinder keine Freunde, die ihnen mittels der teuren, von den Eltern bezahlten Netzimplantate antworteten. Und noch viel seltener brachten solche unsichtbaren Freunde ihnen Dinge wie Geheimschriften, Nachrichtenanalyse, Beschattungen und Überwachungen mittels Teleskop bei. Außerdem vergaßen die meisten Kinder ihre unsichtbaren Freunde irgendwann, wenn sie älter wurden, nicht jedoch Wednesday. Was daran lag, dass ihr unsichtbarer Freund, anders als bei den meisten jungen Außenseitern, nicht nur in der Phantasie existierte.

Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie ihrem Bruder Jeremy von ihrem Freund erzählt, der Hermann hieß. Aber Jerm hatte es Mom gesteckt, was eine anstrengende Befragung und Ausflüge zu den Netztechnikern und danach zum Büro der Beraterin nach sich gezogen hatte. Als sie gemerkt hatte, was man von ihr erwartete, hatte sie natürlich alles abgestritten, allerdings nicht sofort. Hermann hatte ihr gesagt, was sie tun musste, um deren Argwohn zu beschwichtigen. Wenn du schizophren bist, kennst du keine Einsamkeit, hatte er mit bissigem Humor gewitzelt, und das hatte sie geärgert, denn sie wusste ja, dass Schizophrenie nichts mit einer multiplen Persönlichkeit zu tun hatte, sondern nur damit, Stimmen im eigenen Kopf zu hören. Als sie diesen Ausdruck zum ersten Mal gehört hatte, hatte sie sich Chlorpromazin und Flupenthixol von der Küchenapotheke bestellt und war tagelang in einem Nebel herumgestolpert, während Hermann ihr trocken erklärt hatte, wie sie sich damit hätte vergiften können: Parkinson war eine nicht unbekannte Nebenwirkung primitiver Neuroleptika. Das Wort hatte sie bis dahin noch gar nicht gekannt.

Seit Monaten war jedem klar gewesen, dass irgendwann der Tag der Evakuierung kommen würde. Schon wenige Wochen nach der Katastrophe hatten sie nicht nur den Tag, sondern auch die Stunde gewusst. Eine Woche vor der Stunde Null trafen die ersten Schiffe ein. Normalerweise lief nur ein Linienschiff im Monat Alt-Neufundland an und holte sich dort die Zollgenehmigung, um Passagiere und Ladung zu den örtlichen Kurzstreckenfrachtern zu transportieren, die im letzten Parsec hin und her pendelten. Aber derzeit waren alle Docks am Radkranz ausgefahren und die Piers mit Druck geflutet, sodass sie wie große graue Neunaugen wirkten, die die Eingeweide aus der Station heraussaugten.

Vor zwei Wochen waren die noch verkehrenden Binnenfrachter zum letzten Mal nach Hause zurückgekehrt, um sich für ihren letzten Flug mit zusätzlichen Tanks auszurüsten. Alles drängte sich auf der einen Raumstation zusammen, dreißigtausend Seelen, die oberhalb der Ekliptik eines düsteren roten Gasriesen dahintrieben, der achtmal so viel Masse wie der Jupiter besaß. Treibstoff hatten sie genug – schließlich hatte Alt-Neufundland 4 seinen Handel damit getrieben. Sechshundert Megatonnen von raffiniertem Methan-Eis bunkerte in einer Tankfarm, die sich hinter der Hauptachse des großen Rades über mehrere Kilometer erstreckte. Sie lagen nahe genug an einer der regulären Handelsrouten zwischen dem Septagon-System und den Kernwelten, um von den vorbeiziehenden Handelsschiffen zu profitieren. Nahe genug, um für den örtlichen Verkehr, der nach Moskau unterwegs war, als Umschlagplatz zu dienen. Immer noch machten sie Gewinn und waren autark, und das war auch vor der Katastrophe schon so gewesen. Doch sie konnten angesichts der näher rückenden Supernova nicht hier bleiben.

Das Linienschiff Sikorsky’s Dream legte am Radkranz an, um V.I.P.s sowie den Gouverneur und seinen Stab an Bord zu nehmen. Hinter dem Schiff hingen zwei Frachter, die Neu-Dresden in einer weiteren Geste der Versöhnung geschickt hatte. Sie wirkten wie Geburtshelferkröten: Übersät mit unförmigen, an den Ladespeichen befestigten Notquartieren für die Flüchtlinge, boten sie mit diesen »Zwischendecks« Platz für Zehntausende von Passagieren. Die Reise zur Umsiedlung nach Septagon würde drei Wochen dauern, und sie würden dabei vierzig Lichtjahre durchqueren.

Selbst Septagon lag unangenehm nah an der Front der Schockwelle, aber es war das beste Umsiedlungszentrum, das zur Verfügung stand. Es gab dort genügend Geld, um jeden unterzubringen und umzuschulen, und eine politische Ordnung, die Einwanderungen aktiv unterstützte. Das würde den Umsiedlern die Chance bieten, einen Schlussstrich unter die Katastrophe zu ziehen, den Blick in die Zukunft zu richten und die dumpfe Verzweiflung und die Wolke der Trauer abzuschütteln, die sich vor dreieinhalb Jahren über die Raumstation gesenkt hatte. Als sie damals von der Auslöschung Moskaus erfahren hatten, waren Selbstmorde die Folge gewesen, und mehr als einmal hätte es um ein Haar einen öffentlichen Aufruhr gegeben. Auf jeden Lebenden kamen tausend Geister, von denen die Station heimgesucht wurde. Es war kein geeigneter Ort, um ein Kind großzuziehen.

Dad, Mom und Jeremy hatten sich vor zwei Tagen auf die Long March begeben und Wednesday mit aufgesetztem Optimismus ins Schlepptau genommen. Allerdings war diese Fassade brüchig: Auf dem Familienfoto fehlten einige Personen. Cousine Jane, Onkel Mark, Großvater und Großmutter würden nicht mitkommen, zumindest nicht als Menschen aus Fleisch und Blut. Sie waren jetzt Staub. Der von Gott geschickte Sturm, der in vier Tagen auch an der Raumstation vorbeiziehen würde, hatte sie zu Asche verbrannt.

Genervtes Aufsichtspersonal hatte Wednesday und ihre Familie zu ihrem Deck geführt und ihnen den Gang, den Abschnitt und die Zelle gezeigt. Man hatte ihnen eine Familienunterkunft zugeteilt: vier Schlafkapseln und ein zwei auf drei Meter großes Wohnzimmer, ausgestattet mit aufblasbaren Möbeln. Das würde während der Reise ihr Zuhause sein. Sie sollten in der Kantine auf dem Rosendeck essen, in den gemeinschaftlichen Waschräumen auf dem Tulpendeck baden und sich ansonsten glücklich schätzen, überhaupt noch am Leben zu sein. Im Unterschied zu Mica und ihrem Mann, Freunden und Nachbarn, die zum ersten Mal seit fünf Jahren für einen Monat Urlaub auf dem Heimatplaneten Moskau gemacht hatten, als die Katastrophe sie erwischte.

Es hatte nur Stunden gedauert, bis Wednesday sich tödlich gelangweilt hatte. Ihre Pflanzen waren abgestorben, ihr neurologischer Garten für die Reise eingefroren, und man hatte ihnen befohlen, bis nach dem Ablegen auf dem Zwischendeck zu bleiben. Also hatte sie zur Ablenkung nur auf das geistlose Gebrabbel des Unterhaltungsnetzes und die beschränkten Medienangebote des Schiffes zurückgreifen können. Irgendein schwachköpfiger Schutzgeist aus Neu-Dresden, wo stärkere Reglements als auf Moskau herrschten, war zu dem Schluss gekommen, dass interaktive Horrorfilme und -bücher für Minderjährige nicht geeignet seien, und hatte diesen Teil der Datenbank der elterlichen Aufsicht anheim gestellt. Wednesdays Freundinnen und Freunde oder die Menschen, die sie dafür hielt, befanden sich größtenteils auf anderen Schiffen. Und selbst Hermann hatte ihr mitgeteilt, er werde nach dem ersten Sprung des Schiffes nicht mehr mit ihr sprechen können. Es wäre lustiger gewesen, hätten sie die Reise im Kälteschlaf hinter sich bringen dürfen, aber diese Einrichtungen der Raumstation konnten auf keinen Fall mehr als ein paar hundert Passagiere gleichzeitig versorgen. Also würde Wednesday die ganze nächste Woche unter Langeweile leiden müssen …

Ihr einziger Trost war, dass es für sie eine ganze neue Welt zu entdecken gab: ein Sternenschiff. Seit ihrem achten Lebensjahr war sie auf keinem Schiff mehr gewesen, und es juckte sie unwiderstehlich, das, was sie gelernt hatte, in die Praxis umzusetzen. Außerdem hatte Hermann ihr gesagt, er wisse über die Anlagen dieses speziellen Schiffes genau Bescheid und könne sie ihr zeigen. Es war ein Schwertransporter der Backhoe-Serie, ein neues Modell, das in den Werften oberhalb von Burgund hergestellt worden war und dessen Versorgungssysteme aus der Thurn & Taxis-Niederlassung Neu-Dresden stammten. Im Grunde handelte es sich um einen mit Fusionsraketen und gegenläufig rotierenden Spin-Rädern ausgestatteten Müllschlepper, der über nichts so Ausgefeiltes wie eine Anlage zur Schwungübertragung oder Schwerkraftgeneratoren verfügte. Sein Sprungmodul war eine unabhängig arbeitende, in sich geschlossene Einheit, irgendwo erworben, wo man wusste, wie derlei Dinge fabriziert werden; weder Dresden noch Moskau verfügten über ein solches technologisches Niveau, dass sie mit nackten Singularitäten hätten um sich werfen können. Aber Hermann kannte sich auf diesem Schiff aus, und Wednesday langweilte sich. Also war es an der Zeit, auf Entdeckungstour zu gehen; und als sie es Hermann mitteilte, hatte er ein paar interessante Vorschläge parat, wohin sie sich wenden sollte.

Wednesday konnte sich nicht von verschlossenen Räumen fern halten, das lag ihr einfach nicht. In ihrem zweiten Schuljahr hatte es ihre Beratungslehrerin auf den Punkt gebracht: »Sie ist wie eine Katze – sie fasst eine verschlossene Tür als persönliche Beleidigung auf.« Selbstverständlich nahm sie ihren Satz von Dietrichen und den Werkzeugkasten mit. Nicht, weil sie Böses im Schilde führte oder gern irgendwo einbrechen wollte, sondern schlicht deswegen, weil sie sich nicht damit abfinden konnte, nicht zu wissen, was sich auf der anderen Seite einer Tür befand. (Das Schiff hatte eine doppelte Hülle, und die einzigen Türen, die ins Vakuum führten, waren Luftschleusen. Wenn sie nicht so dumm war, sich ausgerechnet eine schwer abgedichtete Tür mit mechanischen Verriegelungen auszusuchen, an der rote Lämpchen blinkten und vor Druckabfall warnten, ging sie kein Risiko ein. Jedenfalls nahm sie das an …)

Zwar war die Begehung des Schiffes Passagieren nicht ausdrücklich verboten, aber sie hatte das Gefühl, dass man sie wegscheuchen würde, sobald man sie hier entdeckte. Deshalb schlich sie sich auf schlaue Weise in die mittlere Achse, in der die Versorgungsräume lagen, und danach hinunter in den Ring, der die Besatzungsquartiere beherbergte: Sie setzte sich einfach auf das Dach eines betriebsbereiten Fahrstuhls und verband sich mittels ihrer Haftpolster mit dem Metall, während der Lift den Schacht entlangglitt, langsamer wurde und sie mit seiner Schwungkraft zur Seite zu drücken drohte. Zweimal fuhr sie auf diese Weise hinauf und hinunter und hielt dabei mit Hilfe einer Taschenlampe nach Luftschächten Ausschau, bis sie sich zum ersten Schritt entschloss. Nachdem sie durch finstere Versorgungsschächte und eine weitere Röhre nach unten gelangt war, setzte sie ihre Reise auf dem Dach eines Personenfahrstuhls fort und surfte so lange, bis sie einen der Hauptentlüftungsschächte erreicht hatte. Die Wartungsmaulwürfe im Belüftungssystem ließen sie, Gott sei Dank, in Ruhe, weil sie ein lebendiges Wesen war und sich bewegte. Nachdem sie eine Stunde lang in den Schächten herumspioniert hatte, war sie müde und leicht desorientiert. Und genau in diesem Moment stieß sie auf die Filterhaube, die Hermann ihr angekündigt hatte.

Die Haube, die leise vor sich hin summte, befand sich im Boden eines engen Schachtes, während die dazugehörigen blattähnlichen Pumpen im Zwielicht nur undeutlich auszumachen waren. An ihren Rändern war der schwache blaue Lichtschein ultravioletter Lampen zu erkennen. Fasziniert beugte sich Wednesday darüber, um die Sache zu inspizieren. Sterilisatoren an Bord eines Sternenschiffs? In der Regel fand man sie nur innerhalb eines Versorgungssystems. Aber das hier war das Deck mit den Unterkünften, was also taten sie hier? Ein schneller Blick auf die Verriegelungen brachte eine weitere Absonderlichkeit an den Tag: Ein feines Kabel führte durch ein Loch im Fußboden des Schachtes nach unten. Offensichtlich ein Alarmkabel und keiner dieser unzuverlässigen Infrarot-Sensoren, den irgendein zufällig vorbeikommender Wartungsgehilfe auslösen konnte. Auch kein Sensor mit neuronalem Auge, der sich schon durch Schatten verwirren ließ, sondern ein ehrlicher altmodischer Einbrecheralarm! Sie machte sich mit ihrem Mehrzweckgerät und dem kompakten kleinen Werkzeugkasten, den sie sich vor einigen Monaten angeschafft hatte, an der Alarmanlage zu schaffen. Kabel waren eine leichte Übung …

Eine Minute später hatte sie die Filterhaube losgeschraubt und an einer Seite hochgebogen. Einen Blick hindurchzuwerfen, war Sache von Sekunden. Ihre an einer Schnur befestigte Spionage-Kamera, verkleidet als Spielzeugspinne, beschrieb wirre Kreise und enthüllte dabei einen engen Raum, dessen innere Tür geschlossen war. An allen vier Wänden waren Regale angebracht, auf denen Kisten standen. Das Büro des Zahlmeisters oder ein begehbarer Schrank des Kapitäns? Wednesday konnte es nicht sagen, aber offensichtlich war es der Ort, an dem hochwertige Fracht aufbewahrt wurde: alles Kompakte, das in einem mit Schloss und Riegel versehenen Safe transportiert werden, aber während der Reise der Inspektion zugänglich sein musste. Urkunden. Aktienzertifikate. Dokumente. Anweisungen. DNA-Proben. Chiffrierschlüssel. Seltene, gesetzlich geschützte Software. »Warum siehst du dir das nicht näher an?«, stachelte eine vertraute Stimme sie an. Hermann ließ einen Lageplan hinter ihren Augen aufblinken. »Achtung: Gemäß dieser authentischen Blaupause müsste der Raum zu den Quartieren des Kapitäns gehören.«

»Glaubst du, ich werde da drinnen einen Schatz entdecken?« Wednesday suchte bereits nach einem Punkt, an dem sie ihr Seil festmachen konnte. Dem Reiz dieser verbotenen Frucht hätte sie niemals widerstehen können.

Versperrte Türen. Ein halbwüchsiges Mädchen, das eine dieser Phasen durchmacht. Modifikationen an einem normalen Versorgungssystem. Haltet alle Uhren an: Ein Stern ist gestorben. Spielzeugspinnen aus blauem Kunststoff. Geheimbefehle, von Hand auf unintelligentes, altmodisches Papier geschrieben. Unsichtbare Spielgefährten. Ein Schild mit dem Bordpass, das in einen Fahrstuhlschacht fällt. Der Atem stockt: Das Universum hält die Luft an. Und …

Supernova

Einschlag: T Null

UNMITTELBAR AUSSERHALB DES EXPANDIERENDEN LICHTKEGELS der Gegenwart starb ein Stern unter dem Bombardement von Eisen.

Irgendetwas – irgendeine außergewöhnliche Kraft nicht-natürlichen Ursprungs – zog einen Knoten im Raum so fest zusammen, dass das Zentrum eines stellaren Hochofens davon eingeschlossen wurde. Eine riesige Schleife aus Superstrings drehte sich zur Seite, dehnte sich aus und zog sich wieder zusammen, bis der Kern des Sterns völlig losgelöst in einem Taschenuniversum dahintrieb, in dem die zeitartige Dimension auf die Planck’sche Länge zusammengerollt war. Eine andere Dimension – eine der geschlossenen, die sich selbst zusammenfalten, wie es das Standardmodell der Physik besagt – trat an deren Stelle. Innerhalb des Taschenuniversums spulte die Zeit, eine enorme Spanne von Zeit, zurück, während draußen nur ein paar Sekunden vergingen.

Aus der Perspektive des dahintreibenden Kerns schien sich das übrige Universum unendlich weit zurückzuziehen und hinter einem Ereignishorizont zu verschwinden. Dort würde es so lange verharren müssen, bis die expandierende Sphäre kollabierte. Die lodernde Gaskugel leuchtete ihren eigenen Kosmos aus, bis sie nach und nach verblasste. Es verstrich viel Zeit, maßlos viel Zeit, aber aus der Perspektive des äußeren Universums drängte sie sich zu einem einzigen Augenblick zusammen. Der Kern des Sterns kühlte ab, zog sich zusammen und wurde dunkler und dunkler. Irgendwann hing dort einsam und allein ein brauner Zwerg, der so weit abkühlen würde, bis der absolute Nullpunkt erreicht war. Die Fusion hörte zwar nicht auf, vollzog sich aufgrund des Quantentunnelns unter Bedingungen extremer Kälte jedoch unglaublich langsam. Über eine Zeitspanne hinweg, die um viele Milliarden länger war als die, welche im äußeren Universum seit dem Urknall vergangen war, verschmolzen leichte Kerne, die durch die hohe Quantenmauer der sie umgebenden Elektronen tunnelten. Schwerere Elemente lösten sich langsam auf, spalteten sich und zerfielen danach zu Eisen. Die Masse verschob sich, bis der Stern am Ende dieses Prozesses, der sich über Abermilliarden von Jahren hinzog, nur noch ein Kristall war. Ein Kristall aus Eisen, in eine Sphäre zusammengequetscht, deren Durchmesser nur mehr einige tausend Kilometer betrug. Dort drehte sich der eiserne Kristall in einem Vakuum, dessen Temperatur nur Trillionstel eines Grades über dem absoluten Nullpunkt lag.

Später, nicht einmal dreißig Sekunden, nachdem die Bombe explodiert war, führte die externe Kraft, die das Taschenuniversum geschaffen hatte, einen Umschwung herbei, ließ die Tasche zuschnappen und die dichte Kristallkugel in das Loch im Kern des Sterns fallen. Und die Tore zur Hölle öffneten sich.

Eisen fusioniert nicht leicht: Dieser endothermische Prozess verbraucht viel Energie. Als dem Stern sein Inneres entrissen und durch eine winzige Kanonenkugel kalter, degenerierter Materie ersetzt wurde, begannen dessen äußere Schichten, die der Strahlungsdruck vom Kern fern hielt, über einen Zwischenraum von etwa einer Viertelmillion Kilometer kalten Vakuums hinweg nach innen zu kollabieren. Die äußere Hülle fiel schnell in sich zusammen, wobei dieser Prozess durch eine stellare Schwerkraftquelle beschleunigt wurde. Während Minuten verrannen, sah es von außen so aus, als zöge sich die Photosphäre des Sterns leicht zusammen, während riesige Strudel von heißem, aufgewühltem Gas darüber hinwegwirbelten und explodierten. Bald darauf schlug die Implosionsfront wie ein Hammer in den Kern …

Für die Bewohner des Planeten, der vernichtet werden sollte, gab es kaum eine Vorwarnung. Einige Minuten lang berichteten die Satelliten, die für die Überwachung der Sterne zuständig waren, über ein bevorstehendes solares Leuchtfeuer und Absonderlichkeiten mit atmosphärischen Effekten wie Aurorae und warnten die Arbeiter und Bergleute im Asteroidengürtel vor einem aufziehenden Sturm. Höchstens einer oder zwei der Satelliten verfügten über einen Kausalkanal, ein teures, empfindliches Gerät, das auf begrenzter Bandbreite unmittelbare Kommunikation ermöglichte und nicht anfällig für Störungen war. Aber die Warnungen reichten nicht aus, um irgendeinem Menschen zur Flucht zu verhelfen: Die Satelliten stellten ihren Betrieb einfach einer nach dem anderen ein, als eine Welle von Störungen mit Lichtgeschwindigkeit vom Stern nach außen drang.

In einem Forschungsinstitut runzelte eine Meteorologin die Stirn, starrte verwirrt auf ihren Rechner und versuchte, das Geschehen zu analysieren. Sie war der einzige Mensch auf dem Planeten, dem noch Zeit blieb zu bemerken, dass sich etwas Seltsames tat. Aber die Satelliten, deren Meldungen sie verfolgte, kreisten nur drei Lichtminuten näher am Stern als der Planet, auf dem sie lebte. Und zwei Minuten hatte sie bereits damit vertan, sich mit einer Kollegin, die gleich in die Mittagspause wollte, über den Preis eines Hauses zu unterhalten, das sie jetzt nie mehr kaufen würde – ein Haus, das für alle Zeiten am Ufer der Bucht nicht erfüllter Träume liegen würde.

Der Hammerschlag war eine sphärische Schockwelle aus Wasserstoffplasma, die mit einer Hitze von mehreren Millionen Grad glühte und sich verdichtete, bis sie viele Eigenschaften von Metall aufwies. Hundertmal massiver als der größte Gasriese im Sternensystem, bewegte sich diese Schockwelle, als sie auf den Eisenkristall im Kern des vernichteten Sterns traf, mit fast zwei Prozent der Lichtgeschwindigkeit vorwärts. Als sie einschlug, verwandelte sich ein Zehntel der potenziellen Gravitationsenergie des Sterns innerhalb von Sekunden in Strahlung. Erneut begann die Fusion, erneut vollzogen sich seltsame Reaktionen, als selbst der eiserne Kern begann, sich Nuklei einzuverleiben, und dabei schwerere, heißere und instabilere Zwischenelemente – Isotope – herausbildete. In weniger als zehn Sekunden verzehrte der Stern einen beträchtlichen Teil seines Brennstoffs, genügend, um das Feuer für eine Milliarde von Jahren in Gang zu halten. Der Zwerg dieses G-Typs hatte nicht genügend Masse, die er dem abfallenden Druck der Elektronen in seinem Kern hätte entgegensetzen können, sodass er zu einem Neutronenstern kollabiert wäre; dennoch prallte vom Kern eine beachtliche Schockfront zurück, die fast die hundertfache Stärke einer Supernova besaß.

Ein riesiger Impuls von Neutrinos explodierte nach außen und riss einen Großteil der Energie vom unmittelbaren Brandherd der Fusion mit. Normalerweise reagierten die neutralen Teilchen gar nicht mit Materie; ein gewöhnliches Neutrino kann durch ein Lichtjahr von Blei schwirren, ohne es überhaupt zu registrieren. Aber jetzt waren es so viele Neutrinos, dass sie, als sie durch die äußeren Schichten des Sterns drangen, einen guten Teil ihrer Energie in der tosenden Blase von nebligem Plasma abluden, das an die Stelle der Photosphäre getreten war. Bald darauf folgte ihnen eine Flutwelle von harten Gammastrahlen und Neutronen, die um Milliarden heller strahlte als der Stern; sie drang durch die niederen Schichten und sprengte sie auseinander. Als der sterbende Stern einen Impuls von Röntgenstrahlen aufflammen ließ, der so grell war, als explodierten auf einen Schlag Abermilliarden von Wasserstoffbomben, drang der Neutrino-Impuls mit Lichtgeschwindigkeit nach außen vor.

Acht Minuten später – etwa eine Minute, nachdem ihr das Flackern der Monitore aufgefallen war – runzelte die Meteorologin die Stirn. Es kam ihr so vor, als kröche ein heißer, prickelnder Strom über ihre Haut, die zu jucken anfing; aus unerfindlichen Gründen schoben sich purpurrote Meteoren in ihr Blickfeld. Der Bildschirm vor ihr flackerte noch einmal auf und verlosch schließlich. Sie atmete tief ein, nahm den scharfen Geruch von Ozon wahr, blickte sich um, schüttelte den Kopf, um den plötzlichen Nebel loszuwerden, und merkte, wie ihre Kollegin sie anstarrte und blinzelte. »He, ich fühle mich, als wäre gerade jemand über mein Grab gegangen …«

Nachdem die Lampen noch einmal aufgeflackert waren, verloschen sie; allerdings konnte sie mühelos sehen, da die Luft gespenstisch glühte. Durch das kleine Oberlicht fielen messerscharfe Schatten auf den Fußboden. Gleich darauf begann der Teil des Bodens, der direkt dem Licht vom Fenster ausgesetzt war, zu schwelen. Vage wurde der Meteorologin bewusst, dass sie dieses Haus nun wohl doch nicht kaufen würde; sie würde auch nicht ihrem Freund davon erzählen können, würde ihn nie mehr sehen, genauso wenig wie ihre Eltern, ihre Schwester oder sonst etwas – bis auf das schwelende, strahlend helle Stück Fußboden, das langsam wuchs, während der Fensterrahmen verglühte.

Aber ihr wurde eine winzige Gnade zuteil: Nur Sekunden später erreichte die obere Atmosphäre, die der vorbeiziehende Strahlenimpuls in glühendes Plasma verwandelt hatte, die Tropopause. Eine halbe Minute später legte die erste Schockwelle das Gebäude, in dem sie sich befand, in Schutt und Asche. Sie starb nicht allein. Trotz der tödlichen Dosis von Neutrino-Strahlen, die alle Bewohner des Planeten abbekommen hatten, musste niemand die Qualen der Verstrahlung erleiden, denn keiner überlebte den Aufgang der eisernen Sonne so lange.

Einschlag: T plus 1392 Tage, 12 Stunden, 16 Minuten

WEDNESDAY, DEREN HERZ VOR ANGST heftig klopfte, versteckte sich unter dem Schreibtisch und drückte den kompakten Behälter fest an sich. Als sie den Körper des Zollbeamten in der dunklen Küche entdeckt hatte, war ihr gleich klar geworden, dass er tot sein musste. Ermordet, wie die handgeschriebenen Instruktionen in der Aktentasche nahe legten. Und jetzt wollte das Ding, das den Mord vollbracht hatte, auch sie schnappen. Wenn sie doch nur …

Auf dem Kunststoffboden war das kratzende Geräusch tappender Pfoten zu hören. Ich will nicht hier sein, betete sie, während sich ihre Finger um den von Schweiß verschmierten Behälter krampften. Ich bin es gar nicht, der all das passiert! Sie konnte den Höllenhund da draußen sehen, stellte ihn sich mit ihrem inneren Auge vor: Kiefer wie Sägeblätter aus Diamanten, weit auseinander stehende Augen, in denen die Strahlen des Lidarimpulses funkelten. Sie konnte auch die kleine, heimtückische Waffe sehen, die in den ausgehöhlten Schädel implantiert war; die dort eingebetteten Computer steuerten das Gehirn und setzten die eigenen Instinkte des Dobermanns außer Kraft. Faustgroße, einander überlappende kahle Stellen, eine Haut voller Schuppenflechten, die sich über einem Panzer aus Diamantmaschen verdickte. Das Tier konnte ihre Furcht riechen.

Als sie die Papiere im Tresorraum gelesen hatte, war ihr schnell aufgegangen, wie wichtig sie sein mussten. Um wegzukommen, hatte sie die Tür halb aufgestoßen und gerade noch zuziehen können, als der Hund zähnefletschend auf sie zugesprungen war. Während sie ins Netz der Rohre abgetaucht war, hatte sich oben an den Türangeln beißender Rauch gekräuselt. Wie eine schwarze Spinne hatte sie sich in die Achse mit den Diensträumen geflüchtet, war durch den mit Druckausgleich versehenen Frachttunnel und die Schatten des fast leeren Docks gekrochen und hatte weinend nach Luft geschnappt. Die ganze Zeit über hatte sie hinter sich das Kratzen der mit Diamanten beschlagenen Pfoten vernommen, die über den Fußboden getappt waren. Ich existiere gar nicht, du kannst mich nicht riechen!

Und Hermann hatte sich – wie so oft, wenn sie ihn am dringendsten brauchte – nicht bei ihr gemeldet.

Doch der Hund konnte sie riechen – zumindest spürte er die Nähe eines Menschen. Als sie sich irgendwann in ein öffentlich zugängliches Terminal eingeloggt hatte, hatte sie beobachtet, wie dieser Hund oder einer seiner Vettern über den Frachtkai gepirscht war. Er hatte dabei wie der gespenstische Schatten eines übergroßen Wolfes gewirkt – wie etwas, das in zu Eis erstarrten Wäldern unter einer Mitternachtssonne geboren war und sich zu einem Geschöpf entwickelt hatte, das über die von Cyborgs bevölkerte Tundra einer fremden Welt streifte. Mit funkelnden Augen hatte der Hund auf die versteckte Kamera geblickt. Das Funkeln hatte sich zunächst in einen Wirbel verwandelt und war erstarrt, als der Hund sein Ziel fixiert hatte, um die Waffe abzufeuern. Mit einem Niesen konnte er Nervengas verbreiten und mit seinem Kot Landminen ausscheiden, sofern man den billigen, von allwissenden Erzählern verfassten Abenteuerserien ihres kleinen Bruders Jerm Glauben schenkte. In technologischer Hinsicht viel ausgefeilter, als Moskau ihn je hätte erschaffen können, verfügte der Hund über Muskeln, für deren Kontraktion er nichts so Primitives wie Actin oder Myosin benötigte. Seine Knochenstruktur war auf Hebelwirkung angelegt. Wenn ein Höllenhund mit voller Kraft rannte, zischte er wie eine altmodische Lokomotive und gab seine überschüssige Hitze dabei als Dampf an die Umwelt ab. Und der Dampf war so heiß, dass er jeden, der dem Hund zu nahe kam, verbrühen konnte.

Jetzt hob sie die Lähmungswaffe – eine Waffe, wie sie zur Niederschlagung öffentlicher Unruhen eingesetzt wurde –, spannte die Finger um den Abzug und nahm den Eingang ins Visier. Vage erkannte sie dort den Schatten von Beinen, allzu vielen Beinen. Als die Beine innehielten, schwenkte der Schatten über die Wand, als steuere er auf ein bestimmtes Ziel zu. Während sie den Abzugshahn herunterdrückte und der Kanister ihren Händen beim Abfeuern einen Rückstoß versetzte, kam das grässliche Tappen näher und näher. Ein schwarzer Umriss zeichnete sich vor ihr ab. Nein, er war nicht schwarz, sondern blau: blau wie die Zunge des toten Mannes, der drüben gelegen hatte. In den Instruktionen hatte gestanden, dass alle Kopien des Datenträgers, der das Logbuch des Zolls enthielt, zu vernichten seien – alle bis auf eine. Und jeder, der darüber Bescheid wisse, müsse sterben.

Der feine Schaum aus Aerogel gab blubbernde und furzende Geräusche von sich, während er sich schnell zu einer klebrigen Masse aufblähte. Gleichzeitig stürmte der Hund mit schnappenden Zähnen und kehligem Knurren vorwärts. Als er ihr, eingehüllt in den seifigen Schaum, vor die Füße plumpste, verwandelte sich das leise Knurren in ein ohrenbetäubendes Wehgeheul.

Zitternd schleppte sich Wednesday, die beim Aufstehen den schweren Schreibtisch umgeworfen hatte, in den rückwärtigen Teil des Raums und sah sich mit wildem Blick um. Die Hinterläufe des Hundes scharrten über den Fußboden, er wäre ihr gern nachgesetzt. Während er mit dem klebrigen Schaum kämpfte, der üblicherweise zur Personenabwehr eingesetzt wurde, konnte sie ein wütendes Funkeln in seinen Augen erkennen. »Guter Hund«, sagte sie beiläufig, zog sich zurück und fragte sich dabei aus irgendeinem albernen Grund, ob sie ihn schlagen sollte. Besser nicht: Wenn sich ein Höllenhund für besiegt hielt, sprengte er sich selbst in die Luft, war es nicht so? In den Abenteuerserien taten sie das immer …

Etwas Kaltes, Nasses stupste gegen ihren Nacken, etwas Feuchtes schnüffelte an ihr herum. Als sie zusammensackte und sich Knie und Magen in Beutel voller Eiswasser verwandelten, gruben sich knochenharte Tatzen in ihre Schultern und hielten sie aufrecht. Der Monitor hinter ihrem Augenlid flackerte auf und erlosch, als die Lampen eingeschaltet wurden. Der Hund auf dem Fußboden schien sie anzugrinsen – nein, er grinste irgendetwas hinter ihr an. Die Stimme, die jetzt zu reden anfing, wirkte verblüffend menschlich. Es war eine tiefe, raue, knurrende Stimme, die aus drei Richtungen zu ihr drang: »Victoria Strowger, hier spricht die Hundestaffel vier-alpha der Bereitschaftspolizei. Auf Befehl von Kapitän Mannheim, der die Evakuierung von Alt-Neufundland leitet, nehmen wir Sie fest. Sie werden mit uns zum Hauptknotenpunkt des Radkranzes zurückkehren und dort auf die Beförderung nach oben warten. Ich bin verpflichtet, Sie zu warnen: Jede Widerstandshandlung Ihrerseits kann mit einem Einsatz nicht-tödlicher Waffen geahndet werden. Dass Sie weggelaufen und zu diesem Habitat zurückgekehrt sind, stellt eine sinnlose Verschwendung von Arbeitszeit der Polizei dar.« Zwei der Stimmen verstummten, aber eine dritte setzte hinzu: »Wo wir schon dabei sind: Warum sind Sie denn überhaupt weggelaufen?«

Einschlag: T plus 1392 Tage, 12 Stunden, 38 Minuten

ZWEIUNDZWANZIG MINUTEN nach dem angesetzten Starttermin hatten die Hunde es geschafft, das letzte herumstreunende Lamm einzukreisen, um es zur Herde zurückzubringen. Sie drängten Wednesday in die Schleuse des Dienstbereichs. Kapitän Mannheim hatte jetzt andere Sorgen, beispielsweise musste er den vierten Tank anschließen und sicherstellen, dass Mischa den Abzug für den Leckagedruck öffnete und die Temperatur des Treibstoffs innerhalb vernünftiger Grenzen hielt. Danach würde er den Start hinter sich bringen und dafür sorgen, dass sie diese Geisterstation auf schnellstem Weg verließen, ehe die Sturmfront auftauchte. Erst wenn das alles erledigt war, würde er sich mit den Wachhunden befassen. (Warum, würde er fragen, hatten sie überhaupt zugelassen, dass irgendein nervender, jugendlicher Punk im Zentrum der Diensträume herumschnüffelte?) Und dann …

Zweiundzwanzig Minuten! Mehr als tausend Sekunden Verspätung! Bei diesem gefährlichen Aufbruch gab es zwar etwas Spielraum  – kein Mensch wäre so dumm gewesen, nicht auch irgendwelche Verzögerungen einzukalkulieren –, aber bei fünftausend Passagieren bedeuteten zweiundzwanzig Minuten, dass sämtliche Vorräte für fünf Personen-Jahre einfach so verschwanden – buchstäblich im Handumdrehen verschwendet wurden.

Die Notunterkünfte hatten ein einfaches Einweg-Versorgungssystem, da es auf diesem Rettungsflug keinen Platz für Tanks zur Wiederaufbereitung gab. Deshalb beliefen sich die Kosten für dieses ganze Evakuierungsmanöver auf Millionen, Dutzende von Millionen Mark. Und der Streich irgendeines blöden Kindes hatte die Bürger von Neu-Dresden gerade, na ja, rund zweitausend Mark gekostet. Und Kapitän Mannheim gut zweitausend neue graue Haare.

»Wie sieht’s inzwischen mit dem kritischen Zustand aus?« Mannheim beugte sich vor, um einen Blick auf Gertrudes Rechner zu werfen.

»Oh, alles, wie es sein soll, Sir.« Gertrude starrte unentwegt auf den Schirm und wich seinem Blick aus.

»Dann sorgen Sie dafür, dass es auch so bleibt«, erwiderte er kurz angebunden. »Mischa! Was ist mit dem Tank, um den Sie sich kümmern sollten?!«

»Ist mit Abzug versehen und innerhalb bestimmter Grenzwerte justiert.« Von der anderen Seite der Brücke aus grinste Mischa ihn unbeschwert an. »Die Einspeisung läuft gut. Oh, und endlich einmal hat die Toilettenspülung von Nummer zwei ihre Macken eingestellt.«

»Gut.« Mannheim rümpfte die Nase. Gelegentlich litten die Installationen im zweiten Tank, die für den Fluss der Reaktionsmasse zum Antrieb sorgten, unter Turbulenzen, besonders, wenn die schweren Wasserstoffelemente, die ihr zugeführt wurden, auf eine Temperatur von mehr als sechzehn Grad absolut anstiegen. Eine solche Turbulenz war nicht sonderlich riskant, es sei denn, sie führte dazu, dass sich regelrechte Hohlräume in der Flüssigkeit bildeten und in den Rohren, die die Fusionsraketen mit Reaktionsmasse speisten, große Blasen von Kaltgasen aufsprudelten. Das allerdings konnte eine Katastrophe heraufbeschwören, zumal sie in der jetzigen Situation keinen zeitlichen Spielraum zur Durchführung von Reparaturen hatten. Nicht zum ersten Mal dachte Mannheim voller Neid an das schöne, mit Hightech ausgerüstete Linienschiff aus Novya Romanow, das vor sechs Stunden – auf einer unsichtbaren Welle gekrümmter Raumzeit surfend – aufgebrochen war und für die Reise eine extremale Singularität nutzte. Sikorsky’s Dream hatte es nicht nötig, mit sperrigen, Masse fressenden, uralten Fusionsraketen herumzupfuschen. Aber die Long March war technologisch so ausgefeilt, wie ein Schiff, das sich das Dresdner Handelssyndikat leisten konnte, nur sein konnte, und er würde das Menschenmögliche tun, um damit zurechtzukommen.

»Schiff! Wie steht’s mit den Startprozeduren?«

Die glatte Roboterstimme des Autopiloten drang über die Brücke: »Boarding der Höllenhunde und des letzten Passagiers vor zwei Minuten gemeldet. Countdown läuft. Die kritischen Elemente sind bereit für den Start. Grünes Licht, keine Einwände …«

»Dann sofort mit dem Start-Zyklus beginnen.«

»Zu Befehl. Start-Zyklus beginnt. Verbindung zu allen Energie- und Versorgungssystemen der Raumstation gekappt. Verbindung zum Masse-Transfer der Raumstation gelöst. Verbindung zum Landekai gelöst. Spin-up des Hauptantriebs läuft, Stufe eins. Spin-down der Systeme für die Lebendfracht läuft, Stufe zwei.«

»Ich hasse Lebendfracht«, murmelte Gertrude. »Meldung über Spin-down für die Lebendfracht geht jetzt raus.« Ihre Finger berührten unsichtbare Felder vor ihrem Gesicht. »Hubkraft der Radnabe blockiert, Radnabe gesichert.«

Mannheim starrte auf das komplexe Netz von Interdependenzen, das über der leeren Wand der Brücke schwebte, einen Meter vor seiner Nase. Nach und nach blinkten die roten Knotenpunkte grün auf: Das riesige Sternenschiff bereitete sich darauf vor, von der Raumstation abzulegen. Man ging davon aus, dass es für alle Zeiten das letzte Schiff sein würde, das von diesem Hafen aufbrach. Hin und wieder tippte Mannheim mit dem Finger auf ein Rechnersymbol und sprach leise mit der Stimme – wem sie auch gehören mochte –, die ihm aus der dünnen Luft antwortete; es mochten Frachtmeister sein, die Offiziere, die für spezielle Ladungen oder die Einwanderungskontrolle zuständig waren, oder Beamte der Zivilpolizei. Mit Jack im Zentrum zur Antriebsüberwachung unterhielt er sich ebenso wie mit Rudi im Ausguck. Einmal sprach er sogar mit der Verkehrsüberwachung. Die Roboterhirne der Raumstation arbeiteten unerschütterlich weiter. Ihnen war nicht bewusst, dass das Ende ihrer Arbeit bereits in Sicht war und mit einer expandierenden Schockwelle von strahlungsgetriebenem Plasma auf sie zukam.

So verstrich eine ganze Stunde. Irgendein guter Geist drückte dem Kapitän irgendwann einen Kaffeebecher in die rechte Hand. Während er trank, machte er weiter, redete, beobachtete, fluchte gelegentlich auch leise vor sich hin. Als er einen weiteren Schluck nahm, war der Kaffee bereits kalt geworden.

Schließlich war das Schiff bereit abzulegen.

Einschlag: T plus 8 Minuten bis plus 1,5 Stunden

Moskaus System starb mit Lichtgeschwindigkeit. Mit einer Flutwelle von Strahlen verbreitete sich der Tod nach außen.

Als Erstes sollten die Wettersatelliten sterben, die nahe beim Stern nach Solarfeuern und Protuberanzen Ausschau hielten. Baken, dazu geschaffen, Winde aufzuspüren, wurden von dem explosiven Wirbelsturm der künstlich herbeigeführten Supernova losgerissen und nicht nur zerstört, sondern regelrecht eingedampft. Ihre nackten Kerne gingen in dem Toben der glühend heißen eisernen Sonne auf.

Sekunden später brachte der Strahlenimpuls die riesigen leichten Sonnenkollektoren zum Schmelzen, die im Abstand von einer halben astronomischen Einheit in einer prächtigen Umlaufbahn dahinglitten, um Antimaterie-Generatoren, deren Durchmesser hundert Kilometer betrug, mit Energie zu speisen. Roboterfabriken, die kein menschliches Wesen beaufsichtigte, verschwanden unbemerkt, ohne dass ihnen jemand nachtrauerte. Der Impuls von Gammastrahlen, den die dort gespeicherten Tonnen von Anti-Wasserstoff auslösten, fügte dem Hurrikan nicht mehr als den Schein einer Kerze hinzu.

Acht Minuten nach der Explosion erreichte die Strahlenfront das innerste menschliche Habitat des Systems: die Welt namens Moskau. Der Fluss von Neutrinos war so stark, dass er, selbst nachdem er direkt durch den Planeten gedrungen war, eine schnell tötende Dosis von Strahlen abgab. Die Nachtseite fluoreszierte, wobei sich die schwach glühende Atmosphäre vor einem unerträglich grellen Hintergrund abzeichnete. Der Impuls von Gammastrahlen, der gleich darauf folgte, ließ die Atmosphäre der Tagseite so aufflammen, dass sie sich in Plasma verwandelte. Mit ungeheurem Druck wurde dieses Plasma in das bereits schmelzende Gestein gepresst. Tornados wirbelten mit Überschallgeschwindigkeit um die Tagesscheide herum und schleiften die Oberfläche so, dass nur nacktes Felsgestein übrig blieb.

Eine halbe Stunde nach Ausbruch der Supernova war die Auflösung des Planeten schon weit fortgeschritten. Auf der Tagseite sackte der atmosphärische Druck dramatisch ab; die vorherrschenden Gasmoleküle bestanden mittlerweile aus Wasserstoff- und Sauerstoffradikalen, die sich aus dem glühend heißen Nebel des früheren Nordmeers gelöst hatten. In den Wolken betrugen die Spitzentemperaturen bereits Tausende von Grad. Gleichzeitig wirbelten auf der Nachtseite Mach-Wellen die aufgeblähte Troposphäre auf, knickten die Häuser wie Streichhölzer und verwandelten sie in Scheiterhaufen für die sterbenden Körper der Bewohner.

Bald darauf wich die Nacht einem gespenstischen Tageslicht, dem trüben Abglanz eines explodierenden Sterns, den der Kometenschweif aus Luft, welchen der Planet hinter sich her zog, reflektierte. Für einen Beobachter auf Bodenniveau hätte es so ausgesehen, als nähme der Hauptplanet Moskau den halben Himmel ein – eine Magnesiumflamme strahlend heller Energie, die noch im Abstand von Jahrbillionen von Kilometern ausgereicht hätte, Augäpfel zu verschmoren.

Mit zwanzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit näherte sich mittlerweile die größte Schockwelle der Explosion, eine Welle von Plasma, die auf Hunderte Millionen Grad aufgeheizt und fast so dicht wie die aufgelöste Atmosphäre war. Als sie Moskau erreichte und in Ground Zero verwandelte, verschwand der Planet einfach von der Bildfläche: Die expandierende Feuerkugel der atomaren Explosion verleibte ihn sich wie eine Wassermelone ein.

Sechzig Minuten nach Ausbruch der Supernova geisterte der Strahlenimpuls durch die Ringe rund um Sibirien. Zu dem großen grünen Eisriesen gehörten auch Monde, die ihn wie funkelnde Perlen umgaben. Nachdem sie kurz entflammt waren, setzten sie glühend heiße Gasströme frei. Gleichzeitig verbreiteten die Ringe ein violettes Leuchten, bis sie sich zu einer riesigen Lichtscheibe zusammenschlossen, die nach außen schoss und innerhalb von Sekunden die Masse eines kleinen Mondes verzehrte. Sibirien verleibte sich gewaltige Energien ein, die ausreichten, um die Tundra im Kerngebiet einzuschmelzen und gigantische Stürme zu entfachen. Hurrikane in der Größe Moskaus rasten auf die Nachtseite des Eisgiganten zu, der bald ebenfalls einen glühenden Kometenschweif hinter sich her zog. Im Unterschied zu den inneren Himmelskörpern war Sibirien zu groß, um gänzlich zu verdampfen. Obwohl der Eisgigant vor weiß glühender Hitze leuchtete, sich verflüssigte und seine Umlaufbahn durch die gewaltige Schockwelle aus dem Gleis geriet, blieb der innere Kern, der aus Nickel und Eisen bestand, erhalten – ein Grabstein, der erst nach Millionen von Jahren im Zwielicht abkühlen würde und die Lücke markierte, die Moskau hinterlassen hatte.

Der erste Überlebende bekam die Auswirkungen der Explosion im Abstand von 98 Lichtminuten mit. Eine vollautomatisierte Leuchtbake, die schlafend im tiefen Orbit des äußeren Gasriesen Zemlya trieb, erwachte beim ersten grellen Glühen von Energie zum Leben und begann zu blinken. Ein Panzer aus schwarzen Facetten schützte ihr Inneres, das riesige Vorräte an Kühlmitteln enthielt. So konstruiert, dass ihr selbst direkte Treffer von Laserrastern, die ein Schlachtschiff aussenden mochte, nichts anhaben konnten, widerstand sie auch dem Sturm; allerdings geriet sie ins Taumeln, und die Woge schwerer Teilchen katapultierte sie sogleich aus der Umlaufbahn, in der sie siebzig Jahre überstanden hatte. Die Leuchtbake war 118 Jahre alt und gehörte zu einer Serie von 750 produzierten Modellen. Ihr Codename war SCHLAUER SPATZ, und sie war Teil des Frühwarnsystems der Strategischen Abwehr, die ihrerseits dem jüngst verdampften Moskauer Außenministerium unterstellt gewesen war.

SCHLAUER SPATZ blinkte und machte eine Bestandsaufnahme: Nicht nur glühendes Gas, sondern auch Raumtrümmer – darunter geschmolzene Teile der eigenen Außenhülle – verdeckten die Sterne. Egal: Es galt eine Aufgabe zu erfüllen. Etwas im Langzeitgedächtnis der Bake erinnerte sich an gewisse Zeitmuster und sorgte dafür, dass sich die Sensoren auf Moskau ausrichteten. Vergeblich versuchte der SPATZ, eine Hochleistungsantenne herumzuschwenken: Sie war zusammengeschmolzen. Andere Sensoren versuchten, den Strom von Gammastrahlen zu analysieren, den die mit Überlichtgeschwindigkeit ins innere System fliegenden Körper abgaben, waren damit jedoch hoffnungslos überlastet. Ein primitives Spezialsystem ging gründlich mit sich zu Rate, um verschiedene Strahlungsquellen zu sondieren, und kam zu dem Schluss, dass es sich um einen unbekannten Aggressor handeln müsse. Schließlich aktivierte SCHLAUER SPATZ seinen Kausalkanal, sodass Quantenbits in die Entropie sickerten. DAS IST GLATTER MORD, rief er den Sternen zu, die es mit Gleichgültigkeit aufnahmen.

Doch es gab jemanden, der die Meldung auffing.

Einschlag: T plus 1392 Tage, 13 Stunden, 02 Minuten

DIE POLIZEIDROHNE FASSTE SICH, wie bei Robotern üblich, recht kurz. »Wir haben Ihre Tochter gefunden«, meldete sie. »Bitte kommen Sie mit zum roten Deck G; gehen Sie dort zu Treffpunkt 2, um sie abzuholen.«

Morris Strowger stand auf und sah seine Frau mit einem Lächeln an: »Ich hab dir ja gesagt, sie würden sie finden.« Nach und nach schwand das Lächeln aus seinem Gesicht.

Indica Strowger blickte nicht auf. Sie hatte die knochigen Finger zwischen den Knien verschränkt und hielt den Kopf gesenkt. Ihre Schultern bebten so, als hätte sie einen Stromstoß erlitten. »Geh nur«, sagte sie kaum hörbar mit harter, beherrschter Stimme. »Ich komme schon zurecht.«

»Wenn du wirklich meinst …« Die Polizeidrohne flog bereits voraus. Unsicher warf Morris einen letzten Blick auf die zusammengekauerte Gestalt, dann folgte er dem künstlichen Insekt durch überfüllte, streng nach Menschen riechende Gänge, die bereits zu einem Hightech-Slum verkamen. Die Polizeidrohnen, die hier Streife flogen, waren mit Betäubungsgeschossen ausgerüstet.

Etwas an diesem Aufbruch von der Raumstation – vielleicht die endgültige, bittere Gewissheit, dass ihnen jetzt wirklich alles genommen wurde, was sie einst besessen hatten – hatte das straffe Band gelöst, das sie alle während der dunklen Jahre bis zum heutigen Tag zusammengehalten hatte. Jetzt wich die stets spürbare Grundstimmung der Depression einem heimtückischen Anflug von Verzweiflung, Hysterie und Unsicherheit, was die Zukunft betraf. Es waren gefährliche Zeiten.

Genau wie die Drohne gesagt hatte, wartete Wednesday am Treffpunkt. Sie wirkte so verlassen und ängstlich, dass sich Morris, der sich eigentlich eine Strafpredigt zurechtgelegt hatte, plötzlich dabei ertappte, dass es ihm die Sprache verschlug. »Vicki …«

»Dad!« Am ganzen Leib zitternd, barg Wednesday ihr Kinn an seiner Schulter. Ihm fiel auf, wie scharf ausgeprägt ihre Kieferknochen waren, fast wie bei einem jungen Raubtier.

»Wo hast du gesteckt? Deine Mutter ist vor Sorge regelrecht ausgerastet.« Was noch untertrieben war. Während er sie fest umarmte, spürte er, wie das schreckliche Gefühl dumpfen Unbehagens nach und nach wich. Seine Tochter war wieder da. Zwar hatte er eine teuflische Wut auf sie – aber er war auch unsäglich erleichtert.

»Ich wollte allein sein«, erwiderte sie fast tonlos mit erstickter Stimme. Er versuchte einen Schritt zurückzutreten, aber sie gab ihn nicht frei. Das versetzte ihm einen Stich ins Herz: So verhielt sie sich immer, wenn sie ihm etwas vorenthalten wollte. Sie konnte nicht gut heucheln, behielt aber jede Menge für sich.

Hinter ihm nervte eine alte Frau den Wachtmeister: Sie machte ein Riesentheater, weil ihr offenbar ein Junge abhanden gekommen war. Nein, kein Junge, sondern ein Schoßhündchen, das sie »Sohn« oder »Söhnchen« nannte.

»Ich hab Zeit zum Nachdenken gebraucht«, sagte Wednesday. Glasklar erkannte er in diesem Augenblick, dass sie ihn anlog, aber er hatte nicht das Herz, sie jetzt damit zu konfrontieren. Dazu war auch später noch Zeit; außerdem würde er ihr von dem offiziellen Verweis erzählen müssen: Das unbefugte Betreten von Diensträumen an Bord eines Schiffes war keine Kleinigkeit und nicht damit zu vergleichen, verlassene Sektoren einer Raumstation zu erkunden, wie es Wednesday immer gern getan hatte. Ihr war gar nicht bewusst, wie glücklich sie sich schätzen konnte, dass der Kapitän Verständnis gezeigt hatte. In der jetzigen Situation machte man den entnervten Erwachsenen außerordentliche Zugeständnisse. Und erst recht den Kindern, die jetzt zum ersten Mal in ihrem bewussten Leben ihr Zuhause verließen.

»Komm schon.« Er zog sie vom Schreibtisch des Wachtmeisters weg und rieb ihre Schultern. »Komm, wir gehen zurück zu unserer … äh … Kabine. Das Schiff legt bald ab. Sie übertragen’s von der Brücke aus. Das willst du doch nicht verpassen, oder?«

Mit unergründlicher, ernster Miene sah sie zu ihm auf. »Nein, natürlich nicht.«

Einschlag: T plus 4 Stunden, 6 Minuten

246 MINUTEN NACH DER KATASTROPHE erstarrte der Frachter Taxis Pride, 46 Grad oberhalb der Ebene der Ekliptik und sechs Lichtstunden von seinem letzten Bestimmungshafen entfernt, im leeren Raum. Brad Mornington, der Kapitän, befand sich gerade im Cockpit und plauderte mit Mary Haight, die für die Relativistik zuständig war. Taxis Pride war eine Raumfähre, die drei Punkte anlief: Sie verband Moskau mit der Raumstation Island 7 und flog von dort aus einen Außenposten des Septagon-Systems bei Blaylock B an, einen Umschlagplatz für Frachtgüter. In den letzten sieben Jahren hatte Brad diese Tour achtzehnmal gemacht, sodass der Flug schon zur Routine geworden war. Genau wie der Becher mit starkem, reichlich gesüßtem Kaffee, den Alex seinem Kapitän vor Beginn des Countdowns zum Sprung gebracht und neben seinem Ellbogen abgestellt hatte. Der Kaffee war jetzt endlich so abgekühlt, dass er trinkbar war.

Brad schaltete das Dauergeschwätz der Navigation ab und wartete auf detaillierte Angaben zum Sprung. In der Zwischenzeit dachte er über die Verpflegung nach: Allmählich wurde der Speiseplan etwas eintönig. Und der Flug nach unten würde ihm Gelegenheit geben, mal wieder die Beine zu strecken und ein Wiedersehen mit Wolken und Himmel zu feiern.

Die Taxis Pride war ein schneller Frachter, dafür geschaffen, nicht-elektronische Post, die eilige Zustellung verlangte, und leicht verderbliche Waren zu transportieren. Die extremale Singularität im Antriebskern des Schiffes sorgte dafür, dass es im Echt-Raum genauso schnell beschleunigen konnte wie mancher Schlachtkreuzer. Im Unterschied zu der mühevollen Odyssee, die einen altmodischen Frachter mit Wasserstoffantrieb bei einer Distanz von sechs Lichtstunden erwartet hätte, brauchte Taxis Pride dafür nur eine Woche.

Mary konzentrierte sich derweil auf eine Positionsbestimmung mittels der Sterne – nur zur Sicherheit, die übliche Prozedur. Vorsorge für den Fall, dass die Leute von der Verkehrsüberwachung mal wieder streikten. Außerdem wollte sie ihre beruflichen Kenntnisse auf dem Laufenden halten. Als sie zwischendurch etwas Luft hatte, überlegte sie, ob ihr wohl Zeit bleiben würde, bei einem alten Freund vorbeizuschauen, wenn die Taxis Pride ihre Fracht löschte und neue aufnahm.

Gleich darauf schrillte auf der Kommandobrücke die Alarmsirene los.

»Was, zum … Kümmern Sie sich darum!« Brads Kaffee segelte durch die Luft, als er zum Kommunikationsterminal hastete. Mary fuhr mit kreidebleichem Gesicht auf.

»Hab’s. Das ist nicht die Verkehrsüber…«

»Hallo, hier Flug Echo Gold Neun Null. Wir antworten auf die Funkmeldung von … äh … Delta X-Ray Zeus Sieben, wir haben Verbindung. Was ist …«

»Irgendetwas stimmt hier nicht, Chef …«

Rote Lämpchen blinkten an der Konferenzschaltung auf. Während sie angespannt auf eine Antwort warteten, verstrichen dreißig Sekunden.

»Echo Gold Neun Null, hier Delta X-Ray Zeus Sieben, Warnmeldedienst. Marinesignal Blau Vier, Identitätsnachweis folgt auf Nachricht. Es handelt sich um eine militärische Krisensituation, und sie gilt für das ganze System. Moskau ist völlig isoliert – das ganze System ist von der Außenwelt abgeschnitten, ohne jede Ausnahme. Verlassen Sie sofort das Gebiet. Ich fordere Sie nachdrücklich dazu auf, Ihren Antriebskern zu aktivieren und diese Region unverzüglich zu verlassen! Bitte um Bestätigung.«

Brads Gesicht lief vor Wut rot an. »Das ist doch wohl ein verdammter Witz!« Er befasste sich erst gar nicht mit dem Identifikationscode der anderen, sondern gab stattdessen die Markierungspunkte für die Route nach Moskau ein. »Wenn ich dieses Arschloch erwische …«

»Brad, kommen Sie mal her.« Als er heftig herumfuhr, sah er, dass sich Mary über die Übertragung beugte, die von Wangs Ausguck weiter unten ausgestrahlt wurde. Sie sah so aus, als sei ihr übel.

»Was ist los?«

»Hier.« Sie deutete auf eine grafische Darstellung, die gerade auf dem Schirm aufgetaucht war. Taxis Pride gehörte als Versorgungsschiff zur Flotte und war im Fall eines Krieges zur Mobilmachung verpflichtet, deshalb hatte es passive Sensoren an Bord, die technologisch ähnlich ausgefeilt waren wie die des Militärs. »Das Diagramm zeigt Gammastrahlen und eine klassische Protonen/Antiprotonen-Kurve. Der Abstand beträgt etwa zwei astronomische Einheiten. Wir empfangen Rotverschiebung vom Spektrum des astronomischen Objekts. Ich habe die Position dieser Warnmelde-Bake bestimmen können, Brad: Sie befindet sich an der Quelle dieser … Explosion.«