Acht Jahreszeiten - Kathrine Nedrejord - E-Book

Acht Jahreszeiten E-Book

Kathrine Nedrejord

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Beschreibung

Als ihre Großmutter stirbt, reist die Samin Marie nach Jahren im Ausland erstmals wieder nach Finnmark, in ihre alte Heimat. Zurück in der einst vertrauten Umgebung, jedoch mit dem Blick der Besucherin, beginnt sie, die Biografie der Frauen ihrer Familie zu erforschen - die der Urgroßmutter mütterlicherseits, der Großmutter, Mutter und ihre eigene. Diese erweist sich rasch als eine Geschichte doppelter Diskriminierung und Marginalisierung - weil sie Frauen, aber vor allem, weil sie Saminnen sind.

Ein Roman über Identität, Frauenrollen und die Unterdrückung eines der größten indigenen Völker Europas - messerscharf beobachtet, persönlich und politisch zugleich, mit Verve und Furor erzählt.

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Seitenzahl: 474

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

FRANKREICH

Mir ist entglitten, wer ich …

Áhkku stirbt. …

Der Rest meiner Familie spürt …

Du hast von ihr gesprochen, …

NACH NORDEN

Erst kommt der Tod, dann …

Ich fantasiere wieder. …

Das Flugzeug ruckelt. …

Mein älterer kleiner Bruder ist …

In der Dunkelheit, hinter meinen …

Meine Eltern schlurfen durch Áhkkus …

Der Text, den ich an …

Lange Zeit wusste ich nichts …

Als ich in meinen Zwanzigern …

Sápmi. …

Ich habe mich auf einem …

Das Boarding beginnt. …

Ich will Geschichten so erzählen …

Wann wurde ich Sámi? …

Áhkku wurde früher Sámi als …

Also, was bist du? …

MÁRKANNJÁRGA

Manches verändert sich nie. …

In Márkannjárga lebte ich, seit …

Mein Vater sieht seltsam aus, …

Meine Brüder haben Márkannjárga schon …

Meine Mutter sitzt rauchend auf …

Ich schleife meinen Koffer ins …

In Márkannjárga Kind zu sein …

Ob sich Raphaëlle Reynaud einen …

Es war Eilert, der Áhkku …

Bei Áhkku und Áddjá stehen …

Even vergaß, dass ich Sámi …

Ich höre Geräusche. …

Alles in Ordnung?, fragen meine …

Ich hatte vergessen, wie neugierig …

Nachdem ich gehört hatte, dass …

Wie sieht die Trauer in …

Wir schauen in der Kirche …

Ein Typ aus Evens Klasse …

Während ich hier bin, versuche …

Anna würde jetzt auf dem …

Wir, meine Cousinen und Cousins, …

Ein Jahr nach der ersten …

Ich träume von einer Autofahrt …

Guck mal, was ich im …

Áhkku verlor ein ungeborenes Kind, …

Am Nachmittag werden wir Áhkku …

Einmal nahm ich Even mit …

Wir essen bei Ivvár-Eanu. …

Wann war es aus zwischen …

Auch mein Vater wuchs in …

Ja, ja, diese fortschrittlichen nordischen …

Wenn ich ein Buch übers …

Wir fahren in einer Kolonne …

GLOSSAR

Über das Buch

Als ihre Großmutter stirbt, reist die Samin Marie nach Jahren im Ausland erstmals wieder nach Finnmark, in ihre alte Heimat. Zurück in der einst vertrauten Umgebung, jedoch mit dem Blick der Besucherin, beginnt sie, die Biografie der Frauen ihrer Familie zu erforschen - die der Urgroßmutter mütterlicherseits, der Großmutter, Mutter und ihre eigene. Diese erweist sich rasch als eine Geschichte doppelter Diskriminierung und Marginalisierung - weil sie Frauen, aber vor allem, weil sie Saminnen sind.

Ein Roman über Identität, Frauenrollen und die Unterdrückung eines der größten indigenen Völker Europas - messerscharf beobachtet, persönlich und politisch zugleich, mit Verve und Furor erzählt.

Über Kathrine Nedrejord

Kathrine Nedrejord, geboren 1987, schreibt Romane, Jugendbücher und Theaterstücke. Ihr Roman TRANSFORMATION wurde mit dem Havmann-Preis ausgezeichnet, für CRIMINAL AND PUNISHMENT war sie für den Preis des Nordischen Rates nominiert. Für ACHT JAHRESZEITEN bekam sie den OKTOBER-PREIS und den BRAGE-PREIS. Sie ist Sami und stammt aus Kjøllefjord in Finnmark. Kathrine Nedrejord lebt in Frankreich.

Stefan Pluschkat, geboren 1982 in Essen, studierte Komparatistik und Philosophie in Bochum und Göteborg. Er übersetzt Romane, Kinder- und Sachbücher aus dem Schwedischen und Norwegischen und erhielt 2018 den HAMBURGER FÖRDERPREIS FÜR ÜBERSETZUNG.

KATHRINE NEDREJORD

ACHT JAHRESZEITEN

Roman

Übersetzung aus dem Norwegischen von Stefan Pluschkat

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Eichborn Verlag

Titel der norwegischen Originalausgabe:

»Sameproblemet«

Für die Originalausgabe:

Copyright © Kathrine Nedrejord

First published by Forlaget Oktober AS, 2024

Published in agreement with Oslo Literary Agency

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2025 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln, Deutschland

This translation has been published with the financial support of NORLA.

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten. Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.

Covergestaltung: Barbara Thoben, Köln, nach einem Design von Sara R. Acedo

E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN978-3-7517-8477-1

Sie finden uns im Internet unter eichborn.de

Die Sámi-Frage ist immer noch ungeklärt.

NILS-ASLAKVALKEAPÄÄ – ÁILLOHAŠ

FRANKREICH

Mir ist entglitten, wer ich einmal war.

So muss es sein.

In diesem Körper, in diesem Kopf ging vor geraumer Zeit etwas verloren, und der Verlust hat mich dauerhaft versehrt. Alle können es sehen, hier im Wartezimmer beim Kinderarzt. Es sind nicht viele, drei Frauen, ein Mann, vier Kinder, ich mache mir nicht die Mühe, ihr Alter zu schätzen, registriere nur, dass sie älter sind als mein eigenes Kind, sie alle sitzen abgewandt von Anna und mir, doch wenn sie einen Blick in meine Richtung werfen, werden sie es bemerken. Sie sehen es mir an, als ich mich zögernd auf das anonyme weiße Untersuchungszimmer zubewege. So verschüchtert, denken sie bestimmt, so eine junge Mutter, bis sie mir ins Gesicht sehen und den Gedanken sofort verwerfen. Unerfahren, denken sie, und wäre ich an ihrer Stelle, ginge es mir nicht anders. Auch der Kinderarzt mit den streng zurückgekämmten grauen Haaren und dem Oberlehrerblick denkt all das und noch mehr, als er mich sieht. Er mustert mich flüchtig, drei Sekunden vielleicht, länger nicht. Dann schnell zurück an den Computer, zu den Checklisten, die wir abhaken müssen. Größe, Gewicht, die üblichen Fragen. Ich sitze da, bin niemand und halte etwas Vollkommenes im Arm, ein kleines Kind, halte es fest und bin selbst nur eine Masse ohne besondere Merkmale. Denn wenn ich jemand wäre, und sei es nur ein Echo des Menschen, der ich einmal war, hätte ich schon nach dem ersten Bonjour zurückgestarrt.

Madame ist keine Französin?, fragt er, ohne mich anzusehen.

Nein, antworte ich. Aber ich lebe seit zwölf Jahren hier.

Das Letzte ist der verzweifelte Versuch, zu beweisen, dass ich tatsächlich existiere. Ohne Erfolg. Er reagiert nicht. Auch gut. Ich will nicht, dass er mich fragt, wo ich ursprünglich herkomme. Ich will nicht wieder zögern müssen, um dann einmal mehr aus Norwegen zu antworten, mit diesem Gefühl, eine Halbwahrheit zu verbreiten, wie so oft, seit ich hergezogen bin. Für die lückenlosere Wahrheit, die meine sámischen Wurzeln umfasst, meine Kindheit in Márkannjárga – so hoch im Norden, wie du auf dem europäischen Festland nur kommen kannst, wie ich früher immer gesagt habe, als ich jünger war und die Vergangenheit noch nicht richtig abgeschüttelt hatte –, ist nie Raum. Dem Kinderarzt wäre es ohnehin egal, Ausländerin bleibt Ausländerin. Er starrt weiter auf den Bildschirm und bittet mich, das Kind auszuziehen und auf die Waage zu legen. Allmählich beschleicht mich der Verdacht, dass ich tatsächlich unsichtbar bin, dass ich mich nicht nur verloren fühle, sondern hier in diesem Raum nicht mehr auszumachen bin.

Mühsam befreie ich Anna aus ihrem Strampler.

Warum zittere ich? Warum sehe ich ihm nicht in die Augen? Warum bin ich so devot, so duckmäuserisch? Warum sage ich nichts, als er mir die selbstverständlichsten Ratschläge entgegenschleudert, wie man ein Kind badet, woran man erkennt, dass es Hunger hat, wie wichtig frische Luft ist! Dass man ihm so früh wie möglich andere Nahrung als Milch geben sollte, warum sage ich nicht, das weiß ich doch? Weil ich es plötzlich vergessen habe? Warum mache ich mich so klein? Warum stehe ich auf, mit Anna im Arm, und bedanke mich auch noch bei ihm? Will ich ihr das wirklich beibringen? So hat man sich als Frau zu verhalten, Anna, man sagt zu allem Ja und Amen! Nimm das Danke zurück, denke ich. Hör auf zu nicken, als wäre er eine Autorität, als würdest du seine Autorität akzeptieren. Lass ihn nicht mit diesem selbstzufriedenen Gefühl zurück, dass er für eine strauchelnde Frau mit gebrochenem Französisch den Retter spielen durfte. Aber genau das tue ich! Ich lasse mich verschwinden.

Kaum zur Tür hinaus steigen mir Tränen in die Augen, weil ich so verdammt fügsam war, weil ich immer mehr daran zweifle, dass auch nur ein letzter Funke Widerstandskraft in mir steckt.

Im Fenster des Bestattungsunternehmens nebenan versuche ich, mich zu erkennen, sehe aber nur dieses farblose Gesicht, die spröden Haare, ich kann mich nicht daran erinnern, ob ich sie heute Morgen gekämmt habe. Dir fehlt die Seele, denke ich dort vor meinem Spiegelbild, aber auf Norwegisch, zum Glück, falls ich es tatsächlich laut ausspreche. Dieser Blick oder Ausdruck oder ganze Körper hinter dem gottverdammten Kinderwagen. Niemand. Personne auf Französisch, was dem norwegischen jemand viel zu ähnlich ist, und genau daher rührt die Verwirrung. Du bist niemand.

Plötzlich blinkt mein Telefon auf. Eine neue Mail.

Raphaëlle Reynaud, steht dort.

Reflexartig straffe ich den Rücken.

Mein Blick wandert zu Anna.

Ich lächle.

Warum kam die Mail nicht vor einer Stunde?

Mama freut sich, sage ich mit dieser dämlichen hohen Stimme, die ich nun seit vier Monaten benutze, obwohl ich mir fest geschworen hatte, mir keine Babystimme anzugewöhnen, bis ich in irgendwelchen wissenschaftlichen Artikeln darauf stieß, Babys würden tatsächlich stärker reagieren, wenn man sie so anspricht, und ich bin eine Sklavin der Wissenschaft, Instinkt zuerst, natürlich, aber mein Instinkt hat sich aufgelöst, ist verschwunden, also suche ich nach Orientierung.

Mama hat eine Mail bekommen, sage ich.

Vielleicht ist das der Fehler, denke ich noch, ehe ich die Mail öffne. Ich muss damit aufhören, mich vor Anna Mama zu nennen, denke ich noch, ehe ich die ersten Zeilen lese. Ab jetzt sage ich nur noch ich.

Der Stein wurde im Frühling ins Rollen gebracht, auf der Buchmesse für unabhängige Verlage.

Das zweite Jahr in Folge hatte ich Clément dorthin mitgeschleift. Allein konnte ich mich nicht aufraffen. Clément verstand es nicht. Bei meiner Arbeit käme ich doch ständig mit neuen Leuten in Kontakt, sagte er, warum so schüchtern? Aber das hier ist eine völlig andere Welt, entgegnete ich. Hier kenne ich niemanden. Kannst du sie dir nicht einfach nackt vorstellen, das soll doch angeblich helfen? Kann ich nicht, antwortete ich.

Vor meinem Bauch wölbte sich damals eine unsichtbare Kugel, und tief in mir spürte ich diese Entschlossenheit, jetzt oder nie, beim ersten Mal hatte ich mich nicht dazu überwinden können, Verlage anzusprechen, hatte nur höflich die ausgelegten Bücher studiert und freundlich genickt, aber jetzt kribbelte es in mir, ein Keim spross – Anna war erst ein Embryo, nicht mal ein Fötus –, oder ich war einfach abgebrühter, so kam es mir jedenfalls vor, ich sprach einen Independent-Verlag nach dem nächsten an, spürte Cléments Blick im Nacken, notierte mir Adressen und Namen von Zeitschriften, in denen ich vielleicht etwas veröffentlichen könnte – natürlich ohne Honorar –, bis ich zu Éditions de la Petite Rivière gelangte, und zu Raphaëlle Reynaud.

Sie war zierlich und energisch, mit dichter dunkler Lockenmähne – später sagte jemand beiläufig, sie habe madagassische Wurzeln – und langen, dünnen Fingern, die sie beim Reden aneinandertippte, und sie redete die ganze Zeit – jedenfalls dort, auf der Buchmesse für unabhängige Verlage –, und es zog mich zu ihrem Tisch, zu ihren Gesten und ihrer Stimme, die sich von allem ringsum abhob, und sofort stachen mir die hübschen Bücher ins Auge, mit simplen Variationen geometrischer Figuren auf farbigen Umschlägen, die ihr Sohn gestaltete, wie sie mir erklärte. Sie wirkte engagiert, aber nicht bevormundend, als brennte sie einfach für ihre Arbeit. Sie interessiere sich für Geschichten von außerhalb, erklärte sie, für andere Perspektiven. Und wer sind Sie? Dann hörte sie zu, während ich von meiner Laufbahn als Journalistin erzählte, von Elternzeitvertretungen, die in freie Mitarbeiten übergegangen waren, von dem stetig wachsenden Gefühl, dass es mir nicht mehr reichte oder dass ich etwas zurückhielt, was keinen Platz fand in den Artikeln und Reportagen, die ich produzierte – ja, genau so komme es mir oft vor, als würde ich sie produzieren! –, und ich erzählte immer weiter, dass ich schon mit acht, neun Jahren Texte geschrieben hätte und wie sehr ich dieses Schreiben vermisste, ein Schreiben, das keiner Aufgabe, keinem Auftrag entsprang, einfach schreiben, nur um der Sprache willen, übrigens käme ich aus dem hohen Norden, aus arktischen Gefilden, über die noch nicht viel geschrieben worden sei, so sei ich ja überhaupt erst dazu gekommen, denn irgendjemand musste doch schildern, wie es dort oben war, und Raphaëlle Reynaud nickte strahlend. Ich spürte, wie Clément mich am Arm berührte, als wollte er sagen, es reicht, aber es reichte noch lange nicht, weil in ihrem Blick etwas glühte, und mir war, als wäre dieses Glühen ansteckend, als würden meine Augen es spiegeln. Ich wolle so gern den nächsten Schritt wagen, erklärte ich, und etwas Fiktionales schreiben. Ja!, sagte sie und lachte so laut, dass die Leute an den Nachbartischen sich zu uns umdrehten. Sie reichte mir ihre Karte, Melden Sie sich, Marie, sobald Sie etwas haben, von dem Sie glauben, es könnte in mein Programm passen! Bevor Sie es an jemand anderen schicken! Dann zwinkerte sie mir zu, lehnte sich zu mir vor und sagte, es sei die Art, wie ich erzählte, sie habe das Gefühl, dahinter schlummere etwas, und meine Wangen glühten, und ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und hinterher fragte Clément, ob alles in Ordnung sei, Deine Augen sind ganz glasig, bist du krank, tut dir etwas weh? – sein Blick glitt an mir hinab, zu meinem Bauch, und ich schüttelte den Kopf.

Dann begann ich zu schreiben.

Ich schrieb, sobald ich die Auftragsartikel fertiggestellt und an die entsprechenden Redaktionen geschickt hatte. Es fiel mir nicht leicht. Ich setzte mich hin, doch nichts kam. Eines Tages schrieb ich etwas von der Rückseite einer Teepackung ab, die Clément fürs Frühstück herausgestellt hatte, und nahm die Worte als Anfang, und mit einem Mal kam etwas, jede Menge – ich hielt inne, sobald ein Ort auftauchte, der Márkannjárga zu sehr ähnelte, oder Seifjord, beide Orte, schnell weg damit, sie ruinierten alles, verwandelten mich zurück in die Journalistin, die die Wirklichkeit abbildete, Wirklichkeit, Wirklichkeit, und ich wollte doch weg vom Realen, und ich begann, über einen Gedanken zu schreiben, den ich als Teenagerin gehabt hatte, den Wunsch, keinen Körper zu besitzen, das Konkrete abzuschütteln, die physische Gegenwart der Welt, oder wenigstens meinen sehr spezifischen Körper gegen einen neutralen einzutauschen, aber das neutral musste ich sofort wieder streichen, weil das Wort nach einer Erklärung verlangte, für die mir die Gedankenkraft fehlte, es gelang mir nicht, im Text Raum zu schaffen für dieses abstrakte Gefühl, den abstrakten Verlust, Worte zu finden, die man auch in Frankreich verstehen würde, universelle Worte. Der Text wurde zu einer Art Schweif, der immer weiterwuchs, und auch als Anna auf der Welt war, fuhr ich fort, ich schrieb und schrieb, ließ die Worte hinausströmen, überlaufen, bis ich beschloss, sie an Raphaëlle Reynaud zu schicken, die gesamte Wörterflut.

Seitdem waren drei Wochen verstrichen, und ich hatte gewartet und gewartet und gewartet. Sie hatte nur eine kurze Empfangsbestätigung geschickt, sie freue sich auf die Lektüre. Mit sechzehn, siebzehn hatte ich immer gesagt, ich wolle Schriftstellerin werden, und eigentlich hatte ich den Wunsch schon früher gehabt, ihn jedoch als zu verrückt abgetan, und als ich erwachsen wurde, hörte ich wieder auf, ihn laut auszusprechen, weil er mir mit jedem neuen Tag, an dem ich keine konkreten Resultate vorweisen konnte, absurder erschien, jedes Mal gerieten meine Ideen nach einer Handvoll Seiten ins Stocken, verglommen, und trotzdem blieb der Wunsch bestehen, als Flackern im Verborgenen. Es war, als hätte ich mir ein Parallelleben eingerichtet, in dem ich nur fast tat, wovon ich immer geträumt hatte, nie ganz.

Egal, sage ich jetzt im Stillen.

Dann öffne ich die Mail.

Hol die zurück, die du einmal warst, erklär dich für wiedergefunden.

Ich lese, was Raphaëlle Reynaud schreibt.

Zunächst überfliege ich die Zeilen nur.

Und auch beim zweiten Mal lese ich nicht viel genauer. Es ist nicht notwendig.

Ich stecke mein Handy wieder weg.

Höre, wie Anna wimmert, gebe ihr den Schnuller zurück, den sie verloren hat.

Hier, meine Kleine, murmle ich, hier.

Sie sei überrascht.

Sie habe etwas anderes erwartet. Sie sei sich nicht sicher, was sie da gerade gelesen habe, warum ich glauben würde, der Text passe in ihr Programm. Meine Stärke als Autorin liege doch offensichtlich im Sachlichen, im journalistischen Schreiben. Diese vage Ich-Perspektive, namenlos, ohne Hintergrund, müsse klarer verankert werden. Sie habe damit gerechnet, ja, sich darauf gefreut, über eine Landschaft zu lesen, die ganz anders sei als Frankreich. Sobald ich mich dagegen und für diesen Ansatz entschieden hätte, sei nur eine Geschichte übrig geblieben, die es schon tausendmal gebe, Millionen Mal. Sie glaube nicht an dieses Konturlose, Nebulöse. Nicht, dass der Text schlecht sei. Aber er besitze keine Botschaft, keinen Kern.

Um ehrlich zu sein, frage sie sich, warum ich ihn geschrieben habe.

Warum dieser Text, Marie Engmo? Ist es wirklich das, was Sie mit der Welt teilen wollen?

Letzteres hat sie sicher nicht geschrieben, aber diese Worte höre ich, als ich den Kinderwagen in unser altes Haus schiebe, den Aufzugknopf drücke und, solange ich warte, die fleckige Wand im Treppenhaus anstarre.

Als Clément anruft, um sich nach dem Besuch beim Kinderarzt zu erkundigen, gehe ich nicht ran, werfe nur einen Blick auf das leuchtende Display und setze mich aufs Sofa, um wieder das Kind zu stillen. Manchmal sehe ich sie so. Als Kind, als irgendein Kind. Sie ist Clément sowieso viel ähnlicher.

Als er nach Hause kommt, stellt er Einkaufstüten auf die Küchenzeile und verstaut die Waren im Regal oder im Kühlschrank. Beim Arzt war alles in Ordnung, sage ich, noch bevor er die Gelegenheit hat, mich danach zu fragen, und genau deshalb fährt er abrupt herum.

Ganz sicher?

Ja.

Ich habe Anna im Arm und summe eine Melodie, die ich wohl von früher kenne, aus der Grundschule, vielleicht aus dem Kindergarten, ich erinnere mich nicht an den Text, nur an die Melodie, und wieder verändert sich Cléments Gesichtsausdruck, ich kann ihn nicht richtig deuten, also sage ich, Wir gehen heute früh ins Bett, Anna und ich. Ich hatte so sehnlich auf die Mail gewartet, und jetzt das, der Trott wird einfach weitergehen, immer weiter, schmerzhaft und endlos wie die Melodie, die ich summe, ich sehe keine Veränderung, sehe nichts Neues.

Áhkku stirbt.

Ich glaube, es geschieht, während ich Anna in dieser Nacht stille.

Ich bin ausdauernd wie schon lange nicht mehr. In den ersten Wochen habe ich mich so unbeholfen angestellt, meine Brustwarzen wurden wund und bluteten, aber das heilt mit der Zeit. Das Stillen ist konkret. Haut an Haut, wie es mir bis zum Erbrechen in der Geburtsklinik eingetrichtert wurde. Zumindest taten sie dort so, als sei ich keine Ausländerin oder als spiele meine Herkunft keine Rolle. Kann ein Land, in dem man nicht geboren wurde, je eine Heimat werden? Dieses Land wird Annas Heimat sein, und bestimmt werde ich durch sie einen Weg finden, mich hier einzufügen. Oder sie wird so ein Kind, das mich von Amt zu Amt begleitet und alles für mich übersetzt, das in der Begegnung mit den öffentlichen Instanzen dieses Landes die Rolle der Erwachsenen ausfüllen muss. Aber ich verstehe euch doch! Ich brauche keine Übersetzung! Nein, Anna soll das Kind bleiben. Anna soll nicht zur Krücke werden, auf die gestützt ich durch die französische Bürokratie hinke. Sie fängt an zu weinen, sie spürt, dass ich sie in diesen Gedankenstrudel hineinziehe, und davon wird sie hungrig, ich hebe ihren kleinen Körper hoch, diese Fäuste mit den winzigen Fingernägeln, die Clément einmal in der Woche abfeilt, weil ich mich bei meinem ersten und einzigen Versuch so ungeschickt angestellt habe, aus Annas Fingerkuppe drang ein Tropfen Blut. Besser, wenn ich mich darum kümmere, sagte er. Und genau das tut er seitdem.

Trink, denke ich, während ich Anna an die Brust lege, trink, trink, trink. Und sie trinkt. Sie würde es auch dann tun, wenn ich es nicht denken würde, glaube ich, aber es hilft, sich an etwas festzuklammern. Zu versuchen, das Mechanische mit Sinn zu füllen. Es gelingt mir gerade eben. Seit Annas Geburt vergehen so meine Nächte, Stunde um Stunde, ich halte sie im Arm, wechsle die Seite, mal die eine Brust, mal die andere, hoffe, dass sie irgendwann einschläft, aber nicht zu früh, damit sie genug Nahrung bekommt, dann Windeln wechseln, sie aufs Bett legen, ihren winzigen Körper, auch wenn alle im Krankenhaus – so wie der Kinderarzt – meinten, sie sei groß, aber selbst große Säuglinge sehen zerbrechlich aus, es liegt schon im Namen, sie sind auf einen angewiesen, sie müssen gesäugt werden.

Wer bin ich?, denke ich mit dem letzten Rest Gedankenkraft.

Die Antwort liegt auf der Hand.

Ich gehöre ihr.

Jetzt gehöre ich ihr.

Selbst in den wenigen Augenblicken des Tages, in denen sie mich nicht braucht.

Ich brauche sonst niemanden, am allerwenigsten Éditions de la Petite Rivière.

Es ist nur logisch, dass ich in dem Augenblick, da Áhkku stirbt, in Annas Diensten stehe.

In Annas Diensten stehen, aber nicht buchstäblich, nicht aufrecht mit den Füßen am Boden, ich sitze im Bett, ein dickes Kissen im Rücken, das Clément gekauft hat, als er merkte, wie lächerlich klein die Kissen waren, die mich bis dahin beim Stillen gestützt hatten.

Er ist im Außen gelandet und späht zu uns herein – zu Anna und mir. Dabei hat er sie schon geliebt, ehe ich dazu kam. Er war derjenige, der im Kreißsaal weinte – nach ihrer Geburt, ich hatte nur davor geweint – und sagte, sie sei das schönste Kind, das er je gesehen habe, obwohl ihr Gesicht und ihr Körper noch ganz angeschwollen waren und sie kaum die Augen aufgeschlagen hatte. Wenn ich nicht gerade erst Lachgas bekommen hätte, vielleicht hätte ich ihn trocken gefragt: Dein Ernst? In meinen Augen sah sie vor allem aus wie jedes beliebige Neugeborene. Ich fand keine körperlichen Anzeichen, dass sie zu uns gehörte, obwohl ich gesehen hatte, wie dieser kleine Körper aus mir herausgekommen war. Trotz Wintersonnenwende, trotz des dunkelsten Tages des Jahres sickerte Sonnenlicht ins Zimmer. Anna wurde mitten am Tag geboren, der Himmel war nicht bewölkt, Licht drang herein, und kurz dachte ich, wäre sie am gleichen Ort geboren worden wie ich, könnte die Sonne jetzt nicht auf sie scheinen, dann würde sie die Sonne erst in ein paar Wochen sehen. Sie trank, dann schlief sie ein.

Jetzt denke ich sie, damals dachte ich es.

Clément und ich waren voller Adrenalin, aufgewühlt. Er schrieb Nachrichten und rief Leute an, und ich betrachtete ihre zerknautschte Haut, den unverstellten Ausdruck, die Ruhe in ihrem Gesicht und dachte, Eltern zu sein, sei vielleicht doch nicht so schwer. Ich hätte schlafen sollen, doch ich hatte das Gefühl, diese ersten Stunden würden mir alles verraten, was ich wissen musste. Das wird sich schon regeln. Ich irrte mich. Habe mich immer wieder geirrt. Die Welt verschwand im Nebel.

Nach den ersten Stunden schlief Anna kaum noch, weder in der ersten Nacht noch am nächsten Morgen. Auch in den nächsten Tagen schlief sie schlecht und in den nächsten Wochen. Sobald Krankenhauspersonal ins Zimmer kam, heulte ich. Ich kann nicht mehr. Ihr müsst sie nehmen! Nehmt sie! Bitte! Ich habe seit achtundvierzig Stunden kein Auge zugetan. Sie wird sterben, wenn sie nicht schläft. Vielleicht sprach ich von mir selbst in der dritten Person.

Clément ging in dem winzigen Zimmer auf und ab, wiegte sie in den Armen und gab ihr ihren ersten Kosenamen, als er mit einer mir neuen, hellen Stimme sagte: Was ist los, mein Herz, mon cœur, mon petit ange? Und dann musste er auch schon los zum Rathaus in der kleinen Gemeinde, um ihre Existenz auch für die Bürokratie registrieren zu lassen, Anna Grasso Engmo, auf Papier sah es so seltsam aus, wirklicher als ihre winzigen Finger, Anna Grasso Engmo, ich starrte auf die drei Wörter, ehe ich die Dokumente unterschrieb, und als ich den Namen sah, dachte ich, natürlich brauchen wir Buchstaben, natürlich brauche ich diese Buchstaben, um zu begreifen, dass dieses kleine Geschöpf mehr ist als nur ein Anhängsel an meinem und an seinem Körper.

Wir waren uns nah, alle drei.

Wir waren erschöpft, weinten, alle drei.

Wir litten zusammen. Sie, weil sie auf der Welt war, wir, weil sie auf der Welt war.

Der Zwischenraum, der sich zwischen sie und mich hier drinnen und ihn dort draußen schob, kam erst später, als er nach fünf Tagen wieder zur Arbeit musste. Er war nervös, rief mich stündlich an, ich war ängstlich, und er war ängstlich, doch dann stellten sich Gewohnheiten ein, ein neuer Trott, und alles drehte sich um sie, und wir beide verschmolzen zu einer Einheit, während er bei der Arbeit war, er wurde zum fünften Rad am Wagen, der sie und ich jetzt offenbar waren.

Áhkku hätte schon damals sterben können.

Viele Menschen sterben in dieser Jahreszeit, rund um Weihnachten, die dunkelste Zeit des Jahres, eine angespannte Zeit, meine Großmutter väterlicherseits ist kurz vor Weihachten gestorben, mein Großvater ebenso. Áhkkus Vater ist in dieser Jahreszeit gestorben. Und eine ihrer Schwestern, vor vielen Jahren. Ich habe mir immer eingeredet, ich würde ebenfalls eines Tages in dieser Jahreszeit sterben. Dass ich aufgebe, wenn es am dunkelsten ist. Doch das geht nicht mehr, nicht zur Wintersonnenwende, den Tag kann ich nicht mehr nehmen, ab jetzt handelt dieser Tag von Leben. Von einem Leben. Annas Leben. Offenbar bin ich schon jetzt bereit, mich für sie zu opfern.

Doch Áhkku stirbt nicht an Weihnachten, weder kurz zuvor noch danach. Sie will uns noch nicht verlassen. Sie stirbt vier Monate später, und ihre jüngste Urenkelin schläft bis dahin mal besser, mal schlechter. So soll es wohl sein.

Besser, schlechter, besser, schlechter, und eines Tages wird Anna plötzlich selbst eine erwachsene Frau sein und verantwortlich für Verbesserungen und Verschlechterungen.

Die ersten Monate, ein Leben im Miniaturformat.

Minus Tod. Hoffentlich, vor allem, minus Tod.

In Annas ersten Monaten denke ich oft an ihn, ohne zu wissen, dass es Áhkkus letzte Monate sein werden. Stirb nicht, denke ich ständig, aber über Anna. Du darfst nicht sterben, kleine Freundin, flüstere ich sogar, wenn wir allein sind. Du lässt mir keine Ruhe, aber du darfst nicht sterben.

Es ist April. In Márkannjárga geht die Sonne um vier Uhr morgens auf. Stirbt Áhkku, als es noch dunkel ist? Stirbt sie, während Anna an meiner Brust liegt? Während Anna isst, während sie wimmernd Milch in sich hineinnuckelt? In dieser Nacht schaue ich nicht auf die Uhr. Damit habe ich aufgehört. Ich kann den Zeitpunkt nicht nachträglich abgleichen. Vielleicht geschieht es, als ich nur daliege und erschöpft an die Decke starre. Es wäre einfacher gewesen, werde ich viel später denken, wenn ich mich in dem Moment lebendiger gefühlt hätte. Vielleicht hätte ich ihn dann gespürt, den Tod oder den Verlust. Aber nein. Nur diese konstante Taubheit, wie am Tag davor und am Tag danach. Eine beständige Sehnsucht nach Schlaf. Keine Grundlage für ein nachträgliches Aha-Erlebnis. Ich werde niemals sagen können: Ah, jetzt verstehe ich, was ich damals gespürt habe. Vielleicht weht ein Luftzug durchs Zimmer, obwohl das Fenster geschlossen ist. Vielleicht wird es wärmer oder kälter. Vielleicht passiert auch gar nichts. Ich bin zu müde. Ich kann es nicht sagen.

Áhkku stirbt in dieser Nacht, und ich merke nicht, dass sich etwas verändert.

Der Rest meiner Familie spürt den Tod als plötzliche Präsenz.

Als es passiert, sieht meine Mutter einen Schwarm Vögel auffliegen und über die Berge hinweggleiten.

Sie sitzt auf dem Beifahrersitz. Draußen ist es so dunkel, dass sie die Vögel nur schemenhaft erahnt. Meine Eltern fahren aus Seifjord, wo sie leben, zum Pflegeheim nach Márkannjárga. Meine Mutter dreht sich zu meinem Vater. Jetzt ist es passiert, sagt sie. Und dann: Fahr ruhig langsamer. Wir schaffen es ohnehin nicht mehr rechtzeitig.

Mein Cousin, der Psychiater, der nach seinem Abschluss eine Stelle in Márkannjárga gefunden hat, sitzt und steht abwechselnd an Áhkkus Bett und hört, wie ihr Atem mit jedem Zug angestrengter wird. Ihr Todesatem, wird er später sagen. Irgendwann kommt seine Mutter, Tante Inger, Inger-Goaski, und leistet ihm Gesellschaft, legt Áhkku einen feuchten Waschlappen auf den Kopf und fragt das Personal, ob sie ihr nicht mehr Morphium geben können. Sie hat Schmerzen, sagt Inger-Goaski. Sie soll nicht leiden.

Mein Onkel, Ivvár-Eanu, der Wahrträumer, sagt, er habe zwar etwas geahnt, aber kein klares Zeichen bekommen wie vor Áddjás Tod. Damals hatte er von einem Unfall geträumt, bei dem kein Blut floss. Von Haut, so grau, dass sie nicht mehr lebendig aussah. In letzter Zeit sei Áhkku nur häufiger als gewöhnlich in seinen Träumen erschienen und habe ihn mit ihren leeren Augen angesehen, doch in der Nacht vor ihrem Tod war die Leere plötzlich verschwunden. Áhkku sei wieder sie selbst gewesen und habe ihn angeblickt wie damals, als er noch klein war. Es war beruhigend, wird er später sagen. Sie so zu sehen sei eine Erleichterung gewesen. So will ich mich an sie erinnern.

Der Jüngere von meinen zwei kleinen Brüdern fährt aus dem Schlaf hoch, ein, zwei Sekunden nach Áhkkus letztem Atemzug. Er starrt auf den Wecker. Auf die Digitalanzeige. Er setzt sich auf und überlegt, ob er vielleicht eins der Kinder gehört hat, aber in seinem Haus in Hammerfest ist alles still. Kurz fürchtet er, es könnten Einbrecher sein. Er schleicht in den Flur, zur Haustür, bleibt einen Moment stehen, lauscht. Nichts. Er muss von allein aufgewacht sein. Später versteht er, warum.

Der Ältere hat Nachtschicht im Krankenhaus. Schon den ganzen Tag ist ihm mulmig zumute, und jetzt geht er in seiner weißen Kluft durch die langen Flure. Einmal meint er, sie im Wartezimmer zu sehen, er will gerade Papiere holen, da sieht er sie plötzlich hinter der verglasten Tür, sie sitzt da mit ihrem weißen Haar, das Kinn auf die Brust gesenkt, doch als sie aufblickt, ist ihre Nase groß, dick und rundlich, und ihre Augen sind braun. Es ist nicht Áhkku. Er geht schnell weiter, hastet die Treppe hinauf.

All das erzählen sie mir später.

Später wird uns auch der genaue Zeitpunkt bestätigt.

Doch bevor es so weit ist, klingelt mein Telefon.

Meine Mutter hat mich schon dreimal angerufen, und ich ahne, dass es um etwas Wichtiges geht. Oder nein, wenn ich Zeit hätte, darüber nachzudenken, oder ausgeschlafen genug wäre, um darüber nachzudenken, dann würde ich etwas ahnen und mir zusammenreimen, was passiert sein muss, aber ich denke nicht nach, sehe nur die entgangenen Anrufe und fühle mich matt. Die ganze Zeit führe ich imaginäre Gespräche mit Raphaëlle Reynaud. Plötzlich weiß ich, was ich sagen müsste, damit sie mich versteht. Ich will nicht von einem exotischen Norden erzählen!, denke ich, und noch im selben Moment wird mir klar, dass dies allenfalls einen Bruchteil ihrer Mail beantworten würde, es reicht nicht. Ich lege Anna bäuchlings auf eine Decke im Wohnzimmer und mache mir einen Kaffee.

Ich muss zurückrufen. Ich rufe zurück.

Marie?, fragt ihre Stimme.

Denn es ist eher ihre Stimme als sie selbst, die fragt. So klingt es jedenfalls. Als würde sie ihre Stimme vor sich herscheuchen, als solle ihre Stimme etwas für sie erledigen, wozu sie selbst in diesem Moment nicht imstande ist.

Ja, antworte ich.

Áhkku ist tot, sagt die Stimme meiner Mutter.

Nein, antworte ich.

Eigentlich will ich Oh sagen, aber das Oh bleibt stumm, es klingt, als würde ich ihr widersprechen, doch meine Mutter bekommt es an ihrem Ende der Leitung ohnehin nicht mit, weil sie den ganzen Weg aus Seifjord nach Márkannjárga gefahren sind, von der Küste landeinwärts, vier Stunden, mitten in der Nacht, und jetzt, sagt meine Mutter, sei sie in dem Heim, in dem Áhkku ihre letzten Wochen verbracht habe, und es sei nicht der richtige Ort zum Sterben, so triste Farben an den Wänden, sagt meine Mutter. Oder, nicht trist, sondern zu neutral, ohne Gefühl, ohne Wärme. Ich glaube sogar, es wäre besser, wenn sie in tristen Farben gestrichen hätten, das wäre wenigstens eindeutig. So wirkt es einfach nur falsch. Außerdem, sagt meine Mutter, sind hier zu viele Patienten und zu wenig Personal. Die Angestellten wuseln nur herum und kommen zu nichts. Natürlich tun sie ihr Bestes. Ständig werden Stellen ausgeschrieben, weil die Leute ausgebrannt sind und sich krankmelden oder direkt kündigen, und dann wird es noch schlimmer für die, die durchhalten, sagt meine Mutter. Dieser Ort! Wie hätte sie hier neuen Lebensmut schöpfen sollen? Wir haben natürlich gewusst, dass es dem Ende zuging. Deshalb wurde sie ja überhaupt hergebracht. Sie hatte immer weniger Kraft in sich, aber ich glaube, ein paar Monate wären ihr noch geblieben, vielleicht sogar ein Jahr, wenn man sie auf der Demenzstation behalten hätte.

Wenn meine Mutter nicht so ungeduldig wäre, könnte sie auch schreiben.

Nicht, dass mein Schreiben besonders geduldig wäre. Es hastet von Artikel zu Artikel, verweilt nicht gern bei einem Thema. Verweilen bedeutet, dass etwas nicht stimmt. Wie bei diesem verfluchten Text für Raphaëlle Reynaud. Ich hätte ihn nicht erzwingen dürfen. Hätte warten sollen, bis etwas von selbst zu Papier fließt.

Für die Zeitungen schreibe ich mehr oder weniger über die immer gleichen Themen, das heißt, vielleicht verweile ich ja doch gern, wechsle nur die Perspektive, manchmal den Ort. Von einer Region zur nächsten, auf der Suche nach vergessenen – oder vielmehr ausgerotteten – Sprachen. Baskisch, Provenzalisch, Bretonisch, verschiedene Patois-Varianten. Ich interviewe Menschen, die Bücher darüber schreiben und Kurse ins Leben rufen, oder folge den Spuren der bedrohten oder ausgerotteten Sprachen mit einem Lokalhistoriker. Wobei, es geht nicht allein um Sprachen, sondern auch um Kulturen. Alles ist miteinander verwoben, und manchmal überquere ich Grenzen, nordwärts zu den drei kleinen Ländern weiter oben oder nach Deutschland, in die Schweiz, südwärts nach Spanien. Mein Schreiben ist mit Bewegung verbunden. Meine Mutter würde sagen, ich sei die Rastlose, aber daran liegt es nicht.

Ich schreibe am Küchentisch, im Zug, im Bus. Sobald mir eine Idee für einen neuen Blickwinkel kommt, schreibe ich eine Mail an die richtigen Adressen, schieße selten daneben, ich kenne die Redakteurinnen und Redakteure inzwischen, weiß, wer auf welche Themen anspringt, wie ich eine Idee am besten verkaufe, finde die richtigen Worte zur richtigen Zeit. Für meine Auftragsarbeiten schreibe ich ständig und ohne Zögern. Als wäre es eine völlig andere Tätigkeit. Als schrieben sich die Texte von selbst.

Meine Mutter schreibt mit ihrer Stimme, denke ich.

Solange ich lebe, hat sie mit ihrer Stimme eine Geschichte nach der anderen geschrieben.

Oft melodramatisch, aber überaus wirkungsvoll.

Meine Mutter malt ihre Geschichten aus.

Aber niemals in zarten Farben. Zarte Farben stehen ihr nicht.

Zu meiner Mutter passen Knallrot, Tiefblau, Grellrosa, Pechschwarz.

Sie zwingt alle, die zuhören, in ihre Geschichten hinein.

Aber ich sollte an dieser Stelle nicht von einer Geschichte sprechen. Das ist es nicht. Nur eine ausgeschmückte Tatsache. Áhkku ist tot. Sie ist im Pflegeheim gestorben. Das ist keine Geschichte. Wenn es etwas ist, dann eine Nachricht. Eine Kette aus notwendigen Informationen. Ich fühle mich innerlich taub. Lausche. Meine Mutter hat viel zu erzählen.

Ihr Zimmer war nicht mal hübsch hergerichtet, sagt sie. Wir sind nicht dazu gekommen. Wir wollten ihr doch eine Zimmerpflanze besorgen, ein paar Bilder aufhängen. Von euch, ihren Enkeln und Urenkeln. Sie ist doch so vernarrt in Kinder. Wir haben es nicht mehr geschafft, sagt meine Mutter. Dieser Ort hat alles beschleunigt. Es ging alles zu schnell.

Als sie hergebracht wurde, hat sie aufgegeben, sagt meine Mutter, ich kann sie verstehen. Ich glaube, ich hätte auch aufgegeben, wenn ich dieses luftige, schöne Gebäude hätte verlassen müssen, wo immer so viel los war, Aktivitäten, Gesang, Musik, sagt sie. Sie haben dort sogar für die Bewohner gejoikt, haben sich um sie gekümmert, wollten es anders machen als auf den norwegischen Stationen, sie haben versucht, die Kindheitserinnerungen der Bewohner wachzurütteln, haben ihnen Gerichte von früher zubereitet, Gumppus, Kochfleisch, Lachs aus dem Fluss, ja, du verstehst, einiges ähnelt sich natürlich, aber vieles, vieles ist eben doch anders, und dann weg von dort, von diesem schönen Ort mit dem freundlichen Personal, mit genug Personal! Die Leute arbeiten dort gern, die Wartelisten für einen Pflegeplatz sind lang, alle wollen dorthin, aber hierher, in dieses Heim, will niemand, sagt meine Mutter. Selbst die Architektur war dort an traditionelle sámische Bauart angelehnt. Kannst du dir das vorstellen? Große, offene, warme Räumlichkeiten gegen diesen flachen Schuhkarton von einem Gebäude eintauschen zu müssen! Wir wollten es verhindern, sagt meine Mutter. Aber irgendwann konnten wir nichts mehr tun. Also wurde sie hierhergebracht, sagt meine Mutter. Sie lag den ganzen Tag nur noch im Bett, aß im Bett, trank im Bett, wenn sie überhaupt noch etwas zu sich nahm. Sie hatte den Appetit verloren, den Durst. Dass es so mit ihr zu Ende gehen musste! Ich kann es nicht glauben, kann nicht glauben, dass sie tot ist.

Sie war doch meine Mutter, sagt meine Mutter.

Ich muss einen Flug buchen.

Könnt ihr nicht mitkommen?, frage ich. Ich schaffe das nicht allein.

Du bist doch andauernd allein unterwegs, sagt Clément.

Ich sehe ihn an.

Ja, aber immer nur mit dem Zug. Ich fliege nie allein.

Clément runzelt die Stirn.

Ich stille Anna wieder. Ich mag das Verb nicht. Auf Französisch benutze ich immer das falsche Wort, und Clément korrigiert mich jedes Mal. Elle allaite, sage ich, und er verbessert mich: Du meinst, elle tête. Nein, will ich sagen, es fühlt sich für mich so falsch an. Es ist doch schon an sich kompliziert genug, warum diese eine Handlung, die wir doch miteinander teilen, aufspalten, in das, was sie tut, und das, was ich tue. ESISTDOCHEINEHANDLUNG, WIRMACHENESGEMEINSAM, UNSERESPRACHEMUSSDIEWIRKLICHKEIT, INDERWIRLEBEN, DOCHWIDERSPIEGELN, und manchmal sage ich es auch laut, worauf er mich mitleidig ansieht. Ich mag diesen Blick nicht. Auch jetzt sieht er mich so mitleidig an.

Ich wäre gern mitgekommen, sagt er.

Du solltest das nicht allein durchstehen müssen.

Er benutzt seine Therapeutenstimme. Der Klang professionellen Mitgefühls.

Dann komm doch mit, sage ich.

Marie, seufzt er. Anna hat doch noch keinen Pass.

Ich will heulen.

Will gegen die Wand schlagen, es sollte doch wohl möglich sein, auf diesem winzigen Kontinent ohne Pass zu reisen. Es muss doch möglich sein, seine Familie zu einer Beerdigung mitzunehmen! Wir haben die Geburtsurkunde. ANNAGEHÖRTDOCHZUUNS! Sie ist so klein, dass sie fast noch ein Teil von mir ist. SCHAUENDIESICHWIRKLICHDASFOTOVONEINEMSOKLEINENWESENAN? Ich glaube, einiges davon sage ich laut oder habe es schon gesagt, ehe Clément die Fluggesellschaft anruft und ein paar Mails verschickt, doch die Antwort lautet Nein, ohne Identitätsnachweis können wir das Land nicht mit ihr verlassen.

Ich will nicht ohne euch fahren, sage ich.

Sie braucht mich, sage ich.

Aber es geht doch um deine Großmutter, antwortet er, nur sagt er grand-mère.

Das Französische schafft Distanz, hat nichts mit meiner Kindheit, meiner Jugend zu tun. Ist nicht die Sprache der Vergangenheit. Französisch ist Jetzt, ist Zukunft, all die Jahre, die noch kommen. Die Sprache streift nur meine Haut, dringt mir nicht bis ins Mark. Und dann sage ich es doch, lasse es geschehen, kann mir die dumme, überflüssige Korrektur nicht verkneifen:

Áhkku.

Er schaut mich fragend an.

Schnell schüttle ich den Kopf. Weiter zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung. Nicht nachbohren, nur kurz darüberstreichen, wegkratzen. Wörter, Wörter, weg damit.

Kannst du mir den Flug buchen?, frage ich. Ich schaffe es gerade nicht …

Er sieht mich an, seufzt.

Okay, sagt er. Sag, wie der Flughafen heißt, dann kümmere ich mich darum.

Was packt man in einen Koffer, wenn man nicht weiß, ob man fahren will?

Ich lege warme Sachen hinein.

Da oben im Norden wird es doch bestimmt sehr kalt, sagt Clément. Wenn es nach ihm geht, ist es hier unten schon kalt genug. Ständig friert er und hat Angst, Anna oder mir könnte es genauso gehen. Er zieht ihr mehrere Socken übereinander an, mehrere Kleidungsschichten, selbst bei Plusgraden.

Das ist seine Art zu lieben, denke ich.

Er hält uns warm.

Die Wollunterwäsche, die er mir zu Weihnachten geschenkt hat, müsse unbedingt mit, sagt er, ich kann mich nicht einmal daran erinnern, sie ausgepackt zu haben, weil wir an Heiligabend nach Hause kamen und ich vor Schlafmangel zitterte und kaum einen Bissen hinunterbekam. Er könne sie vorher waschen, sagt er, aber ich schüttle den Kopf. Schon in Ordnung.

Wir buchen keinen Rückflug, ich kann mich nicht für ein Datum entscheiden. Ich glaube nicht, dass ich wirklich reise. Es kommt mir so unwirklich vor, dass ich mich morgen um diese Zeit am Nordzipfel des europäischen Festlands befinden soll. Mein Körper weigert sich. Mein Körper ist an meine Aufgaben hier in diesem Land, in dem wir uns befinden, geknüpft.

Es ist eine dumme Idee, sage ich.

Anna wird nicht ohne mich zurechtkommen.

Was soll sie essen?, frage ich, während Clément ein Fläschchen vorbereitet. Seit Anna eine Woche alt war, bekommt sie eine Flasche am Tag. Ich würde nicht genug Milch produzieren, hieß es, obwohl es mir so vorkam, als täte ich nichts anderes mehr, als würde ich die ganze Zeit Milch produzieren, bis ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, aber ich konnte es doch, weil ich es musste, und trotzdem war es offenbar nicht genug. Mit der Zeit wurde es zu einem Ritual, auf das Clément sich jedes Mal freut, wenn er von der Arbeit kommt. Anna dieses eine Fläschchen zu geben, sein Moment mit ihr auf dem Arm. Jetzt ist es nur ein Grund weniger für mich zu bleiben. Wir wissen, dass sie nicht verhungert.

Ich will nicht fahren.

Clément sieht mich wieder an. Mit diesem verlegenen Blick, den er gern bekommt, wenn er findet, dass ich mich unpassend verhalte, aber gleichzeitig weiß, dass es um etwas geht, was er nicht versteht, und nicht um ihn.

Aber es ist Áhkku, sage ich.

Hieß sie so?

Áhkku?, frage ich ungläubig.

Ja, sagt er.

Nein, Áhkku ist die Bezeichnung dafür, was sie für mich ist. Sie heißt Anna.

Ah. Sein Blick wandert zu unserer Anna. Wie …

Anna Marie, sage ich und füge leise hinzu: Ánne Márjá.

Wie ihr zwei also, sagt Clément.

Ich stopfe vier Pullis in den Koffer, ohne sie mir genauer anzusehen.

Ja, sie ist unsere Gáibmi.

Gáibmi?, fragt Clément. Er spricht es falsch aus. Trotzdem nicke ich. Willst du die Sachen nicht zusammenrollen, dann passt mehr in den Koffer?

Ich verdrehe die Augen.

Dann werde ich nie fertig.

Áhkku und Gáibmi, sage ich.

Norwegisch ist eine ulkige Sprache, sagt Clément.

Ich stopfe die gleiche Anzahl Hosen in den Koffer.

Das ist kein Norwegisch.

Clément lacht.

Was dann? Französisch?

Nicht alle Sprachen sind Nationalsprachen. So viel hast du hoffentlich mitbekommen?

Er schweigt einen Moment.

Was dann? Gibt es Patois in Norwegen?

Jedes Mal, wenn er den Eigennamen des Staats ausspricht, den ich als meinen Staat betrachten sollte, versetzt es mir einen Stich. Normalerweise sprechen wir nicht darüber, und wenn doch, sage ich meistens nach Norden oder im Norden, und er sagt Skandinavien. Neutrale, oder zumindest neutralere Namen. Jedes Mal, wenn es zu spezifisch wird, gibt es in meinem Kopf eine Art Kurzschluss, ein kurzes Bitzeln, und ich werde still, schalte mich wieder ein, suche einen Weg, um fortzufahren, etwas zu sagen, das keine Diskussion nach sich zieht oder einer Erklärung bedarf, sich aber trotzdem nicht wie ein Verrat anfühlt. Verrat an wem?, denke ich. Ich hole Socken und Unterhosen aus dem untersten Schrankfach, stopfe sie ebenfalls in den Koffer, ich weiß, dass Clément sich einen Kommentar zu meiner Packmethode verkneift, zu diesem Mangel an Finesse. Ich stopfe einfach Elemente aus diesem Leben im Hier und Jetzt, in diesem Land, in etwas anderes, als wäre nichts dabei.

Nicht Patois, Sámi, sage ich. Davon habe ich dir erzählt.

Nein, antwortet Clément, daran würde ich mich erinnern.

Zum Glück fängt Anna im selben Moment an zu weinen.

Du hast von ihr gesprochen, oder?, fragt Clément beim Zähneputzen.

Ich warte darauf, dass er endlich fertig wird, tripple ungeduldig auf der Stelle. Mach schon, denke ich. Nicht trödeln.

Du hast von ihr gesprochen, bevor du schwanger wurdest? Dass du gern über ihr Leben schreiben würdest? An dem Abend, als wir im Konzert waren und danach eine Flasche Rotwein getrunken haben? Ich glaube, da hast du Áhkku gesagt?

Habe ich sie nach einer halben Flasche Wein erwähnt? Was habe ich noch gesagt? Hoffentlich nicht zu viel.

Endlich ist Clément fertig, gießt Mundspülung in die Verschlusskappe und wirft mir einen Blick zu, ehe er sie an die Lippen führt. Ich mache einen Schritt nach vorn, nehme meine Zahnbürste und drücke wie immer zu viel Zahnpasta aus der Tube. Clément seufzt, dann spült er sich den Mund mit der lila Flüssigkeit. Ich putze die Zähne in einem anderen Tempo. Bin ungeschickt, habe meistens Zahnpastaschaum auf den Wangen und am Kinn, Flecken auf meinem Schlafshirt. Clément passiert das fast nie. Er macht alles so vorsichtig. Ich werde nie so sein, denke ich. Ich schaffe es nicht. Ich habe versucht, ruhiger zu werden, vorsichtiger.

Aber ich wurde mit einem anderen Tempo im Körper geboren. Einem Tempo, das mich nachlässig macht, ich versuche, es zu verhindern, vor allem jetzt, da ich so oft dieses winzige Geschöpf auf dem Arm trage, aber auch in diesem Kampf habe ich mich gewissermaßen geschlagen gegeben. Ich kann nur verlieren. Immer wieder verliere ich. Nur sie nicht. Bitte, lass sie mich nicht verlieren.

In Frankreich haben alle Wohnungen so einen harten Fußboden. Überfall Fliesen, hart wie Beton. Kleine Schädel könnten daran zerschellen. Ich könnte ausrutschten, stolpern, auf sie fallen, sie unter mir zerquetschen. Ich bin zu ungeschickt, um Mutter zu sein.

Aber Tempo hat auch seine guten Seiten, manchmal kann es nützlich sein. Ich habe es von meiner Mutter geerbt, und meine Mutter von Áhkku. Selbst als Áhkku immer vergesslicher wurde, huschte sie in ihrem Haus von Zimmer zu Zimmer, auf der Suche nach neuen Beschäftigungen. Wir Frauen in der Familie sind getrieben, oder wir treiben uns selbst an, und deshalb sind wir oft tollpatschig, hektisch. Áhkku war immer gründlicher als wir, meine Mutter und ich, wir machen einfach.

Daran kann ich mich nicht erinnern, sage ich und spucke Zahnpasta aus. Etwas bleibt an meinem Kinn hängen, ein paar Spritzer landen auf meinem Shirt.

Hat es mit dem zu tun, wovon du erzählt hast?, fragt er. Mit dem Sámischen?

Ich habe ein bisschen recherchiert, sagt er.

Ich starre ins Waschbecken. Etwas Zahnpasta ist kleben geblieben. Ich knibble daran herum.

Das hättest du nicht gemusst, antworte ich.

Bist du Sámin?, fragt er. Oder war es deine Großmutter?

Die Zahnpasta muss von heute Morgen sein, mit meinem kurzen Fingernagel bekomme ich sie kaum weg.

Darüber können wir ein andermal sprechen.

Clément nickt.

Hast du auch diese Sachen getragen, diese bunten Trachten?

Ich gehe aus dem Bad, gebe mich geschlagen. Clément soll sich um die Zahnpasta kümmern, wenn er dazu kommt.

Marie?

Ich starre den geschlossenen Koffer an. Morgen um diese Zeit wird er dort sein. In ihrem Haus, er wird auf dem hellbraunen Linoleumboden in ihrem Schlafzimmer liegen, nicht hier auf dem alten, unebenen französischen Parkett. Und der Geruch. An die einzelnen Bestandteile kann ich mich nicht erinnern, und trotzdem steigt er mir jetzt in die Nase. Áhkku sang uns immer vor. Áhkku sang für sich selbst. Áhkku machte immer mehrere Geräusche auf einmal. Geklapper von Töpfen und Tellern und klirrendes Besteck – knisterndes Papier, Laute aus ihrem Mund, wenn sie auf etwas reagierte, was sie las, Mhm, ein kurzes Schmatzen, wenn sie sacken ließ, was dort stand. Es wird unmöglich sein, dieses leere Haus zu betreten, in dieser Stille zu wohnen, im Danach. Ich werde auf sie warten. Wie soll ich durch das Haus gehen, ohne ihren Geräuschen nachzuhorchen? Nach ihren eiligen, entschlossenen Schritten, immer auf dem Weg irgendwohin, immer mit einem Ziel vor Augen? Áhkku weiß nicht, was es bedeutet, einfach herumzustreunen. Sie wusste es nicht.

Ich könnte den Flug stornieren. Vielleicht bekäme ich einen Teil der Summe erstattet. Ich könnte das Geld für etwas anderes ausgeben.

Marie?, wiederholt Clément.

Jetzt steht er in der Tür.

Ja.

Was, ja?

Ja, ich habe solche Sachen getragen. Gákti. So heißen sie.

Mach jetzt bloß keine Witze, denke ich. Kein Kommentar zu den Farben. Keine ironische Bemerkung, kein Vergleich mit Clowns oder irgendeine andere Assoziation, nicht schon wieder eine Frage mit diesem schiefen Grinsen, das du aufsetzt, wenn du etwas nicht richtig verstehst, um dein Unwissen zu kompensieren, keine Vergleiche, sag nichts, mach nichts kaputt, fäll keine vorschnellen Urteile. Lass es sein, lass es einfach sein.

Kurz sehen wir einander in die Augen.

Na schön, sagt er dann.

Es ist nicht möglich, sich von einem Säugling zu verabschieden.

Ein Säugling hat noch kein Zeitgefühl.

Das Kind sieht dich an, als wärst du irgendjemand, als wäre es selbst irgendjemand, und du sagst: Ich bin bald wieder zu Hause, und dann antwortet es nicht, vielleicht lächelt es, und wenn du besonders fröhlich mit ihm sprichst, lacht es sogar, als wäre der Abschied nur ein Scherz.

Ich glaube, Anna weiß nicht mal, wer ich bin.

Ich bin mir sicher, sie weiß nicht mal, wer sie ist, dass sie ist.

Was bin ich für sie?

Ein warmer Körper? Ein vertrauter Geruch? Das, was ein Terrassenlicht an einem warmen Sommerabend für Insekten ist? Ein Objekt, das eine unerklärliche Anziehungskraft ausübt, aber austauschbar ist, Hauptsache, es kommt eine andere Lichtquelle, ein neuer Körper, eine neue Wärme, jemand, der Schutz und Nahrung bietet.

In den nächsten Wochen muss Clément dieser warme Körper sein.

Alles wird gut, denke ich.

Ich vertraue ihm. Es hat nichts mit ihm zu tun. Und auch nicht mit ihr.

Es hat ganz allein mit mir zu tun, mit meinem Körper.

Er schreit nach ihr, auch wenn ich oft denke, dass es wehtut, Mutter zu sein.

Trotzdem drücke ich sie im Treppenhaus noch einmal an mich.

Du musst dich langsam beeilen, sagt Clément. Vielleicht ist unterwegs viel Verkehr, du solltest rechtzeitig am Flughafen sein.

Du willst mich loswerden, sage ich.

Nein, antwortet Clément.

Vielleicht stille ich sie noch ein letztes Mal.

NACHNORDEN

Erst kommt der Tod, dann muss etwas passieren.

Márkannjárga ist in Bewegung. Autos im Kreisverkehr, eine Schlange vor dem Lebensmittelgeschäft, ein weiterer Lkw, unter dem die Brücke erzittert. Jemand geht mit dem Hund spazieren, überquert die Straße, ohne sich umzusehen.

Aprilschnee in der Luft. Wolkenverhangener Himmel. Alles weiß und grau.

Meine Tanten und Onkel, Ivvár-Eanu, Inger-Goaski, Ovllá-Eanu, Lájla-Muoŧŧa, und meine Mutter versammeln sich in ihrem Elternhaus. Sie setzen sich an den Küchentisch, an dem sie einst jeden Abend gegessen haben. Sie reden weniger als gewöhnlich. Auf der Vortreppe floss das Gespräch mühelos dahin, auf dem Weg ins Haus, im Flur, bis sie hier Platz nehmen und wirklich begreifen, warum sie hier sind.

Ovllá-Eanu sitzt gleich am Fenster, auf der Stuhlkante, bereit, jeden Moment aufzustehen. Ovllá ist immer irgendwohin unterwegs, hat Áhkku oft gesagt.

Inger-Goaski hat sich an den Rand gesetzt. Sie sagt nicht viel, doch bevor eine Entscheidung getroffen wird, werfen alle einen Blick in ihre Richtung.

Meine Mutter ergreift die Initiative. Sie ist die Rastlose.

Schaut mal, sagt sie und hält eine Liste mit allen möglichen Aufgaben hoch.

Dann liest sie vor.

Es läuft besser als erwartet. Niemand erhebt Einspruch. Ivvár-Eanu nickt regelmäßig, die anderen schweigen. Die Engmos sind leicht zu lesen. Wer Nein meint, sagt auch Nein. Niemand sagt Nein. Stattdessen meldet sich jeder zu Wort, übernimmt verschiedenerlei Aufgaben.

Sie trinken Kaffee.

Meine Mutter hat eine Kühlbox mit Kuchen mitgebracht. Schon am Tag, als sie herkam, hat sie stundenlang gebacken. Sie musste etwas tun. Gerüche schaffen. Áhkkus leeres Haus zuerst lüften und dann mit Leben füllen, mit organischem Material. Auf der Arbeitsplatte Brötchen rollen, Brotlaibe für eine knusprige Kruste mit Wasser bepinseln, einen perfekt weichen Schokoladenkuchen backen. Schaffen, schaffen.

Ovllá-Eanu murmelt, er hoffe, dass der leichte Schneefall dort draußen nicht zunimmt. Das Schneeräumen gehört zu seinen Arbeitsaufgaben, auf Straßen, in Einfahrten, auf Parkplätzen. Der Winter war lang. Ovllá-Eanu ist ein Mann für alle Fälle. Etwas funktioniert nicht? Ruf Ovllá an! Meine Mutter meldet sich oft bei ihm. Sie weiß genau, welche Schwester oder welchen Bruder sie in welcher Angelegenheit anrufen muss.

Auch Inger-Goaski ist praktisch veranlagt, nur auf andere Weise. Sie ist am liebsten draußen. Die hat Äsche geangelt, bevor sie ihr erstes Wort sprechen konnte, hat Áhkku immer gesagt. Inger-Goaski hat den Jagdschein für Kleinwild gemacht und will ihn jetzt auf Großwild erweitern. Jedes Mal, wenn das Thema Lachsfischen aufs Tapet kommt, verfinstert sich ihre Miene. Der Fluss ist inzwischen fast leer. Überall wurden Schilder aufgestellt. Angeln verboten. Mhm, macht Inger-Goaski, wenn es jemand anspricht. Mhm. Dann wird das Thema gewechselt.

Ivvár-Eanu ist der Denker. Wenn er ausnahmsweise mal das Wort ergreift, dann redet er langsam.

Lájla-Muoŧŧa verbindet traditionelles Handwerk mit Innovation. Die Erfindungsgabe hat das Mädchen von mir, hat Áhkku oft gesagt. Lájla-Muoŧŧa ist immer am Puls der Zeit. Und die beste Schneiderin. Sie näht, strickt, malt, zimmert, walkt, pflückt, sammelt, hämmert, nagelt. In einem Anbau ihres Hauses empfängt sie kleine Touristengruppen, die sich für handgefertigte sámische Souvenirs interessieren. Sie ist die Jüngste der Geschwister. Das machte sich bemerkbar, als meine Brüder und ich klein waren. Lájla-Muoŧŧa spielte immer am längsten mit uns und wurde fast nie müde.

Meine Mutter schreibt gründlich mit, worauf man sich einigt.

Ordnung ist das halbe Leben, denkt sie.

Ovllá-Eanu soll die Traueranzeige schreiben. Die anderen werden einen Blick darauf werfen, bevor sie in den Druck geht. Beim Trauergottesdienst werden meine Mutter und Ivvár-Eanu ein paar Worte sagen, Inger-Goaski übernimmt die Zusammenkunft danach. Ums Essen kümmert sich Lájla-Muoŧŧa. Den Grabstein werden sie gemeinsam aussuchen, doch meine Mutter bietet an, ein paar Vorschläge zusammenzustellen.

Außerdem muss Áhkkus Besitz aufgeteilt werden, die Dinge hier im Haus.

Meine Mutter sieht die anderen an.

Darum können wir uns doch später kümmern, sagt Ivvár-Eanu.

Alle nicken.

Auch Inger-Goaski.

Draußen schneit es nicht mehr.

Ovllá-Eanu wendet sich vom Fenster ab.

Niemand spricht es aus, aber alle denken es. Für eine Weile kann man so tun, als wäre Áhkku nur unterwegs, doch während die Minuten verstreichen und zu Stunden werden, wird ihre Abwesenheit immer spürbarer. Man wartet und wartet, hofft, dass die Tür aufgeht, dass ihre Stimme erklingt. Sie trinken den Kaffee hastiger als sonst, zerkauen den Kuchen, ohne ihn wirklich zu schmecken. So, sagen die vier fast im Chor, als sie aufstehen, schon halb auf dem Weg nach draußen. Dann sind wir wohl fürs Erste fertig? 

In ein paar Tagen treffen wir uns wieder, sagt meine Mutter. Dann schauen wir, was sonst noch zu erledigen ist.

Die anderen nicken. Jetzt gerade würden sie zu allem nicken.

Dann verschwinden sie.

Nur meine Mutter bleibt zurück. Bis zur Trauerfeier wird sie hier im Haus wohnen. Kaum sind die anderen aus der Tür, schreibt sie meinem Vater, der gerade unterwegs ist, Erledigungen macht.

Komm nach Hause.

Beeil dich.

Ein paar kräftige Windstöße greifen nach dem Baum vor dem Fenster, rütteln und schütteln ihn, wollen ihn ausreißen, forttragen. Lass los, denkt meine Mutter. Leg dich nicht mit Kräften an, die stärker sind als du. Das nimmt nie ein gutes Ende.

Während sie zusieht, wie der Wind weiter an der Landschaft dort draußen zerrt, denkt sie darüber nach, dass er sich hier niemals blicken ließ, als sie jung war. In Márkannjárga geht nie ein Wind, hat sie früher gesagt. Aber so vieles, was einmal Wahrheit war, gilt nicht mehr.

Ich fantasiere wieder.

Die Lehne des Sitzes vor mir ist so nah, ich habe kaum Platz. Meine Mutter hat mir eine lange Nachricht auf der Mailbox hinterlassen. Erinnere mich an dies und das, sagt sie. Nichts davon habe ich mir gemerkt. Vor dem Fenster scharf umrissene Wolken, dunkle Schattenpartien, eine Wolke gleicht einem pummeligen Baby im Profil. Ich vermisse Annas weiche, knubbelige Hände, den Geruch ihrer frisch gewaschenen Sachen, Cléments ruhige Stimme.

Ich bin allein. In meinem Kopf kreisen die Gedanken. Als ich klein war, wurde es oft zum Problem. Ich sah, wie etwas geschah oder schnappte einen Satz auf und spann daraus eine ganze Geschichte, fest überzeugt, dass alle Details, die ich hinzudichtete, genauso wahr waren wie das, was vor meinen Augen passierte oder mir erzählt wurde. Übersteigertes Vorstellungsvermögen hieß es in meinem Zeugnis an der Grundschule in Márkannjárga. Nicht ausgeprägtes, nicht gutes, sondern übersteigertes, als könnte mein Vorstellungsvermögen explosiv sein, verheerend. Ich schrieb Geschichten auf leere Seiten in meinen Kladden und später auf dem ausrangierten Computer meiner Mutter. Die Geschichten verdrängten meine Hausaufgaben, hatten selten etwas mit dem zu tun, was die Lehrerinnen und Lehrer uns aufgegeben hatten. Sie wurden zum Problem. Manchmal hörte ich später die wahren Versionen von Geschichten, die ich weitergedichtet hatte, und da verstand ich, dass meine Fantasie mal wieder mit mir durchgegangen war. Ich war mir so sicher gewesen, aber ich hatte mich geirrt.

Im Journalismus bewegt man sich auf festerem Grund, muss alles doppelt und dreifach checken, will nichts dem Zufall überlassen.

Es geht nicht immer darum, die wahre Geschichte zu erzählen, sondern eine, die unanfechtbar ist, rein juristisch betrachtet. Hat der Journalismus mich deshalb gereizt? Hat er mich gereizt? Ja. Raphaëlle Reynaud würde jetzt sagen: Genau, Marie, das ist dein Platz. Im Kontakt mit der Wirklichkeit.

Worüber ich als Journalistin schreibe, lässt sich leichter umreißen.

Es ist konkret.