Achterbahn - Rudi Czerwenka - E-Book
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Achterbahn E-Book

Rudi Czerwenka

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Beschreibung

„Sie heißen Karsten und Britta, Volker und Melanie und Günti und sind Menschen wie du und ich. Sie leben mitten unter uns, in den Nobelhotels und in den Obdachlosenasylen. Sie glänzen auf Promitreffen und Siegerpodesten oder verbergen sich in Abrissbauten und stillen Parkwinkeln. Sie tragen Kronen und Medaillen oder Plastebeutel und Lumpen. Sie sind ganz oben oder ganz unten oder auf dem Wege nach da oder nach dort auf der Achterbahn des Lebens.“ Karsten, Britta und Volker arbeiten in der Werft und sind im Großen und Ganzen mit ihrem Leben zufrieden. Sie beteiligen sich an den Demos zum Ende der DDR und fahren mit dem Trabi nach Lübeck, neugierig auf die Welt, in die sie vorher nicht reisen konnten. Karsten und Britta scheinen Gewinner der Wende zu sein und sind weit oben angekommen, Volker ganz unten. Doch ihr Leben ist wie eine Achterbahn ...

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Seitenzahl: 190

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Impressum

Rudi Czerwenka

Achterbahn

Höhenflug und freier Fall

Roman

ISBN 978-3-95655-553-4 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 2004 im BS-Verlag, Rostock.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: verlag@edition-digital.com Internet: http://www.ddrautoren.de

Vorwort

Der liebe Gott schuf Himmel und Erde, so heißt es in den Überlieferungen, und erfand innerhalb einer einzigen stressigen Arbeitswoche alles, was darauf, darin, darüber und darunter steht, hängt oder liegt, sich dreht oder bewegt. Aber der Herr hatte versäumt oder keine Zeit gefunden, die entsprechenden Patente anzumelden. So fummelte ihm der Gehörnte einige Male ungehindert dazwischen.

Jeder kennt dieses Wunderwerk auf dem Rummelplatz, zumindest vom Ansehen her. In Form einiger Euros entrichtet man sein Opfer, ohne das auch hier nichts läuft, steigt in eines der Wägelchen, und die Fahrt beginnt. Zunächst geht es geradeaus. Ganz allmählich gewinnt man an Höhe. Es ist ein schönes Gefühl, von dort oben auf die untätigen, gaffenden Leute herabzublicken. Man sitzt und genießt die sanften Kreise und Schleifen. Doch dann beginnt die Sturzfahrt, unter Rattern und Geschrei, steil hinunter und wieder hinauf, durch Kurven und Kehren, bis die Gondel von sich aus Kraft und Mut verliert und friedlich ausrollt. Die Leute, die herausstolpern, sehen ein bisschen anders aus als zuvor beim Start. Sie haben etwas erlebt und gelernt und, wie sie glauben, Erfahrungen gesammelt, wenn sie auch nur genau dort angekommen sind, wo sie abgefahren waren.

Sie heißen Karsten und Britta, Volker und Melanie und Günti und sind Menschen wie du und ich. Sie leben mitten unter uns, in den Nobelhotels und in den Obdachlosenasylen. Sie glänzen auf Promitreffen und Siegerpodesten oder verbergen sich in Abrissbauten und stillen Parkwinkeln. Sie tragen Kronen und Medaillen oder Plastebeutel und Lumpen. Sie sind ganz oben oder ganz unten oder auf dem Wege nach da oder nach dort auf der Achterbahn des Lebens.

Noch ist nichts passiert, denn das Gerät war TÜV-geprüft. Dies war nur das Vorwort und soll gleichzeitig als Nachwort dienen. Man darf es also zweimal lesen.

Achterbahn

Der Regenschauer war vorbei, es nieselte nur noch leicht. Karsten Bredlow benutzte den betonierten Mittelstreifen der schmalen Straße zwischen dem Rohrlager der Werft und den Konstruktionsbüros. Eigentlich hatte er bereits Feierabend, doch zuvor musste er noch zur Zentralen FDJ-Leitung. Was die wollten, würde er bald erfahren. Sicher ging es wieder mal um die Vorbereitung einer der vielen Veranstaltungen. Da war Karstens Organisationstalent gefragt. Die Natur hatte ihn zwar mit einer nur geringen Körperhöhe ausgestattet. Doch wie viele andere etwas zu klein geratene Leute versuchte er, den äußerlichen Größenmangel durch andere Auffälligkeiten wettzumachen.

Seine Gedanken schweiften ab. Da war Jana, seine Derzeitfreundin, die auf dem Kabelkran arbeitete. Ihr Mundwerk war nicht totzukriegen, auch nicht nach längeren nächtlichen Strapazen. Sie hatte ihm erzählt, wie sich die Frauen auf der hohen Kranbrücke die Zeit vertrieben, wenn sie mal keine Schiffssektionen durch die Lüfte bewegten. Im Grunde ging ihn das nichts an, er saß schließlich in der Konstruktionsabteilung. Aber als Leitungsmitglied der Freien Deutschen Jugend fühlte er sich mitverantwortlich für die sozialistische Arbeitsmoral im Betrieb. Darüber hinaus hatte er einen weiteren Grund, sich gelegentlich ein bisschen hervorzutun.

Die Schuld lag bei seiner Mutter, bei Marta Sörgensen, geborene Schröder, verwitwete Bredlow. Sie zählte zu den Aktivistinnen der ersten Stunde, als das Prunkhotel des Seebades mit schwedischer Unterstützung konzipiert und errichtet worden war. Dabei hatte sie sich in einen der imperialistischen Aufbauhelfer verliebt, hatte ihn geheiratet und war nach mehrjähriger Wartezeit mit staatlicher Genehmigung ausgereist. Nun schickte sie Pakete, hatte ihren Sohn also beileibe nicht vergessen. Den Kaffee und andere hierzulande begehrte Luxusgüter übergab Karsten seiner Wirtin. Die Zigaretten verkaufte oder verschenkte er nur an zuverlässige Bekannte. Anderes Brauchbare wie den Bürokittel oder die Freizeitschuhe trug er selbst, weil er sicher war, dass seine Kontakte zu Personen im nichtsozialistischen, wenn auch befreundeten Ausland bekannt und registriert waren. Aus diesem Grund fühlte er sich verpflichtet, seine Treue zum Arbeiter- und Bauernstaat bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu demonstrieren. Diese Kranführerinnen aber auch! Das konnte man nicht durchgehen lassen. Er brauchte ja keine Namen zu nennen. Oder?

Die Ereignisse jedoch nahmen ihm eine Entscheidung ab. Von vorn näherte sich eine Dieselameise. Die relativ kleinen Räder des Transportfahrzeuges registrierten jede Unebenheit der Fahrbahn. Der Fahrer war es gewöhnt, er konnte sich am Lenkrad festhalten. Die Rohrladung hinter ihm jedoch schepperte und tanzte.

Karsten trat zur Seite, mitten in eine Pfütze, um den Karren vorbeizulassen. Auch der Kleintransporter scherte aus, vermutlich aber etwas zu plötzlich. Die Ladung kam ins Rutschen, ließ sich von den kurzen Seitenrungen nicht aufhalten, rollte und polterte auf die Betonpiste. Karsten sprang nochmals zur Seite, aber vergeblich. Die Rohre landeten vor, zwei sogar auf seinen Füßen.

Dem Fahrer war die Sache außerordentlich peinlich. Er weigerte sich strikt, als Karsten ihm beim Wiederaufladen der langen und auch recht schweren Transportgüter helfen wollte.

In der S-Bahn auf dem Heimweg betrachtete er seine guten Importschuhe. Sie waren ziemlich beschmutzt, aber heil geblieben. Der linke Fuß tat zwar ein bisschen weh, doch auch das würde sich geben. So hoffte er.

Am nächsten Morgen beim Aufstehen sah die Sache leider anders aus. Den Fuß konnte er kaum bewegen und zwängte ihn nur mühsam, unter Schmerzen ins Schuhwerk. Später vor seinem Reißbrett konnte er sich kaum auf den Beinen halten und holte sich den Rollschemel heran, den er sonst nie benutzte. Der Abteilungsleiter schickte ihn zum Betriebsarzt.

„Nur eine Prellung“, konstatierte der Mann im weißen Kittel nach der Röntgenaufnahme. „Drei Tage zu Hause bleiben, hochlagern und kühlen. Schwester Britta gibt Ihnen etwas mit. Und am Montag wieder vorstellen.“

So trat Britta in Karstens Leben. Zuerst hatte er sie in Erwartung einer vielleicht schlimmeren Diagnose glatt übersehen. Von diesen Ängsten befreit, betrachtete er sie nun genauer. Der weiße Kittel passte ausgezeichnet zu ihrem dunklen Teint, zu dem exakt geschnittenen schwarzen Pagenkopf. Ein bisschen ähnelte sie diesen zierlichen Gastarbeiterinnen aus dem befreundeten Vietnam.

Wie ein exotischer Vogel, wie ein bunter Schmetterling flatterte sie umher, sah ihn kaum an, als sie ihm mit spitzen Fingern sein Rezept und die Krankschreibung aushändigte.

Wie benommen verließ er die Praxis, schlich zu seiner Arbeitsstelle, fuhr nach Hause. Schwester Britta! Das war ein Mädchen, mit dem man sich überall sehen lassen konnte. Er grinste vor sich hin bei dem Gedanken, dass er sie irgendwann bei irgendwelchen geselligen Treffs anderen Leuten voller Stolz präsentieren könnte: „Darf ich bekannt machen - meine Freundin.“ Das war etwas anderes als Jana und die anderen emsigen Bienchen, die er manchmal mit nach Hause lotste und an den nächsten Tagen fast schon wieder vergessen hatte.

Er kühlte seinen Fuß, hatte weder Interesse am Lesen noch am Fernsehen noch an Radiomusik und dachte nur an sie.

Ungeduldig betrat er am Montag das zu dieser frühen Stunde noch leere Vorzimmer, suchte sich den optisch günstigsten Platz und wartete auf den Moment, dass sie ihn aufrufen würde. Doch er wurde enttäuscht; ein anderes Karbolmäuschen hatte heute Dienst.

„Noch Schmerzen?“, erkundigte sich der Arzt und betastete den leicht blaugrün gefärbten Fuß.

„Ziemlich, vor allem beim Auftreten.“ Karsten zuckte zusammen, um vielleicht einen weiteren Behandlungstermin zu ergattern.

„Sie brauchen ja nicht gleich wieder Fußball zu spielen. Was arbeiten Sie?“

„Technischer Zeichner. Konstruktionsbüro.“

„Na gut. Noch zwei Tage Schonzeit. Dann können Sie wieder antreten.“

„Bei Ihnen hier?“

„Nein, an Ihrem Arbeitsplatz.“

Niedergeschlagen verabschiedete er sich, hinkte betont langsam aus dem Untersuchungsraum, durchs Wartezimmer, die Treppe hinab. Am Ausgang jedoch besserte sich urplötzlich sein Befinden.

Denn vor ihm stand Britta, zwei prall gefüllte Einkaufsbeutel in den Händen. Er hielt ihr die Tür auf.

„Danke. Na, wie geht es dem großen Zeh?“

Sie hatte ihn also wiedererkannt. Das war ein gutes Zeichen und Anlass, sich innerlich wie auch äußerlich aufzurichten.

„Alles in Ordnung, kaum noch was zu spüren. Keine Probleme also am Wochenende beim Jugendtanz im Klubhaus.“

„Da kann sich Ihre Freundin ja freuen.“

„Könnte sie, wenn ich eine hätte.“

„Interessant. Mal was Neues.“

„Was?“

„Ihre Methode beim Anbaggern.“

„Entschuldigen Sie bitte“, lenkte er ein, „wenn ich mich danebenbenommen habe. Das ist eigentlich nicht so meine Art.“

„Schon gut. Drüben am Kiosk gab es Melonen.“ Sie wies auf die beiden Beutel. „Ich habe für die anderen gleich mit eingekauft.“

Ein paar Sekunden lang standen sie sich bewegungs- und wortlos gegenüber.

„Ich habe Sie da oben vermisst“, beendete er die Pause. „Ich würde Sie gern mal wiedersehen.“

„Warum nicht? Dann brechen Sie sich zur Abwechslung doch mal den Arm. Ich stehe jederzeit zur Verfügung.“

„Lieber nicht. Aber im Ernst. Allein ins Kino, das macht doch keinen Spaß.“

Sie willigte ein. Am Wochenende sahen sie sich gemeinsam einen italienischen Liebesfilm an. Das hatte zur Folge, dass sie sich nach diesem Abend duzten. Darüber hinaus geschah nichts, obwohl sie bei diesem ersten Rendezvous einen recht kurzen tiefblauen Rock und eine weit ausgeschnittene Bluse trug. Später überredete sie ihn zu einem Theaterbesuch, und er schleppte sie zur Disco. Doch all das genügte nicht, engere Kontakte aufzubauen. Einmal musste man bloß zuhören und konnte nicht viel reden, beim anderen Mal war die Musik zu laut. So landeten sie schließlich in den verschiedenen recht gemütlichen Kneipen im Vorstadtviertel, wo vorwiegend junges Volk zusammensaß und klönte. Erst dabei kamen sie sich allmählich näher, lernten einander kennen, trennten sich nach dem gemeinsamen Nachhauseweg aber stets vor ihrem Quartier.

Sie hatte ein Zimmer im Wohnheim der Werft, wo strenge Sitten herrschten. Sie stammte vom Land, ziemlich weit westlich, wo der neue deutsche Staat endete und der alte begann. Dort betrieben ihre Eltern mehr schlecht als recht eine Art Bauernwirtschaft. Das Haus mit dem lückenlos angebauten Stall, nach dem Krieg errichtet, war inzwischen modernisiert, verfügte über Stromanschluss und Wasserleitung und zeigte sich in tadellosem Zustand. Mit dem Ringsum jedoch sah es nicht so gut aus. Der vormalige sudetendeutsche Tischler und nunmalige Neubauer Drews hatte zwar wie alle anderen sein Land zugeteilt bekommen, aber das Land war Sand. In der ersten Phase der Kollektivierung der Landwirtschaft hatte er sich trotz ständiger Defizite beim Ablieferungsoll noch geweigert, der Genossenschaft beizutreten. Als die LPG später ihre Rinderzuchtanlage aufbaute, Grünflächen brauchte und in Schwung kam, wäre er gern Mitglied geworden. Doch da verzichtete man auf ihn bzw. auf seine Brachflächen. Es kam noch schlimmer. Mit der Errichtung der Staatsgrenzen gerieten die Drews ohne eigenes Zutun in ein Niemandsland, lagen am Ende jeglicher Zivilisation. Bauer Drews wurde nur noch Sandbaron genannt, und seine Britta war die Sandprinzessin.

Wie gesagt: Wer Brittas Wohnheim betreten wollte, musste sich beim Pförtner ausweisen. Nach 22 Uhr war jedem Nichtbewohner der Zutritt verwehrt. Daran führte für die beiden korrekten jungen Leute kein Weg vorbei.

Auch bei Karstens Eineinhalbzimmerwohnung in dem Siedlungshäuschen am Stadtrand funktionierte eine, wenn auch andere Art von Überwachung. Hier hatten Karsten und seine Mutter bei deren Freundin gelebt, bevor Marta Sörgensen ins kapitalistischen Ausland abgewandert war und Sohn sowie Trabant zu treuen Händen zurückgelassen hatte.

Witwe Senkpiel fühlte sich diesem Erbe verpflichtet. Zu Karstens politischem Schutz hielt sie die postalischen Verbindung nach Schweden aufrecht. Sie machte ihm zwar keine Vorwürfe, wenn sie beobachtete, was für weibliche Wesen bei ihm abends und morgens ein- und ausgingen, aber sie registrierte das voller Sorge. Zum Glück war es inzwischen vorbei mit dieser fetten Rothaarigen, die stets ihre Schweißspuren auf der Bettwäsche hinterlassen hatte. Oder die andere mit den klobigen Sohlen unter den Turnschuhen, die ganze Dreckklumpen ins Haus geschleppt hatte.

Irgendwie ganz anders, aber dennoch verdächtig wirkte diese kleine Schwarzhaarige, die Karsten jetzt hin und wieder, aber schon seit mehreren Wochen ins Haus brachte. Frau Senkpiel kochte wie bei jedem dieser Wochenendbesuche den schwedischen Kaffee, verteilte zwei Handvoll dänische Butterkekse auf einem thüringischen Glastellerchen und betrat damit Karstens Zimmer, ohne jemals auf irgendwie verfängliche Situationen zu stoßen. Die beiden jungen Leute saßen brav nebeneinander, besahen Fotos oder Briefe oder Zeitungsausschnitte oder andere Souvenirs. Er erzählte, und sie hörte zu. Und allabendlich brachte er das Mädchen nach Hause. Frau Senkpiel fand keinen Grund, sich Sorgen zu machen, auch dann nicht, wenn die beiden per Trabi unterwegs waren. Dieser zuvor so eigenwillige Bursche hatte sich in positiver Hinsicht verändert, sogar dann, wenn er das sorgfältig gebügelte FDJ-Hemd trug und sie demonstrativ ihr silbernes Kreuz an der Halskette zur Schau stellte. Das geschah vorwiegend an Feiertagen.

Davon gab es viele, zu viele. Einige wie der Herrentag waren zwar offiziell abgeschafft, aber durch andere ersetzt worden, zum Beispiel durch den Frauentag. Bei dessen Vorbereitung und Ablauf war auch Karsten im Einsatz. Schließlich sollte es den Kolleginnen an ihrem Ehrentag weder an Essen oder Trinken, noch an Unterhaltung oder Bedienung mangeln. Auch am Kampftag der Arbeiterklasse, am Tag der Republik und am Kindertag war er voll eingespannt. Der Tag des Bergarbeiters, der Lehrertag, der Tag der Kosmonauten und andere in den Kalendern hervorgehobene Ehrentage interessierten ihn dagegen wenig. Ein Tag der Werftarbeiter fehlte bedauerlicherweise.

Nun nahte der Tag der Aktivisten, übrigens der letzte seit der grandiosen Normübererfüllung des Bergmannes Hennecke Anno 1948. Es galt, Listen zu sortieren, Urkunden und Medaillen zu ordnen, die Sitzgruppen abzustimmen, ein Kulturprogramm zu organisieren.

Der Saal des Klubhauses war festlich dekoriert, mit Grünkübeln an der Bühnenrampe, mit Fahnen und Spruchbändern im Hintergrund. Auch das Pult trug textile Bekleidung. Rechts davon saßen die vorgesehenen Redner, mit ihren Konzepten auf dem Schoß, und die anderen, die mit dem Ablauf der Veranstaltung zu tun haben würden, darunter auch Karsten. Auf der anderen Seite hockten die Jungen Pioniere, die Mitglieder der Gitarrengruppe der örtlichen Schule mit ihren Instrumenten.

Unten im Saal, in der vorderen Stuhlreihe hatte auch der Schweißer Volker Dalibor seinen Platz zugewiesen bekommen. Besonders aufgeregt oder überrascht wirkte er nicht, da ihm die Ehrung nicht zum ersten Mal zuteil wurde. Er war eher ein wenig müde, denn er hatte mit zwei ebenfalls betroffenen Kumpels schon ein bisschen vorgefeiert. Er guckte sich die Leute auf der Bühne an und überlegte, wer dieser oder jener sein könnte, wo er den oder die schon mal gesehen hatte und blieb schließlich mit seinen Blicken an einer kleinen Dunkelhaarigen hängen.

Dann ging’s los. Die Kinder spielten wunderschön. Es war ein Genuss, abgesehen von dem älteren Herrn, der vor der Gruppe stehend wie wild geworden herumdirigierte. Anschließend trug das zierliche Mädchen ein Gedicht vor. So ging es weiter, im steten Wechsel zwischen Musik und gereimten Texten. Das gefiel Volker. Er vergaß fast, warum er hier war, bis das Referat folgte und ihn in die Gegenwart zurückrief. Namen wurden aufgerufen, die Namensträger standen auf, erstiegen in Gruppen die Bühne und stellten sich dort in möglichst richtiger Reihenfolge zur Schau.

„... Volker Dalibor ...“, vernahm er und erhob sich.

Oben angekommen, nahm er die Medaille mit dem dazugehörigen Schächtelchen nebst Händedruck in Empfang, vom nächsten Gratulanten einen Umschlag mit der Prämie, von dem etwas klein geratenen FJDler eine rote Plastemappe mit der Urkunde und von einem Mädchen mit blauem Halstuch eine Blume. Als der letzte der Reihe bedient war, durften sie gemeinsam wieder absteigen.

Später im Treppenflur traf er die niedliche Rezitatorin.

„Jetzt weiß ich, woher ich dich kenne“, begann er, „vom Doktor. Damals als die Werkküche mit der Nudelsoße ..., das war vielleicht ein Aufstand.“

Sie lachte.

„Das war ein Ding. Kurz vor einer Katastrophe. So viel hatten wir lange nicht zu tun. Wie geht’s inzwischen? Stuhlgang schmeckt, Appetit regelmäßig?“

„Alles im Lot. - Für dich“, sagte er und hielt ihr die Blume vor die Nase.

„Oh nein“, wehrte sie ab. „Das ist deine. Die hast du doch bekommen.“

„Ich habe keine Vase. Nimm du sie, bitte! Für das Gedicht mit den Schiffen für den Frieden.“

„‘Haltet euch ran, Jungs, prüft jeden der Griffe, und dann mit Volldampf voraus!’“

„Du kannst es auswendig?“

„Es ist ja auch von mir. Aber jetzt muss ich los. Ich werde erwartet. Vielleicht sehen wir uns mal wieder, wenn die Küche ... Und schönen Dank auch.“

Sie trippelte davon, nach draußen, wo Karsten auf sie wartete. „Woher hast du diese Blume?“

„Von einem der Aktivisten. Für mein Gedicht.“

„Von welchem?“

„Von dem großen Stämmigen mit den blauen Augen, bei dessen Händedruck du fast eingeknickt bist.“

„Ist mir gar nicht aufgefallen. Einen Geschmack muss der Kerl haben!“, schloss er abwertend.

Er meinte ihr poetisches Werk. Sie bezog die Bemerkung auf sich. „Komm, ich bringe dich nach Hause. Es war ein schwerer Tag.“

„Nicht nötig“, antwortete sie leicht beleidigt. „Ich fahre lieber mit der Bahn.“

Sie entschwebte.

Missmutig trottete Karsten zu seinem Wagen. An der Windschutzscheibe klemmte ein Gruß der Deutschen Volkspolizei. Die hinter ihm ebenfalls im Parkverbot abgestellten Autos, ein Wolga und ein schnuckliger Dacia, waren ohne Strafzettel davongekommen. Manche durften sich alles erlauben. Er zählte nicht dazu.

Volker dagegen war gut drauf. Nicht nur das kurze Gespräch mit diesem Mädchen hatte ihn aufgelockert. Auch der obligatorische Treff mit den Kollegen trug dazu bei. Es war ungeschriebenes Gesetz, dass jeder, der eine Prämie kassiert hatte, einen ausgeben musste. So saßen sie in fröhlicher Runde, bis jeder der frisch gekürten Aktivisten seinen Pflichten nachgekommen war. Es ging recht laut zu, zu laut für Volkers heutiges Empfindungsvermögen. Trotz des Protestes seiner Kollegen zahlte er seine Zeche, faustete zum Abschied auf den Tisch und machte sich auf den Heimweg.

Vor dem Haus brannte eine Straßenlaterne. Sie ersetzte die fehlende Flurbeleuchtung. Volker stakste die knarrenden Treppen empor, legte nach zweieinhalb Etagen hinter der kleinen Tür mit dem Gucklochfenster einen Zwischenstopp ein und hatte dann nur noch sechs Stufen vor sich bis zu seiner Dachwohnung, zwei Kammern und Küche, alle mit Oberlicht, aber für nur 21 Mark Miete monatlich. Hier lebte er allein, seit dem Tod seiner Eltern.

Die Dalibors waren keine Fischköppe, waren Zugereiste. Nach der Vertreibung aus dem Schlesischen waren sie im Erzgebirge zur vorläufigen Ruhe gekommen. Der Vater hatte Arbeit gefunden, in den giftgeschwängerten Schächten, wo das Material für das fortschrittliche Atomzeitalter gebrochen wurde. Hier bekam er gutes Geld und eine gute Lebensmittelkarte, musste als Gegenleistung allerdings seine Gesundheit hergeben und wurde frühzeitig invalidisiert. Die Mutter arbeitete in einem Gartenlokal. Der ältere Sohn tat es dem Vater gleich und ging zur Wismut, konnte sich sogar ein Motorrad kaufen und verunglückte damit tödlich. Nachkömmling Volker war dem Ruf des aufblühenden Nordens gefolgt, der Enge der Berge entflohen und als Lehrling bei der Werft eingestiegen.

Schon mehrmals hatten die Eltern ihn hier besucht, hatten die gesunde Ostseeluft genießen dürfen. In den Bergen hielt sie nur noch das Grab ihres Großen. Volker verschaffte der Mutter eine Stelle in dem neu errichteten Seemannsheim und damit die Zuzugsgenehmigung, der Vater als versorgungsberechtigtes Anhängsel durfte folgen. Sie bezogen jene Dachwohnung in der Altstadt.

Der inzwischen ausgelernte Schiffbauer hatte damals nur Normalschicht. Er stand früh auf und verschwand. Die Mutter versorgte den siechen Vater und trat erst gegen Mittag ihren Dienst an. Wenige Stunden später kam Volker schon wieder nach Hause. Wenn die Mutter irgendwann nachts heimkehrte, war sie oft ähnlich benebelt wie ihr Mann. Dann gab es manchmal Krach, wenn einer dem andern seine Trunksucht vorwarf. So verlief das Leben bei den Dalibors. Große Ansprüche stellten sie nicht, sie waren zufrieden. Und das Bier von der Küste schmeckte ebenso gut wie das im Erzgebirge. Vor drei Jahren waren sie gestorben, zu Ostern die Mutter, im Herbst der Vater.

Seitdem war Volker allein, in der alten Wohnung, mit dem alten Mobiliar, mit den Erinnerungen, die ihn aus jedem Raumwinkel angrinsten. Er klagte nicht, denn er war nichts anderes gewöhnt. Die Werft wurde sein richtiges Zuhause. Hier tat er seine Pflicht, war im Kollektiv angesehen und geachtet, kannte auch ein paar Kumpels von den gelegentlichen Besuchen in der Kneipe nebenan. Aber Freunde oder Freundinnen hatte er nicht, er suchte auch keine Kontakte und hielt sich zurück, wenn im Betrieb, im Seebad oder in der Stadt für irgendwelche Sport- oder Kulturveranstaltungen oder Traditionsfeste getrommelt wurde.

Bei Stapelläufen jedoch war das anders. Schiffstaufen waren für die Leute auf der Werft die wahren Feiertage, so eine Art Jugendweihe, als ob ein einstiger Säugling endlich hochgepäppelt worden war und dem selbstständigen Dasein übergeben werden konnte. Irgendwie hatten sie alle, von der Projektierung bis zum Auslaufen, an dem Wachsen und Werden mitgewirkt, hatten terminliche, personelle und materielle Engpässe gemeistert und atmeten nun auf, dass wieder einmal alles geschafft war.

Schon Tage zuvor kam Stimmung auf, wenn die alten Werfthasen ihre Erlebnisse auspackten, von den Rostkästen erzählten, die aus der See geborgen und wieder flottgemacht worden waren, von der Segeljacht für den bejahrten Arbeiter- und Bauernpräsidenten oder von jener schon sagenhaften „Juri“, die zehn Jahre auf der Werft lag, weil der östliche Auftraggeber sich nicht entscheiden konnte, ob er ein Passagier- oder ein Walfangschiff brauchte. Das war Geschichte, aber unvergessen bei den 5 000 Menschen, die inzwischen unter moderneren Bedingungen unterm Kabelkran ihr Brot verdienten.

Wieder einmal war es so weit. Wer freihatte oder sich frei machen konnte, kam zum Stapellauf. Nicht nur Werftarbeiter, auch Leute aus den Zuliefererbetrieben standen am Uferrand und warteten auf das große Ereignis. Das nasskalte Wetter hatte sie nicht abgehalten. Um sich herum sah Volker nur Windjacken und Kapuzen. Eine ganze Schulklasse drängelte sich nach vorn, bis dicht ans Wasser. Die Lehrerin war vermutlich zum ersten Mal dabei und wusste nicht, was geschah, wenn der eintauchende Schiffsrumpf die Wellen aufs Land schob. Dann gab’s regelmäßig nasse Füße für Greenhorns.

Der offizielle Taufakt am Bug war bereits vorbei. Davon hatten die Massen wenig mitbekommen. Der Stahlkoloss setzte sich bereits, zuerst kaum wahrnehmbar, auf der Gleitbahn in Bewegung.

„He, ihr da!“, rief Volker den Kindern zu. „Tretet zurück, wenn ihr trocken bleiben wollt.“

Da erkannte auch die Lehrerin die drohende Gefahr und unterstützte ihn. Fast alle gehorchten. Nur ein etwas größeres, aber wie die anderen vermummtes Wesen blieb wie festgewurzelt auf dem nun geleerten Ufersaum zurück.

„Bist du vielleicht taub, du Trantüte?“, rief er, machte einen Schritt nach vorn, packte das Mädchen an der Kapuze, verpasste jedoch den Rücksprung aufs Trockene, als er sah, wen er da gegriffen hatte. Die Welle war schneller, hatte beide erfasst, flutete zwar wieder ab, aber sie waren bis zu den Waden durchnässt. Und die Leute ringsum lachten und klatschten sogar Beifall.

„Hallo, unser medizinisches Personal!“, freute er sich und hielt Britta immer noch leicht angehoben in den Armen.

„So trifft man sich wieder“, erwiderte sie, wollte sich der Aufmerksamkeit der Umstehenden entziehen und strampelte sich frei.

„Ich bin schon die ganze Zeit hier“, fuhr er fort. „Aber ich habe dich nicht erkannt.“

„Kein Wunder bei der Maskerade, bei dem Wetter.“ Ihr Blick wanderte auf die durchnässten Schuhe. „Kein schöner Platz für unsere Wiederbegegnung.“

„Komm, wir hauen ab, irgendwohin, wo es trocken ist!“

Sie drängelten sich durch die Menschenmenge, die ausharrte und zusah, wie die Schlepper den Stapelläufer einfingen.

Zuerst wollten sie in die Kantine. Die war „aus betrieblichen Gründen geschlossen“. Die Gaststätte im Klubhaus dagegen quoll über.

„Mir ist kalt“, sagte sie.

„Wenn du nichts dagegen hast, dann fahren wir zu mir. Ich habe einen elektrischen Heizlüfter, aus Polen. Ich tu dir auch nichts.“

Sie lachte, hängte sich an seinen Arm und führte ihn zur S-Bahnstation.

Infolge der Macht des Schicksals gelangte Britta in Volkers Dachwohnung.

„Gar nicht so übel“, stellte sie nach dem ersten flüchtigen Rundblick fest, streifte Schuhe und Söckchen ab und ließ sich in die Tiefe des altersschwachen Sessels fallen. „Bloß ein Maler müsste hier mal ran.“

Er brühte Tee auf, und sie sah sich, auf bloßen Füßen hinter ihm her wandelnd, in der kleinen Küche und der zweiten Kammer um, die er seit dem Tod der Eltern nur selten betreten, geschweige denn genutzt hatte.

„Wozu hebst du das alles auf?“

Er zuckte die Schultern.

„Wenn du willst, helfe ich dir beim Aussortieren.“

„Das schaffe ich schon allein.“

Er schaffte es. Er holte sich die Jungen aus der Nachbarschaft heran, die immer wieder, auf den Flachdächern der Nebenhäuser umherturnend, durch seine Dachluken spähten. Die schleppten voller Tatendrang alles Überflüssige die Treppen hinunter, auf den Hinterhof, wo Volker für die jugendlichen Helfer ein Feuer anzündete und gebratene Bockwürste spendierte.

Er besorgte Tapeten und Kleister und Werkzeug und betätigte sich als Maler und Tapezierer. Auf eine Leiter konnte er verzichten. Die Raumhöhe lag bei knapp zwei Metern, sodass er ohne jegliche Steighilfe die Decken bearbeiteten konnte.

Als sich Britta wieder einmal meldete, war sein Werk noch nicht getan. Er wollte sie jedoch nicht verprellen und sann nach einer Ausrede.

„Bei mir sind die Handwerker“, redete er sich heraus. „Du wirst staunen beim nächsten Mal. Aber heute geht’s wirklich nicht. Ich kann mir ja inzwischen deine Bude ansehen.“

Sie war skeptisch, aber sie trafen sich vor ihrem Wohnheim.

„Mein Bruder“, erklärte sie dem Pförtner.

„So sieht der gar nicht aus“, sagte der Mann und wehrte ab.



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