ad Franz L. Neumann - Alfons Söllner - E-Book

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Alfons Söllner

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Beschreibung

"Da wir glauben, daß der Nationalsozialismus ein Unstaat ist oder sich dazu entwickelt, ein Chaos, eine Herrschaft der Gesetzlosigkeit und Anarchie, welche die Rechte wie die Würde des Menschen 'verschlungen' hat und dabei ist, die Welt durch die Obergewalt über riesige Landmassen in ein Chaos zu verwandeln, scheint uns dies der richtige Name für das nationalsozialistische System: Der BEHEMOTH". Franz L. Neumann Franz Neumanns "Behemoth" gilt heute als ein moderner Klassiker der Sozialwissenschaft. 1942, in der Entscheidungsphase des Zweiten Weltkrieges publiziert, war das Buch die erste Gesamtdarstellung Hitler-Deutschlands aus Emigranten-Feder. Die empirische Analyse der vier Säulen der NS-Gesellschaft (Monopolwirtschaft, Staatsbürokratie, NSPartei, Wehrmacht) und die kühne These von der chaotischen Struktur des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, auf die der Name aus der jüdischen Mythologie verweist, sind eine Herausforderung für die historische NS-Forschung geblieben. Für die Einführung in ein Werk von diesen Dimensionen halten sich die Autoren des ad-Bandes an verschiedene Formate: Der Beitrag von Alfons Söllner ist biographisch orientiert und stellt Franz Neumann als exemplarischen Vertreter der politischen Emigration heraus; Michael Wildt stellt den "Behemoth" in den Kontext der internationalen NS- und Holocaust-Forschung und fragt u.a., weshalb die Neumann-Rezeption im Nachkriegsdeutschland so lange vernachlässigt wurde. Der Rezensionsessay von Hubertus Buchstein gibt weitere Hinweise auf die Entstehungsgeschichte des Buches und zeigt, dass es immer noch lebhafte Polemiken auszulösen vermag. Um den "anderen" Zugriff der angelsächsischen Debatte zu verdeutlichen, wird die Einführung zur englischen Neuausgabe von Peter Hayes nachgedruckt. Franz L. Neumann (1900– 1954), als Student Teilnahme an der Novemberrevolution, danach Beitritt zur SPD, 1923 Dr. jur. in Frankfurt/M, 1925– 1927 Assistent von Hugo Sinzheimer an der Akademie für Arbeit, 1928–1933 Gewerkschaftsanwalt in Berlin und Syndikus der SPD, 1933 Flucht nach England, Dr. phil. an der London School of Economics, 1937–1942 Mitarbeiter am Institute of Social Research/ New York, 1942– 1946 Deutschlandexperte für die amerikanische Regierung, 1950–1954 Professor für Political Science an der Columbia University/New York.

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Seitenzahl: 170

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ad Franz L. Neumann

Behemoth

Die Autoren dieses Bandes

Alfons Söllner, geb. 1947, ist Professor für politische Theorie und Ideengeschichte und lehrte bis 2012 an der Technischen Universität Chemnitz. In der Europäischen Verlagsanstalt erschienen: Political Scholar (2018), ad Hannah Arendt (2021) und Das Jahrhundert der Flüchtlinge (2022).

Michael Wildt, geb. 1954, ist Professor für deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus und lehrte bis 2022 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte (2019); Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 bis 1945 (2022).

Hubertus Buchstein, geb. 1959, ist seit 1998 Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald. Veröffentlichungen u. a.: Demokratie und Lotterie. Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU (2009); Enduring Enmity. The Story of Otto Kirchheimer and Carl Schmitt (2023).

Peter Hayes, geb. 1946, ist US-amerikanischer Historiker, Professor für Neuere Europäische Geschichte und war bis 2016 Inhaber des Theodore-Zev-Weiss-Lehrstuhls für Holocaust-Studien an der Northwestern University Evanston/Chicago (USA). Veröffentlichungen u. a.: (mit E. Conze, N. Frei, M. Zimmermann) Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik (2010); Warum? Eine Geschichte des Holocaust (2017).

Alfons Söllner, Michael Wildt, Hubertus Buchstein, Peter Hayes

ad Franz L. Neumann

Behemoth

Europäische Verlagsanstalt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book (EPUB)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2023

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

Alle Rechte vorbehalten.

EPUB: ISBN 978-3-86393-650-1

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

ISBN 978-3-86393-158-2

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de

Für Inhalte Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Inhalt

Vorwort

Alfons Söllner

Franz L. Neumann – ein ideengeschichtliches Portrait

Arbeitsrecht und Wirtschaftsdemokratie – reformistische Politik in der Weimarer Republik

Im Exil: Radikalisierung der Theorie und Analyse des Nationalsozialismus

Krieg und Nachkriegszeit: Politikberatung und Deutschlandpolitik

Politikprofessor in New York und Berlin

Der „Behemoth“ als wirkungsgeschichtliches Stiefkind

Michael Wildt

Franz Neumann und die NS-Forschung

Nürnberger Prozesse

Frühe Rezeptionen

Polykratie

Die Rolle der Staatsbürokratie

NSDAP

Volksgemeinschaft

Holocaust

Resümee

Hubertus Buchstein

Kontext und Aktualität des Behemoth

1. Zur Produktions- und Publikationsgeschichte

2. Zur Aktualität des Buches

Peter Hayes

Politik und Ökonomie

Anmerkungen

Drucknachweise und Danksagung

Vorwort

„Da wir glauben, dass der Nationalsozialismus ein Unstaat ist oder sich dazu entwickelt, ein Chaos, eine Herrschaft der Gesetzlosigkeit und Anarchie, welche die Rechte wie die Würde des Menschen ‚verschlungen‘ hat und dabei ist, die Welt durch die Obergewalt über riesige Landmassen in ein Chaos zu verwandeln, scheint uns dies der richtige Name für das nationalsozialistische System: DER BEHEMOTH“.1

Das vorliegende Bändchen setzt die von der Europäischen Verlagsanstalt publizierte „ad-Reihe“ fort, die „kleine Einführungen in große Bücher“ bieten möchte. So einfach und einheitlich dieses Vorhaben klingt, so verschieden muss sich seine Ausführung gestalten, je nachdem, um welches Buch und welchen Autor es sich handelt. Franz Neumanns Behemoth bietet das Schauspiel einer so nachhaltigen wie verwickelten Wirkungsgeschichte, das bislang vor allem auf zwei Bühnen gespielt hat. Heute kommt möglicherweise eine dritte hinzu.

Der Behemoth ist erstens ein typisches Produkt aus der Geschichte des deutschen Exils, seine Publikation im Jahr 1942 steht für die erste große Gesamtdarstellung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, die maßgeblichen Einfluss auf die amerikanische Kriegsführung gegen Hitler genommen und später Orientierungslinien für die Strafverfolgung, z.B. bei den Nürnberger Prozessen vorgezeichnet hat. Auch wenn die akademische Rezeption des Buches nach 1945 hierzulande nur zögerlich in Gang kam, nicht zuletzt weil es erst in den 1970er Jahren ins Deutsche übersetzt wurde, ist das in ihm steckende Anregungspotential in theoretischer wie empirischer Hinsicht international immer deutlicher erkannt worden. Heute hat das Buch einen festen Platz in der Genealogie der Nationalsozialismusforschung und wirft, insbesondere was die Diskussionen um den staatlichen Charakter des NS-Regimes betrifft, nach wie vor wichtige Forschungsfragen auf.

Weniger offensichtlich und dennoch signifikant ist ein zweiter, dazu parallel verlaufender Wirkungsstrang, durch den sich der Behemoth von seinem historischen Ursprung gelöst hat: Was Franz Neumanns „magnum opus“ war und aufgrund seiner begrenzten Lebenszeit auch geblieben ist, gilt heute als „moderner Klassiker der Sozialwissenschaft“. Auch wenn eine solche Titulierung inflationäre Assoziationen weckt – im Falle des Behemoth erhalten sie konkreten Sinn: In jedem der drei Hauptkapitel, in denen die „Struktur und Praxis des Nationalsozialismus“ analysiert wird, wird ein Grundproblem der modernen Gesellschaftsanalyse gleichsam durchexerziert. Im ersten Teil geht es um die Funktion der Ideologie für die Entstehung und Aufrechterhaltung von politischen Herrschaftssystemen; im zweiten Teil wird das Wirtschaftssystem durch den Konflikt zwischen kapitalistischer Verwertungslogik und staatlicher Kontrolle charakterisiert; und der dritte Teil zieht daraus die soziologische Konsequenz: die moderne Gesellschaft ist für Franz Neumann gleichzeitig Klassengesellschaft und polykratisches Herrschaftssystem, d.h. einer widersprüchlichen Dynamik ausgesetzt, die eine totalitäre oder eine demokratische Richtung nehmen kann.

Im dritten Diskursfeld zeichnet sich eine verstreute, aber international geführte Debatte ab, in der besonders die kapitalismustheoretischen Leitideen des Behemoth wieder aufgegriffen werden. In ihrem Zentrum steht die – auch von Franz Neumann selbst nicht eindeutig beantwortete – Frage nach dem Verhältnis von Politik und Ökonomie in der modernen Gesellschaft: Kann es im Kapitalismus den „Primat der Politik“ überhaupt geben? In diesen neueren Diskussionen um den Begriff des „Staatskapitalismus“ (Friedrich Pollock) und die totalitarismustheoretischen Überlegungen von Hannah Arendt ist die Stimme Neumanns stets vernehmbar. Er schlüpft hier gewissermaßen in die Rolle der „grauen Eminenz“, der bekanntlich eine Autorität besonderer Art zukommt.2

Diesen unterschiedlichen Diskursebenen entsprechen die hier versammelten Beiträge.

Das erste Kapitel von Alfons Söllner, eine Wiederaufnahme des Vorworts zur Neuausgabe des Behemoth, ist eine biographische Skizze und macht den Versuch, Franz Neumann als „political scholar“, als exemplarischen Vertreter der politischen Emigration aus Hitler-Deutschland kenntlich zu machen –, der Behemoth erscheint hier als das geballte Resultat einer politisch wie wissenschaftlich hochsignifikanten Lebensgeschichte.

Das zweite Kapitel von Michael Wildt untersucht die Rolle, die der Behemoth für die Entwicklung der Nationalsozialismusforschung eingenommen hat. Diese aktualisierte und erweiterte Fassung des Nachworts zur Neuausgabe des Behemoth fokussiert in besonderer Weise auf die Bedeutung Neumanns in der gegenwärtigen Forschungsdiskussion, die auf die „neue Staatlichkeit“ (Rüdiger Hachtmann) des Nationalsozialismus abhebt.

Der dritte Text ist ein Rezensionsessay von Hubertus Buchstein zur deutschen Neuauflage des Behemoth. Buchstein, Politikwissenschaftler an der Universität Greifswald und Herausgeber der kürzlich erschienenen sechsbändigen Gesamtausgabe von Neumanns Weggefährten Otto Kirchheimer, gibt instruktive Hinweise auf die nicht leicht fassbaren Entstehungszusammenhänge des Buches, macht aber auch deutlich, dass Franz Neumann immer noch aktuell genug ist, um eine lebhafte Polemik auszulösen.

Der vierte Text stammt von dem prominenten US-amerikanischen Wirtschaftshistoriker Peter Hayes. In diesem erstmals ins Deutsche übersetzten Beitrag, der 2009 als Vorwort zur amerikanischen Neuausgabe des Behemoth erschienen ist, wägt Peter Hayes mit argumentativer Sorgfalt Neumanns Einsichten in die Herrschaftsform des Nationalsozialismus gegen sein Verhaftetbleiben in zeittypischen marxistischen Denkmustern ab und zeigt zugleich, wie anregend und nachhaltig derartige Ambivalenzen sowohl inner- wie außerhalb der deutschsprachigen Debatte gewirkt haben.

Alfons Söllner / Michael Wildt

Mai 2023

Alfons Söllner

Franz L. Neumann – ein ideengeschichtliches Portrait

Im Frühjahr 1952 veranstaltete die University of Pennsylvania in Philadelphia, also abseits von den akademischen Zentren der USA, eine Vorlesungsreihe, aus der weit mehr hervorging als ein zufälliges Gelegenheitsprodukt aus der Nachgeschichte des Exils. Zusammen mit anderen „big shots“ der Emigration, wie Erwin Panofsky und Paul Tillich, lieferte der amerikanische Politikwissenschaftler Franz L. Neumann, der den trockenen Gestus des deutschen Juristen nie ganz abgelegt hatte, ein wahres Feuerwerk von historischen, soziologischen und kulturtheoretischen Einfällen, die ganz unvermutet zu einem existentiellen Bekenntnis zusammenschossen.1 Was gleichzeitig eine wissenschaftsgeschichtliche Standortbestimmung und eine politische Selbstreflexion war, wurde dadurch so beredt, dass Neumann seine eigene Lebensgeschichte als Anschauungsbeispiel verwendete, um einen ganz bestimmten Typus von Wissenschaftler zu charakterisieren.

Neumann nennt diesen Typus den „political scholar“ und erläutert seine Gestalt zunächst an einer historischen Skizze des politischen Exils von Ovid über Dante und Marsilius von Padua bis zu Spinoza und Karl Marx, um dann auf seinen eigenen akademischen Werdegang zu sprechen zu kommen. Er erinnert sich, wie er als Student der Rechtswissenschaft die Erfahrung machen musste, dass die in der Tradition Humboldts stehenden deutschen Professoren mehrheitlich politisch „reaktionär“ und antisemitisch waren, somit aktiv an der Zerstörung der ersten deutschen Demokratie beteiligt. Dieses Erlebnis hatte ihn während des Regimewechsels vom Kaiserreich zur Weimarer Republik sozusagen „politisch erweckt“. Dennoch blieb er während des Studiums primär den deutschen Traditionen des Idealismus und Historismus ausgesetzt und war somit auf eine Mischung aus Theoriegläubigkeit und historischem Relativismus fixiert, die auch der Reformismus der Arbeiterbewegung bei aller Orientierung am Marxismus nicht überwinden konnte. Diese Haltung kam erst in die Krise, als die deutschen Emigranten sich in das ganz andere amerikanische Wissenschaftssystem einpassen mussten.

Um mit dem bedrängenden Kulturschock fertig zu werden, boten sich drei prinzipielle Möglichkeiten an, die Neumann typologisch ausbuchstabiert2: Der emigrierte Wissenschaftler kann sich der neuen Welt entweder umstandslos anpassen und seine Herkunftswelt verleugnen; oder er kann an seiner Herkunft starr festhalten und sich der neuen Welt verweigern; am produktivsten aber findet Neumann eine dritte Haltung, die er deswegen auch normativ auszeichnet. Sie besteht im Versuch der Synthese zwischen der alten und der neuen Welt, die freilich auch eine besondere Herausforderung bleibt. Dieser Wissenschaftler, wie ihn Neumann fordert, kann sich weder aus der Theorie noch aus der Politik davonstehlen, er darf weder von der Realität der Macht noch von der Macht der Ideen absehen, er wird den Dämon, von dem Max Weber die Politik beherrscht sah, in seine Seele einlassen, um ihn mit den Mitteln der Wahrheit zu besiegen.

Das aber birgt ein hohes Risiko: Weil der „political scholar“ vom theoretischen Denken ebenso wenig lassen kann wie vom politischen Handeln, ist seine Existenz bis ins Innerste geprägt durch den Konflikt mit den Herrschenden der jeweiligen Gesellschaftsordnung. Sein Lebensnerv ebenso wie seine soziale Funktion besteht in der Kritik der bestehenden Verhältnisse, und das kann im Zeitalter der totalitären Diktaturen auf seine Verfolgung, im Extremfall auf die physische Auslöschung hinauslaufen. Und auch wenn die aktuelle Erfahrungslage sich aufgehellt hat und die Weltverhältnisse wenigstens zu einem „kalten Krieg“ stabilisiert scheinen – hintergründig spielt Neumann mit dem Umkehrschluss: Ein Intellektueller, der in Frieden mit den Herrschenden leben will, hat sich seiner wahren Mission bereits begeben. Und das gilt eben nicht nur für die Diktatur, sondern auch für die Demokratie.3

Der folgende Essay skizziert den Lebensweg von Franz Neumann in politik- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive und will gleichzeitig exemplarisch herausarbeiten, welche Faktoren an der Herausbildung des „political scholar“ im 20. Jahrhundert mitgewirkt haben. Der Aufriss der vier Stationen – Arbeitsrechtler in der Weimarer Republik; politischer Exilant in London und New York; Kampf gegen Hitler während und nach dem Zweiten Weltkrieg; Politikprofessor in New York und Berlin – muss vor allem eines vermeiden: die finalistische Glättung einer ebenso rasanten wie kurvenreichen Lebensgeschichte, die durch große Erfolge, aber auch durch Enttäuschungen und Widersprüche geprägt war. Wenn sich dennoch unverwechselbar herauskristallisieren wird, was man Neumanns „Identität“ nennen kann, so sagt dies ebenso viel über einen starken, den widrigen Verhältnissen trotzenden Charakter wie über die Gründe und Abgründe, von denen das 20. Jahrhundert, die deutsche Zeitgeschichte zumal, geprägt war.4

Arbeitsrecht und Wirtschaftsdemokratie – reformistische Politik in der Weimarer Republik

Eine exponierte Karriere war Franz Neumann nicht in die Wiege gelegt und zeichnete sich doch bald ab. Im Jahr 1900 im schlesischen Kattowitz geboren und in einer jüdischen Handwerkerfamilie aufgewachsen, entfernte er sich rasch von seinem Herkunftsmilieu und nahm mit 18 Jahren das Studium der Jurisprudenz auf, zuerst in Breslau und dann in Leipzig. Im Revolutionswinter beteiligte er sich dort am Barrikadenkampf der revolutionären Soldaten und Arbeiter, schlug sich dann aber nicht auf die Seite der Rätedemokratie, sondern sah seine politische Zukunft bei der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften. Damit wurde auch die berufliche Ausrichtung seines juristischen Studiums erkennbar, das er in Rostock fortsetzte und 1923 in Frankfurt am Main mit einer Promotion abschloss.5

Die Schnelligkeit, mit der Franz Neumann sich in der keineswegs schon gefestigten Berufswelt nach dem Ersten Weltkrieg zurechtfand, mag mit seinem Aufstiegswillen zu tun gehabt haben, erstaunlich bleibt die Zielsicherheit, die einen jungen Mann aus der östlichen Provinz genau dort „andocken“ ließ, wo eines der interessantesten Reformprojekte der Weimarer Republik Gestalt annahm: die Entwicklung eines modernen Arbeitsrechts und dessen Ausgestaltung zur Wirtschaftsdemokratie. Noch während er seine Referendarzeit absolvierte, wurde Neumann Assistent bei Hugo Sinzheimer, der bereits 1919 im Verfassungsausschuss bei der Neuregelung der Arbeitsverhältnisse Pate gestanden hatte und jetzt an der Frankfurter Universität Arbeitsrecht lehrte. Hier und in der benachbarten „Akademie der Arbeit“ tat sich ein Wirkungsfeld auf, das gleichzeitig eine politische Gesinnungsgemeinschaft und ein höchst produktiver Arbeitszusammenhang war, aus dem später so kantige Männer hervorgingen wie Ernst Fraenkel und Otto Kahn-Freund.

In diesem Kreis erwies sich Franz Neumann rasch als einer der kreativsten und wendigsten Köpfe. Hat man Hugo Sinzheimer als den „Vater des Weimarer Arbeitsrechts“ bezeichnet, so erwies sich sein Schüler als der Jungpionier, der dieses juristische Fachgebiet nicht nur verfassungsrechtlich und rechtsdogmatisch präzisierte, sondern auch auf neue Detailfragen wie das Arbeitsvertrags- und Tarifrecht, die Stellung der Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgebern, die Kartell- und Monopolkontrolle und die normsetzende Rolle der Rechtsprechung ausdehnte.

Maßgeblich für Neumanns frühe Sichtbarkeit war nicht zuletzt, dass seine Tätigkeit zu gleichen Stücken praktisch ambitioniert und theoretisch munitioniert war: Seit Mitte der 20er Jahre ist Neumann in den einschlägigen Fachzeitschriften präsent, im Jahr 1928 wird er Syndikus der Bauarbeitergewerkschaft in Berlin und eröffnet ein Anwaltsbüro zusammen mit Ernst Fraenkel, der seinerseits die Rechtsvertretung der Metallarbeitergewerkschaft übernimmt.

Vielleicht versteht man das enorme Selbstbewusstsein und den Zukunftselan dieser beiden Männer am besten, wenn man sich vorstellt, wie sie ab 1930 am Halleschen Ufer im hochmodernen Gewerkschaftshaus „residierten“, das der Bauhausarchitekt Erich Mendelsohn entworfen hatte. Von hier aus führte Neumann etliche Schlüsselprozesse bis hinauf zum 1927 eingerichteten Reichsarbeitsgericht in Leipzig, beteiligte sich also, immer an der Seite der Gewerkschaften, an der Rechtsfindung durch die Justiz oder formulierte sogar Vorlagen für Gesetzentwürfe. Gleichzeitig legte er eine geradezu explodierende Publikationstätigkeit an den Tag, die sich jetzt von den Spezialthemen löste und sowohl juristisch wie politisch ins Allgemeinere ausgriff: „Die politische und soziale Bedeutung der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung“ (1929); „Die soziale Bedeutung der Grundrechte in der Weimarer Verfassung“ (1930); „Über die Voraussetzungen und den Rechtsbegriff einer Wirtschaftsverfassung“ (1931); „Koalitionsfreiheit und Reichsverfassung“ (1932) – so lauteten jetzt die Titel seiner Aufsätze und Broschüren, von denen die letztere Buchlänge hatte und u.a. im Seminar von Carl Schmitt diskutiert worden war.6

Die Öffnung des juristischen Diskurses hin zu Fragen der Sozialpolitik war natürlich keine Erfindung von Neumann und seinen Mitstreitern, sondern dem Arbeitsrecht von Anfang an inhärent. Wie Hugo Sinzheimer, der sich seinerseits auf die Studien des Österreichers Karl Renner berief, schon vor 1918 gefordert hatte, war die rechtliche Regulierung der Lohnarbeit ein zentrales Ziel der politischen Arbeiterbewegung gewesen und damit ein langfristiges Projekt, das der marxistischen Kritik am Kapitalismus entsprang und untrennbar mit dem Fernziel einer sozialistischen Gesellschaft verbunden war.7 Neu und vielversprechend war aber die Konstellation, die sich durch die vergleichsweise starke Stellung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften ergeben hatte: Sie hatten, gestärkt auch durch die Niederschlagung der Novemberrevolution, bei der Aushandlung der Weimarer Verfassung weitreichende politische und soziale Grundrechte durchsetzen können.

Wenn man den Weimarer Reformismus insgesamt durch seine legalistische Strategie charakterisieren kann, d.h. durch den Glauben, dass die Rechtsform das geeignete Instrument zur Herbeiführung des Sozialismus sei, so steckte darin nichts weniger als eine geschichtsphilosophische Heilserwartung. Es ist von einiger Bedeutung, sowohl den Voraussetzungen wie den Folgen dieser Utopie im zeitgeschichtlichen Horizont nachzuspüren. Der Weimarer Reformismus setzte primär – und unterschied sich genau damit von der „permanenten Revolution“ der Kommunisten (Trotzki) – auf den progressiven Ausbau des Rechtsstaates, er sah in der Rechtsform die historische „Dialektik von politischer und sozialer Demokratie“ in Gang gesetzt und brach damit der marxistischen Geschichtsauffassung, die nach wie vor die Leitideologie auch der Sozialdemokratie war, gleichsam die Spitze ab. Sie war reformorientiert, blieb aber eben auch in den „historischen Block“ der bürgerlichen Klassengesellschaft eingebunden, wie Antonio Gramsci es genannt hat.

Neumanns wissenschaftliche und politische Anfänge in der Weimarer Republik passten sich in diese Konstellation ein, wobei man jedoch den ebenfalls von Gramsci geprägten Begriff des „organischen Intellektuellen“ nicht umstandslos auf ihn anwenden sollte. Der Aufbau des Arbeitsrechts ebenso wie die Idee der gewerkschaftsgebundenen Wirtschaftsdemokratie entsprachen sicherlich eher den zentristischen, wenn nicht den konservativen Kräften innerhalb der Arbeiterbewegung8, doch stechen an Neumanns Beiträgen zu diesen Politikfeldern, die gewiss gesellschaftspolitisch hochsignifikant waren, vor allem zwei Eigenschaften hervor: Sie enthalten sich großenteils der ideologischen Begründung aus dem Fundus der marxistischen Weltanschauung, und sie sind dementsprechend über weite Strecken rein technisch-juristisch gehalten, was als ihre Stärke gemeint war, aber sich bald als Schwäche erweisen sollte.

So ist z.B. Neumanns Situationsanalyse im Krisenjahr 1929 immer noch in die nüchterne Formel gepackt, es sei „die rechtliche Formulierung für eine Situation zu finden, die nicht mehr rein kapitalistisch, aber auch nicht sozialistisch ist“.9 In diesem Zwischenreich, das mehr ein logischer Ermöglichungsraum als ein realpolitischer Handlungsraum war, sah er die Hoffnungen angesiedelt, die sich mit der Institutionalisierung und der rechtlichen Ausgestaltung der Wirtschaftsdemokratie verbanden. Als seine Grundpfeiler sollten die freien Gewerkschaften auf der einen Seite, die großen Wirtschaftsverbände auf der anderen Seite fungieren, die paritätisch, aber unter strenger Aufsicht des Staates die sozialen Machtverhältnisse zugunsten der Arbeiterschaft umgestalten sollten. Mehr oder weniger ausgespart war dabei, wie sehr die tatsächlichen Wirtschaftsstrukturen längst in Richtung auf Monopol- und Kartellbildung verändert, wie schwach also die Arbeiterorganisationen bereits waren, bevor sie von den dramatischen Turbulenzen der Weltwirtschaftskrise erfasst wurden. Es war bekanntlich die Unlösbarkeit der wirtschaftspolitischen Konflikte, die den schon vorher bemerkbaren republikfeindlichen Tendenzen Oberwasser verschafften und ihnen dann ab 1930 zum Durchbruch im Staatsapparat selber verhalfen.

Man kann die politische Arglosigkeit, wenn nicht die Selbsttäuschung der Reformstrategen am Ende der Weimarer Republik recht gut durch eine Anekdote erläutern. Franz Neumann hatte 1930 auf die pessimistische Krisendiagnose der Weimarer Verfassung, die sein jungsozialistischer „Genosse“ Otto Kirchheimer vorgelegt hatte, negativ reagiert: Vordringlich sei nicht die marxistische Kritik des gegebenen Staates, vielmehr sei es „die zentrale Aufgabe der sozialistischen Staatstheorie, den positiven sozialen Gehalt des zweiten Teils der Weimarer Verfassung zu entwickeln und konkret darzustellen. […] Wenn Kirchheimer in seiner Überschrift, die sehr stark kommunistischen Gedankengängen nahekommt, ‚Weimar – und was dann?‘ fragt, dann kann die Antwort nur lauten: ‚Erst einmal Weimar‘!“10

Franz Neumann hat diese defensive Haltung in wirtschaftspolitischen Dingen lange beibehalten, während sich Kirchheimer bekanntlich seit 1930 daran machte, das ganze Ausmaß der antidemokratischen Reaktion zu dokumentieren: In der Justizpraxis ebenso wie im akademischen Staatsrecht, in der Verselbständigung der Bürokratie gegenüber dem Parlament ebenso wie im Notverordnungsregime des Reichspräsidenten sah er Kräfte am Werke, die das Legalitätsgerüst der Weimarer Republik unterminierten und auf einen autoritären Staat hinarbeiteten.11 Erst als Neumann 1932 neben seiner Gewerkschaftsarbeit zusätzlich als Syndikus der SPD tätig wurde, positionierte er sich in der größeren politischen Öffentlichkeit und ergriff Partei z.B. gegen die Einschränkungen der Pressefreiheit.12

Im Exil: Radikalisierung der Theorie und Analyse des Nationalsozialismus

Die Machtergreifung Hitlers erlebte Franz Neumann als Schock. Jetzt war er so exponiert, dass er sofort in den Fokus der nationalsozialistischen Verfolgung geriet. Als am 2. Mai 1933 SA-Schergen sein Büro im Kreuzberger Gewerkschaftshaus stürmten, entging er nur knapp der Verhaftung und machte sich wenig später auf den Weg nach London. Wieder ist es erstaunlich, wie schnell er sich im englischen Exil zurechtfand: Neumann hielt sich nicht lange mit der schmerzlichen Zerstörung seines beruflichen Wirkungsfeldes auf, vielmehr nutzte er seine wohl schon vorher bestehenden Beziehungen zur englischen Labour-Party, um sich neu zu orientieren. Durch die Vermittlung von Harold Laski erhielt er ein Stipendium und begann ein Promotionsstudium an der London School of Economics, in dem sich seine bisherigen Erfahrungen in Deutschland im angelsächsischen Wissenschaftssystem sozusagen zu spiegeln begannen. Vorher Gegner jedes politischen Radikalismus, verwandelte sich der deutsche Gewerkschaftsjurist nicht nur in einen fulminanten Kritiker des Hitler-Regimes, sondern stürzte sich atemlos in die theoretische Arbeit. Er nutzte das Exil für eine grandiose Ausweitung der theoretischen Perspektive.

Bereits im Herbst 1933 war Neumann mit einem englischen Aufsatz hervorgetreten, der den „Decay of German Democracy“ mit dem Ausdruck der Verzweiflung konstatierte und dabei sowohl analytisch aufs Ganze ging als auch mit herber Selbstkritik nicht sparte. Es folgte eine Reihe von Interventionen und Pamphleten, die unter dem Pseudonym „Leopold Franz“ nach Deutschland eingeschmuggelt wurden, um den Widerstand gegen Hitler zu unterstützen. Das interessanteste von ihnen ist eine kleine, aber scharfgeschnittene Geschichte der deutschen und europäischen Gewerkschaftsbewegung, die mit einer knappen eigentumsrechtlichen