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Mathias Lindenau

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Beschreibung

"Modeschriftsteller werde ich keiner", Landauer an Alfred Moos, 22. Januar 1891 Gustav Landauer (1870–1919) war Literaturkritiker, Publizist und Dramaturg, Herausgeber und Übersetzer, Essayist und Vortragsredner sowie Mandatsträger der ersten Münchner Räterepublik. Gehasst wurde Landauer vor allem als politische Figur, die sich nicht nur den Anfeindungen der Staatsmacht und der SPD ausgesetzt sah, sondern auch innerhalb der deutschen anarchistischen Bewegung ein Außenseiter blieb. Mathias Lindenau unternimmt es, einige Facetten seines umfangreichen OEuvres zu beleuchten, und macht plausibel, dass sich Landauers politisches Konzept als republikanischer Anarchismus verstehen lässt, der eine Änderung im Bewusstsein jedes einzelnen bewirken möchte. Landauer fordert deshalb von den Bürgerinnen und Bürgern, Verantwortung für das gesellschaftliche Zusammenleben zu übernehmen sowie individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit nicht als Gegensätze zu begreifen, sondern gleichermaßen zu verwirklichen. Diese Überlegungen haben nichts von ihrer Inspiration und Anziehungskraft verloren.

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Mathias Lindenau

ad Gustav LandauerHomme de lettresund Edelanarchist

Zum Andenken an den FreundGünter Zenner(1949–2020)

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book (EPUB)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2023

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

Alle Rechte vorbehalten.

EPUB: ISBN 978-3-86393-649-5

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

ISBN 978-3-86393-156-8

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de

Für Inhalte Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Inhalt

Zur Einführung

Biographische Skizze

Rezeption seines Werkes

Zur Konzeption des Buches

Sozialismus als Kulturbewegung

Politische Anthropologie und (Selbst-)Bildung

Kunstschaffende als Avantgarde

Sprache – der neue Mosesstab

Republikanischer Anarchismus

Utopie und fortwährende Revolution

Staat und Zusammenleben

Republikanischer Anarchismus

Zur Aktualität Landauers

Anmerkungen

Literatur

Zur Einführung

„Ich glaube, daß ich etwas unüblich bin und in kein Schubfach hineinpasse, kommt daher, daß ich weder ein Agitator noch ein Dichter bin, sondern eine Synthese von beiden, die keinen Namen hat; die dichterischen Elemente werden wohl da sein. Aber da ist etwas, das nicht Dichter sein will.“1

Biographische Skizze

Auch wenn Gustav Landauer (1870–1919) sich selbst in kein Schema pressen ließ, hinderte dies andere nicht, ihn einordnen zu wollen: als „Den heimlichen Führer“ (Martin Buber), „Mystiker“ (Gertrud Schaeder) und „Kultursozialisten“ (Wolf Kalz), aber auch als „revolutionären Romantiker“ (Eugen Lynn), „ethischen Anarchisten“ (Anna Wołkowicz) „konservativen Revolutionär“ (Michael Matzigkeit) und gar als „militanten Anarchisten“ (Michael Löwy). Die je nach Standpunkt des Bewertenden unternommenen Kategorisierungsversuche weisen darauf hin, wie schwer die Persönlichkeit Landauers zu fassen ist, wenn ihm weder mit vernichtender Kritik noch mit kritikloser Verehrung begegnet werden soll. Ernst Simon, ein Weggefährte Landauers, befürchtete schon kurz nach seinem Tod eine Vernebelung Landauers entweder als „reinen Dulder“ oder als „unpraktischen Schwärmer“ – beides werde ihm nicht gerecht.2 Auch sein Freund Erich Mühsam wies auf die Gefahr der Verklärung hin: „Noch einmal: wer Gustav Landauer im härenen Gewande zeichnet mit dem friedseligen Schmachtblick des Versöhners, der fälscht sein Bild. Nur wer ihn als Kämpfer sieht, als rücksichts- und furchtlosen Kämpfer, gefällig zwar und milde und von gütiger Heiterkeit im täglichen Umgang, aber unduldsam, hart und eigenwillig bis zum Hochmut überall, wo es um Entscheidendes ging, der sieht ihn wie er war.“3

Wer war Gustav Landauer? Die folgende knappe Lebensbeschreibung soll eine erste Annäherung ermöglichen.

Gustav Landauer,4 glänzender Vortragsredner, brillanter Wortakrobat und vom politischen Gegner als bissiger Rhetoriker gefürchtet, war in vielen Bereichen tätig: als Literaturkritiker, Publizist und Dramaturg, Herausgeber und Übersetzer, Essayist und Vortragsredner sowie als politischer Agitator und Mandatsträger der ersten Münchner Räterepublik. Als drittes Kind einer assimilierten jüdischen Familie wuchs Landauer wohlbehütet im kleinbürgerlichen Milieu von Karlsruhe auf, unberührt von den sozialen Verwerfungen seiner Zeit. Schon früh entwickelte Landauer eine lebenslange Leidenschaft für Theater, Musik und vor allem Literatur; die Gedankenwelten Spinozas, Goethes, Fichtes, Lessings, Heines, Schopenhauers, Hölderlins und anderer zogen ihn in ihren Bann.5 Das sich hier herausbildende Literarisch-Ästhetische begleitete ihn durch sein gesamtes Schaffen; die Literatur war die Innenseite seiner Politik.6 Die Lektüre der sozialkritischen Dramen Henrik Ibsens bewegte den jugendlichen Landauer dazu, „die reale Grundlage, die Gesellschaft und ihre Häßlichkeit nicht zu ignorieren, sondern zu gewahren und zu kritisieren und ihr den Aufruhr und Kampf des Einzelnen entgegenzustellen“.7Aus seinen Lektüren zog er die Kraft, sich mit seinem Vater über die Berufswahl zu streiten oder dem Widerstand von den Eltern seiner Freundin gegen ihre Beziehung selbstbewusst zu begegnen. Es war zu dieser Zeit also nicht soziales Mitgefühl mit den Notleidenden, das Landauer umtrieb, sondern die Grenzen der kleinbürgerlichen Lebenswelt und der Kadavergehorsam der wilhelminischen Gesellschaft, gegen die er, begeistert von Nietzsches scharfer Kultur- und Moralkritik, aufbegehrte.

Als er ab 1889 Germanistik, Kunstgeschichte, Philosophie und Neuere Philologie in Heidelberg, Straßburg und Berlin studierte, trat an die Stelle der Unzufriedenheit mit der wilhelminischen Gesellschaft die „Suche nach einer menschlichen Gemeinschaft freier und gleichberechtigter Menschen in einer dezentralen und föderal vernetzten Welt“.8 Insbesondere Berlin wurde zu der Stadt, in der sich Landauer politisierte. Hier schärfte sich sein Blick für die sozialen Gegensätze seiner Zeit. Rückblickend schrieb Landauer über die Beweggründe, sich der Arbeiterbewegung anzuschließen: „Bei mir wenigstens ist es vor allem der Ekel über die Menschheit, die mich umgibt, der Zorn über die Bequemlichkeit der Privilegierten, die es aushalten, ihr Glück auf die Trümmer verunglückter Existenzen und verkümmerter Wesen gebaut zu sehen.“9 In Berlin fand er Kontakt zur Sozialdemokratie und Zugang zum sozial- und lebensreformerischen Friedrichhagener Dichterkreis, der die Aufhebung der Grenzen zwischen Kunst und Leben propagierte. Hier und durch seine Mitgliedschaft in der Freien Volksbühne machte er Bekanntschaft mit der Oppositionsgruppe der Jungen innerhalb der SPD, die Friedrich Engels als „Literaten- und Studentenrevolte in unsrer deutschen Partei“10 brandmarkte. Landauer suchte nach Wegen, Kunst und Politik zu verbinden, und entwickelte seine Ideen zu dieser Zeit allenfalls marginal an den Klassikern des Anarchismus wie Kropotkin, Bakunin oder Proudhon, sondern vorrangig in der Beschäftigung mit literarischen Texten.11 Das dürfte auch ein Grund dafür sein, dass Landauer der Kultur stets eine herausragende Rolle in der Verwirklichung der neuen Gesellschaft zuerkannte.

Anfangs war Landauer noch Sympathisant Marxscher Revolutionsvorstellungen und von einer „Revolutionsromantik“12 getrieben: Er „war eben von den Ideen des Sozialismus gepackt worden, lief in alle Arbeiterversammlungen, hatte eine grenzenlose Begeisterung für das Proletariat und glaubte, die Stunde der Befreiung, eine unerhörte Revolution, könne jeden Augenblick hereinbrechen“.13 Aufgrund der starren hierarchischen Parteistruktur der SPD wandte sich Landauer dem 1892 von der SPD abgespaltenen Verein unabhängiger Sozialisten zu, deren Mitglied er schließlich wurde, und begann sich im Lauf der Zeit zum Anarchisten zu entwickeln. Was den Anarchismus für Landauer attraktiv machte, war nicht dessen individuelle, kommunitäre oder kommunistische Programmatik, sondern die Betonung der Freiheit als höchsten Wert: individuell, kulturell, sozial und auch politisch. Mit revolutionärem Ungestüm begann Landauer den Kampf für seine Sache. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde er deshalb mit Etikettierungen wie „Anarchistenhäuptling Landauer aus Berlin“14 oder „Akademiker der Unbotmäßigen“15 versehen. Landauer selbst bezeichnete sich als Anarcho-Sozialisten, da für ihn kein Gegensatz zwischen Anarchismus und Sozialismus bestand: „Anarchismus ist nur ein anderer in seiner Negativität und besonders starken Mißverständlichkeit weniger guter Name für Sozialismus.“16 Unter seinem Einfluss als Redakteur und Herausgeber wandelte sich die den Jungen nahestehende Wochenzeitschrift Der Sozialist ab 1893 zum Sprachrohr der anarchistischen Bewegung und avancierte zum wichtigsten Presseorgan der Anarchisten in Deutschland. Landauer ging es in der inhaltlichen Ausrichtung des Blattes um einen politisch engagierten Journalismus. Darüber hinaus wollte er ganz allgemein Bildung vermitteln und dem Theoriedefizit innerhalb der anarchistischen Bewegung entgegenwirken. Sein verstärktes öffentliches Auftreten mit über 100 Auftritten während seines gesamten Wirkens, zumeist in Versammlungen der Arbeiterbewegung, verschaffte ihm neben zunehmender Bekanntheit auch die Aufmerksamkeit der politischen Polizei, die ihn aufgrund seiner rhetorischen und schriftstellerischen Fähigkeiten als einen gefährlichen Agitator einstufte. Er musste wiederholt wegen seiner scharfen Kritik an der Staatsgewalt ins Gefängnis.

An den hitzigen Auseinandersetzungen zwischen Anarchisten und Sozialdemokraten nahm Landauer aktiv teil. Landauer vertrat hierbei nicht nur die anarchistische Auffassung, dass durch den bestehenden Parlamentarismus keine Verbesserung der wilhelminischen Herrschaft zu erreichen sei; er wandte sich auch scharf gegen die selbsterklärte Monopolstellung der SPD mit ihrem Anspruch, den Sozialismus in seiner Gesamtheit zu vertreten. Ebenso scharf verurteilte er die von August Bebel betriebene Polemisierung gegen das „Überläufertum aus der Bürgerklasse“,17 um kritische Stimmen aus der Partei zu entfernen. Bebels Initiative erreichte schließlich den Ausschluss der Anarchisten aus der II. Internationalen. Als Delegierter der beiden Sozialistenkongresse in Zürich 1893 und London 1896 zog Landauer mit seinen heftigen Attacken gegen die deutsche Sozialdemokratie den Zorn Bebels auf sich. Der mächtige Parteivorsitzende versuchte Landauer mit seiner Bemerkung zu diffamieren, er rede wie ein Polizeispitzel, und erklärte in der sozialdemokratischen Zeitschrift Vorwärts, dass er es für unter seiner „Würde halte, auf diesen bubenhaften Angriff eines unzurechnungsfähigen Fanatikers gebührend zu antworten“.18 Immer wieder wurde Landauer im Vorwärts als opportunistischer Literat verspottet, der nichts im ernsten Geschäft der Politik zu suchen habe. Diese Erfahrungen festigten Landauers Ablehnung der Sozialdemokratie und bestärkten ihn darin, einen anderen Weg jenseits des doktrinären Parteisozialismus zu suchen. Die SPD verkörperte für ihn nichts anderes als autoritäre Herrschaft im linken Gewand.

Landauer sah sich aber auch genötigt, den unter Anarchisten geforderten Terror als Mittel des Befreiungskampfes scharf zu kritisieren. Zwar brachte Landauer anfangs noch ein gewisses Verständnis für Paul Brosses „Propaganda der Tat“ auf und deutete sie als logische Konsequenz des politischen Kampfes (wie sein Verteidigungsversuch des Attentats durch den französischen Anarchisten Ravachol zeigte). Wenig später sprach er sich jedoch konsequent gegen politische Morde und ihre Verharmlosung seitens der Anarchisten aus: „Hüten wir uns, bei unseren ‚Anhängern‘ hinzunehmen, was uns bei unseren Feinden widerwärtig und verhaßt ist.“19 In seinem Artikel Anarchische Gedanken über den Anarchismus markierte Landauer die Differenz unmissverständlich: „Das ist der Grundirrtum der revolutionären Anarchisten, den ich lange genug mit ihnen geteilt habe, dass sie glauben: das Ideal der Gewaltlosigkeit auf dem Wege der Gewalt erreichen zu können.“ Aber das sei eine Selbsttäuschung. Denn: „Die Anarchisten müssten einsehen: Ein Ziel lässt sich nur erreichen, wenn das Mittel schon in der Farbe dieses Zieles eingefärbt ist. Nie kommt man durch Gewalt zur Gewaltlosigkeit.“ Denn jede – auch die anarchistische – Gewalt sei Ausdruck von Despotie oder Autorität.20

Politische Veränderung, das stand für Landauer außer Frage, sollte durch ein künstlerisches Schaffen im Dienst der Menschen befördert werden: „Für mich ist das alles ein Ding: Revolution-Sozialismus-Menschenwürde-Erneuerung und Wiedergeburt-Kunst und Bühne.“21 Dabei wies Landauer dem Theater eine besondere Bedeutung zu. Dort erreiche Kunst die Menschen, bilde sie und im Theater manifestiere sich das Ineinandergreifen von Kunst und Gesellschaftskritik. So verwundert es kaum, dass Landauers Leidenschaft für das Theater und seine politische Auffassung ihn dazu bewegten, sich zunächst als Mitglied der Freien Volksbühne, später dann als Mitbegründer der Neuen Freien Volksbühne in Berlin zu engagieren. Hier traf er auf Bruno Willes Vorstellung einer Volksaufklärung und -bildung zum Sozialismus, in der die Intellektuellen die Funktion der geistigen Bildung für die Massen übernahmen, um die wilhelminische Gesellschaft zu liberalisieren und zu reformieren. Keinesfalls sollte diese „Sozialaristokratie“22 eine soziale Stratifikation nach sich ziehen. Während Landauer dieser avantgardistischen Ausrichtung anfangs zögerlich gegenüberstand und dem Klassenkampf des Proletariats oberste Priorität einräumte, näherte er sich in den 1890er Jahren der sozialaristokratischen Position an. Landauer schenkte der Problematik des Elitären der sozialaristokratischen Position keine Beachtung, sondern begriff die Avantgarde der Kunstschaffenden nur in ihrer Funktion als Vorkämpferin für die Idee der Volksbildung, die für ihn zentral wurde. Im Zuge dessen war Landauer davon überzeugt, durch das Theater einen erzieherischen Wandel beim Proletariat initiieren zu können.23 Die sich hier abzeichnende Verbindung von künstlerischem Schaffen und Politik fand ihren Ausdruck in seiner Vorstellung vom Sozialismus als einer Kulturbewegung, die vom Individuum ihren Ausgang nimmt.

Entsprechend vertraute Landauer nicht auf einen „wissenschaftlichen“ Sozialismus, der mit naturgesetzlicher Notwendigkeit eintreten und allein durch die Neuausrichtung der bestehenden politischen Institutionen die gesamte Gesellschaft transformieren würde. Stattdessen vertrat er einen Sozialismus, der jederzeit mit kleinen Anfängen und Experimenten möglich war, wenn Menschen ihn tatsächlich wollen. Immer wieder suchte Landauer nach Möglichkeiten, seine Überlegungen zu realisieren. Er war von dem Gedanken der unmittelbaren Verwirklichung so beherrscht, dass er nicht müde wurde, für Vergemeinschaftungen zu werben, in immer neue Gemeinschaften einzutreten oder solche gar selbst zu gründen. Die Veränderung des Zusammenlebens war nach seiner Auffassung am besten durch die Bildung von Kleingruppen zu bewirken. Deshalb engagierte sich Landauer für die Gründung der ersten Berliner Arbeiterkonsumgenossenschaft, mit dem Ziel, ökonomische Macht zu erringen und experimentelle Möglichkeiten für den Sozialismus zu schaffen.24 Allerdings blieb er erfolglos, die Berliner Arbeiterschaft großflächig für diese Idee zu gewinnen.

Maßlos enttäuscht vom mangelnden Willen der Arbeiterschaft zum Kultursozialismus wandte Landauer sich nun den Intellektuellen zu, die eine Vorbildfunktion für die Massen einnehmen und mit der Verwirklichung des Sozialismus beginnen sollten. Diese Avantgarde hoffte er in einem der Nachfolgeprojekte der Friedrichshagener Dichterkolonie, der Neuen Gemeinschaft der Brüder Heinrich und Julius Hart, gefunden zu haben. Ihr trat er 1900 bei. Hier „verwirklichte sich die ästhetische Phänomenologie der Welt in einem ganzheitlich orientierten Leben“, in dem „die Trennung von Geist und Körper, Kunst und Leben aufgehoben sein“25 würde. Was Landauer insbesondere ansprach, war die Aufforderung zur freien und eigenständigen Lebensgestaltung, die die Brüder Hart verkündeten. Sein Vortrag Durch Absonderung zur Gemeinschaft, in dem Landauer den Ausstieg aus Zwangsgemeinschaften wie dem Staat und der Kirche proklamierte, wurde zum Programm der Neuen Gemeinschaft erhoben.

Schnell realisierte Landauer jedoch, dass es sich nicht um den Beginn einer neuen Gemeinschaft handelte, sondern um die Weltflucht einiger Intellektueller. Ebenso störte er sich an dem Pathos vom „Neuen Menschen“: „Wir ‚neue Menschen‘? Das werden wohl nur schwächliche Abzüge des alten Adam sein. Ich mache mir nicht viel aus Novitäten.“26 Nicht um einen neuen Menschen ging es Landauer, sondern um einen aufgeklärten, der die Autorschaft und Verantwortung für sein Leben übernimmt und erkennt, dass ihn weder die Zugehörigkeit zu einer Klasse noch der Bildungsstand über die anderen Menschen erhebt. Enttäuscht verließ Landauer die Neue Gemeinschaft und resümierte lakonisch: „Es ist nun schon mein Schicksal, durch solche Bewegungen immer nur hindurchzugehen.“27

Mit dem Austritt aus der Neuen Gemeinschaft endete in gewisser Weise Landauers ungestüme Drangphase. Er zog sich aus der Öffentlichkeit zurück, verzichtete auf Reden vor Streikenden oder Vorträgen vor hunderten Menschen, kämpfte nicht mehr gegen die sozialdemokratische Konkurrenz. Mit Beginn seiner Tegeler Haft 1899 ging Landauer auch auf Abstand zur anarchistischen Bewegung und musste sich eingestehen, „daß der geschäftige, von ideologischen Widersprüchen zerrissene Eifer der anarchistischen Gruppen nur mehr [ihrem] Selbstzweck dient“, aber Landauers „eigene, originäre Person dort keinen Platz“ habe.28

Er arbeitete zeitweilig in einer Buchhandlung und trat höchstens als Besucher anarchistischer Versammlungen in Erscheinung. Selbst die Berliner Politische Polizei, die Landauers Aktivitäten fortwährend mit Argusaugen verfolgte, stufte ihn nicht mehr als Anarchisten im herkömmlichen Sinn, sondern als ungefährlichen Edelanarchisten29 ein: „Trotz seiner zweifellos anarchistischen Ideale scheint er doch keine Neigung mehr zu haben, sich für die Arbeiterbewegung zu opfern“.30 In dieser Abstinenzphase vom politischen Kampf bemühte sich Landauer um eine theoretische Fundierung seiner Sozialismusvorstellungen. Ausdruck davon waren die 1907 veröffentlichten 30 Sozialistischen Thesen, in denen er seine anarchistische Staatsund Kulturkritik formulierte und für die Gründung sozialistischer Gemeinschaften argumentierte. Die Zeit ab den späten 1890er Jahren war ein Wendepunkt im Denken Landauers: Nicht länger steht der Klassenkampfanarchismus, geprägt durch den intensiven Einsatz für Konsum- und Produktivgenossenschaften, im Zentrum; an seine Stelle tritt ein republikanisch eingefärbter Anarchismus, der Freiheit und Gebundenheit als Synthese betont und zu dessen Verwirklichung Landauer auf einen Kultursozialismus setzte.31

Einen neuen praktischen Versuch zur Verwirklichung seiner Sozialismusvorstellung unternahm er zusammen mit Martin Buber, Erich Mühsam und Margarethe Faas-Hardegger und gründete 1908 den Sozialistischen Bund. Als Zusammenschluss verschiedener Initiativen sozialistischer Siedlungen sollte dieser neben dem Austausch über Theoriefragen die konkrete Bildung einer föderalen Gesellschaft vorantreiben. Erneut verfasste Landauer eine programmatische Schrift, Die zwölf Artikel des Sozialistischen Bundes, wobei er auf seine Erfahrungen im Friedrichshagener Dichterkreis und der Neuen Gemeinschaft zurückgreifen konnte, die ihn lehrten, „wie Gemeinschaft nicht entsteht“.32 Auf seinem Höhepunkt umfasste der Bund ca. 15 autonome Gruppen mit 10–20 Mitgliedern und hatte Ausläufer bis in die Schweiz.33 Dennoch blieb der Sozialistische Bund ein eher marginales Ereignis, zumal die anderen anarchistischen Gruppen ihn ablehnten und nur als Fortsetzung utopischer Luftschlösser sahen. Der Vorwurf lautete: Aufgabe des Klassenkampfes und bürgerlicher Revisionismus. Landauer nahm es resigniert zur Kenntnis: „Wie ich der sogenannten Anarchisten müde bin“.34

Mit dem Ersten Weltkrieg setzte auch der Niedergang des Sozialistischen Bundes ein. Zu dieser Zeit lässt sich eine weitere Verschiebung in Landauers Sozialismusauffassung erkennen: In seinen Schriften Vom freien Arbeitstag und Leitsätze der Politik, die sich mit räteähnlichen Organisationsformen befassen, verabschiedete er sich vom klassischen Anarchismus – eine Entwicklung, die mit der Anerkennung der ersten Münchner Räterepublik ihren Abschluss fand.

Der Erste Weltkrieg war eine Zäsur für den Pazifisten Landauer, da selbst engste Freunde von einer Kriegsbegeisterung erfasst wurden, die ihm seine Isolation deutlich vor Augen führte. Landauer hatte schon einige Jahre vor der drohenden Kriegsgefahr gewarnt. Besonders das martialische Auftreten des wilhelminischen Kaiserreichs und die begeisterte Unterstützung dieses Kurses durch das deutsche Volk bereiteten ihm zunehmend Sorge: „Die gar nicht zu sagende Unbeliebtheit des Deutschen im Ausland kommt daher: Wir sind ein unberechenbares Volk, weil wir folgsam sind, weil wir nicht Volk, sondern Gefolge sind. Die Ausländer wissen, dass ein paar Millionen Deutsche bereit wären, sofort über sie herzufallen, wenn es einmal ein paar Regierenden belieben sollte, es zu befehlen.“35 Landauer engagierte sich während der Dauer des Krieges in unterschiedlichsten pazifistischen Initiativen gegen den Krieg: im Forte-Kreis (1914/1915), im Bund Neues Deutschland (1915/1916), der aufgrund seiner pazifistischen Ausrichtung verboten wurde, und ab Juli 1916 schließlich in der Nachfolgeorganisation Zentralstelle Völkerrecht. Deutsche Zentrale für dauernden Frieden und Völkerverständigung, die schnell zu einem parteiunabhängigen Sammelbecken wurde. Im Gegensatz zu etwa Max Weber, der noch 1916 zum Burgfrieden und Durchhalten mahnte und über die außergewöhnlichen Leistungen der Deutschen im Krieg schwadronierte,36 setzten sich die Mitglieder der Zentralstelle für einen Verständigungsfrieden ein. Landauer organisierte in diesem Rahmen eine Vortragsreihe, an der u.a. auch Eduard Bernstein teilnahm, und lernte so Kurt Eisner kennen.37

Kurt Eisner war es, der Landauer nach München rief und damit gewissermaßen die Phase des praktischen Politikers einleitete. Nach der Novemberrevolution 1918, die aufgrund der großen Not und der Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung ausbrach und zum Sturz der Monarchie in Bayern führte, wurde Eisner zum Ministerpräsidenten einer aus USPD und SPD bestehenden Regierung gewählt; eine spannungsgeladene Koalition, da die USPD die Rätebewegung, die SPD hingegen das parlamentarische System befürwortete. Eisner verfolgte deshalb ein Konzept, das Rätebewegung und Parlament nebeneinander existieren ließ. Er war davon überzeugt, dass die Voraussetzungen für eine Räterepublik erst geschaffen werden müssen, und forderte Landauer zur Mitarbeit auf: „Lieber Landauer […] Was ich von Ihnen möchte, ist, dass Sie durch rednerische Betätigung an der Umbildung der Seelen mitarbeiten.“38 Landauer, der im Oktober 1918 eine Anstellung als Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus angenommen hatte und von Ende 1918 bis zu seiner Ermordung die dortige Theaterzeitschrift Masken herausgab, sagte zu, auch wenn er sich der damit verbundenen Schwierigkeiten bewusst war: „Im übrigen ist die Situation sehr schwer; der Übergang von einem entsetzlichen Krieg über eine völlige Auflösung zu geordneten Zuständen, die zugleich frei und beglückend sein sollen, ist eine fast unmögliche Aufgabe.“39

Nach dem tödlichen Attentat auf Eisner am 21. Februar 1919 kam es zur Bildung der ersten Münchner Räterepublik, in der Landauer aktiv mitarbeitete: Er war Mitglied im Revolutionären Arbeiterrat, im Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat und wurde zum Volksbeauftragten für Volksaufklärung gewählt. In dieser Funktion war er zuständig für die Kultur sowie das Schul- und Pressewesen. Landauer erwies sich hier keineswegs als träumerischer Literat, sondern setzte sich mit den Zwängen und Herausforderungen der praktischen Politik auseinander. Er wurde nicht nur zum spiritus rector der Räterepublik, sondern veranlasste konkrete Maßnahmen zur Verteidigung der Revolution. Trotz seiner pazifistischen Grundhaltung ließ Landauer nach der Ermordung Eisners einzelne Bürger, die der Gegenrevolution zugerechnet wurden, als Geiseln in Münchner Hotels in Schutzhaft nehmen und begründete diesen Schritt in seiner Rede über die Sicherung der Revolution: „Die Festnahme von Geiseln in kritischen Lagen der Gesellschaft ist schon immer vorgekommen. […] Wir sind noch sehr unter der Gefahr der Gegenrevolution. […] Ich bin dafür, daß man sich dagegen wehrt, solange die Gefahr besteht, solange es nötig ist.“40 Das schloss für Landauer auch die Notwendigkeit zur militärischen Verteidigung der Revolution ein.41 Er unterstützte auch die Pressezensur, um Falschmeldungen, Hetze und dergleichen von vornherein zu unterbinden. Als sich das Rektorat der Universität München weigerte, die öffentlichen Universitätsmitteilungen dem Revolutionären Hochschulrat zur Kontrolle vorzulegen, scheute Landauer nicht vor autoritären Mitteln zurück. Entgegen seinen Prinzipen griff er als Kultusminister ein und forderte ein politisches Machtwort des Zentralrats.42

Weiterhin war Landauer bereit, seine bisherige theoretische Annahme von der Umgestaltung der Gesellschaft an die gegebenen Verhältnisse anzupassen: „Es ist eben die vollkommene Sozialisierung nicht bloß der Wirtschaft, sondern des ganzen gesellschaftlichen Lebens nicht anders durchführbar als revolutionsmäßig, plötzlich, abrupt, unter dem Bruch mit der Vergangenheit. […] Der elementare Zusammenbruch ist bereits da“ und „hat es bereits unmöglich gemacht, daß eine organische Fortentwicklung aus dem bisherigen, eine Evolution, die Wahrung der Kontinuität möglich ist“.43 Das bedeutet freilich nicht, dass Landauer in seiner Funktion als Volksbeauftragter nicht versucht hätte, entsprechend seiner Vorstellung vom Sozialismus als Kulturbewegung zu wirken: Das Schulwesen sollte von patriarchalen Dogmen befreit werden, worunter u.a. die Abschaffung der Prügelstrafe, die Einführung einer Einheitsschule vom siebten bis zum 13. Lebensjahr oder die Aufhebung des Zwangs zur Teilnahme an religiösen und kirchlichen Veranstaltungen (einschließlich des Religionsunterrichts) fiel, oder die Einsetzung von Schulräten, zusammengesetzt aus gewählten Lehrern, Eltern, Schülern und Delegierten der Arbeiter- und Bauernräte. Auch die Hochschulen wollte er gründlich reformieren: Die Studienfächer Theologie und Jurisprudenz sollten, mit Ausnahme der Fächer Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie sowie Religionsgeschichte und Metaphysik, abgeschafft und die Philosophie zur höchsten Fakultät ernannt werden; eine neue Architektur sollte die neue Zeit verkünden; neue Museen sollten gegründet und der Eintritt ins Nationaltheater kostenfrei werden.44 Allerdings wurde Landauers Kulturpropaganda sogar von seinen Freunden stark kritisiert, da er es zugelassen habe, „daß in die Zeitungen, die sein natürliches Sprachrohr zum bayerischen Volk hätten sein können, auf die erste Seite große kubistische Zeichnungen, endlose spaltenlange Aufsätze über das Rätesystem und ähnliche theoretische Riemen hineingestopft wurden“.45 Diese Maßnahmen hätten den Entfremdungsprozess zwischen der Bevölkerung und den Regierenden unnötig beschleunigt.

Landauer machte sich keine Illusionen über den fragilen Zustand der Räterepublik: „Es bleibt schon jetzt den Voraussehenden nichts anderes übrig, als auf ein anderes Volk zu hoffen, das mehr Talent zum Aufbau hat, wie das deutsche.“46 Die am 7. April 1919 ausgerufene Münchner Räterepublik bestand nur eine Woche. Bereits am 13. April 1919 übernahmen, nach erfolgreicher Verhinderung eines Putsches durch Regierungstruppen, die Kommunisten die Macht. Landauers Mitarbeit war nicht mehr erwünscht. Das bewahrte ihn allerdings nicht vor der Reaktion der Gegenrevolutionäre. Neben Ernst Toller und Erich Mühsam die meistgehasste Person der Räterepublik, wurde er am 2. Mai 1919 von Freikorpssoldaten auf brutale Weise ermordet.

Rezeption seines Werkes

Gustav Landauer hat im Lauf seines Schaffens zahlreiche Buchveröffentlichungen und hunderte Essays vorzuweisen, er hat für mehr als fünfzig Zeitungen Beiträge verfasst und in angesehenen Magazinen publiziert. Die Rezeption dieses Œuvres lässt sich grob in folgende Phasen unterteilen:47 In der zeitgenössischen Rezeption bis 1933 lässt sich eine gewisse Bekanntheit Landauers belegen, die sich durch eine Vielzahl von Nekrologen und Würdigungen nach seinem Tod ausdrückt. Mit Beginn der Naziherrschaft in Deutschland bricht die Rezeption von Landauers Schriften ab, auch seine Bücher wurden am 10. Mai 1933 verbrannt. Erst in den 1960er und 1970er Jahren kommt es zu einem erneuten Interesse an Landauers Schriften, vor allem an seinen politischen Abhandlungen. Zuerst setzt diese Rezeption in den USA ein, als oppositionelle Intellektuelle gegen den Vietnam-Krieg Landauer eine kleine Renaissance verschaffen. In der Bundesrepublik setzte diese Wiederentdeckung in den späten 1960er Jahren ein, im Zuge der Aufarbeitung geistiger Traditionslinien des wilhelminischen Deutschland und der Weimarer Republik. Die bundesdeutsche Studentenbewegung rezipierte ihn eher marginal, da er den Marxisten als zu anarchistisch galt, den Anarchisten zu mystisch war. Seit den späten 1980er Jahren gibt es eine internationale Beschäftigung mit seinem Werk, die sich neben dem politischen Essayisten Landauer auch dem Literaten und Sprachskeptiker zugewendet hat. Im Zuge dieser Entwicklung wurden viele Schriften Landauers wieder zugänglich gemacht und kommentiert, Forschungsarbeiten zu den unterschiedlichen Aspekten seines Schaffens sind erschienen.

Gleichwohl darf die Zunahme wissenschaftlicher Abhandlungen sowie die stärkere erinnerungspolitische Aufmerksamkeit nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich nichts an dem Umstand verändert hat, dass sich „Gustav Landauers Werk […] auch heute noch weder übermäßiger Kenntnis noch allzu großer Beliebtheit“48